45 Milliarden Euro beträgt der Investitionsstau an Schulen. Udo Beckmann, Vorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung, fordert im Interview, dass die Kommunen diese hohe Summe in die Hände nehmen müssen, um Bauten zu sanieren oder sich für den Ganztag zu rüsten. Weil die Kassen in vielen Kommunen leer sind, müssten Bund und Länder einspringen – auch wenn das zu Neiddebatten führe. Das Interview mit Moritz Baumann zeigt eindrücklich, welcher Druck auf den Kommunen derzeit lastet.
Eine andere Baustelle haben Forscher im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung beleuchtet: Fast jeder sechste Schulabgänger hat es noch gar nicht in eine Ausbildung geschafft, oder sie spät ohne Alternative abgebrochen. Dabei kommen die Betroffenen überdurchschnittlich häufig aus einem benachteiligten Elternhaus, haben eine Migrationsgeschichte und einen niedrigen Schulabschluss. Für die heutige Ausgabe habe ich analysiert, welchen Handlungsbedarf Studienautorin Claudia Burkard und Praktiker sehen – und wo es bereits gut läuft.
Aufrütteln möchte Sie Innovationsforscher Ekkehard Thümler mit einem Gastbeitrag. Darin fordert er eine beherzte Reaktion auf den IQB-Bildungstrend. Er plädiert für ein Programm, das die Basiskompetenzen Lesen, Schreiben, Rechnen allen Schülern beibringt. Die 100-Prozent-Schule nennt er sein Konzept. Ausgewählte Schulen sollen vorangehen und dabei von Wissenschaftlern, Ed-Tech-Unternehmen und Ehrenamtlichen unterstützt werden. Denn, so Thümler: “Bildungspolitik und Zivilgesellschaft müssen sich nicht länger mit den Grenzen des bisherigen Systems abfinden und auf kleinschrittige Verbesserungen setzen.”
Ich wünsche Ihnen eine ansprechende Lektüre!
Herr Beckmann, Sie waren vor Ihrer Zeit beim VBE fast zehn Jahre Schulleiter einer Hauptschule in Dortmund. Wie oft hat es zwischen Ihnen und Ihrem Schulträger geknirscht?
Geknirscht hat es selten, aber ich war oft ungeduldig. Damals, um die Jahrtausendwende, wurden an den Schulen die ersten Ganztagsangebote eingerichtet. Das war für die Schulträger ein echter Kraftakt: Wie müssen die Räume ausgestattet sein? Wie können die Schülerinnen und Schüler mittags verpflegt werden? Wann dürfen Klassen, wann die Sportvereine in die Turnhalle? Was bedeutet der Ganztag für das Reinigungspersonal? Simple Dinge, die ein Schulträger in der Praxis klug steuern muss.
Wenn Sie sich heute die Bildungslandschaft anschauen: Sind die Schulträger eher Innovatoren oder Bremser?
Da gibt es keine pauschale Antwort. In kleinen Gemeinden ist die Schule oft das Aushängeschild für den Bürgermeister, während große Kommunen vor ganz anderen Herausforderungen stehen. Beispiel: Ruhrgebiet. Dort gehen viele Städte nahtlos ineinander über. Viele Schulträger leiden unter großer finanzieller Knappheit, einige Städte stehen unter Haushaltsvorbehalt. Das ist mit ein Grund, dass die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) den bundesweiten Investitionsstau in Schulen mittlerweile mit über 45 Milliarden Euro beziffert.
Ist die kommunale Schulträgerstruktur damit nicht eine der Kernursachen für Bildungsungleichheit in Deutschland?
Die komplizierte Frage der Schulfinanzierung und damit auch die kommunale Schulträgerstruktur ist sicherlich eine Ursache. Schule soll Lern- und Lebensraum sein. Wenn sich Schimmel über die Wände zieht und der Wind durch die Fenster pfeift, hat das negative Auswirkungen auf den Lernerfolg der Kinder.
Braucht es also ein eigenes Bund-Länder-Programm, um finanzschwache Kommunen zu unterstützen und den Gordischen Knoten zu durchschneiden?
Ja, besonders mit Blick auf den Ganztag. Wenn wir die Kinder und Jugendlichen ganztägig unterrichten, bilden und erziehen sollen, braucht es eine attraktive Lernumgebung. Schülerinnen und Schüler verbringen heute viel mehr Zeit in den Schulen. Doch die Schulgebäude sind oft weiter auf Halbtagsbetrieb ausgerichtet. Ganztag ist mehr als der Bau einer Mensa. Das müssen alle endlich verstehen. Ziel müssen gleiche Bildungschancen sein – unabhängig vom Wohnort. Bund und Kommunen sollten hier ein gemeinsames Programm auflegen.
An welche Summe denken Sie?
Der Investitionsstau liegt bei 45 Milliarden Euro. Das ist die richtige Größenordnung. Nur: Wie jeder Bürger finden auch die Kommunen aktuell keine Handwerker. Dazu kommt die Kostenexplosion bei Materialien.
Müssten dann nicht konsequenterweise auch die Mittel für den Ganztag gezielt in finanzschwache Kommune umgeleitet werden?
Die Bildungsminister müssen klare Qualitäts- und Mindeststandards vorgeben – in puncto Raumangebot, Personalschlüssel et cetera. Und wenn eine Kommune diesen Kraftakt finanziell nicht stemmen kann, müssen Bund und Länder einspringen. Das wird Neiddiskussionen auslösen, aber nur so erreichen wir Chancengleichheit.
Wie sieht denn eine moderne Schule aus?
Es braucht Räume, damit Lehrer innerhalb von Klassen und Gruppen differenzieren können. Es braucht Rückzugs- und Ruheräume für Schülerinnen und Schüler und für das Personal. Es braucht offen gestaltete Areale für Projektarbeit. Der VBE hat dazu mit dem Bund der Architekten und der Montag Stiftung Leitlinien herausgegeben (zum Download). Aktuell ist viel Geld im Rückstau: Wenn Schulträger jetzt investieren, kann es nicht nur um Toilettensanierung gehen. Wir müssen Schulgebäude ganz neu gestalten. Dafür müssen Schulleiter, Lehrkräfte, Eltern und Schüler eingebunden werden. Das Bauen muss sich nach der Pädagogik richten – nicht umgekehrt.
Prallt da nicht die klassische Verwaltungslogik auf die Visionen einzelner Schulleiter? Schulträger sind doch vor allem Ausstatter, die mit den pädagogischen Konzepten wenig am Hut haben, oder?
Ich glaube, dafür fehlen in den Kommunen oft auch die Fachleute – beispielsweise im Schulbau. Nicht jede Gemeinde hat dafür einen eigenen Dezernenten, während in Großstädten die Themen Erweiterung, Schulneubau und -sanierung immer auf der Tagesordnung stehen. Die Schulplaner müssen Zeit haben, sich intensiv in die Materie einzuarbeiten, um das überkommene Konzept der ‘Flurschule’ zu überwinden. Zum Glück sind viele Schulträger bereit, in den Austausch mit den Pädagogen an den Schulen zu gehen.
In Düsseldorf startet in einer Woche der Deutsche Schulträgerkongress – eine Premiere und der VBE ist Mitveranstalter. Das ist aber doch gar nicht Ihre Baustelle als Pädagogik-Verband.
Doch, das ist sogar genau unsere Baustelle. Wir Lehrerinnen und Lehrer wissen, wie wichtig Ausstattung, Räume und Schulgelände für den Lernerfolg sind. Und, daneben geht es auch um die Arbeitsplätze und die Berufszufriedenheit unserer Verbandsmitglieder. Da haben wir Erwartungen und Ansprüche, die wir im engen Austausch mit den Schulträgern diskutieren wollen, um ein gemeinsames Bildungsverständnis zu entwickeln.
Der VBE betont immer wieder, welche Masse an Aufgaben auf Schulen einprasseln: Integration, Inklusion, Ganztag. Damit sind viele kleine kommunale Verwaltungen doch schlicht überfordert. Hat die klassische Grund- und Mittelschule in jedem Dorf ausgedient?
Das kommt auf das Alter der Kinder an. Wohnortnahe Grundschulen müssen erhalten bleiben. Bei den weiterführenden Schulen gibt es genau diese Diskussion: Ab welcher Größe kann das Schulangebot sinnvoll aufrechterhalten werden? Das ist eine hochpolitische und heikle Frage. Denn viele Betriebe siedeln sich nur in Gemeinden an, die in ihre Schulen investieren. Das Bildungsangebot in einer Kommune ist ein entscheidender Wettbewerbsfaktor.
Abschlussfrage: Die Digitalisierung ist für die Schulträger ein Dauerbrenner. Wie geht es hier voran?
Es gibt zwei zentrale Lehren aus dem ersten Digitalpakt: Bund und Länder haben die Schulträger zu spät eingebunden und die Antragsverfahren waren viel zu aufwändig konstruiert. Beim Digitalpakt II müssen jetzt schnelle Fortschritte erzielt werden. Kleine Kommunen haben, wenn die Finanzierung ausläuft, nicht das Geld, Geräte und Software zu warten und auszutauschen. Bund und Länder müssen eine Förderung von 2,5 Milliarden Euro pro Jahr verstetigen. Und je länger die Bundesregierung die Entscheidung hinauszögert, umso schwieriger wird es für die Schulträger.
Udo Beckmann steht seit 13 Jahren an der Spitze des Verbands Bildung und Erziehung (VBE). Ende des Jahres will er das Amt an Gerhard Brand übergeben (mehr Informationen). Bis 2017 war Beckmann Landesvorsitzender des VBE NRW. Er ist ausgebildeter Grund- und Hauptschullehrer. Seine Fächer: Physik, Mathematik und Biologie. Zwischen 1996 und 2005 leitete er eine Hauptschule in einem sozialen Brennpunkt in Dortmund.
Wenn Jugendliche die Schule verlassen, verschwinden manche auch aus den Statistiken. Das sind diejenigen, die kein Studium, keine Ausbildung, keine Berufsvorbereitung beginnen. Eine Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung hat nun individuelle Bildungswege nachgezeichnet, um diese Leerstelle zu füllen. Dabei sollte ein umfassendes Bild entstehen, detaillierter als es zum Beispiel der Nationale Bildungsbericht zeichnet. “Wir haben uns daher auch Studierende und deren Probleme angeschaut”, sagt Claudia Burkard, die an der Studie mitgearbeitet hat und Projektmanagerin der Stiftung ist.
Ausgewertet haben die Forscher der Georg-August-Universität Göttingen und der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg Daten des Nationalen Bildungspanels (kurz NEPS für National Educational Panel Study). Seit 2010 werden dabei Teilnehmer regelmäßig nach ihren Bildungs- und Erwerbsverläufen befragt. Das Ergebnis: Bildungswege dauern mehrheitlich länger als vorgesehen. Nach vier Jahren halten erst 43 Prozent einen Ausbildungs- oder einen Studienabschluss in den Händen. Bei jedem Fünften zieht sich der Übergang in eine Ausbildung um ein bis zwei Jahre. Angesichts immer üblicher werdendem Freiwilligem Sozialen Jahr oder Gap Year erstaunt das wenig.
Sorgen macht dagegen vor allem eine Zahl: 15 Prozent der Schulabgänger haben nach vier Jahren noch immer nicht den Einstieg in eine Ausbildung geschafft. Sie sind ungelernt erwerbstätig, arbeitslos, absolvieren berufsvorbereitende Maßnahmen oder haben eine Ausbildung spät und ohne Alternative abgebrochen. Ihr Risiko, dauerhaft unqualifiziert zu bleiben, ist hoch. Es droht eine prekäre Beschäftigung nach der anderen.
Unter denen, die nach vier Jahren eine Ausbildung alternativlos abbrechen oder noch in keine Ausbildung gefunden haben, kommen überdurchschnittlich viele aus benachteiligten Familien und haben eine Migrationsgeschichte. Außerdem haben sie häufig einen niedrigen Schulabschluss.
Das sind wichtige Ergebnisse. Die Studie zeigt aber auch die Grenzen der Bildungsforschung in Deutschland auf. Gern hätte das Forschungsprojekt nicht nur vier, sondern fünf Jahre nach Schulende eine Bilanz gezogen. Doch die Zahl der Probanden, die den NEPS-Fragebogen beantwortet, nimmt kontinuierlich ab. Waren in der untersuchten Kohorte anfangs 16.000 Jugendliche, antworteten nach vier Jahren nur noch knapp 7.200. Da gerade Probanden mit einem schwächeren sozioökonomischen Hintergrund seltener antworten, mussten die Forscher die Daten gewichten, damit sie noch repräsentativ sind.
Mit Blick auf die Studierenden hätten die Forscher vorsichtigere Schlüsse gezogen, meint Burkard. Wer erstmal ein, zwei Jahre Auszeit nimmt, kann vier Jahren nach Schulende noch keinen Bachelorabschluss haben. Keine Aussage konnten die Forscher über die Effektivität von Maßnahmen im Übergangssystem treffen. Sie konnten nur beziffern, wie viele Maßnahmen jemand wahrnimmt. Bisherige Untersuchungen zeigen: je praxisnäher eine Maßnahme, desto erfolgversprechender.
Die ausgewerteten NEPS-Daten decken die Jahren 2010 bis 2014 ab. Aktuelle Schlüsse, auch vor dem Hintergrund der Pandemie, lassen sich aus der Bertelsmann-Studie daher nicht ableiten. “Uns fehlt in Deutschland ein Bildungsmonitoring, mit dem wir aktuell sehen, wo es Problemfelder gibt, wo wir gegensteuern müssen”, sagt Studienautorin Burkard. Damit verbunden brauche es mehr Beratung über die Bildungsbereiche hinweg.
So können Jugendliche zum Beispiel im Rahmen einer Assistierten Ausbildung von der Agentur für Arbeit Unterstützung erhalten. Meist, so Burkard, wird sie jedoch nicht schon für die Schulzeit ausgeschrieben – obwohl das möglich ist. Daneben können sogenannte Berufseinstiegsbegleiter Jugendliche beim Übergang in Ausbildung unterstützen. Seitdem die bundesweite Förderung für sie ausgelaufen ist und die Länder die Ko-Finanzierung übernehmen müssen, gibt es sie allerdings nicht mehr in allen Bundesländern.
Ein Vorbild ist laut Studie Hamburg: Dort arbeiten in der Jugendberufsagentur die Agenturen für Arbeit, Jobcenter und Träger der Jugendhilfe zusammen. Die Berater wissen bis auf wenige Personen, was die Jugendlichen aktuell machen. “Hier gibt es schon ein Monitoring“, sagt Burkard. Gerade bei Jugendlichen, die sonst keinen Rückhalt hätten, sei es wichtig, dass jemand da ist, der zeigt: Deine Zukunft zählt, du bist wichtig. Und es brauche “Kümmerer”, die helfen, wenn jemand vorschnell seine Ausbildung abbrechen will, weil es in der Ausbildung Konflikte oder persönliche Probleme gibt.
Laut Fachkräftestrategie will die Ampel-Koalition Beratungsstellen wie die Jugendberufsagenturen flächendeckend ausbauen. Burkard meint jedoch, Impulse des Bundes werden nicht reichen. Es brauche regional angepasste Lösungen. Jugendberufsagenturen nach dem Vorbild des Stadtstaats Hamburg ließen sich zum Beispiel in ländlichen Regionen schwer umsetzen, allein schon aufgrund der aktuell weiten Wege zwischen den Institutionen, die sich beteiligen müssten.
Für ein besseres Monitoring spricht sich auch Pankraz Männlein aus. Der Bundesvorsitzende des Bundesverbandes der Lehrkräfte für Berufsbildung ist Schulleiter einer Berufsschule in Bamberg. Dort seien sie mit einem multiprofessionellen Team aus Schulpsychologen, Sozialpädagogen, Schulsozialarbeitern und Beratungslehrkräften eigentlich gut auf Jugendliche mit Inklusions- und Unterstützungsbedarf vorbereitet. Oft gingen nach Ausbildungsbeginn Mitte September jedoch wertvolle Monate verloren, weil Förderbedarfe sich erst zeigen müssen.
“Ich wünsche mir hier mehr Informationen von den allgemeinbildenden Schulen“, sagt er. “Bisher hindert uns daran der Datenschutz, so wichtig er im Kontext Schule auch ist.” Seine Berufsschule schickt bisher im Frühjahr Briefe über das Schulamt an die einzelnen Schulen im Zuständigkeitsbereich. “Wir bitten die Klassenleiter:innen, den betreffenden Schüler:innen und ihren Eltern Informationen zu unserer Schule zu geben, mit der Bitte, uns zu kontaktieren.” Falls sich die Eltern melden, könne die Berufsschule dann im Vorfeld klären, welche Maßnahmen eingeleitet werden können. “Oft wissen sie gar nicht, was möglich ist und sind froh, wenn jemand auf sie zugeht”, sagt Männlein.
Eine ähnliche Forderung vertritt Kadim Tas, Vorstand von Joblinge, einer gemeinnützigen Initiative, die an über 30 Standorten in Deutschland junge Menschen unterstützt, die bisher keinen Ausbildungsplatz gefunden haben. Zu dem Programm, das von Staat, Unternehmen und Privatspenden finanziert wird, kommen die Jugendlichen meist über das Jobcenter. Tas will mehr “institutionalisierten Datenaustausch zwischen Schulen und Jobcenter”, damit junge Menschen schon in der Schule passgenaue präventive Angebote erhalten können. Es brauche “direkte Anschlüsse von der Schule in den Beruf” und “ein durchlässiges, akteursübergreifendes Handeln”. Damit sollte das Risiko gemindert werden, junge Menschen im Übergangssystem zu verlieren.
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Ein Team aus Forscherinnen und Forschern hat erstmals die Nationale Bildungsplattform unter die Lupe genommen – und spart nicht mit Kritik. Eine Gruppe zivilgesellschaftlicher Akteure rund um Felicitas Macgilchrist stößt sich unter anderem an zwei zentralen Elementen: der digitalen Identität der Nutzer und dem sogenannten Wallet, in dem sämtliche Zeugnisse und Zertifikate der Bürger künftig gespeichert sein sollen. Wie kann man den Schutzbedürfnissen der Nutzenden Rechnung tragen? So fragen die Experten, die im Auftrag von Wikimedia die 630 Millionen Euro teure Bildungsplattform untersuchten. Wer gewährleistet den barrierefreien Zugang für Menschen mit Einschränkungen? Welchen Zugriff haben Eltern auf die bildungsbezogenen Daten ihrer Kinder? So steht es in dem Gutachten, das Bildung.Table in Teilen vorliegt.
Das Gutachten wird kommenden Dienstag in Anwesenheit der SPD-Vorsitzenden Saskia Esken vorgestellt, die das millionenschwere Projekt während Corona anstieß. Die gemeinnützige Organisation Wikimedia möchte so eine breitere Debatte über die digitale Infrastruktur und die Bildungsplattform anstoßen. Trotz ihres Preises ist sie bislang kaum öffentlicher Diskussion unterzogen. Die Plattform soll Angebote der staatlichen und privaten digitalen Bildungslandschaft miteinander verknüpfen. Nutzende können darüber etwa Log-Ins von Bildungsanbietern vereinheitlichen, Zertifikate ablegen oder durch einen Algorithmus neue Lerninhalte finden.
Bereits im Juni hatte Studienautor Michael Seemann in einem Beitrag für Bildung.Table den Verantwortlichen vorgeworfen, “das Projekt rein technisch und unpolitisch aussehen zu lassen.” Diese Leerstelle möchte die Wikimedia-Studie füllen. Neben Macgilchrist und Seemann haben weitere Autoren öffentlich zugängliche Materialien ausgewertet, aber auch Interviews mit Beteiligten geführt.
In einem Abschnitt untersucht das Team die zugrundeliegenden bildungs- und lernbezogenen Annahmen. Kritik üben die Autoren an der Wallet-Funktion, in der Nutzer ihre Zertifikate ablegen können. Das Wallet fördere das Verständnis von Bildung als datafizierbarem Prozess, heißt es im Text. Pädagogische Fragen träten bei der Planung der Plattform in den Hintergrund. Die Kritiker zielen damit auf die Tatsache, dass die Bundesregierung ein Notenheft ins Zentrum einer Plattform stellt und informelles Lernen damit ausschließt.
Ein weiterer bildungswissenschaftlicher Kritikpunkt betrifft die angestrebte Datensouveränität. Hierbei würden die Plattform-Architekten von Nutzenden ausgehen, die souverän über ihre Daten verfügen und auf “Augenhöhe mit den Bildungsanbietern” agieren können. Doch ist aus medienpädagogischer Sicht diese Kompetenz als Lernziel überhaupt erst anzustreben. Diese theoretischen Analysen führen die Autoren immer wieder zu konkreten, brisanten Fragen. “Wie wird sichergestellt, dass den Nutzenden kein Nachteil daraus erwächst, wenn sie die Freigabe ihrer Daten verweigern?”
Die Autoren plädieren für eine interdisziplinäre Diskussion der BMBF-Pläne. Schließlich könnte die Plattform das Verständnis von Bildungsprozessen für viele Jahre (mit)prägen. Ein Verdienst des Autorenteams ist bereits abzusehen. Sie stellen die bisher stärker technologisch geführte Debatte auf ein bildungswissenschaftliches und medientheoretisches Fundament. Am kommenden Dienstagabend wird die Studie in Berlin präsentiert. Auf dem Panel nehmen neben Saskia Esken unter anderem die Bildungsaktivistin Marina Weisband und Johanna Börsch-Supan, Abteilungsleiterin im BMBF, Platz. npr/cif
Es gibt Warnzeichen, dass Kindern und Jugendlichen ein Winter mit vermehrten psychischen Problemen bevorsteht. Darauf weist das Portal für psychologische Beratung Krisenchat hin, das rund um die Uhr für Gespräche offen ist. Die Betreiber des Portals führen ihre Prognose auf eine extrem stark gestiegene Anzahl an Krisenberatungen im Sommer dieses Jahres hin. “Die Chat-Anfragen haben im Vergleich zum Sommer des Vorjahres extrem zugenommen”, sagte Co-Gründer Kai Lanz. Er berichtet ein Plus von 150 Prozent im Vergleich zum Sommer 2021. Im Sommer des zweiten Corona-Jahres verzeichneten die psychologischen Berater 4.700 Chatanfragen von Kindern und Jugendlichen. Im Sommer 2022 waren es dagegen über 12.000 Krisenchats.
Die minderjährigen Anfragenden bewegt vor allem der Krieg in der Ukraine und seine Folgen wie wirtschaftliche Unsicherheit oder ein gereiztes öffentliches Klima. “Der bevorstehende Winter mit steigender Inflation, Energiepreisen und Corona-Maßnahmen wird die psychische Verfassung von jungen Menschen weiter verschärfen”, befürchtet Kai Lanz. Er erwarte einen “erheblichen Zuwachs an psychischen Problemen bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen.” Eine Umfrage des Krisenchats hatte bereits Anfang des Jahres gezeigt, dass es acht von zehn jungen Leuten belastet, Nachrichten über den Krieg in der Ukraine zu sehen. Krisenchat hat nach Kriegsbeginn auch eine Beratung für ukrainische Anfrager eingerichtet.
Krisenchat hatte sich im ersten Corona-Jahr 2020 gegründet. Die Idee war, Kindern und Jugendlichen über Medien, die sie täglich nutzen, die Möglichkeit zu geben, sich mit Profis über ihre mentale Situation auszutauschen. Schüler können sich per WhatsApp oder Kurzmitteilung an Krisenchat wenden. Sie haben 24 Stunden täglich Gelegenheit, mit Psychologen zu schreiben. In den neun Monaten nach Gründung wurden damals 17.000 digitale Kummergespräche via Messenger geführt. Rund ein Fünftel der Schüler äußerten im Chatverlauf depressive Stimmungen bis hin zu suizidalen Gedanken. In solchen Fällen stellt der Krisenchat eine Verbindung zu psychologischen Beratungsstellen her. Das Team von Krisenchat hat wiederholt darauf hingewiesen, dass es eine große Lücke bei niedrigschwelligen psychologischen Beratungsangeboten für Kinder und Jugendliche gibt. Christian Füller
Darauf hat man lange warten müssen. Jetzt ist eine fundamentale Kritik der EdTechs an den sogenannten Open Educational Resources, kurz OER, erschienen. Sie klingt wie die Theorie zu der Empirie des digitalen Bildungsmarktes in Deutschland. Die European EdTech Alliance gesteht den OER-Lernmaterialien viel Potenzial am Markt zu. Fragt aber gleichzeitig: Wann werden diese Potenziale endlich gehoben? Aber es geht nicht allein um das Instrument und die medialen Kristallisationsformen neuer digitaler Content-Träger. Im Mittelpunkt des Papiers steht der chaotische digitale Bildungsmarkt: “Jede staatlich verordnete Produktion kostenloser Lehrplanressourcen birgt die Gefahr der Schaffung unregulierter oder ungeregelter oder ungerechter Marktstrukturen und neue Anforderungen an die ohnehin begrenzte Zeit von Lehrenden und Gemeinschaften.”
Tatsächlich ist das Kürzel OER in Deutschland nicht nur eine weitgehend unbekannte Abkürzung für Lernmaterialien. Es ist zugleich eine Chiffre für schwer zu durchschauende Subventionen, die in sehr kleine Zirkel von so genannten Communities fließen. So ergab eine aktuelle Anfrage von Bildung.Table beim Bundesbildungsministerium, dass in den nächsten Jahren 150 Millionen Euro in OER-Initiativen fließen sollen. Gleichzeitig feiern kleine Gründer, dass zum ersten Mal die freie EdTech-Szene in den Genuss direkter staatlicher Zuschüsse gekommen ist. Kümmerliche neun Millionen Euro sind es, welche sich die Start-ups in mühsamen Antragsrunden erkämpfen mussten. Da erscheinen die Geldflüsse aus dem Bildungsministerium, die unter dem Kürzel OER in den Markt strömen, weitaus größer: Für die Nationale Bildungsplattform stehen 630 Millionen Euro zur Verfügung. Die bislang nur in kleinen Teilen auf dem Markt angekommene ehemalige “Nationale Bildungscloud” hat rund 20 Millionen Euro gekostet. Der Rechnungshof hat jüngst gefordert, so etwas dürfe nicht wieder passieren.
In ein ähnliches Horn stoßen nun die europäischen Bildungs-Start-ups. Sie wollen, dass die Marktordnung auch auf digitalen Märkten endlich Geltung bekommen müsse. “Die Wettbewerbsregeln regeln, wie öffentliche Stellen auf einem kommerziellen Markt tätig werden dürfen, wenn dies über ihre Kernaufgabe hinausgeht”, schreiben die EdTechs. Sie meinen damit eine Vielzahl von Situationen, die auch in Deutschland seit einigen Jahren zu beobachten sind. Es geht zum Beispiel um “die bloße Präsenz des öffentlichen Akteurs auf dem Markt”.
Da gibt es gerade wieder schöne Lehrbeispiele. Etwa wenn in Nordrhein-Westfalen das Kernelement einer staatlichen Lernplattform nach zehn Jahren Entwicklung weitere 200 Millionen Euro bekommen soll – um überhaupt zu funktionieren. Die Quintessenz des Papiers ist Fairness. In den Worten der EdTechs heißt das, Wettbewerbsregeln müssen her – und gelten. “Sie schreiben auch vor, dass öffentliche und private Unternehmen ähnliche Bedingungen haben müssen, wenn sie auf demselben Wettbewerbsmarkt tätig sind”, heißt es im Papier. Davon allerdings ist der Bildungsmarkt derzeit meilenweit entfernt. Es gibt kleine marginalisierte EdTechs, die von drei mächtigen Konkurrenten gleichzeitig bedroht werden: von Initiativen, die direkt aus den Ministerien subventioniert werden; von semi-staatlichen Anbieter, die ebenfalls vom Staat bevorzugt werden; und von den klassischen EdTech-Giganten aus den USA und China, die quasi machen können, was sie wollen. Christian Füller
Das BMBF möchte keinen eigenen Pakt für berufliche Schulen auflegen – anders als ursprünglich von Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) angekündigt. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion hervor, die Bildung.Table vorliegt. Im Koalitionsvertrag verständigten sich die Ampel-Koalitionäre darauf, zur Stärkung und Modernisierung berufsbildender Schulen gemeinsam “mit Ländern, Kommunen und relevanten Akteuren einen Pakt” aufzulegen.
In der Antwort verweist Jens Brandenburg, Parlamentarischer Staatssekretär im BMBF, nun auf die Länder. Sie arbeiteten gerade an einer Initiative für einen Pakt für berufliche Schulen. Das BMBF begrüße das und werde den Prozess “konstruktiv begleiten”. Inhaltliche und zeitliche Abstimmungen liefen noch.
Stark-Watzinger lasse neue Ideen und Impulse zur Stärkung der beruflichen Bildung völlig vermissen, sagte Stephan Albani, CDU-Obmann im Bildungsausschuss, gegenüber Bildung.Table. “Bei dem von der Ministerin angekündigten Pakt für berufliche Schulen überlässt sie gar den Ländern nun völlig die Initiative.” Auch die CSU-Bildungspolitikerin Katrin Staffler übte Kritik: Die im Juni 2021 veröffentlichten Ergebnisse der Enquête-Kommission “Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt” spiegelten sich zu wenig im Regierungshandeln der Ampel wider. “Das ist schlecht für unser Land und schlecht für die berufliche Bildung, die gerade jetzt ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit erhalten muss.”
Die Enquete-Kommission hatte zum Beispiel sogenannte “digital vocational classrooms” empfohlen: gemeinsamen digitalen Unterricht von deutschen Berufsschülern mit Bildungsinstitutionen in Europa und weltweit. So ließe sich die internationale Mobilität steigern, gerade in Krisen wie der Pandemie. Das BMBF hat dazu aber keine Pläne und weiß genauso wenig, was die Länder vorhaben.
Bezüglich der Exzellenzinitiative Berufliche Bildung, die noch in diesem Jahr kommen soll, schreibt Brandenburg wenig Neues: Die Berufsorientierung soll ausgebaut. Neben einer “besseren Förderung individueller Chancen und Maßnahmen, die die internationale Sichtbarkeit und Mobilität erhöhen” soll es “gezielte Impulse für moderne und exzellente Berufsbildungsangebote und Lernorte” geben. Für den Innovationswettbewerb “InnoVET” ist ein Folgeprogramm geplant. Außerdem sollen “Kooperationsstrukturen zwischen beruflicher und akademischer Bildung” ausgebaut und hybride Bildungsangebote entwickelt werden.
Zur Ausbildungsgarantie teilt die Bundesregierung mit, dass für deren Finanzierung aktuell keine Betriebsumlage geplant ist. Diese hatten die Gewerkschaften gefordert und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hatte sich für den Vorschlag zwischenzeitlich offen gezeigt. Das Gesetz soll 2023 kommen.
Jens Brandenburg erklärte daneben, die Bundesregierung wolle die “Allianz zur Aus- und Weiterbildung” 2023 fortführen. In ihr haben sich 2019 unter anderem das BMAS, das BMBF, die KMK, Gewerkschaften und Arbeitgeber zusammengeschlossen, um die berufliche Bildung attraktiver zu machen. Nicht weiterlaufen soll trotz der aktuellen Situation das Bundesprogramm “Ausbildungsplätze sichern”. Ausbildungsbetriebe konnten in der Pandemie Unterstützung in Form von Zuschüssen, Ausbildungs- oder Übernahmeprämien erhalten. Hierzu heißt es in Brandenburgs Antwort: “Die bestehenden wirtschaftlichen Unsicherheiten wirken sich – anders als die ersten Jahre der Pandemie – derzeit nicht spezifisch auf das Angebot an Ausbildungsstellen und die Ausbildungstätigkeit aus.” Anna Parrisius
Der bayerische Ministerpräsident, Markus Söder, hat beim CSU-Parteitag eine “Anpassung der Teilzeitquote” bei Lehrkräften vorgeschlagen. Dass in einigen Schularten 50 Prozent des Personals in Teilzeit arbeiten, sei auf Dauer zu viel, betonte er und appellierte: Alle müssten “gemeinsam einen Beitrag leisten, um die Unterrichtsversorgung besser zu machen”. Der CSU-Chef hat den Lehrermangel offiziell zur Chefsache – und zum Wahlkampfthema – erklärt.
Aktuell profitieren verbeamtete Lehrkräfte in Bayern von zwei Modellen: Für die Antragsteilzeit, die maximal eine Halbierung der Arbeitszeit vorsieht, müssen sie keine bestimmte Begründung vorlegen. Der Dienstherr kann den Antrag ablehnen, wenn “dienstliche Belange” entgegenstehen.
Daneben gibt es die familienpolitische Teilzeit: Wer als Lehrkraft ein Kind unter 18 Jahren oder einen pflegebedürftigen Angehörigen betreut, kann sogar auf acht Wochenstunden reduzieren. Der Freistaat muss einen solchen Antrag bewilligen. Nur “zwingende dienstliche Belange” gegenüber der Antragsteilzeit, eine deutlich verschärfte Formulierung, können zur Ablehnung führen (Übersicht zum Download).
Schon jetzt appelliert Kultusminister Michael Piazolo an alle Teilzeit-Lehrer, ihre Stunden zu erhöhen. Dass Söder nun von einer “Anpassung der Teilzeitquote” spricht, deutet daraufhin, dass er bereit ist, auch das scharfe Schwert des Dienstrechts zu ziehen. Nur, was der CSU-Chef genau vorhat, bleibt unklar. Fragen dieser Redaktion beantwortete die Staatskanzlei am Dienstag nicht.
Die Entrüstung, die seine nebulösen Sätzen am Parteitag auslösen, hat Söder wohl eingepreist. “Das ist ein Schuss ins Knie“, sagt die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV), Simone Fleischmann, gegenüber Bildung.Table. “Die Kolleginnen nehmen Teilzeit nicht aus Spaß. Es gibt Familien, die setzen auf die familienpolitische Teilzeit, um überhaupt Familie und Beruf vereinbaren zu können.”
Wenn Söder die Teilzeitstunden erhöhen will, sagt sie, bräuchte es ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren. “Die Stimmung im Landtag ist durchaus so, dass da viele mitgehen würden”, berichtet Fleischmann. Sie befürchtet jedoch, dass dann noch mehr Lehrer, insbesondere Frauen, ihren Job an den Nagel hängen und unterm Strich sich der Personalmangel eher noch verschärft.
Matthias Fischbach, bildungspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion, warnt ebenfalls davor, pauschal weniger Teilzeit zu erlauben oder Mehrarbeit anzuordnen. Stattdessen wollen die Liberalen mehr Entlastungen und Anreize: durch Kinderbetreuung, weniger Pflichtaufgaben neben dem Unterricht und Prämienzahlung an Lehrer, die freiwillig Stunden erhöhen. Moritz Baumann
Das Kultusministerium hat klargestellt, dass befristet angestellte Lehrkräfte künftig über die Sommerferien hinweg bezahlt werden sollen. Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) sprach am Sonntag von einem wichtigen Signal der Haushaltskommission der grün-schwarzen Koalition. «Gerade die aktuellen Herausforderungen zeigen uns ja eindrücklich auf, wie wichtig Personen mit befristeten Verträgen wie etwa unsere Vertretungslehrkräfte sind, um auf Ausfälle zu reagieren.» Es gehe hier um über 4.000 Lehrerinnen und Lehrer. Darunter seien auch Pädagogen, die geflüchtete Kinder und Jugendliche aus der Ukraine unterrichten. Die Kosten werden auf 15 Millionen Euro geschätzt.
Die Spitzen der grün-schwarzen Koalition erfüllen mit der neuen Regelung eine langjährige Forderung der Lehrergewerkschaften. Grünen-Fraktionschef Andreas Schwarz hatte darauf gedrungen, was zunächst bei der CDU-Fraktion sowie im Staats- und Finanzministerium für Ärger sorgte. Die CDU-Seite konnte die Forderung der Grünen-Fraktion jedoch schlecht ablehnen, weil ein Parteitag vor kurzem für ein Ende der Regelung gestimmt hatte. Trotzdem gab es Stimmen, die diese Ausgabe von 15 Millionen Euro pro Jahr als nicht vordringlich ansahen.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) erklärte, der lange Atem habe sich gelohnt. «Die Uhren sind umgestellt und endlich sollen befristet beschäftigte Lehrkräfte in den Sommerferien bezahlt werden», sagte GEW-Vize Farina Semler. «Die Vertretungslehrkräfte sind für die Schulen der Rettungsanker.» Die GEW werde sich aber auch weiter dafür einsetzen, dass die Sommerferien auch für die fertigen Referendarinnen und Referendare bezahlt werden. Diese schließt das Bildungsministerium von der Regelung bisher aus. dpa
Von Ekkehard Thümler
Wie viele Kinder sollten am Ende ihrer Schulzeit gut lesen, schreiben und rechnen können? Auf diese Frage kann es nur eine Antwort geben: alle. Wie viele Kinder dürfen nach neun Jahren Unterricht die Schule verlassen, ohne lesen, schreiben und rechnen zu können? Auch hier ist die Antwort klar: keines. Wenn es um die Vermittlung grundlegender Kulturfähigkeiten geht, müssten alle Schulen 100-Prozent-Schulen sein.
Doch ist das nicht bloßes Wunschdenken und in der Praxis völlig unerreichbar? Absolut nicht. Schon heute gibt es Schulen, die praktisch alle Kinder zum Erfolg führen. Wenn wir uns an ihrem Vorbild orientieren, kann morgen für Grundschüler zum Standard werden, was heute nur in Ausnahmefällen gelingt.
Die Applegarth Academy, in einem sozialen Brennpunkt im Süden Londons gelegen, war noch vor wenigen Jahren wegen ihrer schlechten Leistungen von der Schließung bedroht. Dann begann die Schule mit dem Schulentwicklungsprogramm Success for All (SFA) zu arbeiten. Es zielt darauf ab, dass wirklich alle Kinder lesen und schreiben lernen. Und tatsächlich erreichten bei nationalen Tests 90 Prozent der Applegarth-Schüler die Regelstandards in Lesen, Schreiben und Rechnen, 30 Prozent sogar die höheren Standards. Schulen, die praktisch alle Kinder zum Erfolg führen, sind also kein Hirngespinst. Es gibt sie heute schon.
Die Wirklichkeit in den meisten deutschen Schulen sieht freilich anders aus. Die aktuelle Studie IQB–Bildungstrend stellt fest, dass mehr als 40 Prozent aller Kinder am Ende der Grundschulzeit die Regelstandards in Lesen verfehlen. In Mathematik sind es sogar 45 Prozent. Rund jedes fünfte Kind erreicht nicht einmal die Mindeststandards. Erfahrungsgemäß verschärfen sich diese Probleme im Lauf der Schulzeit. Wir bewegen wir uns also auf eine Situation zu, in der die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler nach 9 Jahren unzureichend lesen, schreiben und rechnen kann.
Dieser Befund ist in Zeiten sinkenden gesellschaftlichen Zusammenhalts und wachsenden Fachkräftemangels so skandalös wie erschreckend. Eine größere gesellschaftliche und bildungspolitische Reaktionen löst er allerdings gar nicht mehr aus. Der Pisa-Schock wird gewissermaßen zur Routine. Zwar haben Staat und Behörden eine Vielzahl an Maßnahmen unternommen, um unsere Schulen besser und gerechter zu machen. Doch der gewünschte Erfolg blieb aus.
Dies hat eine fatale Wirkung: In Schulsystem und Gesellschaft ist der Eindruck entstanden, die Bemühungen seien an eine Decke des Möglichen gestoßen. Viel mehr als im Moment schon geschieht – so drückt sich die herrschende Ambitionslosigkeit aus -, sei eben nicht machbar. Ein derart erschöpftes Bildungssystem kann keinen neuen Aufbruch organisieren.
Dabei haben Bildungs- und Innovationsforschung und viele erfolgreiche Schulen längst gezeigt, wie Bildungsinnovation gelingen kann. Es ist höchste Zeit, ausgestattet mit diesem Wissen eine Gegenoffensive mit einem ambitionierten Ziel zu starten: Dass möglichst alle Kinder und Jugendlichen am Ende ihrer Schulzeit gut lesen, schreiben und rechnen können.
Träger einer solchen Initiative könnte ein Konsortium sein, das von einem Bundesland gemeinsam mit Partnern aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft aufgebaut wird. So entstünde eine Koalition der Willigen, welche die für Innovation unverzichtbaren Freiräume, das Personal und die Finanzierung bereitstellen – und zwar nicht nur für eine begrenzte Projektphase, sondern dauerhaft. Ziel wäre es, ausgewählten Schulen die Mission aufzugeben, wirklich allen Kindern die Basiskompetenzen beizubringen. Sie sollten “100-Prozent-Schulen” heißen. Das bedeutet, dass praktisch alle ihrer Schüler:innen die Regelstandards in Lesen, Schreiben und Rechnen erreichen müssen – zuverlässig und dauerhaft.
Die Umsetzung in den Schulen sollte die folgenden Bausteine beinhalten:
100-Prozent-Schulen dürften keine isolierten Einzelschulen mehr sein. Sie wären in kleinen Schulverbünden organisiert und erhielten von Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft Unterstützung bei der Umsetzung einer gemeinsamen Mission. So könnten digitale Bildungsunternehmen dort ihr Knowhow einbringen und Angebote zur Diagnose und Förderung von Basiskompetenzen entwickeln. Auch die Zivilgesellschaft könnte helfen, etwa mit Lesepaten-Programmen, bei denen Freiwillige Kindern vorlesen, deren Eltern das nicht leisten können.
Dieses Programm hat eine Vision: Schulen sollen möglichst schnell und zugleich dauerhaft besser werden. Es will möglichst zügig ganz konkrete Verbesserungen der Schul- und Unterrichtspraxis erreichen. Wenn dieser Lernprozess erfolgreich ist, würden die Schulverbünde immer weitere Mitglieder aufnehmen und diese eng bei ihrem Transformationsprozess begleiten. So könnten Netzwerke aus 100-Prozent-Schulen zu Keimzellen für weitaus leistungsfähigere Schulen der Zukunft werden.
Wir haben heute eine Wahl. Bildungspolitik und Zivilgesellschaft müssen sich nicht länger mit den Grenzen des bisherigen Systems abfinden und auf kleinschrittige Verbesserungen setzen. Damit würden wir riskieren, dass auch in 20 Jahren noch die Hälfte der Kinder die Schule verlässt, ohne grundlegende Kulturtechniken zuverlässig zu beherrschen. Wäre es nicht besser, nein: notwendig, jede nur mögliche Anstrengung für die Zukunft der Kinder zu unternehmen? Und den Weg echter Transformation zu versuchen, um die Grenzen des Möglichen neu zu definieren?
Der Weg zu 100-Prozent-Schulen ist kein leichter. Abkürzungen gibt es nicht. Dafür sind geduldige Anstrengungen erforderlich. Doch dieser Ansatz eröffnet eine echte Chance für die Entwicklung leistungsfähiger und gerechter Schulen für das 21. Jahrhundert. Die Weichen dafür sollten wir stellen. Heute.
Ekkehard Thümler ist Senior Fellow des Centre for Social Investment der Universität Heidelberg und Gründer des Non-Profit-Bildungsunternehmens Tutoring for All. Er will das Success-for-All-Programm nach Deutschland holen.
Sie nennt sich selbst eine Bildungsquerulantin. “Weil wir das Bildungssystem gegen den Strich bürsten und bei der digitalen Transformation helfen”, sagt Anja Wagner. Mit “wir” meint sie die digitale Bildungsagentur Frolleinflow. Gemeinsam mit Nicole Bauch, Senior Consultant für E-Learning, betreibt sie die Agentur seit 2011. Sie beraten Kunden wie die Klett-Gruppe, Volkshochschulen und Hochschulen zu bildungspolitischer Transformation, digitaler Kompetenz und zur Zukunft der Bildung und Arbeit.
Nach einem Studium der Sozialwissenschaften an der Universität Göttingen und einer Weiterbildung zur Multimedia-Designerin arbeitete sie mehrere Jahre als freie Konzepterin für verschiedene Multimedia-Agenturen. Bei einer Agentur kam sie mit digitaler Bildung in Berührung, ein Thema, das sie seitdem nicht mehr loslässt.
Von 2002 bis 2011 war sie an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin Lehrbeauftragte und Projektverantwortliche. Ihr Schwerpunkt: Der Einsatz von Videotechnologien in E-Learning-Szenarien und die Nutzung von Web 2.0 für moderne Arbeitsprozessorganisation. Immer wieder beschäftigte sie die Frage, wie Videos das Lernen an Unis verbessern können. Währenddessen promovierte Anja Wagner. Sie untersuchte, wie das Internet als Bildungsort auch von Menschen genutzt werden kann, die in den formalisierten Bildungsstrukturen weniger erfolgreich sind. Die Erkenntnis: Das Netz als neuer Lernraum könnte diesen Menschen weiterhelfen – wenn sie denn wüssten, wie Lernen dort funktioniert.
Heute hält Anja Wagner mit Frolleinflow zum Beispiel Vorträge über die Zukunft einer modernen Aus- und Weiterbildung, bildet Schulleitungen in digitaler Transformation weiter, unterstützt Bildungsprojekte, die neue Wege einschlagen möchten oder entwickelt Online-Kurse für Studierende zu “New Work & Future Skills”.
2021 wurde ihr Buch “Berufen statt zertifiziert” veröffentlicht, in dem sie beschreibt, warum es ihrer Meinung nach Zeugnisse und Zertifikate kaum noch braucht. “Das Zertifikate-System ist größtenteils zu langsam für die schnelllebige Welt in der digitalen Transformation“, sagt Wagner. Gerade in jüngerer Zeit seien Tätigkeiten entstanden, die sich immer weniger in eindeutige Qualifikationsbündel fassen lassen, die man als Beruf bezeichnen könnte. Für diese gebe daher auch keine normierten Bildungswege mit zertifizierenden Abschlüssen.
Anja Wagner fragt sich, ob Schulen und Hochschulen überhaupt dazu fähig sind, auf die Welt da draußen vorzubereiten. Die zentrale Aufgabe von Bildungsinstitutionen sei eigentlich, dabei zu unterstützen, “dass Menschen lernen, wie sie sich in den unsicheren Zeiten heute bewegen können und offen bleiben für neues Wissen.” Damit sie, wenn sie in die Arbeitswelt entlassen werden, immer wieder bereit und fähig sind, sich auch alleine ständig weiterzuqualifizieren.
Digitale Bildung kann dabei helfen, meint Wagner. Aber nur, wenn man ihr transformatives Potenzial nutzt. Das alte, standardisierte Lehr-Lern-Modell sollte mit digitalen Tools nicht einfach effizienter werden. Es brauche vielmehr neue Methoden, mit denen Lernende das Potenzial des Lernraums Internet für die persönliche Weiterentwicklung nutzen können. Wagner spricht sich für ein vernetztes Lernen aus – in der Gemeinschaft und im Kontakt mit anderen und nicht vermittelt durch einzelne Experten. Eine Kombination mit Präsenzangeboten hält Wagner dabei für sinnvoll. Wichtig sei zudem, dass die Lernenden die eigene Neugierde antreibt. “Darauf sollte das institutionelle Bildungssystem vorbereiten”, sagt Wagner. “Und Ed-Techs sollten einen Beitrag leisten, um diesen lebenslangen Lernprozess maximal zu erleichtern.” Sarah Kröger
02. November 2022, 17:30 Uhr, online
Podiumsdiskussion: Mehr Demokratie wagen? Bildungsauftrag und Mitbestimmungsrecht in Schulen
Die wichtigste Frage dieser von Wissenschaft im Dialog und dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung organisierten Podiumsdiskussion lautet: Wie kann demokratische Teilhabe bereits in der Schule gefördert werden? Sprecher sind unter anderem Benjamin Edelstein vom WZB, der Wissenschaftsjournalist Armin Himmelrath und die Bildungsinnovatorin Margret Rasfeld. INFOS & ANMELDUNG
10. und 11. November 2022, Berlin
Konferenz: 252. Amtschefskonferenz INFOS
14. November 2022, 18:00 bis 20:00 Uhr, Leipzig
Gespräch: Bildungsnotstand in Sachsen – zu wenig Lehrkräfte, überlastete Schulen und ein veraltetes Schulsystem
In dieser Diskussion sind zentrale Fragen unter anderem: War der mittlerweile akute Lehrermangel nicht absehbar? Wer ist dafür verantwortlich? Warum wurden nicht genügend Lehrerinnen und Lehrer ausgebildet und eingestellt? Speakerinnen sind unter anderem die bildungspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag Sabine Friedel und die Landesvorsitzende der GEW Uschi Kruse. INFOS & ANMELDUNG
15. November 2022, 14.00 bis 16.00 Uhr, online
Dialog Café NRW: Digitaler Kompetenzerwerb als nachhaltiges Lernziel
Die Veranstaltungsreihe Dialog Café NRW von HD@DH.nrw: Hochschuldidaktik im digitalen Zeitalter setzt sich zusammen aus einer Selbstlerneinheit und einer darauf aufbauenden synchronen Online-Veranstaltung. Auf dieser wird diskutiert, wie Lernziele formuliert werden können und welche digitalen Methoden und Tools sich eignen, den digitalen Kompetenzerwerb als nachhaltiges Ziel in die Hochschullehre zu integrieren. INFOS & ANMELDUNG
16. bis 17. November 2022, Berlin
Konferenz Bildung Digitalisierung: Taking Charge – Visionen für das System Schule
Die Konferenz Bildung Digitalisierung ist die Leitveranstaltung für gute Schule in der digitalen Welt. Ziel ist es, Akteuren im System Schule eine Plattform für Austausch und Vernetzung zu bieten und Impulse für die digitale Transformation im schulischen Bildungsbereich zu setzen. Besonders interessant für unsere Leser: Bildung.Table ist dort am 17. November mit einem Stand vertreten! INFOS & REGISTRIERUNG
17. bis 18. November 2022, Ilmenau und hybrid
Tagung: Raum.Zeit.Format | Lehren und Lernen in hybriden Szenarien
Austausch und Vernetzung zwischen Thüringer Lehrenden, Akteuren aus dem Bereich Digitalisierung und E-Learning sowie bundesweiten Experten ist das Ziel dieser Konferenz. Dabei werden interaktive und experimentelle Elemente des Ausprobierens mit Input- und Impulsformaten verbunden. Themen sind unter anderem die Zukunft hybrider Lehre oder Social Virtual Reality. INFOS & ANMELDUNG
21. November 2022, 17:15 bis 18:15 Uhr, online
Begleitprogramms zur Konferenz “Forum Bildung Digitalisierung”: Gelingensbedingungen von unerwartbar erfolgreichen Schulen im digitalen Wandel
Der Fokus dieser Veranstaltung liegt ganz auf UneS – Unerwartbar erfolgreiche Schulen im digitalen Wandel. Das vom BMBF geförderte Forschungsprojekt der Uni Paderborn setzt sich damit auseinander, wie schulische Bildungsprozesse ihre Wirksamkeit hinsichtlich der Förderung von digitalen Kompetenzen von Schülern aus sozial benachteiligten Lagen entfalten können. INFOS & ANMELDUNG
21. bis 24. November 2022, online
2. MINT-Aktionstage
Die zweiten MINT-Aktionstage setzen sich an vier Tagen mit je vier Themenfeldern auseinander. Am Gender-Tag geht es um Geschlechterunterschiede im Bildungskontext, am Didaktik-Tag um die wirkungsvolle Arbeit außerschulischer MINT-Initiativen, am MINT+ & Innovation-Tag geht es um das Finden von europäischen Antworten auf grundlegende MINT-Herausforderungen und am Finanzierung & Förderung-Tag darum, Durchblick im “Förderdschungel” zu gewinnen. INFOS & ANMELDUNG
45 Milliarden Euro beträgt der Investitionsstau an Schulen. Udo Beckmann, Vorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung, fordert im Interview, dass die Kommunen diese hohe Summe in die Hände nehmen müssen, um Bauten zu sanieren oder sich für den Ganztag zu rüsten. Weil die Kassen in vielen Kommunen leer sind, müssten Bund und Länder einspringen – auch wenn das zu Neiddebatten führe. Das Interview mit Moritz Baumann zeigt eindrücklich, welcher Druck auf den Kommunen derzeit lastet.
Eine andere Baustelle haben Forscher im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung beleuchtet: Fast jeder sechste Schulabgänger hat es noch gar nicht in eine Ausbildung geschafft, oder sie spät ohne Alternative abgebrochen. Dabei kommen die Betroffenen überdurchschnittlich häufig aus einem benachteiligten Elternhaus, haben eine Migrationsgeschichte und einen niedrigen Schulabschluss. Für die heutige Ausgabe habe ich analysiert, welchen Handlungsbedarf Studienautorin Claudia Burkard und Praktiker sehen – und wo es bereits gut läuft.
Aufrütteln möchte Sie Innovationsforscher Ekkehard Thümler mit einem Gastbeitrag. Darin fordert er eine beherzte Reaktion auf den IQB-Bildungstrend. Er plädiert für ein Programm, das die Basiskompetenzen Lesen, Schreiben, Rechnen allen Schülern beibringt. Die 100-Prozent-Schule nennt er sein Konzept. Ausgewählte Schulen sollen vorangehen und dabei von Wissenschaftlern, Ed-Tech-Unternehmen und Ehrenamtlichen unterstützt werden. Denn, so Thümler: “Bildungspolitik und Zivilgesellschaft müssen sich nicht länger mit den Grenzen des bisherigen Systems abfinden und auf kleinschrittige Verbesserungen setzen.”
Ich wünsche Ihnen eine ansprechende Lektüre!
Herr Beckmann, Sie waren vor Ihrer Zeit beim VBE fast zehn Jahre Schulleiter einer Hauptschule in Dortmund. Wie oft hat es zwischen Ihnen und Ihrem Schulträger geknirscht?
Geknirscht hat es selten, aber ich war oft ungeduldig. Damals, um die Jahrtausendwende, wurden an den Schulen die ersten Ganztagsangebote eingerichtet. Das war für die Schulträger ein echter Kraftakt: Wie müssen die Räume ausgestattet sein? Wie können die Schülerinnen und Schüler mittags verpflegt werden? Wann dürfen Klassen, wann die Sportvereine in die Turnhalle? Was bedeutet der Ganztag für das Reinigungspersonal? Simple Dinge, die ein Schulträger in der Praxis klug steuern muss.
Wenn Sie sich heute die Bildungslandschaft anschauen: Sind die Schulträger eher Innovatoren oder Bremser?
Da gibt es keine pauschale Antwort. In kleinen Gemeinden ist die Schule oft das Aushängeschild für den Bürgermeister, während große Kommunen vor ganz anderen Herausforderungen stehen. Beispiel: Ruhrgebiet. Dort gehen viele Städte nahtlos ineinander über. Viele Schulträger leiden unter großer finanzieller Knappheit, einige Städte stehen unter Haushaltsvorbehalt. Das ist mit ein Grund, dass die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) den bundesweiten Investitionsstau in Schulen mittlerweile mit über 45 Milliarden Euro beziffert.
Ist die kommunale Schulträgerstruktur damit nicht eine der Kernursachen für Bildungsungleichheit in Deutschland?
Die komplizierte Frage der Schulfinanzierung und damit auch die kommunale Schulträgerstruktur ist sicherlich eine Ursache. Schule soll Lern- und Lebensraum sein. Wenn sich Schimmel über die Wände zieht und der Wind durch die Fenster pfeift, hat das negative Auswirkungen auf den Lernerfolg der Kinder.
Braucht es also ein eigenes Bund-Länder-Programm, um finanzschwache Kommunen zu unterstützen und den Gordischen Knoten zu durchschneiden?
Ja, besonders mit Blick auf den Ganztag. Wenn wir die Kinder und Jugendlichen ganztägig unterrichten, bilden und erziehen sollen, braucht es eine attraktive Lernumgebung. Schülerinnen und Schüler verbringen heute viel mehr Zeit in den Schulen. Doch die Schulgebäude sind oft weiter auf Halbtagsbetrieb ausgerichtet. Ganztag ist mehr als der Bau einer Mensa. Das müssen alle endlich verstehen. Ziel müssen gleiche Bildungschancen sein – unabhängig vom Wohnort. Bund und Kommunen sollten hier ein gemeinsames Programm auflegen.
An welche Summe denken Sie?
Der Investitionsstau liegt bei 45 Milliarden Euro. Das ist die richtige Größenordnung. Nur: Wie jeder Bürger finden auch die Kommunen aktuell keine Handwerker. Dazu kommt die Kostenexplosion bei Materialien.
Müssten dann nicht konsequenterweise auch die Mittel für den Ganztag gezielt in finanzschwache Kommune umgeleitet werden?
Die Bildungsminister müssen klare Qualitäts- und Mindeststandards vorgeben – in puncto Raumangebot, Personalschlüssel et cetera. Und wenn eine Kommune diesen Kraftakt finanziell nicht stemmen kann, müssen Bund und Länder einspringen. Das wird Neiddiskussionen auslösen, aber nur so erreichen wir Chancengleichheit.
Wie sieht denn eine moderne Schule aus?
Es braucht Räume, damit Lehrer innerhalb von Klassen und Gruppen differenzieren können. Es braucht Rückzugs- und Ruheräume für Schülerinnen und Schüler und für das Personal. Es braucht offen gestaltete Areale für Projektarbeit. Der VBE hat dazu mit dem Bund der Architekten und der Montag Stiftung Leitlinien herausgegeben (zum Download). Aktuell ist viel Geld im Rückstau: Wenn Schulträger jetzt investieren, kann es nicht nur um Toilettensanierung gehen. Wir müssen Schulgebäude ganz neu gestalten. Dafür müssen Schulleiter, Lehrkräfte, Eltern und Schüler eingebunden werden. Das Bauen muss sich nach der Pädagogik richten – nicht umgekehrt.
Prallt da nicht die klassische Verwaltungslogik auf die Visionen einzelner Schulleiter? Schulträger sind doch vor allem Ausstatter, die mit den pädagogischen Konzepten wenig am Hut haben, oder?
Ich glaube, dafür fehlen in den Kommunen oft auch die Fachleute – beispielsweise im Schulbau. Nicht jede Gemeinde hat dafür einen eigenen Dezernenten, während in Großstädten die Themen Erweiterung, Schulneubau und -sanierung immer auf der Tagesordnung stehen. Die Schulplaner müssen Zeit haben, sich intensiv in die Materie einzuarbeiten, um das überkommene Konzept der ‘Flurschule’ zu überwinden. Zum Glück sind viele Schulträger bereit, in den Austausch mit den Pädagogen an den Schulen zu gehen.
In Düsseldorf startet in einer Woche der Deutsche Schulträgerkongress – eine Premiere und der VBE ist Mitveranstalter. Das ist aber doch gar nicht Ihre Baustelle als Pädagogik-Verband.
Doch, das ist sogar genau unsere Baustelle. Wir Lehrerinnen und Lehrer wissen, wie wichtig Ausstattung, Räume und Schulgelände für den Lernerfolg sind. Und, daneben geht es auch um die Arbeitsplätze und die Berufszufriedenheit unserer Verbandsmitglieder. Da haben wir Erwartungen und Ansprüche, die wir im engen Austausch mit den Schulträgern diskutieren wollen, um ein gemeinsames Bildungsverständnis zu entwickeln.
Der VBE betont immer wieder, welche Masse an Aufgaben auf Schulen einprasseln: Integration, Inklusion, Ganztag. Damit sind viele kleine kommunale Verwaltungen doch schlicht überfordert. Hat die klassische Grund- und Mittelschule in jedem Dorf ausgedient?
Das kommt auf das Alter der Kinder an. Wohnortnahe Grundschulen müssen erhalten bleiben. Bei den weiterführenden Schulen gibt es genau diese Diskussion: Ab welcher Größe kann das Schulangebot sinnvoll aufrechterhalten werden? Das ist eine hochpolitische und heikle Frage. Denn viele Betriebe siedeln sich nur in Gemeinden an, die in ihre Schulen investieren. Das Bildungsangebot in einer Kommune ist ein entscheidender Wettbewerbsfaktor.
Abschlussfrage: Die Digitalisierung ist für die Schulträger ein Dauerbrenner. Wie geht es hier voran?
Es gibt zwei zentrale Lehren aus dem ersten Digitalpakt: Bund und Länder haben die Schulträger zu spät eingebunden und die Antragsverfahren waren viel zu aufwändig konstruiert. Beim Digitalpakt II müssen jetzt schnelle Fortschritte erzielt werden. Kleine Kommunen haben, wenn die Finanzierung ausläuft, nicht das Geld, Geräte und Software zu warten und auszutauschen. Bund und Länder müssen eine Förderung von 2,5 Milliarden Euro pro Jahr verstetigen. Und je länger die Bundesregierung die Entscheidung hinauszögert, umso schwieriger wird es für die Schulträger.
Udo Beckmann steht seit 13 Jahren an der Spitze des Verbands Bildung und Erziehung (VBE). Ende des Jahres will er das Amt an Gerhard Brand übergeben (mehr Informationen). Bis 2017 war Beckmann Landesvorsitzender des VBE NRW. Er ist ausgebildeter Grund- und Hauptschullehrer. Seine Fächer: Physik, Mathematik und Biologie. Zwischen 1996 und 2005 leitete er eine Hauptschule in einem sozialen Brennpunkt in Dortmund.
Wenn Jugendliche die Schule verlassen, verschwinden manche auch aus den Statistiken. Das sind diejenigen, die kein Studium, keine Ausbildung, keine Berufsvorbereitung beginnen. Eine Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung hat nun individuelle Bildungswege nachgezeichnet, um diese Leerstelle zu füllen. Dabei sollte ein umfassendes Bild entstehen, detaillierter als es zum Beispiel der Nationale Bildungsbericht zeichnet. “Wir haben uns daher auch Studierende und deren Probleme angeschaut”, sagt Claudia Burkard, die an der Studie mitgearbeitet hat und Projektmanagerin der Stiftung ist.
Ausgewertet haben die Forscher der Georg-August-Universität Göttingen und der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg Daten des Nationalen Bildungspanels (kurz NEPS für National Educational Panel Study). Seit 2010 werden dabei Teilnehmer regelmäßig nach ihren Bildungs- und Erwerbsverläufen befragt. Das Ergebnis: Bildungswege dauern mehrheitlich länger als vorgesehen. Nach vier Jahren halten erst 43 Prozent einen Ausbildungs- oder einen Studienabschluss in den Händen. Bei jedem Fünften zieht sich der Übergang in eine Ausbildung um ein bis zwei Jahre. Angesichts immer üblicher werdendem Freiwilligem Sozialen Jahr oder Gap Year erstaunt das wenig.
Sorgen macht dagegen vor allem eine Zahl: 15 Prozent der Schulabgänger haben nach vier Jahren noch immer nicht den Einstieg in eine Ausbildung geschafft. Sie sind ungelernt erwerbstätig, arbeitslos, absolvieren berufsvorbereitende Maßnahmen oder haben eine Ausbildung spät und ohne Alternative abgebrochen. Ihr Risiko, dauerhaft unqualifiziert zu bleiben, ist hoch. Es droht eine prekäre Beschäftigung nach der anderen.
Unter denen, die nach vier Jahren eine Ausbildung alternativlos abbrechen oder noch in keine Ausbildung gefunden haben, kommen überdurchschnittlich viele aus benachteiligten Familien und haben eine Migrationsgeschichte. Außerdem haben sie häufig einen niedrigen Schulabschluss.
Das sind wichtige Ergebnisse. Die Studie zeigt aber auch die Grenzen der Bildungsforschung in Deutschland auf. Gern hätte das Forschungsprojekt nicht nur vier, sondern fünf Jahre nach Schulende eine Bilanz gezogen. Doch die Zahl der Probanden, die den NEPS-Fragebogen beantwortet, nimmt kontinuierlich ab. Waren in der untersuchten Kohorte anfangs 16.000 Jugendliche, antworteten nach vier Jahren nur noch knapp 7.200. Da gerade Probanden mit einem schwächeren sozioökonomischen Hintergrund seltener antworten, mussten die Forscher die Daten gewichten, damit sie noch repräsentativ sind.
Mit Blick auf die Studierenden hätten die Forscher vorsichtigere Schlüsse gezogen, meint Burkard. Wer erstmal ein, zwei Jahre Auszeit nimmt, kann vier Jahren nach Schulende noch keinen Bachelorabschluss haben. Keine Aussage konnten die Forscher über die Effektivität von Maßnahmen im Übergangssystem treffen. Sie konnten nur beziffern, wie viele Maßnahmen jemand wahrnimmt. Bisherige Untersuchungen zeigen: je praxisnäher eine Maßnahme, desto erfolgversprechender.
Die ausgewerteten NEPS-Daten decken die Jahren 2010 bis 2014 ab. Aktuelle Schlüsse, auch vor dem Hintergrund der Pandemie, lassen sich aus der Bertelsmann-Studie daher nicht ableiten. “Uns fehlt in Deutschland ein Bildungsmonitoring, mit dem wir aktuell sehen, wo es Problemfelder gibt, wo wir gegensteuern müssen”, sagt Studienautorin Burkard. Damit verbunden brauche es mehr Beratung über die Bildungsbereiche hinweg.
So können Jugendliche zum Beispiel im Rahmen einer Assistierten Ausbildung von der Agentur für Arbeit Unterstützung erhalten. Meist, so Burkard, wird sie jedoch nicht schon für die Schulzeit ausgeschrieben – obwohl das möglich ist. Daneben können sogenannte Berufseinstiegsbegleiter Jugendliche beim Übergang in Ausbildung unterstützen. Seitdem die bundesweite Förderung für sie ausgelaufen ist und die Länder die Ko-Finanzierung übernehmen müssen, gibt es sie allerdings nicht mehr in allen Bundesländern.
Ein Vorbild ist laut Studie Hamburg: Dort arbeiten in der Jugendberufsagentur die Agenturen für Arbeit, Jobcenter und Träger der Jugendhilfe zusammen. Die Berater wissen bis auf wenige Personen, was die Jugendlichen aktuell machen. “Hier gibt es schon ein Monitoring“, sagt Burkard. Gerade bei Jugendlichen, die sonst keinen Rückhalt hätten, sei es wichtig, dass jemand da ist, der zeigt: Deine Zukunft zählt, du bist wichtig. Und es brauche “Kümmerer”, die helfen, wenn jemand vorschnell seine Ausbildung abbrechen will, weil es in der Ausbildung Konflikte oder persönliche Probleme gibt.
Laut Fachkräftestrategie will die Ampel-Koalition Beratungsstellen wie die Jugendberufsagenturen flächendeckend ausbauen. Burkard meint jedoch, Impulse des Bundes werden nicht reichen. Es brauche regional angepasste Lösungen. Jugendberufsagenturen nach dem Vorbild des Stadtstaats Hamburg ließen sich zum Beispiel in ländlichen Regionen schwer umsetzen, allein schon aufgrund der aktuell weiten Wege zwischen den Institutionen, die sich beteiligen müssten.
Für ein besseres Monitoring spricht sich auch Pankraz Männlein aus. Der Bundesvorsitzende des Bundesverbandes der Lehrkräfte für Berufsbildung ist Schulleiter einer Berufsschule in Bamberg. Dort seien sie mit einem multiprofessionellen Team aus Schulpsychologen, Sozialpädagogen, Schulsozialarbeitern und Beratungslehrkräften eigentlich gut auf Jugendliche mit Inklusions- und Unterstützungsbedarf vorbereitet. Oft gingen nach Ausbildungsbeginn Mitte September jedoch wertvolle Monate verloren, weil Förderbedarfe sich erst zeigen müssen.
“Ich wünsche mir hier mehr Informationen von den allgemeinbildenden Schulen“, sagt er. “Bisher hindert uns daran der Datenschutz, so wichtig er im Kontext Schule auch ist.” Seine Berufsschule schickt bisher im Frühjahr Briefe über das Schulamt an die einzelnen Schulen im Zuständigkeitsbereich. “Wir bitten die Klassenleiter:innen, den betreffenden Schüler:innen und ihren Eltern Informationen zu unserer Schule zu geben, mit der Bitte, uns zu kontaktieren.” Falls sich die Eltern melden, könne die Berufsschule dann im Vorfeld klären, welche Maßnahmen eingeleitet werden können. “Oft wissen sie gar nicht, was möglich ist und sind froh, wenn jemand auf sie zugeht”, sagt Männlein.
Eine ähnliche Forderung vertritt Kadim Tas, Vorstand von Joblinge, einer gemeinnützigen Initiative, die an über 30 Standorten in Deutschland junge Menschen unterstützt, die bisher keinen Ausbildungsplatz gefunden haben. Zu dem Programm, das von Staat, Unternehmen und Privatspenden finanziert wird, kommen die Jugendlichen meist über das Jobcenter. Tas will mehr “institutionalisierten Datenaustausch zwischen Schulen und Jobcenter”, damit junge Menschen schon in der Schule passgenaue präventive Angebote erhalten können. Es brauche “direkte Anschlüsse von der Schule in den Beruf” und “ein durchlässiges, akteursübergreifendes Handeln”. Damit sollte das Risiko gemindert werden, junge Menschen im Übergangssystem zu verlieren.
Lesen Sie auch: “Mit digitalen Formaten Jugendliche und Unternehmen matchen”
Ein Team aus Forscherinnen und Forschern hat erstmals die Nationale Bildungsplattform unter die Lupe genommen – und spart nicht mit Kritik. Eine Gruppe zivilgesellschaftlicher Akteure rund um Felicitas Macgilchrist stößt sich unter anderem an zwei zentralen Elementen: der digitalen Identität der Nutzer und dem sogenannten Wallet, in dem sämtliche Zeugnisse und Zertifikate der Bürger künftig gespeichert sein sollen. Wie kann man den Schutzbedürfnissen der Nutzenden Rechnung tragen? So fragen die Experten, die im Auftrag von Wikimedia die 630 Millionen Euro teure Bildungsplattform untersuchten. Wer gewährleistet den barrierefreien Zugang für Menschen mit Einschränkungen? Welchen Zugriff haben Eltern auf die bildungsbezogenen Daten ihrer Kinder? So steht es in dem Gutachten, das Bildung.Table in Teilen vorliegt.
Das Gutachten wird kommenden Dienstag in Anwesenheit der SPD-Vorsitzenden Saskia Esken vorgestellt, die das millionenschwere Projekt während Corona anstieß. Die gemeinnützige Organisation Wikimedia möchte so eine breitere Debatte über die digitale Infrastruktur und die Bildungsplattform anstoßen. Trotz ihres Preises ist sie bislang kaum öffentlicher Diskussion unterzogen. Die Plattform soll Angebote der staatlichen und privaten digitalen Bildungslandschaft miteinander verknüpfen. Nutzende können darüber etwa Log-Ins von Bildungsanbietern vereinheitlichen, Zertifikate ablegen oder durch einen Algorithmus neue Lerninhalte finden.
Bereits im Juni hatte Studienautor Michael Seemann in einem Beitrag für Bildung.Table den Verantwortlichen vorgeworfen, “das Projekt rein technisch und unpolitisch aussehen zu lassen.” Diese Leerstelle möchte die Wikimedia-Studie füllen. Neben Macgilchrist und Seemann haben weitere Autoren öffentlich zugängliche Materialien ausgewertet, aber auch Interviews mit Beteiligten geführt.
In einem Abschnitt untersucht das Team die zugrundeliegenden bildungs- und lernbezogenen Annahmen. Kritik üben die Autoren an der Wallet-Funktion, in der Nutzer ihre Zertifikate ablegen können. Das Wallet fördere das Verständnis von Bildung als datafizierbarem Prozess, heißt es im Text. Pädagogische Fragen träten bei der Planung der Plattform in den Hintergrund. Die Kritiker zielen damit auf die Tatsache, dass die Bundesregierung ein Notenheft ins Zentrum einer Plattform stellt und informelles Lernen damit ausschließt.
Ein weiterer bildungswissenschaftlicher Kritikpunkt betrifft die angestrebte Datensouveränität. Hierbei würden die Plattform-Architekten von Nutzenden ausgehen, die souverän über ihre Daten verfügen und auf “Augenhöhe mit den Bildungsanbietern” agieren können. Doch ist aus medienpädagogischer Sicht diese Kompetenz als Lernziel überhaupt erst anzustreben. Diese theoretischen Analysen führen die Autoren immer wieder zu konkreten, brisanten Fragen. “Wie wird sichergestellt, dass den Nutzenden kein Nachteil daraus erwächst, wenn sie die Freigabe ihrer Daten verweigern?”
Die Autoren plädieren für eine interdisziplinäre Diskussion der BMBF-Pläne. Schließlich könnte die Plattform das Verständnis von Bildungsprozessen für viele Jahre (mit)prägen. Ein Verdienst des Autorenteams ist bereits abzusehen. Sie stellen die bisher stärker technologisch geführte Debatte auf ein bildungswissenschaftliches und medientheoretisches Fundament. Am kommenden Dienstagabend wird die Studie in Berlin präsentiert. Auf dem Panel nehmen neben Saskia Esken unter anderem die Bildungsaktivistin Marina Weisband und Johanna Börsch-Supan, Abteilungsleiterin im BMBF, Platz. npr/cif
Es gibt Warnzeichen, dass Kindern und Jugendlichen ein Winter mit vermehrten psychischen Problemen bevorsteht. Darauf weist das Portal für psychologische Beratung Krisenchat hin, das rund um die Uhr für Gespräche offen ist. Die Betreiber des Portals führen ihre Prognose auf eine extrem stark gestiegene Anzahl an Krisenberatungen im Sommer dieses Jahres hin. “Die Chat-Anfragen haben im Vergleich zum Sommer des Vorjahres extrem zugenommen”, sagte Co-Gründer Kai Lanz. Er berichtet ein Plus von 150 Prozent im Vergleich zum Sommer 2021. Im Sommer des zweiten Corona-Jahres verzeichneten die psychologischen Berater 4.700 Chatanfragen von Kindern und Jugendlichen. Im Sommer 2022 waren es dagegen über 12.000 Krisenchats.
Die minderjährigen Anfragenden bewegt vor allem der Krieg in der Ukraine und seine Folgen wie wirtschaftliche Unsicherheit oder ein gereiztes öffentliches Klima. “Der bevorstehende Winter mit steigender Inflation, Energiepreisen und Corona-Maßnahmen wird die psychische Verfassung von jungen Menschen weiter verschärfen”, befürchtet Kai Lanz. Er erwarte einen “erheblichen Zuwachs an psychischen Problemen bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen.” Eine Umfrage des Krisenchats hatte bereits Anfang des Jahres gezeigt, dass es acht von zehn jungen Leuten belastet, Nachrichten über den Krieg in der Ukraine zu sehen. Krisenchat hat nach Kriegsbeginn auch eine Beratung für ukrainische Anfrager eingerichtet.
Krisenchat hatte sich im ersten Corona-Jahr 2020 gegründet. Die Idee war, Kindern und Jugendlichen über Medien, die sie täglich nutzen, die Möglichkeit zu geben, sich mit Profis über ihre mentale Situation auszutauschen. Schüler können sich per WhatsApp oder Kurzmitteilung an Krisenchat wenden. Sie haben 24 Stunden täglich Gelegenheit, mit Psychologen zu schreiben. In den neun Monaten nach Gründung wurden damals 17.000 digitale Kummergespräche via Messenger geführt. Rund ein Fünftel der Schüler äußerten im Chatverlauf depressive Stimmungen bis hin zu suizidalen Gedanken. In solchen Fällen stellt der Krisenchat eine Verbindung zu psychologischen Beratungsstellen her. Das Team von Krisenchat hat wiederholt darauf hingewiesen, dass es eine große Lücke bei niedrigschwelligen psychologischen Beratungsangeboten für Kinder und Jugendliche gibt. Christian Füller
Darauf hat man lange warten müssen. Jetzt ist eine fundamentale Kritik der EdTechs an den sogenannten Open Educational Resources, kurz OER, erschienen. Sie klingt wie die Theorie zu der Empirie des digitalen Bildungsmarktes in Deutschland. Die European EdTech Alliance gesteht den OER-Lernmaterialien viel Potenzial am Markt zu. Fragt aber gleichzeitig: Wann werden diese Potenziale endlich gehoben? Aber es geht nicht allein um das Instrument und die medialen Kristallisationsformen neuer digitaler Content-Träger. Im Mittelpunkt des Papiers steht der chaotische digitale Bildungsmarkt: “Jede staatlich verordnete Produktion kostenloser Lehrplanressourcen birgt die Gefahr der Schaffung unregulierter oder ungeregelter oder ungerechter Marktstrukturen und neue Anforderungen an die ohnehin begrenzte Zeit von Lehrenden und Gemeinschaften.”
Tatsächlich ist das Kürzel OER in Deutschland nicht nur eine weitgehend unbekannte Abkürzung für Lernmaterialien. Es ist zugleich eine Chiffre für schwer zu durchschauende Subventionen, die in sehr kleine Zirkel von so genannten Communities fließen. So ergab eine aktuelle Anfrage von Bildung.Table beim Bundesbildungsministerium, dass in den nächsten Jahren 150 Millionen Euro in OER-Initiativen fließen sollen. Gleichzeitig feiern kleine Gründer, dass zum ersten Mal die freie EdTech-Szene in den Genuss direkter staatlicher Zuschüsse gekommen ist. Kümmerliche neun Millionen Euro sind es, welche sich die Start-ups in mühsamen Antragsrunden erkämpfen mussten. Da erscheinen die Geldflüsse aus dem Bildungsministerium, die unter dem Kürzel OER in den Markt strömen, weitaus größer: Für die Nationale Bildungsplattform stehen 630 Millionen Euro zur Verfügung. Die bislang nur in kleinen Teilen auf dem Markt angekommene ehemalige “Nationale Bildungscloud” hat rund 20 Millionen Euro gekostet. Der Rechnungshof hat jüngst gefordert, so etwas dürfe nicht wieder passieren.
In ein ähnliches Horn stoßen nun die europäischen Bildungs-Start-ups. Sie wollen, dass die Marktordnung auch auf digitalen Märkten endlich Geltung bekommen müsse. “Die Wettbewerbsregeln regeln, wie öffentliche Stellen auf einem kommerziellen Markt tätig werden dürfen, wenn dies über ihre Kernaufgabe hinausgeht”, schreiben die EdTechs. Sie meinen damit eine Vielzahl von Situationen, die auch in Deutschland seit einigen Jahren zu beobachten sind. Es geht zum Beispiel um “die bloße Präsenz des öffentlichen Akteurs auf dem Markt”.
Da gibt es gerade wieder schöne Lehrbeispiele. Etwa wenn in Nordrhein-Westfalen das Kernelement einer staatlichen Lernplattform nach zehn Jahren Entwicklung weitere 200 Millionen Euro bekommen soll – um überhaupt zu funktionieren. Die Quintessenz des Papiers ist Fairness. In den Worten der EdTechs heißt das, Wettbewerbsregeln müssen her – und gelten. “Sie schreiben auch vor, dass öffentliche und private Unternehmen ähnliche Bedingungen haben müssen, wenn sie auf demselben Wettbewerbsmarkt tätig sind”, heißt es im Papier. Davon allerdings ist der Bildungsmarkt derzeit meilenweit entfernt. Es gibt kleine marginalisierte EdTechs, die von drei mächtigen Konkurrenten gleichzeitig bedroht werden: von Initiativen, die direkt aus den Ministerien subventioniert werden; von semi-staatlichen Anbieter, die ebenfalls vom Staat bevorzugt werden; und von den klassischen EdTech-Giganten aus den USA und China, die quasi machen können, was sie wollen. Christian Füller
Das BMBF möchte keinen eigenen Pakt für berufliche Schulen auflegen – anders als ursprünglich von Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) angekündigt. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion hervor, die Bildung.Table vorliegt. Im Koalitionsvertrag verständigten sich die Ampel-Koalitionäre darauf, zur Stärkung und Modernisierung berufsbildender Schulen gemeinsam “mit Ländern, Kommunen und relevanten Akteuren einen Pakt” aufzulegen.
In der Antwort verweist Jens Brandenburg, Parlamentarischer Staatssekretär im BMBF, nun auf die Länder. Sie arbeiteten gerade an einer Initiative für einen Pakt für berufliche Schulen. Das BMBF begrüße das und werde den Prozess “konstruktiv begleiten”. Inhaltliche und zeitliche Abstimmungen liefen noch.
Stark-Watzinger lasse neue Ideen und Impulse zur Stärkung der beruflichen Bildung völlig vermissen, sagte Stephan Albani, CDU-Obmann im Bildungsausschuss, gegenüber Bildung.Table. “Bei dem von der Ministerin angekündigten Pakt für berufliche Schulen überlässt sie gar den Ländern nun völlig die Initiative.” Auch die CSU-Bildungspolitikerin Katrin Staffler übte Kritik: Die im Juni 2021 veröffentlichten Ergebnisse der Enquête-Kommission “Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt” spiegelten sich zu wenig im Regierungshandeln der Ampel wider. “Das ist schlecht für unser Land und schlecht für die berufliche Bildung, die gerade jetzt ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit erhalten muss.”
Die Enquete-Kommission hatte zum Beispiel sogenannte “digital vocational classrooms” empfohlen: gemeinsamen digitalen Unterricht von deutschen Berufsschülern mit Bildungsinstitutionen in Europa und weltweit. So ließe sich die internationale Mobilität steigern, gerade in Krisen wie der Pandemie. Das BMBF hat dazu aber keine Pläne und weiß genauso wenig, was die Länder vorhaben.
Bezüglich der Exzellenzinitiative Berufliche Bildung, die noch in diesem Jahr kommen soll, schreibt Brandenburg wenig Neues: Die Berufsorientierung soll ausgebaut. Neben einer “besseren Förderung individueller Chancen und Maßnahmen, die die internationale Sichtbarkeit und Mobilität erhöhen” soll es “gezielte Impulse für moderne und exzellente Berufsbildungsangebote und Lernorte” geben. Für den Innovationswettbewerb “InnoVET” ist ein Folgeprogramm geplant. Außerdem sollen “Kooperationsstrukturen zwischen beruflicher und akademischer Bildung” ausgebaut und hybride Bildungsangebote entwickelt werden.
Zur Ausbildungsgarantie teilt die Bundesregierung mit, dass für deren Finanzierung aktuell keine Betriebsumlage geplant ist. Diese hatten die Gewerkschaften gefordert und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hatte sich für den Vorschlag zwischenzeitlich offen gezeigt. Das Gesetz soll 2023 kommen.
Jens Brandenburg erklärte daneben, die Bundesregierung wolle die “Allianz zur Aus- und Weiterbildung” 2023 fortführen. In ihr haben sich 2019 unter anderem das BMAS, das BMBF, die KMK, Gewerkschaften und Arbeitgeber zusammengeschlossen, um die berufliche Bildung attraktiver zu machen. Nicht weiterlaufen soll trotz der aktuellen Situation das Bundesprogramm “Ausbildungsplätze sichern”. Ausbildungsbetriebe konnten in der Pandemie Unterstützung in Form von Zuschüssen, Ausbildungs- oder Übernahmeprämien erhalten. Hierzu heißt es in Brandenburgs Antwort: “Die bestehenden wirtschaftlichen Unsicherheiten wirken sich – anders als die ersten Jahre der Pandemie – derzeit nicht spezifisch auf das Angebot an Ausbildungsstellen und die Ausbildungstätigkeit aus.” Anna Parrisius
Der bayerische Ministerpräsident, Markus Söder, hat beim CSU-Parteitag eine “Anpassung der Teilzeitquote” bei Lehrkräften vorgeschlagen. Dass in einigen Schularten 50 Prozent des Personals in Teilzeit arbeiten, sei auf Dauer zu viel, betonte er und appellierte: Alle müssten “gemeinsam einen Beitrag leisten, um die Unterrichtsversorgung besser zu machen”. Der CSU-Chef hat den Lehrermangel offiziell zur Chefsache – und zum Wahlkampfthema – erklärt.
Aktuell profitieren verbeamtete Lehrkräfte in Bayern von zwei Modellen: Für die Antragsteilzeit, die maximal eine Halbierung der Arbeitszeit vorsieht, müssen sie keine bestimmte Begründung vorlegen. Der Dienstherr kann den Antrag ablehnen, wenn “dienstliche Belange” entgegenstehen.
Daneben gibt es die familienpolitische Teilzeit: Wer als Lehrkraft ein Kind unter 18 Jahren oder einen pflegebedürftigen Angehörigen betreut, kann sogar auf acht Wochenstunden reduzieren. Der Freistaat muss einen solchen Antrag bewilligen. Nur “zwingende dienstliche Belange” gegenüber der Antragsteilzeit, eine deutlich verschärfte Formulierung, können zur Ablehnung führen (Übersicht zum Download).
Schon jetzt appelliert Kultusminister Michael Piazolo an alle Teilzeit-Lehrer, ihre Stunden zu erhöhen. Dass Söder nun von einer “Anpassung der Teilzeitquote” spricht, deutet daraufhin, dass er bereit ist, auch das scharfe Schwert des Dienstrechts zu ziehen. Nur, was der CSU-Chef genau vorhat, bleibt unklar. Fragen dieser Redaktion beantwortete die Staatskanzlei am Dienstag nicht.
Die Entrüstung, die seine nebulösen Sätzen am Parteitag auslösen, hat Söder wohl eingepreist. “Das ist ein Schuss ins Knie“, sagt die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV), Simone Fleischmann, gegenüber Bildung.Table. “Die Kolleginnen nehmen Teilzeit nicht aus Spaß. Es gibt Familien, die setzen auf die familienpolitische Teilzeit, um überhaupt Familie und Beruf vereinbaren zu können.”
Wenn Söder die Teilzeitstunden erhöhen will, sagt sie, bräuchte es ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren. “Die Stimmung im Landtag ist durchaus so, dass da viele mitgehen würden”, berichtet Fleischmann. Sie befürchtet jedoch, dass dann noch mehr Lehrer, insbesondere Frauen, ihren Job an den Nagel hängen und unterm Strich sich der Personalmangel eher noch verschärft.
Matthias Fischbach, bildungspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion, warnt ebenfalls davor, pauschal weniger Teilzeit zu erlauben oder Mehrarbeit anzuordnen. Stattdessen wollen die Liberalen mehr Entlastungen und Anreize: durch Kinderbetreuung, weniger Pflichtaufgaben neben dem Unterricht und Prämienzahlung an Lehrer, die freiwillig Stunden erhöhen. Moritz Baumann
Das Kultusministerium hat klargestellt, dass befristet angestellte Lehrkräfte künftig über die Sommerferien hinweg bezahlt werden sollen. Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) sprach am Sonntag von einem wichtigen Signal der Haushaltskommission der grün-schwarzen Koalition. «Gerade die aktuellen Herausforderungen zeigen uns ja eindrücklich auf, wie wichtig Personen mit befristeten Verträgen wie etwa unsere Vertretungslehrkräfte sind, um auf Ausfälle zu reagieren.» Es gehe hier um über 4.000 Lehrerinnen und Lehrer. Darunter seien auch Pädagogen, die geflüchtete Kinder und Jugendliche aus der Ukraine unterrichten. Die Kosten werden auf 15 Millionen Euro geschätzt.
Die Spitzen der grün-schwarzen Koalition erfüllen mit der neuen Regelung eine langjährige Forderung der Lehrergewerkschaften. Grünen-Fraktionschef Andreas Schwarz hatte darauf gedrungen, was zunächst bei der CDU-Fraktion sowie im Staats- und Finanzministerium für Ärger sorgte. Die CDU-Seite konnte die Forderung der Grünen-Fraktion jedoch schlecht ablehnen, weil ein Parteitag vor kurzem für ein Ende der Regelung gestimmt hatte. Trotzdem gab es Stimmen, die diese Ausgabe von 15 Millionen Euro pro Jahr als nicht vordringlich ansahen.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) erklärte, der lange Atem habe sich gelohnt. «Die Uhren sind umgestellt und endlich sollen befristet beschäftigte Lehrkräfte in den Sommerferien bezahlt werden», sagte GEW-Vize Farina Semler. «Die Vertretungslehrkräfte sind für die Schulen der Rettungsanker.» Die GEW werde sich aber auch weiter dafür einsetzen, dass die Sommerferien auch für die fertigen Referendarinnen und Referendare bezahlt werden. Diese schließt das Bildungsministerium von der Regelung bisher aus. dpa
Von Ekkehard Thümler
Wie viele Kinder sollten am Ende ihrer Schulzeit gut lesen, schreiben und rechnen können? Auf diese Frage kann es nur eine Antwort geben: alle. Wie viele Kinder dürfen nach neun Jahren Unterricht die Schule verlassen, ohne lesen, schreiben und rechnen zu können? Auch hier ist die Antwort klar: keines. Wenn es um die Vermittlung grundlegender Kulturfähigkeiten geht, müssten alle Schulen 100-Prozent-Schulen sein.
Doch ist das nicht bloßes Wunschdenken und in der Praxis völlig unerreichbar? Absolut nicht. Schon heute gibt es Schulen, die praktisch alle Kinder zum Erfolg führen. Wenn wir uns an ihrem Vorbild orientieren, kann morgen für Grundschüler zum Standard werden, was heute nur in Ausnahmefällen gelingt.
Die Applegarth Academy, in einem sozialen Brennpunkt im Süden Londons gelegen, war noch vor wenigen Jahren wegen ihrer schlechten Leistungen von der Schließung bedroht. Dann begann die Schule mit dem Schulentwicklungsprogramm Success for All (SFA) zu arbeiten. Es zielt darauf ab, dass wirklich alle Kinder lesen und schreiben lernen. Und tatsächlich erreichten bei nationalen Tests 90 Prozent der Applegarth-Schüler die Regelstandards in Lesen, Schreiben und Rechnen, 30 Prozent sogar die höheren Standards. Schulen, die praktisch alle Kinder zum Erfolg führen, sind also kein Hirngespinst. Es gibt sie heute schon.
Die Wirklichkeit in den meisten deutschen Schulen sieht freilich anders aus. Die aktuelle Studie IQB–Bildungstrend stellt fest, dass mehr als 40 Prozent aller Kinder am Ende der Grundschulzeit die Regelstandards in Lesen verfehlen. In Mathematik sind es sogar 45 Prozent. Rund jedes fünfte Kind erreicht nicht einmal die Mindeststandards. Erfahrungsgemäß verschärfen sich diese Probleme im Lauf der Schulzeit. Wir bewegen wir uns also auf eine Situation zu, in der die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler nach 9 Jahren unzureichend lesen, schreiben und rechnen kann.
Dieser Befund ist in Zeiten sinkenden gesellschaftlichen Zusammenhalts und wachsenden Fachkräftemangels so skandalös wie erschreckend. Eine größere gesellschaftliche und bildungspolitische Reaktionen löst er allerdings gar nicht mehr aus. Der Pisa-Schock wird gewissermaßen zur Routine. Zwar haben Staat und Behörden eine Vielzahl an Maßnahmen unternommen, um unsere Schulen besser und gerechter zu machen. Doch der gewünschte Erfolg blieb aus.
Dies hat eine fatale Wirkung: In Schulsystem und Gesellschaft ist der Eindruck entstanden, die Bemühungen seien an eine Decke des Möglichen gestoßen. Viel mehr als im Moment schon geschieht – so drückt sich die herrschende Ambitionslosigkeit aus -, sei eben nicht machbar. Ein derart erschöpftes Bildungssystem kann keinen neuen Aufbruch organisieren.
Dabei haben Bildungs- und Innovationsforschung und viele erfolgreiche Schulen längst gezeigt, wie Bildungsinnovation gelingen kann. Es ist höchste Zeit, ausgestattet mit diesem Wissen eine Gegenoffensive mit einem ambitionierten Ziel zu starten: Dass möglichst alle Kinder und Jugendlichen am Ende ihrer Schulzeit gut lesen, schreiben und rechnen können.
Träger einer solchen Initiative könnte ein Konsortium sein, das von einem Bundesland gemeinsam mit Partnern aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft aufgebaut wird. So entstünde eine Koalition der Willigen, welche die für Innovation unverzichtbaren Freiräume, das Personal und die Finanzierung bereitstellen – und zwar nicht nur für eine begrenzte Projektphase, sondern dauerhaft. Ziel wäre es, ausgewählten Schulen die Mission aufzugeben, wirklich allen Kindern die Basiskompetenzen beizubringen. Sie sollten “100-Prozent-Schulen” heißen. Das bedeutet, dass praktisch alle ihrer Schüler:innen die Regelstandards in Lesen, Schreiben und Rechnen erreichen müssen – zuverlässig und dauerhaft.
Die Umsetzung in den Schulen sollte die folgenden Bausteine beinhalten:
100-Prozent-Schulen dürften keine isolierten Einzelschulen mehr sein. Sie wären in kleinen Schulverbünden organisiert und erhielten von Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft Unterstützung bei der Umsetzung einer gemeinsamen Mission. So könnten digitale Bildungsunternehmen dort ihr Knowhow einbringen und Angebote zur Diagnose und Förderung von Basiskompetenzen entwickeln. Auch die Zivilgesellschaft könnte helfen, etwa mit Lesepaten-Programmen, bei denen Freiwillige Kindern vorlesen, deren Eltern das nicht leisten können.
Dieses Programm hat eine Vision: Schulen sollen möglichst schnell und zugleich dauerhaft besser werden. Es will möglichst zügig ganz konkrete Verbesserungen der Schul- und Unterrichtspraxis erreichen. Wenn dieser Lernprozess erfolgreich ist, würden die Schulverbünde immer weitere Mitglieder aufnehmen und diese eng bei ihrem Transformationsprozess begleiten. So könnten Netzwerke aus 100-Prozent-Schulen zu Keimzellen für weitaus leistungsfähigere Schulen der Zukunft werden.
Wir haben heute eine Wahl. Bildungspolitik und Zivilgesellschaft müssen sich nicht länger mit den Grenzen des bisherigen Systems abfinden und auf kleinschrittige Verbesserungen setzen. Damit würden wir riskieren, dass auch in 20 Jahren noch die Hälfte der Kinder die Schule verlässt, ohne grundlegende Kulturtechniken zuverlässig zu beherrschen. Wäre es nicht besser, nein: notwendig, jede nur mögliche Anstrengung für die Zukunft der Kinder zu unternehmen? Und den Weg echter Transformation zu versuchen, um die Grenzen des Möglichen neu zu definieren?
Der Weg zu 100-Prozent-Schulen ist kein leichter. Abkürzungen gibt es nicht. Dafür sind geduldige Anstrengungen erforderlich. Doch dieser Ansatz eröffnet eine echte Chance für die Entwicklung leistungsfähiger und gerechter Schulen für das 21. Jahrhundert. Die Weichen dafür sollten wir stellen. Heute.
Ekkehard Thümler ist Senior Fellow des Centre for Social Investment der Universität Heidelberg und Gründer des Non-Profit-Bildungsunternehmens Tutoring for All. Er will das Success-for-All-Programm nach Deutschland holen.
Sie nennt sich selbst eine Bildungsquerulantin. “Weil wir das Bildungssystem gegen den Strich bürsten und bei der digitalen Transformation helfen”, sagt Anja Wagner. Mit “wir” meint sie die digitale Bildungsagentur Frolleinflow. Gemeinsam mit Nicole Bauch, Senior Consultant für E-Learning, betreibt sie die Agentur seit 2011. Sie beraten Kunden wie die Klett-Gruppe, Volkshochschulen und Hochschulen zu bildungspolitischer Transformation, digitaler Kompetenz und zur Zukunft der Bildung und Arbeit.
Nach einem Studium der Sozialwissenschaften an der Universität Göttingen und einer Weiterbildung zur Multimedia-Designerin arbeitete sie mehrere Jahre als freie Konzepterin für verschiedene Multimedia-Agenturen. Bei einer Agentur kam sie mit digitaler Bildung in Berührung, ein Thema, das sie seitdem nicht mehr loslässt.
Von 2002 bis 2011 war sie an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin Lehrbeauftragte und Projektverantwortliche. Ihr Schwerpunkt: Der Einsatz von Videotechnologien in E-Learning-Szenarien und die Nutzung von Web 2.0 für moderne Arbeitsprozessorganisation. Immer wieder beschäftigte sie die Frage, wie Videos das Lernen an Unis verbessern können. Währenddessen promovierte Anja Wagner. Sie untersuchte, wie das Internet als Bildungsort auch von Menschen genutzt werden kann, die in den formalisierten Bildungsstrukturen weniger erfolgreich sind. Die Erkenntnis: Das Netz als neuer Lernraum könnte diesen Menschen weiterhelfen – wenn sie denn wüssten, wie Lernen dort funktioniert.
Heute hält Anja Wagner mit Frolleinflow zum Beispiel Vorträge über die Zukunft einer modernen Aus- und Weiterbildung, bildet Schulleitungen in digitaler Transformation weiter, unterstützt Bildungsprojekte, die neue Wege einschlagen möchten oder entwickelt Online-Kurse für Studierende zu “New Work & Future Skills”.
2021 wurde ihr Buch “Berufen statt zertifiziert” veröffentlicht, in dem sie beschreibt, warum es ihrer Meinung nach Zeugnisse und Zertifikate kaum noch braucht. “Das Zertifikate-System ist größtenteils zu langsam für die schnelllebige Welt in der digitalen Transformation“, sagt Wagner. Gerade in jüngerer Zeit seien Tätigkeiten entstanden, die sich immer weniger in eindeutige Qualifikationsbündel fassen lassen, die man als Beruf bezeichnen könnte. Für diese gebe daher auch keine normierten Bildungswege mit zertifizierenden Abschlüssen.
Anja Wagner fragt sich, ob Schulen und Hochschulen überhaupt dazu fähig sind, auf die Welt da draußen vorzubereiten. Die zentrale Aufgabe von Bildungsinstitutionen sei eigentlich, dabei zu unterstützen, “dass Menschen lernen, wie sie sich in den unsicheren Zeiten heute bewegen können und offen bleiben für neues Wissen.” Damit sie, wenn sie in die Arbeitswelt entlassen werden, immer wieder bereit und fähig sind, sich auch alleine ständig weiterzuqualifizieren.
Digitale Bildung kann dabei helfen, meint Wagner. Aber nur, wenn man ihr transformatives Potenzial nutzt. Das alte, standardisierte Lehr-Lern-Modell sollte mit digitalen Tools nicht einfach effizienter werden. Es brauche vielmehr neue Methoden, mit denen Lernende das Potenzial des Lernraums Internet für die persönliche Weiterentwicklung nutzen können. Wagner spricht sich für ein vernetztes Lernen aus – in der Gemeinschaft und im Kontakt mit anderen und nicht vermittelt durch einzelne Experten. Eine Kombination mit Präsenzangeboten hält Wagner dabei für sinnvoll. Wichtig sei zudem, dass die Lernenden die eigene Neugierde antreibt. “Darauf sollte das institutionelle Bildungssystem vorbereiten”, sagt Wagner. “Und Ed-Techs sollten einen Beitrag leisten, um diesen lebenslangen Lernprozess maximal zu erleichtern.” Sarah Kröger
02. November 2022, 17:30 Uhr, online
Podiumsdiskussion: Mehr Demokratie wagen? Bildungsauftrag und Mitbestimmungsrecht in Schulen
Die wichtigste Frage dieser von Wissenschaft im Dialog und dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung organisierten Podiumsdiskussion lautet: Wie kann demokratische Teilhabe bereits in der Schule gefördert werden? Sprecher sind unter anderem Benjamin Edelstein vom WZB, der Wissenschaftsjournalist Armin Himmelrath und die Bildungsinnovatorin Margret Rasfeld. INFOS & ANMELDUNG
10. und 11. November 2022, Berlin
Konferenz: 252. Amtschefskonferenz INFOS
14. November 2022, 18:00 bis 20:00 Uhr, Leipzig
Gespräch: Bildungsnotstand in Sachsen – zu wenig Lehrkräfte, überlastete Schulen und ein veraltetes Schulsystem
In dieser Diskussion sind zentrale Fragen unter anderem: War der mittlerweile akute Lehrermangel nicht absehbar? Wer ist dafür verantwortlich? Warum wurden nicht genügend Lehrerinnen und Lehrer ausgebildet und eingestellt? Speakerinnen sind unter anderem die bildungspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag Sabine Friedel und die Landesvorsitzende der GEW Uschi Kruse. INFOS & ANMELDUNG
15. November 2022, 14.00 bis 16.00 Uhr, online
Dialog Café NRW: Digitaler Kompetenzerwerb als nachhaltiges Lernziel
Die Veranstaltungsreihe Dialog Café NRW von HD@DH.nrw: Hochschuldidaktik im digitalen Zeitalter setzt sich zusammen aus einer Selbstlerneinheit und einer darauf aufbauenden synchronen Online-Veranstaltung. Auf dieser wird diskutiert, wie Lernziele formuliert werden können und welche digitalen Methoden und Tools sich eignen, den digitalen Kompetenzerwerb als nachhaltiges Ziel in die Hochschullehre zu integrieren. INFOS & ANMELDUNG
16. bis 17. November 2022, Berlin
Konferenz Bildung Digitalisierung: Taking Charge – Visionen für das System Schule
Die Konferenz Bildung Digitalisierung ist die Leitveranstaltung für gute Schule in der digitalen Welt. Ziel ist es, Akteuren im System Schule eine Plattform für Austausch und Vernetzung zu bieten und Impulse für die digitale Transformation im schulischen Bildungsbereich zu setzen. Besonders interessant für unsere Leser: Bildung.Table ist dort am 17. November mit einem Stand vertreten! INFOS & REGISTRIERUNG
17. bis 18. November 2022, Ilmenau und hybrid
Tagung: Raum.Zeit.Format | Lehren und Lernen in hybriden Szenarien
Austausch und Vernetzung zwischen Thüringer Lehrenden, Akteuren aus dem Bereich Digitalisierung und E-Learning sowie bundesweiten Experten ist das Ziel dieser Konferenz. Dabei werden interaktive und experimentelle Elemente des Ausprobierens mit Input- und Impulsformaten verbunden. Themen sind unter anderem die Zukunft hybrider Lehre oder Social Virtual Reality. INFOS & ANMELDUNG
21. November 2022, 17:15 bis 18:15 Uhr, online
Begleitprogramms zur Konferenz “Forum Bildung Digitalisierung”: Gelingensbedingungen von unerwartbar erfolgreichen Schulen im digitalen Wandel
Der Fokus dieser Veranstaltung liegt ganz auf UneS – Unerwartbar erfolgreiche Schulen im digitalen Wandel. Das vom BMBF geförderte Forschungsprojekt der Uni Paderborn setzt sich damit auseinander, wie schulische Bildungsprozesse ihre Wirksamkeit hinsichtlich der Förderung von digitalen Kompetenzen von Schülern aus sozial benachteiligten Lagen entfalten können. INFOS & ANMELDUNG
21. bis 24. November 2022, online
2. MINT-Aktionstage
Die zweiten MINT-Aktionstage setzen sich an vier Tagen mit je vier Themenfeldern auseinander. Am Gender-Tag geht es um Geschlechterunterschiede im Bildungskontext, am Didaktik-Tag um die wirkungsvolle Arbeit außerschulischer MINT-Initiativen, am MINT+ & Innovation-Tag geht es um das Finden von europäischen Antworten auf grundlegende MINT-Herausforderungen und am Finanzierung & Förderung-Tag darum, Durchblick im “Förderdschungel” zu gewinnen. INFOS & ANMELDUNG