Interview | Bundeszentrale für politische Bildung
Erscheinungsdatum: 15. September 2026

Thomas Krüger: „Die deutsche Gesellschaft ist wenig innovationsfreudig"

25 Jahre lang stand Thomas Krüger, 66, an der Spitze der Bundeszentrale für Politische Bildung. Ein Gespräch über Erfolge, Veränderungen der Gesellschaft, soziale Medien und den Einzug der Künstlichen Intelligenz.

Herr Krüger, Ihre Bilanz nach 25 Jahren an der Spitze der Bundeszentrale: Was waren die besonderen Erfolge? 

Ganz sicher gehört dazu, dass die Bundeszentrale im digitalen Zeitalter angekommen ist. Am Deutlichsten sieht man das am Wahl-O-Mat. Der kam zu Beginn meiner Amtszeit 2002 mit damals einigen hunderttausend Aufrufen und hatte bei der letzten Bundestagswahl 26,5 Millionen. Generell ist das Digitale zum Element der politischen Bildung geworden. Heute spielt sich politische Bildung nicht nur in der Bildungsstätte oder im Klassenraum ab, sondern eben auch in Social Media, in Web-Video-Formaten und auf anderen Plattformen. 

Ist der Wahl-O-Mat mit 26 Millionen Abrufen ausgereizt? 

Ziemlich, und doch gibt es noch Potenziale. Das hat auch zu tun mit dem Selbstverständnis der Bundeszentrale: Wir verstehen politische Bildung heute als ein Gemeingut, das für jeden relevant ist. Jeder hat ein Recht darauf, daran zu partizipieren. Das verpflichtet uns, immer neue Wege zu gehen und neue Formate zu öffnen.

Gibt es auch inhaltliche Punkte, auf die Sie stolz sind?

Generell ging es mir immer darum, dass sich alle öffentlichen Kontroversen auch in unserem Angebot wiederfinden. Besonders Themen, die nicht im klassischen Kanon und in Lehrplänen verankert sind, wie das Wissen um globale historische und gegenwärtige Verflechtungen. Fakt ist aber auch, dass viele Leute nicht mehr lesen, wir sie mit klassischen Broschüren und Büchern nicht mehr erreichen. Früher hatten wir Buchauflagen von 10.000 bis 15.000 Exemplaren pro Publikation. Heute sind es 2.000 bis 3.000. Bestimmte Zielgruppen sind einfach in andere Formate abgewandert, und die politische Bildung muss dem folgen, Konfliktfelder identifizieren und unterschiedliche Perspektiven einnehmen. 

Welche Zielgruppen sind noch nicht erschlossen? 

Heute sind auch Menschen mit Migrationshintergrund Teil der Community politischer Bildung. Das waren sie bis zum Jahre 2000 nicht. In meinem Erlass stand damals noch ausdrücklich, dass politische Bildung sich nur ans deutsche Volk zu wenden hat. Und das war ethnisch gemeint. 

Was ist mit den Zielgruppen, die Sie nicht erreichen? 

Die gibt es, und das zeigt uns auch die Grenzen auf. In bestimmten Bereichen der Gesellschaft kommen wir keinen Zentimeter voran. Bei  Menschen, die kein Vertrauen mehr in staatliche Institutionen haben, die jedes Angebot des Staates ablehnen, sogar jede Infrastruktur des Staats kritisch betrachten. Und dann gibt es hybride Zielgruppen, die misstrauisch sind, die man aber noch erreichen kann. 

Auf welchen Wegen?

Nicht mehr mit klassischen Bildnern, sondern mit Influencern, mit glaubwürdigen Multiplikatoren aus ihrem soziokulturellen Milieu. Die glauben selbst der Sozialarbeiterin mehr als der politischen Bildung oder dem Politik- und Geschichtslehrer. Wir versuchen uns mit solchen Multiplikatoren zu verbünden. Und damit neue Räume für unsere Arbeit zu öffnen. 

Was hat die AfD gegen die Bundeszentrale? 

Die AfD argumentiert, politische Bildung sei nicht mehr neutral. Anders als früher erfülle die Bundeszentrale ihre Aufgaben nicht mehr vorbildlich. Nur, die Bundeszentrale war nie neutral. Sie ist in Sachen Wertneutralität eindeutig an das Grundgesetz gebunden. Und rassistische und menschenfeindliche Positionen oder die Abwertung bestimmter Gruppen sind  rote Linien. Deshalb waren wir nie neutral, wir waren immer normativ eingebunden. 

Die gleiche Kritik betrifft auch die Öffentlich-Rechtlichen Medien. 

Man muss diese Kritik ernst nehmen. Zu oft werden schnell Urteile und Zuschreibungen gefällt, die sich bei näherem Hinsehen differenzierter oder als völlig anders herausstellen. Aber den Generalvorwurf, dass der öffentlich-rechtliche Sektor oder die politische Bildung links-grün versifft seien, muss man entschieden zurückweisen. Insgesamt findet man eine breite Vielfalt, natürlich auch konservativer Positionen. 

Aber kaum nationalkonservative oder identitäre Positionen. 

Richtig. Aber die, die uns aus dieser Richtung kritisieren, sind Polarisierungsunternehmer, wie sie der Soziologe Steffen Mau nennt. Sie haben ein Interesse daran, dass das Spektrum nach links und rechts und nach oben und unten ausfleddert. 

Zur Demokratie gehören Auseinandersetzungen und Diskurs. Warum ist der politische Streit bei uns so in Misskredit geraten? 

Das ist die große Frage. Faktisch ist es so, dass die Gesellschaft immer vielfältiger, heterogener geworden ist und die Interessenlagen sich überlagern und konfrontativ werden.Viele fühlen sich überfordert damit, alle diese Herausforderungen zu meistern und verbarrikadieren sich. Glücklicherweise machen das nicht alle, es gibt auch Leute, die einen angstfreien Diskurs pflegen. Viele Konflikte werden inzwischen aber auch in privatem Rahmen und auf Social Media ausgetragen. Wir machen uns keinen Begriff, wie viel bei Familienfeiern oder zu Weihnachten gestritten wird. Am Arbeitsplatz blockt man ab, hört nicht mehr zu, verständigt sich, darüber reden wir jetzt nicht mehr. Aber in der Familie geht das nicht. Da wird um die Positionen gekämpft.

Wir sprechen hier über den politischen Raum, warum ist auch da der Begriff Streit immer negativ konnotiert?

Weil den Leuten der Glaube an die Demokratie verloren geht. Eine Demokratie ohne Konflikte ist keine Demokratie, und das zu begreifen, heißt eigentlich, sich klar zu machen, dass man bei Konflikten oder bei Kontroversen in die Offensive gehen und auch mal was riskieren muss. Demokratie lebt vom Mitmachen.

Es gibt global ein großes Bedürfnis nach disruptiver Politik, was sich überall Populisten zunutze machen. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Es wird ja gerne die sogenannte Flüchtlingskrise und Covid-19 angeführt. Aber wenn man genauer hinguckt, merkt man schon seit 20 Jahren, dass sich unter anderem durch die Entfesselung der Märkte Demokratie verändert und sich als Staatsform nicht mehr in der klassischen repräsentativen Ausprägung wiederfindet. Insofern war der Weg von der diskursiven und deliberativen zur disruptiven Demokratie fast ein logischer nächster Schritt, weil sich in der Demokratie immer die Frage stellt, was setzt du eigentlich davon durch? Und je vielfältiger eine Gesellschaft wird, umso alltäglicher wird der Kompromiss. Aber auch umso größer das Bedürfnis nach Disruption. 

Ist Demokratie zu schwerfällig, zu wenig lösungsfähig geworden?

Ich würde den Prozess anders beschreiben: Demokratie ist komplexer, extrem vielfältig geworden. Die verschiedenen Aspekte, die eigentlich verhandelt werden, Menschenrechte, Kriegsprävention, Umwelt und all diese Themen sind Expertendiskurse geworden. Gleichzeitig denken die Menschen: Ist ja furchtbar, was ich alles wissen muss – und eigentlich will ich doch nur ein bisschen Stabilität. Die bekomme ich aber nicht durch Pluralismus oder politische Repräsentation, sondern durch Leadership – und das gerne ein bisschen autoritär.

Gleichzeitig ist die Welt komplexer geworden und das Tempo hat sich erhöht. Vielleicht nicht die richtige Zeit für einfache Antworten. 

Richtig. Vor allem in Osteuropa und in vielen asiatischen Ländern haben wir eine starke Affinität zu solchen Stabilokraten, wie ich sie nenne. Autoritäre Leute, die die Stabilitätssehnsucht zum politischen Modell machen. Und in der westlichen Welt gibt es die Auseinandersetzung zwischen der diskursiven Demokratie und diesem autoritären Stabilitätsmodell.

Ist es denn tatsächlich ein Bedürfnis nach Stabilität oder nicht eher eine Sehnsucht nach der alten Zeit, die scheinbar viel geordneter war als heute?

Die Sehnsucht an eine Zeit zu glauben, die es so nie gegeben hat, wird missbraucht. Wenn sich aus diesen Stabilokratien etwas entwickelt, sind das neue Formen von Auseinandersetzungen, von Kriegen oder Ausbeutung. Aber der Kampf ist noch nicht verloren. Wichtig ist zu sehen, wohin diese Form der Selbstentmündigung führt, wenn auf demokratische Steuerungsmodelle autokratische folgen. 

Aber die Bereitschaft, Verantwortung abzugeben, andere machen zu lassen, weil alles zu komplex und zu schnell geworden ist, ist doch offensichtlich. 

Es gab auch in der DDR eine Phase, in der dieser Rückzug stattfand. Viele sind ausgereist, andere auf die Straße gegangen. Nicht in Deutschland, aber anderswo ist diese Form des Widerstandes und des zivilen Ungehorsams sehr lebendig. In Belgrad demonstrieren 400.000 Menschen, worüber hier kaum berichtet wird. Auch im Iran gibt es  eine sehr agile Zivilgesellschaft. Und in Israel, eine sehr vielfältige Gesellschaft, gehen Hunderttausende auf die Straße. In allen drei Ländern sieht man, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr hinter den jeweiligen Regierungen steht und sich wehrt. 

Wir Deutschen haben einen sehr binnenzentrierten Blick. Selbst gut funktionierende Beispiele im Ausland interessieren uns nicht, wir entwickeln gern unseren eigenen Weg. Warum ist das so? 

Die deutsche Gesellschaft ist sehr strukturkonservativ und wenig innovationsfreudig. Das kann man in der Wirtschaft, in der Kultur, sogar beim Fußball beobachten. Man probiert ungern aus, riskiert lieber weniger. Man kann noch nicht einmal, wie etwa in Estland auf jedem Dorf, die Fahrkarte im Bus mit EC-Karte bezahlen. Dabei ist das Potenzial dieser Gesellschaft enorm. Aber die innovative Chance liegt nicht in den alten konservativen Milieus, sondern in der Heterogenität dieser Gesellschaft. 

Mag sein, der Blick ist dennoch verengt geblieben. 

Es gibt dieses Bild des bockbeinigen, einsichtsverweigernden Kindes, das unbedingt Recht haben will. Mit dem einen Gedanken im Kopf: Ich habe Recht. Das ist einer der Aggregatzustände, der in dieser Gesellschaft sehr ausgeprägt zu beobachten ist. Und der sie daran hindert, befreiende Szenarien zu entwickeln. Denn im Vergleich zu vielen anderen Ländern sind die Ressourcen in dieser Gesellschaft ja da.

Sie arbeiten inzwischen auch mit Influencern zusammen, um gewisse Milieus zu erreichen. Kann es sein, dass die Leute mit den Echokammern der sozialen Netzwerke nicht mehr klar kommen? Dass sie sich in diesen Räumen sogar eher unwohl fühlen?

Stimmt, die sozialen Medien sind affektive Polarisierungsmaschinen. Auf der anderen Seite ist in den sozialen Medien Glaubwürdigkeit eine sehr harte Währung. Wir haben mit einer bekannten Muslima, einer Beauty-Bloggerin, über Begriffswelten des Islam und Salafismus aufgeklärt und hatten innerhalb von drei Wochen 850.000 Downloads. Natürlich kamen auch die Salafisten sofort in die Kommentarspalten, aber wir waren vorbereitet und haben mit einem Kommentierungsteam der Uni Frankfurt die Dinge sofort eingeordnet. Es gibt also durchaus Möglichkeiten, dem zu begegnen. 

Und dennoch: Nichts beschleunigt die Fake-News-Schleuder so wie die sozialen Medien. 

Das stimmt. Und deshalb kriegst du heute politische Bildung eigentlich nicht mehr ohne Medienbildung und Medienbildung nicht mehr ohne politische Bildung. Es sind zwei Handlungsfelder, die sich nicht mehr entflechten lassen. 

Braucht es eine stärkere Kontrolle der sozialen Medien? 

Ja, ich bin für mehr Regulierung.  

Auch in den Schulen?

In den Schulen in jedem Fall auch. Ich halte das bei allen Endgeräten für angebracht: Nutzung nur nach einem absolvierten Bildungsprozess. Ich bin nicht für pauschale Verbote, das führt zu nichts. Aber im schulischen Kontext sollte kritische Kompetenz schon Voraussetzung für die Nutzung sein.

In welchem Alter sollte das Anlernen beginnen? Heute haben ja schon Grundschüler das Smartphone in der Hand.

Mein Motto ist: “politische Bildung von Anfang an". Schon viele Eltern setzen leider ihre Kinder ja vor den Fernseher oder das iPad, um Ruhe zu haben. Du kannst also gar nicht anders, als schon im frühkindlichen Alter, natürlich altersangepasst, sowohl mit politischer Bildung als auch mit Medienbildung zu beginnen. 

Wie hat sich die Rolle der traditionellen Medien in den vergangenen 25 Jahren verändert?

Im Diskurs über das Politische sind die Räume enger geworden, und  das hat mit dem Bildungsabstand zu, den diese Gesellschaft produziert. Das heißt, du hast Leute, die auf hohem Niveau in der Lage sind mitzudiskutieren, politische Prozesse zu reflektieren und zu bewerten. Aber viele Menschen verweigern sich oder richten sich in Parallelwelten ein. Zudem sind Bildungsressourcen sehr ungleich verteilt. 

Warum ist das so und was hat da stattgefunden? 

Verändert haben sich nicht die Medienkanäle wie Publikationen oder Qualitätszeitungen, sondern  das Feld darunter, nämlich Entertainment-Formate im Fernsehen, Social Media, Podcasts, also sehr virale, fluide Medienkanäle, die einfach flüchtiger und oberflächlicher sind. Was dabei fehlt, ist eine gewisse Sach- und Wissenschaftsorientierung, der Bezug auf Dinge, die verifizierbar sind. Es darf nicht sein, dass jede Falschnachricht und jedes Gerücht unterschiedlos als “Wahrheit” daherkommt oder als gefühlte Wahrheit um die Ecke biegt. 

Werden die klassischen Medien ihrer Verantwortung noch gerecht? Üben sie ihre Wächterrolle noch angemessen aus? 

Scharfe Frage – die man sich in der politischen Bildung genauso stellen muss wie im Journalismus. Wir machen es uns manchmal zu leicht, sind zu schnell selbstzufrieden. Unsere Erfahrung in der politischen Bildung ist aber, dass Bildungsgewinne möglich sind. Zum Beispiel sind die Leute, die den Wahl-O-Mat nutzen, auch  erreichbar für andere Fragestellungen. Aber wir müssen uns auch bemühen, mit anderen, einladenderen Formaten und Angeboten. Das kann zum Beispiel auch eine stärkere Visualisierung sein. Damit machen wir gerade sehr gute Erfahrungen. 

Was sind die Herausforderungen für politische Bildung in Zeiten künstlicher Intelligenz?

Das ist eine spannende Frage, weil wir da erst am Anfang sind. Ich halte die KI wie alle Innovationen für eine Riesenchance; aber mittlerweile muss man sagen, jede Sache, die man mal für eine Chance gehalten hat, wird irgendwann auch zur latenten Gefahr. Die kapitalistischen Dynamiken eignen sich solche Innovationssprünge an, um sie zu verwerten und zu kannibalisieren. 

Auch in der politischen Bildung?

Man wird KI sicher auch für die politische Bildung nutzen können. Aber man darf sich nicht in die Tasche lügen: Künstliche Intelligenz spiegelt das algorithmusgesteuerte Wissen der Plattformen wieder. Man muss die Prinzipen dahinter verstehen und auch mit vermitteln. Wenn sie bestimmte Inhalte nicht findet, fängt die KI an zu halluzinieren. In KI liegen Gefahren, aber natürlich auch enormes Potenzial: Man kann Wissen und damit auch vergessenes oder verloren gegangenes Wissen wieder zurückgewinnen. 

Nutzt die Bundeszentrale denn KI gar nicht? 

Nur punktuell. Wir sind aber in verschiedenen Arbeitsgruppen dabei, das auszuloten. Für mich ist das Glas halb voll und nicht halb leer. Bei dem Thema wegzuknicken macht keinen Sinn, weil du sonst überrollt wirst. Deshalb ausprobieren, mitmachen, gucken, wo sind die missbräuchlichen Praktiken: Wir sind da aber noch eher vorsichtig und zurückhaltend.

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Letzte Aktualisierung: 15. September 2025

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