Table.Briefing: Europe

Logistikhilfe für Getreide aus der Ukraine + REPowerEU-Finanzierung durch ETS + Europäischer Bergbau

  • Logistikhilfe für die Ukraine: EU-Aktionsplan soll Millionen Tonnen Getreide retten
  • REPowerEU-Finanzierung durch ETS: Eine Büchse der Pandora
  • Europäischer Bergbau: Zurück in die Zukunft
  • Kohlestrom soll Gaskrise entspannen
  • Öl-Embargo: Von der Leyen erwartet keine Entscheidung auf EU-Gipfel
  • Bund gibt 17 Milliarden Euro für die Chipindustrie
  • Studie: Digitale Industrie kann maßgeblich CO2 einsparen
  • Frankreich erwartet spätere Umsetzung der globalen Steuerreform
  • Verfassungsänderung: Orbán schafft sich Grundlage für weiteren Notstand
  • Joachim Poß: Stets kritisches SPD-Urgestein
Liebe Leserin, lieber Leser,

der Krieg in der Ukraine treibt die globale Nahrungsmittelkrise immer weiter an. Bis zu 20 Millionen Tonnen Weizen stecken derzeit dort fest und können aufgrund von russischen Hafen-Blockaden nicht abtransportiert werden. Die Europäische Kommission hat deshalb einen Aktionsplan auf den Weg gebracht, um die dringend benötigten Güter mittels LKW und auf der Schiene aus dem Land zu holen. Doch unterschiedliche Spurbreiten und nicht zugelassene Abgasnormen sind nur zwei der zahlreichen Herausforderungen, wie Timo Landenberger analysiert.

Es ist nur ein kleiner Teil der Investitionssumme für REPowerEU, doch er zieht die größte Kritik auf sich: Die Energieunabhängigkeit Europas soll auch durch den Verkauf von CO2-Zertifikaten aus der Reserve finanziert werden. Kritiker:innen befürchten einen Präzedenzfall. “Ist die Büchse der Pandora einmal offen, ist es schwer, sie wieder zu schließen”, sagt der Klimapolitik-Forscher Emil Dimanchev. Die Details hat Lukas Scheid

In der Vergangenheit dominierte Europa die Märkte mit seiner Bergbauindustrie. Diese Zeiten sind vorbei, doch nun wird der heimische Bergbau wiederentdeckt. Denn die EU möchte sich von problematischen Abhängigkeiten befreien, auch im Bereich der kritischen Rohstoffe. Das Problem ist: Bergbau belastet Klima und Umwelt. Expert:innen fordern darum einen “verantwortungsvollen Bergbausektor” in Europa. Mehr zu der Diskussion lesen Sie in der Analyse von Leonie Düngefeld.

Die Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine beschäftigen auch die deutsche Bildungslandschaft. Nach EU-Recht haben alle geflüchteten Kinder ein Recht auf Bildung. Dabei dürfen sie nicht schlechter gestellt werden als deutsche Schüler:innen. Doch das überfordert das deutsche Schulsystem, wie unsere Kolleg:innen von Bildung.Table recherchiert haben. Schauen Sie doch mal vorbei.

Ihre
Sarah Schaefer
Bild von Sarah  Schaefer

Analyse

Logistikhilfe für die Ukraine: EU-Aktionsplan soll Millionen Tonnen Getreide retten

Bis zu 20 Millionen Tonnen Getreide lagern derzeit in der Ukraine und können nur schwer abtransportiert werden, da Russland die Seehäfen am Schwarzen Meer blockiert. Das brachte die wichtigste Exportindustrie des Landes praktisch zum Erliegen. Die heimischen Landwirte erzielen durch den Überschuss kaum Einnahmen, während der Weizenpreis auf dem Weltmarkt explodiert. Denn die Ukraine gehört zu den wichtigsten Produktionsländern.

90 Prozent der ukrainischen Getreideexporte wurden vor Kriegsbeginn per Schiff abgewickelt – bis zu fünf Millionen Tonnen pro Monat. Das entspricht ungefähr der jährlichen deutschen Getreide-Exportmenge. Nach Angaben der Internationalen Schiffahrtskammer (ICS) sitzen nun rund 80 Handelsschiffe in ukrainischen Häfen fest, insbesondere in Mykolajiw, Odessa und Cherson.

Getreide auf alternativen Routen aus der Ukraine holen

Mit einem Aktionsplan will die Europäische Union deshalb Logistikhilfe leisten. Auf alternativen Transportrouten, sogenannten Solidarity-Lanes, soll das Getreide mit LKW und auf der Schiene aus dem Land und über Polen und Rumänien an die Europäischen Schwarz- und Mittelmeer- sowie Nordseehäfen gebracht werden.

“Indem wir den Weizen aus der Ukraine holen, können wir den Ukrainern dringend benötigte Einnahmen verschaffen und dem Welternährungsprogramm die ebenso dringend benötigten Nahrungsmittel liefern”, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Dienstag auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos und fügte an, auch mit Moskau in einen Dialog treten zu wollen. Es könne nicht im Interesse Russlands sein, für verhungernde Menschen verantwortlich zu sein, sagte von der Leyen in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters.

“Schienenbrücke” nutzen

Über eine neu eingerichtete Logistikplattform finde ein enger Austausch der EU mit den Mitgliedsstaaten, den ukrainischen Behörden, Logistikunternehmen sowie Finanzinstitutionen statt, teilte eine Kommissionssprecherin mit. Die Bundesregierung unterstützt der Plan. Die EU trage eine “massive Verantwortung, der Ukraine zu helfen, das Getreide aus dem Land zu transportieren”, sagte Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) am Rande des Treffens der EU-Agrarminister am Dienstag in Brüssel. Özdemir rief alle Mitgliedsstaaten auf, die Ukraine und ihre europäischen Anrainerstaaten “schnell und unbürokratisch” zu unterstützen.

Auch Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) begrüßte das Vorgehen. “Eine gemeinsame europäische Initiative ist ein starkes Zeichen der Solidarität und erhöht den Wirkungsgrad der Maßnahmen”, sagte Wissing vergangene Woche bei einem Treffen mit EU-Verkehrskommissarin Adina Vălean. Insbesondere der Schiene komme dabei eine große Bedeutung zu. So sei man gemeinsam mit der Bahn-Tochter DB Cargo dabei, die für Hilfsgütertransporte in die Ukraine eingerichtete “Schienenbrücke” dahingehend zu befähigen, große Mengen an Agrargütern aus dem Land zu holen.

Spurbreiten in der Ukraine: Getreide müsste umgeladen werden

Eine Sprecherin der DB Cargo bestätigte auf Anfrage: “Bereits jetzt fahren wir mit unseren europäischen DB-Cargo-Töchtern in Polen und Rumänien mehrere Züge täglich mit Getreide durch Europa an diverse Seehäfen.” Nun gehe es darum, diese Agrarexporte auszuweiten. Doch das gestaltet sich schwierig.

So ist beispielsweise die Spurbreite in der Ukraine eine andere als in der EU. Die Ladungen müssen also an der Grenze auf andere Züge umgeladen werden, was einen immensen Zweitaufwand bedeutet. Auch sei völlig unklar, wie viel Getreide wo genau in der Ukraine ist, sagt Agrarökonomin Bettina Rudloff von der Stiftung Wissenschaft und Politik. “Neben den Beständen in den Häfen liegt ein großer Teil noch in dezentralen Umschlagslagern und auch auf landwirtschaftlichen Betrieben über die Ukraine verteilt. Und das macht natürlich einen großen Unterschied für die Frage, wie wir es aus dem Land bekommen.”

Auch deshalb und aufgrund der teils zerstörten Infrastruktur im Land muss vielfach auf LKW zurückgegriffen werden. Und die Zeit drängt: Bereits Anfang Juli beginnt die neue Ernte und bis dahin muss in der Ukraine genügend Lagerkapazität zur Verfügung stehen. Andernfalls verdirbt das Getreide auf den Feldern, was die bereits bestehende Krise weiter verstärken würde.

Kilometerlange Staus an der Grenze

Um jedoch eine Million Tonnen Getreide auf der Straße aus dem Land zu bringen, seien bereits 40.000 LKW nötig, so Ludwig Striewe, Mitglied der Geschäftsführung von ATR-Landhandel. Der Agrar- und Logistikexperte lebte viele Jahre in der Ukraine und war als Teil der deutschen Beratergruppe Wirtschaft für die ukrainische Regierung tätig.

Allerdings gibt es weder genug Diesel noch ausreichend LKW. Die meisten stehen in kilometerlangen Staus an den Grenzübergängen. “Die LKW brauchen aktuell drei Tage, um aus der Ukraine raus- und nochmal drei Tage, um wieder reinzukommen“, kritisiert Striewe. Das müsse schneller gehen. Dass die EU vergangene Woche die Importzölle auf ukrainische Produkte für ein Jahr ausgesetzt habe, sei ein längst überfälliger Schritt. Weitere müssten nun schnell folgen, fordert Striewe. Darunter die Aufstockung der Grenzbeamten und die Installation provisorischer und temporärer Übergänge.

Von der EU geprüft wird außerdem eine vorübergehende Zulassung ukrainischer LKW auf europäischen Straßen. Die Fahrzeuge entsprechen überwiegend der Abgasnorm Euro 2 und dürfen nicht bis zu den Häfen durchfahren, was wiederum eine Umladung des Getreides erforderlich macht.

Doch auch dann bleibt fraglich, ob die Lager bis Anfang Juli wirklich geleert werden können. Experten schlagen deshalb vor, parallel zur Export-Unterstützung bereits jetzt mit dem Aufbau zusätzlicher Lagerkapazitäten in der Ukraine zu beginnen. Etwa in Form sogenannter Silo-Bags: lange Plastikschläuche, die leicht zu transportieren sind und direkt am Feld errichtet werden können.

“Eine solche dezentrale Lagerung hätte den zusätzlichen Vorteil, dass die Bestände bei russischen Angriffen nicht auf einmal zerstört oder vereinnahmt werden können”, sagt Ludwig Striewe. Schwerpunkt müsse aber weiter auf der Vereinfachung der Ausfuhren liegen.

Hungersnöte drohen

Denn diese machen zwölf Prozent der weltweiten Getreideexporte aus. Zahlreiche, insbesondere afrikanische Länder sind von den Lieferungen stark abhängig. Auch Russland und Belarus sind wichtige Exportländer und haben ihre Lieferungen weitgehend eingestellt. Daneben reagierten große Agrarländer wie Indien oder Argentinien mit Exportstopps, um die eigene Versorgung sicherzustellen.

Das hat starke Auswirkungen auf den Weltmarkt, wo die bereits sehr hohen Kosten für Lebensmittel immer weiter steigen. Experten, die G7-Gemeinschaft und die Vereinten Nationen warnten bereits vor drohenden Hungersnöten für Millionen von Menschen.

“Der Markt ist sehr unelastisch. Man kann das Angebot nicht auf Knopfdruck erhöhen, das bedarf einer längeren Vorlaufzeit. Auch die Nachfrage ist unelastisch, denn wir müssen essen. Daher kommen die schnellen und hohen Preisausschläge selbst bei kleinen Mengeneinbrüchen”, sagt SWP-Agrarexpertin Rudloff. Schon vor Ausbruch des Krieges habe es über 800 Millionen Hungernde auf der Welt gegeben. Die jetzige Situation sorge also für ein Zusatzproblem, das gelöst werden müsse. Doch das Grundproblem sei ein systematisches.

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REPowerEU-Finanzierung durch ETS: Eine Büchse der Pandora

In den Diskussionen um die Reform des europäischen Emissionshandels (ETS) ging es in den vergangenen Monaten oft um Planungssicherheit für Unternehmen sowie das Verhindern von Preisschocks für Verbraucher:innen und Industrie. Preissprünge wie im vergangenen Herbst hatten den Verdacht nach Marktmanipulation von außen genährt und Forderungen nach mehr Kontrolle des Marktes Nachdruck verliehen (Europe.Table berichtete). Ein stabiler Kohlenstoffmarkt – so die Hoffnung – vereinfache es den Branchen der ETS-Sektoren und anderen Marktteilnehmern, sich den neuen Regeln zu beugen.

Aus demselben Grund hatte die Kommission bei der Vorstellung des Fit-for-55-Pakets vergangenen Sommer vorgeschlagen, eine deutlich geringere Menge ungenutzter Emissionsrechte vom Markt zu nehmen (rund 110 Millionen Zertifikate) als von Umweltschützern gefordert. Stattdessen soll übergangsweise die doppelte Menge Zertifikate in die Marktstabilitätsreserve (MSR) wandern – 24 statt 12 Prozent der insgesamt verfügbaren Emissionsrechte. Die MSR soll qua Definition der Kommission die Widerstandsfähigkeit des ETS gegenüber größeren Schocks verbessern, indem die Menge der zu versteigernden Zertifikate angepasst wird.

Auf die Ankündigung folgte der Preisschock

Entsprechend verwunderlich ist der von der Kommission vergangene Woche veröffentlichte Plan (Europe.Table berichtete), bis Ende 2026 rund 20 Milliarden Euro zur Finanzierung des REPowerEU-Programms durch den Verkauf von Emissionszertifikaten aus der MSR zu mobilisieren. Denn allein die Ankündigung des Vorschlags vergangenen Mittwoch hat für einen Preisschock gesorgt. Der europäische CO2-Preis sank seitdem von über 90 Euro auf unter 80 Euro (Stand: 24. Mai, 2022).

Dies liege an der Unsicherheit auf dem Markt, sagt Emil Dimanchev, Klimapolitik-Forscher und ehemaliger Analyst für Kohlenstoffmärkte. Marktteilnehmer würden aufgrund der Unsicherheit, wie sich der Markt entwickelt, ihre Risikoexposition reduzieren. Das sorge schlussendlich für den Preisabfall, glaubt Dimanchev. Das bedeutet, dass die Kommission durch ihren Vorschlag genau das verursacht hat, was der MSR eigentlich verhindern soll.

In Anbetracht der Gesamtinvestitionssumme von REPowerEU von rund 300 Milliarden Euro wäre der aus der MSR finanzierte Teil nur gering, aber die Idee zeigt dennoch: Die Kommission ist bereit, in den Markt einzugreifen, wenn es die äußeren Umstände aus Brüsseler Sicht verlangen. “Das kreiert einen Präzedenzfall”, sagt Dimanchev. Es widerspreche dem ursprünglichen Gedanken der MSR. “Dabei geht es weniger um die Menge der Zertifikate, sondern um das Prinzip.”

EU widerspricht Emissionshandel-Reformvorschlägen

Es gebe keine klaren Regeln, ab welchem Punkt einer Krise ein solcher Schritt erlaubt ist. “Ist die Büchse der Pandora einmal offen, ist es schwer, sie wieder zu schließen”, so der Klimapolitik-Forscher. Wenn die Kommission eigenhändig entscheide, wann dieser Punkt erreicht ist, sei das gefährlich, weil es die Verlässlichkeit des Markts und das Vertrauen der Händler erschüttere.

Derartige Unberechenbarkeiten im EU-Emissionshandel sollten durch dessen Reform eigentlich verhindert werden. Marktstabilität sei eine Voraussetzung dafür, dass das ETS korrekt funktioniert und die Zielvorgaben erreicht werden, schrieb die Kommission Mitte Juli bei der Vorstellung ihres ETS-Reformvorschlags. Die MSR solle dabei überkommene Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage angehen und der EU-Emissionshandel widerstandsfähiger gegen größere Ungleichgewichte machen, heißt es weiter. “Der Mechanismus muss für zuverlässige rechtliche Rahmenbedingungen und langfristige Planungssicherheit sorgen.”

Nun widerspricht die Kommission also ihrer eigenen Vision der besseren Planbarkeit auf dem Markt. Denn sollten die Pläne tatsächlich umgesetzt werden, dürfte der CO2-Preis durch die zusätzlich frei werdenden Emissionsrechte weiter fallen. Somit wäre überhaupt nicht klar, wie viele Zertifikate aus der Reserve gebraucht werden, um das Ziel von 20 Milliarden Euro zu erreichen. Bei einem CO2-Preis von 100 Euro pro Tonne wären 200 Millionen Zertifikate nötig, bei einem Preis von 80 Euro wären es schon 250 Millionen Zertifikate.

Drohender Domino-Effekt

Die Krux dabei ist zudem ein drohender Domino-Effekt. Sinkt der Preis pro Tonne CO2, würden auch mehr Zertifikate für das Erreichen der 20-Milliarden-Marke notwendig sein. So müssten noch mehr Zertifikate auf den Markt gespült werden, die den Preis wiederum weiter drücken würden. “Die Marktstabilitätsreserve würde zur Marktinstabilitätsreserve werden”, sagt Dimanchev.

Stattdessen sollte die EU-Kommission dafür sorgen, dass die jetzigen Einnahmen aus dem ETS wirkungsvoller eingesetzt werden, um zur Energieunabhängigkeit Europas von Russland beizutragen, fordert der Kohlenstoffmarktexperte. Statt den Kuchen aufzublähen, müsse man ihn besser aufteilen. Durch den Verkauf von CO2-Zertifikaten würden jedes Jahr Milliarden eingesammelt, so Dimanchev. Aus seiner Zeit als ETS-Analyst berichtet er, dass jährlich etwa ein Viertel der Einnahmen gar nicht für Klimaschutzmaßnahmen verwendet werden. Wofür genau dieses Viertel eingesetzt wird, ist nicht bekannt, da Mitgliedstaaten nur zur Berichterstattung von Klimaschutz- und Energieinvestitionen verpflichtet sind.

2019 waren es vier Milliarden Euro an ETS-Einnahmen, die für andere Zwecke als Klimaschutz oder Energieversorgung verwendet wurden. 2020, als der durchschnittliche CO2-Preis noch bei rund 24 Euro pro Tonne lag, waren es schon fünf Milliarden Euro und 28 Prozent der Gesamteinnahmen aus dem ETS. Dimanchev plädiert deshalb dafür, dieses Geld nun für die Energieunabhängigkeit von Russland und zur Finanzierung der REPowerEU-Pläne zu verwenden. Bei einem durchschnittlichen CO2-Preis von über 50 Euro pro Tonne dauert es laut dem Experten weniger als zwei Jahre, die anvisierten 20 Milliarden Euro aufzubringen, die die Kommission durch MSR-Zertifikate einzunehmen hofft.

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Europäischer Bergbau: Zurück in die Zukunft

Um grüne Energie zu erzeugen und die Klimaziele zu erreichen, braucht Europa Windturbinen, Photovoltaikanlagen, Brennstoff- und Solarzellen, Wärmepumpen und Batterien. Das Problem: Rohstoffe, die für deren Herstellung benötigt werden, kommen zum größten Teil von instabilen Partnern aus dem nicht-europäischen Ausland. Viele von ihnen sind zudem knapp und stehen bereits heute nicht mehr in ausreichenden Mengen zur Verfügung. Das zeigen schon jetzt Lieferverzögerungen von Elektroautos oder Solarpanelen.

Die Europäische Kommission kündigte in ihrer in der vergangenen Woche angenommenen RePowerEU-Mitteilung an, einen Gesetzesvorschlag zu kritischen Rohstoffen zu erarbeiten. Das Rezept der EU, um wichtige Rohstoffe zu sichern, besteht bislang aus drei Zutaten: dem Ausbau von vertrauensvolleren Kooperationen mit anderen Ländern, mehr Produktion im Inland und dem Aktionsplan für eine Kreislaufwirtschaft.

Erstere Zutat hob Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gestern auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos hervor: Um Rohstoffe für die Energiewende zu sichern, dürfe Europa nicht in dieselbe Falle tappen wie bei Öl und Gas, sagte sie. “Wir sollten alte Abhängigkeiten nicht durch neue ersetzen. Wir arbeiten daher daran, die Widerstandsfähigkeit unserer Lieferketten zu gewährleisten.” Starke internationale Partnerschaften wie jene mit Kanada seien “das Herzstück der Lösung”. So könne die EU vertrauensvolle und ausgewogenere Lieferketten aufbauen.

Der zweite Teil des Rezepts bedeutet: zurück zu einer heimischen Bergbauindustrie, mit der Europa in der Vergangenheit globale Märkte dominierte. Spätestens Anfang der 2000er-Jahre verlor sie an Einfluss – die Produktion verschwand im günstigeren Ausland, fern der steigenden europäischen Umwelt- und Sozialstandards.

Europa ist reich an Rohstoffen

Auf dem Raw Material Summit, den EIT Raw Materials und die Europäische Rohstoffallianz (ERMA) in dieser Woche in Berlin veranstalteten, waren sich Vertreter:innen aus Industrie, Politik und NGOs einig: Europa ist reich an Rohstoffen und muss diese nun wieder besser nutzen. “Wir brauchen einen verantwortungsvollen Bergbausektor und Lieferketten innerhalb Europas”, so Bernd Schäfer, CEO von EIT Raw Materials. Europa stehe an einem “epochalen Wendepunkt”, sagte er in der Eröffnungsrede der Veranstaltung. Nach der russischen Invasion in der Ukraine müsse die EU die Vorteile des Binnenmarktes voll ausschöpfen. “Es ist an der Zeit, rasch hochinnovative und nachhaltige Lieferketten zwischen den Mitgliedstaaten aufzubauen.”

Projekte zur Gewinnung und Weiterverarbeitung von Metallen und anderen Rohstoffen gibt es bereits zuhauf; oft sind jahrelange Genehmigungsverfahren ein Hindernis. Die Europäische Kommission will gemeinsam mit den Mitgliedstaaten und Regionen eine Übersicht der Bergbau- und Verarbeitungsprojekte in der EU erstellen, die bis 2025 in Betrieb genommen werden können. Besondere Aufmerksamkeit will sie jenen Regionen zukommen lassen, die aufgrund ihrer Bergbaugeschichte bereits über Expertise und technische Fähigkeiten verfügen. Das verkündete die Kommission 2020 – bislang sind jedoch keine Ergebnisse bekannt.

Höhere Preise für bessere Standards

Ein weiterer Konflikt: Bergbau belastet Klima und Umwelt. Ein europäischer Bergbausektor muss deshalb verantwortungsbewusst und nachhaltig sein. Im globalen Vergleich sind die europäischen Standards sehr hoch, besitzen eine gute Reputation und Vorbildcharakter. Man müsse diese jedoch auch einhalten, forderte Tobias Kind-Rieper vom WWF. Die portugiesische Regierung hätte zum Beispiel eine Abschätzung der sozialen und Umweltfolgen als Bedingung für den Lithium-Abbau angekündigt. Diese sei für einige Projekte trotzdem nicht erfolgt.

Eine Sorge, die mit den hohen Standards zusammenhängt, ist die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie. Es stehe fest, dass Rohstoffpreise im Westen höher seien als Preise in Ländern wie China, sagte Erik Eschen vom Permanentmagneten-Hersteller Vacuumschmelze. Dies müsse man jedoch in Kauf nehmen; einige Abnehmer hätten das auch schon erkannt. In den vergangenen zwanzig Jahren habe man schließlich ignoriert, dass auch die starke Abhängigkeit von bestimmten Ländern hohe Kosten verursache, so Eschen.

Das richtige Framing

Die dritte Zutat der EU-Strategie ist das Ziel einer Kreislaufwirtschaft: Um ihren Fußabdruck klein zu halten, müssen die Rohstoffe im Kreislauf und möglichst lang in der Nutzung bleiben. Laut einer Studie der NGO PowerShift können durch das Recycling von Aluminium bis zu 95 Prozent der Emissionen im Vergleich zur Primärgewinnung von Aluminium aus Bauxit eingespart werden; Kupfer-Rezyklate erzeugen 30 bis 80 Prozent weniger Emissionen. Auch bei Stahl besteht großes Einsparungspotenzial durch Recycling.

In einem weiteren Punkt sind sich alle einig: Den Bürger:innen muss besser vermittelt werden, wie wichtig europäische Bergbauprojekte sind. “Wir müssen zeigen, wie groß das Potenzial unter unseren Füßen ist”, sagte der EU-Abgeordnete Reinhard Bütikofer. Es sei klar, dass heimischer Bergbau zunächst einmal Ängste und Unsicherheiten hervorrufe, sagte Sophia Kalantzakos, Wissenschaftlerin an der New York University. Deshalb sei das richtige Framing und Transparenz von allen Beteiligten wichtig.

Die Bergbauindustrie bemüht sich derweil um ein grüneres Image. In Grönland etwa will das kanadische Unternehmen Greenland Resources in großem Stil Molybdän abbauen, ein Metall, das unter anderem für die europäische Stahlproduktion essenziell ist, bislang aber nicht in Europa produziert wird. Aufgrund des ausgeklügelten Minendesigns soll es das umweltfreundlichste Molybdän-Projekt der Welt werden, wirbt mit besonders niedrigen Emissionen und geringem Wasserverbrauch. “Die Unternehmen scheinen heute weniger profitorientiert und legen mehr Wert auf ethische Standards“, sagte Kalantzakos. Ob sie diese einhalten können, wird sich zeigen. Leonie Düngefeld

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News

Kohlestrom soll Gaskrise entspannen

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck will Deutschland weiter für ein mögliches Ende russischer Gaslieferungen wappnen und dafür die Zahl der Kohlekraftwerke in Reserve ausbauen. Falls Gasmangel eintritt oder droht, soll der Gasverbrauch in der Stromerzeugung durch einen “Malus” deutlich verringert werden, wie am Dienstag aus dem Bundeswirtschaftsministerium zu hören war. Ein entsprechender Gesetzentwurf ging gestern in die Ressortabstimmung. Mit einem “Sprinterprogramm” soll außerdem über das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) der Neubau von Wasserstoffkraftwerken gefördert werden.

Bereits kurz darauf wurden Stimmen laut, den Brennstoffwechsel vorzuziehen. “Leider ein richtiges Vorhaben. Sollte meines Erachtens aber schon jetzt genutzt werden, damit die Speicher so rasch wie möglich gefüllt werden”, twitterte Dena-Chef Andreas Kuhlmann. Zustimmung kam in dem Kurznachrichtendienst vom Vize des BDI, Holger Loesch: “Sollte wirklich schon jetzt passieren, nicht erst im Notfall. 16 % vom Gasverbrauch in Energieerzeugung sind ein großes Potential für den Speicherhochlauf.” Eine offizielle Pressemitteilung des BDI gab es am Dienstag bis Redaktionsschluss allerdings nicht.

Gegen einen schnellen regulatorischen Eingriff wandte sich Energieexperte Marco Wünsch von Prognos und verwies auf den europäischen Binnenmarkt: “Aktuell würde ich das nicht machen. Wenn Gaskraftwerke in Deutschland in der Merit Order schlechter gestellt werden, werden im Ausland ineffizientere Gaskraftwerke einspringen. Potenzial für mehr Kohlestrom sehe ich kurzfristig nicht. Der Gasbedarf würde damit steigen.”

Ablehnend zu den Plänen des BMWK äußerte sich der Energieverband BDEW: “Dies würde einen erheblichen Eingriff in die Grundrechte der betroffenen Unternehmen darstellen, der nach Ansicht des BDEW unverhältnismäßig und nicht gerechtfertigt wäre.” ber/dpa

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Öl-Embargo: Von der Leyen erwartet keine Entscheidung auf EU-Gipfel

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erwartet nach eigenen Worten nicht, dass es auf dem EU-Gipfel Anfang kommender Woche zu einer Entscheidung über ein Öl-Embargo gegen Russland kommt. “Ich glaube nicht, dass der Gipfel der richtige Ort dafür ist… Wir sollten nicht auf den Gipfel starren”, sagte sie am Dienstag am Rande des Weltwirtschaftsforums zu Reuters. Die Verhandlungen mit den Mitgliedstaaten dauerten noch an, so von der Leyen weiter. Dabei gehe es jetzt vor allem um die Ausarbeitung von Details.

Ähnlich sieht es Ungarns Regierungschefs Viktor Orbán. Da die noch offenen Fragen schwerwiegend seien, sei es sehr unwahrscheinlich, dass eine umfassende Lösung vor dem Gipfel gefunden werden könne, schreibt Orbán in einem Brief an EU-Ratschef Charles Michel. Zugleich spricht sich der rechtsnationale Politiker in dem Schreiben vom Montag, das Europe.Table vorliegt, dafür aus, nicht bei dem Gipfel über das von der EU-Kommission vorgeschlagene Sanktionspaket zu diskutieren. Dies sei kontraproduktiv und würde nur die interne Spaltung offenbaren, ohne dass es eine realistische Chance gebe, die Differenzen auszuräumen. Ein EU-Beamter bestätigte am Dienstag den Eingang des Schreibens.

Embargo gegen Russland: Ungarn will Ausnahme oder Zahlung

Orbán bekräftigt darin zudem, dass Ungarn noch immer stark von russischen Energie-Importen abhänge. Weder die ungarischen Haushalte, noch die ungarische Wirtschaft könnten den Preisschock aushalten, den die vorgeschlagenen Sanktionen verursachen würden. Er verweist zudem darauf, dass die jüngsten Vorschläge der EU-Kommission zur Entlastung besonders von russischer Energie abhängiger Staaten die ungarischen Bedenken nicht ausräumten.

Die EU-Kommission hatte Anfang März ursprünglich vorgeschlagen, wegen des Ukraine-Kriegs den Import von russischem Rohöl in sechs Monaten und den von Ölprodukten in acht Monaten zu beenden. Ungarn und die Slowakei sollten 20 Monate Zeit bekommen. Auch Nachbesserungsangebote konnten die ungarische Regierung bislang nicht dazu bewegen, ihre Ablehnung aufzugeben. Außenminister Péter Szijjártó machte deutlich, dass sein Land entweder eine komplette Ausnahme für Öl-Lieferungen über Pipelines oder die Zahlung von 15 Milliarden Euro aus EU-Mitteln für Anpassungs- und Folgekosten will. dpa/rtr

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Bund gibt 17 Milliarden Euro für die Chipindustrie

Die Ampel-Koalition stockt die Förderung der Halbleiterbranche in Deutschland massiv auf. Der Haushaltsausschuss des Bundestags hat in der Bereinigungssitzung Ende vergangener Woche Mittel von 17,23 Milliarden Euro für Projekte im Bereich Mikroelektronik beschlossen, wie eine Sprecherin des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) auf Anfrage von Europe.Table bestätigte. Davon sollen 3,15 Milliarden Euro in diesem Jahr und 14,08 Milliarden in den Folgejahren bis 2028 fließen.

Die Haushälter erhöhen damit die von der Bundesregierung geplante Förderung deutlich (Europe.Table berichtete). Ein großer Teil der Mittel dürfte Intel zugutekommen. Der US-Konzern hatte Mitte März angekündigt, 17 Milliarden Euro in den Bau zweier Halbleiterwerke in Magdeburg investieren zu wollen (Europe.Table berichtete). In Regierungs- und Industriekreisen heißt es, Intel sei dafür eine Förderung durch den Bund in Höhe von rund sieben Milliarden Euro in Aussicht gestellt worden. Das BMWK wollte sich zur Förderhöhe nicht äußern. Man sei aber mit Intel “aktuell im intensiven Austausch, mit dem Ziel, das Vorhaben in Kürze bei der Europäischen Kommission einzureichen”, sagte die Sprecherin. Die Brüsseler Wettbewerbshüter müssen die staatliche Beihilfe genehmigen.

Finanzierung des geplanten IPCEI-Mikroelektronik

Ein zweiter großer Block ist für die Finanzierung des geplanten IPCEI zu Mikroelektronik und Kommunikationstechnologien vorgesehen. In Industriekreisen ist von rund fünf Milliarden Euro für das Important Project of Common European Interest die Rede. An dem Vorhaben sind 32 Unternehmen in Deutschland beteiligt, darunter Infineon, Bosch und Globalfoundries. Das IPCEI zu Mikroelektronik wurde im Herbst 2020 angestoßen, ist aber wegen aufwendiger Abstimmungsprozesse und der bis zuletzt ungeklärten finanziellen Förderung in Deutschland noch nicht an den Start gegangen (Europe.Table berichtete).

Das dürfte sich nun ändern: Für die Umsetzung des IPCEI sei die Entscheidung des Haushaltsausschusses “richtungsweisend”, sagt Wolfgang Weber, Vorsitzender der Geschäftsführung des Branchenverbandes ZVEI. Für die Industrie in Deutschland und Europa sei die Versorgung mit Chips von hoher Bedeutung, um die Zukunftsfähigkeit zu sichern. Der SPD-Wirtschaftspolitiker Falko Mohrs spricht von einem “enorm wichtigen Beitrag” zur Förderung des strategisch wichtigen Industriezweigs.

Auch Spanien gibt Milliarden

Ein Großteil der Haushaltsmittel kommt aus dem Etat des Bundesfinanzministeriums. Der Einzelplan 60 sieht 2,72 Milliarden Euro an Ausgabenmitteln und 12,48 Milliarden an Verpflichtungsermächtigungen vor. Rund zwei Milliarden Euro kommen aus dem Etat des BMWK, davon 1,6 Milliarden als Verpflichtungsermächtigungen. Ein dreistelliger Millionenbetrag ist zudem im Haushalt des Forschungsministeriums für den Technologiesektor vorgesehen. Das Plenum des Bundestags muss dem Haushaltsentwurf noch zustimmen.

Die Pläne der Berliner Koalitionspartner werden auch in Brüssel aufmerksam verfolgt. Die EU-Kommission will über den geplanten Chips Act die Ansiedlung von Halbleiterunternehmen fördern (Europe.Table berichtete), um den Anteil Europas an der Chipproduktion bis 2030 auf 20 Prozent mehr als zu verdoppeln. Der Löwenanteil der in Aussicht gestellten Förderung von 43 Milliarden Euro soll dabei von den Mitgliedstaaten aufgebracht werden.

Auch die spanische Regierung greift dabei tief in die Kasse. Sie hat 12,25 Milliarden Euro freigegeben, um Produzenten von Halbleitern ins Land zu locken. 9,3 Milliarden Euro davon seien vorgesehen, um den Bau von Fabriken zu fördern, sagte Wirtschaftsministerin Nadia Calvino gestern. Gut eine Milliarde Euro sei für Forschung und Entwicklung in dem Bereich eingeplant. Das Geld soll bis 2027 eingesetzt werden.

Bislang habe die Branche, die vor allem von Asien aus den Weltmarkt beliefert, einen Bogen um Spanien gemacht, sagte Calvino. Fehlende staatliche Unterstützung sei einer der Gründe dafür gewesen. “Wir wollen, dass Spanien eine relevante Rolle in diesem Technologiefeld spielt.”

Bislang dominieren Firmen aus den USA im Chipdesign und asiatische Hersteller bei der Produktion. In dem Sektor ist international ein Subventionswettlauf entbrannt. “Wir dürfen allerdings nicht ignorieren, was um uns herum passiert”, sagt ZVEI-Geschäftsführer Weber. Die USA, China und Südkorea hätten noch weitaus höhere Fördersummen angekündigt als Europa. tho

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Studie: Digitale Industrie kann maßgeblich CO2 einsparen

Die Digitalisierung der Industrie in Deutschland kann in großem Maßstab einen Beitrag zur Erreichung der Klimaziele 2030 leisten. Das geht aus einer Studie der Wirtschaftsberatung Accenture hervor, die am Dienstag vom Digitalverband Bitkom in Berlin veröffentlicht wurde.

In der Studie werden zwei Szenarien untersucht: eine moderate sowie eine beschleunigte Digitalisierung, die das Tempo bei der Einführung, Verbreitung und Nutzung digitaler Technologien durch entsprechende politische Anreize deutlich anzieht. Bei einem beschleunigten Einsatz digitaler Technologien in der Industrie könnten bis zu 64 Millionen Tonnen CO2 eingespart werden, bei einer langsameren Digitalisierung sinke dieser Wert auf 37 Millionen Tonnen.

Mit dem Pariser Klimaschutzabkommen hatte sich Deutschland 2015 verpflichtet, bestimmte Klimaziele zu erreichen und Maßnahmen einzuleiten, um die Treibhausgasemissionen zu senken. Im Jahr 2019 lag der CO2-Ausstoß noch bei 805 Megatonnen. 2030 darf der nur noch 543 Megatonnen betragen.

Als größtes Einsparpotenzial führt die Studie den gezielten Einsatz sogenannter Digitaler Zwillinge an. Darunter versteht man die digitale Abbildung von Produkten und Fertigungsprozessen, um damit zu einem frühen Zeitpunkt schon während der Entwicklung sowohl das Produkt selbst als auch die Fertigung auf einen möglichst geringen CO2-Ausstoß hin zu optimieren. Damit könnten bei einer beschleunigten Digitalisierung der Industrie in Deutschland allein 33 Millionen Tonnen CO2 eingespart werden, bei einer langsameren Digitalisierung seien es 19 Millionen Tonnen.

In einer ähnlichen Größenordnung liegt das Einsparpotenzial bei einer Automatisierung der Produktion. Hier könne der CO2-Ausstoß um 31 Millionen Tonnen beziehungsweise 18 Millionen Tonnen bei einer langsameren Digitalisierung verringert werden. dpa

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Frankreich erwartet spätere Umsetzung der globalen Steuerreform

Die globale Steuerreform wird vermutlich erst Ende 2023 oder Anfang 2024 in Kraft treten – und damit ein Jahr später als eigentlich geplant. Das sagte Frankreichs Finanzminister Bruno Le Maire am Dienstag in Brüssel. Entscheidend sei, dass die Reform überhaupt gelinge. Sie soll die bestehenden Vorgaben in das Digitalzeitalter überführen.

Knapp 140 Staaten hatten sich vergangenes Jahr auf Details einer globalen Steuerreform geeinigt. Dazu gehört eine Mindeststeuer in Höhe von 15 Prozent für international agierende Unternehmen. Außerdem sollen Schwellenländer mehr Einnahmen von den größten Konzernen der Welt abbekommen. Steueroasen sollen so ausgetrocknet und vor allem die großen Digitalkonzerne stärker in die Pflicht genommen werden.

Globale Steuerreform: Diskussionen um Mindeststeuer

Bei der Mindeststeuer stockt die Umsetzung in der EU aber, weil Polen noch Bedenken hat. “Alle offenen Fragen sind beantwortet worden”, sagte Bundesfinanzminister Christian Lindner in Brüssel. Er hoffe, dass die Bedenken sehr bald ausgeräumt seien. Es gebe auch keinen Grund, mit der Umsetzung der Mindeststeuer zu warten. Zwischen den beiden Säulen der geplanten Reform gebe es keine rechtliche Verbindung.

Die bisherigen Details wurden unter dem Dach der OECD ausgehandelt. Der Generalsekretär der Industriestaaten-Organisation, Mathias Cormann, sagte beim Weltwirtschaftsforum in Davos, er sei vorsichtig optimistisch, dass die EU grünes Licht für die Mindeststeuer geben werde. Allerdings werde die Umsetzung womöglich nicht vor 2024 gelingen.

Le Maire hofft, dass die Zustimmung der EU-Länder im Juni gelingt. Steuerfragen erfordern in der aus 27 Ländern bestehenden Europäischen Union stets Einstimmigkeit, weswegen Änderungen oft mühsam sind. rtr

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Verfassungsänderung: Orbán schafft sich Grundlage für weiteren Notstand

Kurz vor dem Auslaufen des gegenwärtigen Corona-Notstands zum Monatsende hat Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán einen Weg gefunden, um weiterhin per Verordnung regieren zu können. Das Parlament in Budapest schuf dazu am Dienstag eine neue Kategorie des Notstands. Die Regierung kann den Notstand nun auch ausrufen, wenn ein Nachbarland von einem bewaffneten Konflikt, einem Krieg oder einer humanitären Katastrophe betroffen ist. Die Ukraine, gegen die Russland seit drei Monaten einen Angriffskrieg führt, ist einer von Ungarns Nachbarn. Für die entsprechende Verfassungsänderung stimmten die 136 Abgeordneten der rechtsnationalen Fidesz-Partei.

Corona-Notstand in Ungarn seit Anfang 2020

Der Gesundheitsnotstand, den Orbán zu Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 verhängte und den das Parlament seitdem mehrfach verlängerte, läuft am 31. Mai aus. Mit der Verfassungsänderung könnte Orbán aber erneut den Notstand ausrufen. Dies würde es ihm erlauben, geltende Gesetze aufzuheben und Zwangsmaßnahmen per Verordnung zu treffen. Das Parlament muss das nach spätestens 15 Tagen bestätigen. Angesichts der großen Mehrheit der von Orbán geführten Fidesz-Partei gilt das als Formsache.

Den Gesundheitsnotstand nutzte Orbán auch für Zwecke, die kaum mit der Bewältigung der Gesundheitslage begründbar waren. Dazu zählten Maßnahmen, um oppositionell regierte Gemeinden finanziell zu schädigen oder regierungsnahen Geschäftsleuten Vorteile zu verschaffen. dpa

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Presseschau

EU-Kommissionsvizin Margrethe Vestager zur Abhängigkeit von Russland: “Wir waren nicht naiv, wir waren gierig” HANDELSBLATT
Lindner stellt klar: EU wird keine Schulden für Ukraine-Zuschüsse aufnehmen RND
Von der Leyen im heute journal: “Kandidatenstatus ist kein Freifahrtschein” ZDF
EU-Staaten beschließen Finanzierung weiterer Waffen für die Ukraine RND
“Korn-Krieg”: Wie EU-Länder auf drohende Nahrungskrisen reagieren WIWO
Forderung einiger EU-Länder: Kein Tiger mehr als Haustier TAGESSCHAU
Orban blockiert EU-Öl-Embargo gegen Russland ZDF
Krieg in der Ukraine: Ungarn ruft Ausnahmezustand aus NDR
Pestizidrückstände an Obst aus der EU steigen ZEIT

Portrait

Joachim Poß: Stets kritisches SPD-Urgestein

Joachim Poß ist seit 1966 SPD-Mitglied, davon 37 Jahre lang Abgeordneter im Bundestag.
Joachim Poß ist seit 1966 SPD-Mitglied, davon 37 Jahre lang Abgeordneter im Bundestag.

Seit mehr als einem halben Jahrhundert ist Joachim Poß politisch aktiv. Auch im Ruhestand bleibt er nicht leise. Regelmäßig bezieht er Stellung zum politischen Tagesgeschehen. “Ich habe mich schon immer kritisch geäußert. So kritisch, dass es mir in der Vergangenheit auch Disziplinarverfahren eingebracht hat”, sagt er über sein nicht immer herzliches Verhältnis zur eigenen Partei. Gerade das Thema soziale Gerechtigkeit treibt ihn um: “Die Ungleichheit in der Gesellschaft ist durch die Pandemie noch größer geworden.”

Seit 1966 ist Poß Mitglied der SPD: von 1999 bis 2013 im Bundesparteivorstand. 37 Jahre war er Abgeordneter im Bundestag, davon jahrelang als finanzpolitischer Sprecher der SPD, Mitglied des Finanzausschusses und von 2013 bis 2017 im Ausschuss für die Angelegenheiten der EU.

Beispiellose Karriere als SPD-Abgeordneter im Bundestag

Seine Karriere nahm ihren Anfang im Gelsenkirchen der Nachkriegszeit: “Ich komme aus einem Bergbauarbeiterhaushalt. In meiner Jugend erlebte ich große Demonstrationen, die Zukunft dieser Arbeitsplätze war damals schon unsicher.” Poß wurde Redakteur einer Zeitung der Gewerkschaftsjugend und Mitglied des SPD-nahen Jugendverbandes Die Falken. Der Schritt in die Partei war vorgezeichnet. Nach der Schule begann er eine Verwaltungslaufbahn im gehobenen Dienst bei der Stadtverwaltung Gelsenkirchen.

1980 begann mit der Wahl in den Bundestag seine beispiellose Karriere als Abgeordneter, die bis 2017 andauerte: Joachim Poß’ Wahlkreis Gelsenkirchen 1 brachte ihn immer wieder in den Bundestag, teilweise mit Ergebnissen von knapp 60 Prozent – allen Entwicklungen der SPD zum Trotz. Derartig vertraut und verwurzelt mit der Heimat gestaltete er über das Ende des Kalten Kriegs hinweg internationale Politik mit.

Beobachter des erstarkenden Populismus

Im Gespräch berichtet er von seinen Reisen durch Europa und die USA in den vergangenen Dekaden. Einige Entwicklungen, die viel später ihre Zuspitzung fanden, nahm er bereits früh wahr. So sei etwa “die Finanzpolitik in Griechenland schon in den 1990er Jahren schlecht gewesen. Und bevor das Wort in aller Munde war, konnte ich aufkommenden Populismus sehr früh beobachten, in Italien, Frankreich und hier in Deutschland.”

Gleiches gelte für die USA: In den 00er-Jahren sei er jedes Jahr dort gewesen und habe das Erstarken der Tea Party beobachtet: “Eigentlich ist das hier doch eine ‘civil war’-Situation, sagte ich damals schon zu den amerikanischen Gesprächspartnern; und so wird sie heute ja teilweise auch beschrieben. Und eine Wiederwahl Trumps ist nicht vom Tisch bei Bidens bisheriger schlechter Performance.”

Das Gespräch mit Europe.Table führt Joachim Poß einige Wochen vor Russlands Angriff auf die Ukraine. In der sich politisch und diplomatisch zuspitzenden Situation erinnert er sich an eine Dienstreise von 2014: “Ich war in Donezk, nur einen Tag vor der Übernahme von Teilen des Donbass durch die sogenannten Separatisten, fing die seltsame, beinahe gespenstische Stimmung ein.” Anlass der Dienstreise war die Einschätzung der Lage in der Ukraine nach dem Maidan. Angesichts von Problemen wie Nationalismus, Armut und Korruption fragt Joachim Poß sich nicht selten, “ob es an mancher Stelle nicht Rückschritte gegeben hat”.Vera Altmolak

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Europe.Table Redaktion

EUROPE.TABLE REDAKTION

Licenses:
    • Logistikhilfe für die Ukraine: EU-Aktionsplan soll Millionen Tonnen Getreide retten
    • REPowerEU-Finanzierung durch ETS: Eine Büchse der Pandora
    • Europäischer Bergbau: Zurück in die Zukunft
    • Kohlestrom soll Gaskrise entspannen
    • Öl-Embargo: Von der Leyen erwartet keine Entscheidung auf EU-Gipfel
    • Bund gibt 17 Milliarden Euro für die Chipindustrie
    • Studie: Digitale Industrie kann maßgeblich CO2 einsparen
    • Frankreich erwartet spätere Umsetzung der globalen Steuerreform
    • Verfassungsänderung: Orbán schafft sich Grundlage für weiteren Notstand
    • Joachim Poß: Stets kritisches SPD-Urgestein
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    der Krieg in der Ukraine treibt die globale Nahrungsmittelkrise immer weiter an. Bis zu 20 Millionen Tonnen Weizen stecken derzeit dort fest und können aufgrund von russischen Hafen-Blockaden nicht abtransportiert werden. Die Europäische Kommission hat deshalb einen Aktionsplan auf den Weg gebracht, um die dringend benötigten Güter mittels LKW und auf der Schiene aus dem Land zu holen. Doch unterschiedliche Spurbreiten und nicht zugelassene Abgasnormen sind nur zwei der zahlreichen Herausforderungen, wie Timo Landenberger analysiert.

    Es ist nur ein kleiner Teil der Investitionssumme für REPowerEU, doch er zieht die größte Kritik auf sich: Die Energieunabhängigkeit Europas soll auch durch den Verkauf von CO2-Zertifikaten aus der Reserve finanziert werden. Kritiker:innen befürchten einen Präzedenzfall. “Ist die Büchse der Pandora einmal offen, ist es schwer, sie wieder zu schließen”, sagt der Klimapolitik-Forscher Emil Dimanchev. Die Details hat Lukas Scheid

    In der Vergangenheit dominierte Europa die Märkte mit seiner Bergbauindustrie. Diese Zeiten sind vorbei, doch nun wird der heimische Bergbau wiederentdeckt. Denn die EU möchte sich von problematischen Abhängigkeiten befreien, auch im Bereich der kritischen Rohstoffe. Das Problem ist: Bergbau belastet Klima und Umwelt. Expert:innen fordern darum einen “verantwortungsvollen Bergbausektor” in Europa. Mehr zu der Diskussion lesen Sie in der Analyse von Leonie Düngefeld.

    Die Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine beschäftigen auch die deutsche Bildungslandschaft. Nach EU-Recht haben alle geflüchteten Kinder ein Recht auf Bildung. Dabei dürfen sie nicht schlechter gestellt werden als deutsche Schüler:innen. Doch das überfordert das deutsche Schulsystem, wie unsere Kolleg:innen von Bildung.Table recherchiert haben. Schauen Sie doch mal vorbei.

    Ihre
    Sarah Schaefer
    Bild von Sarah  Schaefer

    Analyse

    Logistikhilfe für die Ukraine: EU-Aktionsplan soll Millionen Tonnen Getreide retten

    Bis zu 20 Millionen Tonnen Getreide lagern derzeit in der Ukraine und können nur schwer abtransportiert werden, da Russland die Seehäfen am Schwarzen Meer blockiert. Das brachte die wichtigste Exportindustrie des Landes praktisch zum Erliegen. Die heimischen Landwirte erzielen durch den Überschuss kaum Einnahmen, während der Weizenpreis auf dem Weltmarkt explodiert. Denn die Ukraine gehört zu den wichtigsten Produktionsländern.

    90 Prozent der ukrainischen Getreideexporte wurden vor Kriegsbeginn per Schiff abgewickelt – bis zu fünf Millionen Tonnen pro Monat. Das entspricht ungefähr der jährlichen deutschen Getreide-Exportmenge. Nach Angaben der Internationalen Schiffahrtskammer (ICS) sitzen nun rund 80 Handelsschiffe in ukrainischen Häfen fest, insbesondere in Mykolajiw, Odessa und Cherson.

    Getreide auf alternativen Routen aus der Ukraine holen

    Mit einem Aktionsplan will die Europäische Union deshalb Logistikhilfe leisten. Auf alternativen Transportrouten, sogenannten Solidarity-Lanes, soll das Getreide mit LKW und auf der Schiene aus dem Land und über Polen und Rumänien an die Europäischen Schwarz- und Mittelmeer- sowie Nordseehäfen gebracht werden.

    “Indem wir den Weizen aus der Ukraine holen, können wir den Ukrainern dringend benötigte Einnahmen verschaffen und dem Welternährungsprogramm die ebenso dringend benötigten Nahrungsmittel liefern”, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Dienstag auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos und fügte an, auch mit Moskau in einen Dialog treten zu wollen. Es könne nicht im Interesse Russlands sein, für verhungernde Menschen verantwortlich zu sein, sagte von der Leyen in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters.

    “Schienenbrücke” nutzen

    Über eine neu eingerichtete Logistikplattform finde ein enger Austausch der EU mit den Mitgliedsstaaten, den ukrainischen Behörden, Logistikunternehmen sowie Finanzinstitutionen statt, teilte eine Kommissionssprecherin mit. Die Bundesregierung unterstützt der Plan. Die EU trage eine “massive Verantwortung, der Ukraine zu helfen, das Getreide aus dem Land zu transportieren”, sagte Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) am Rande des Treffens der EU-Agrarminister am Dienstag in Brüssel. Özdemir rief alle Mitgliedsstaaten auf, die Ukraine und ihre europäischen Anrainerstaaten “schnell und unbürokratisch” zu unterstützen.

    Auch Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) begrüßte das Vorgehen. “Eine gemeinsame europäische Initiative ist ein starkes Zeichen der Solidarität und erhöht den Wirkungsgrad der Maßnahmen”, sagte Wissing vergangene Woche bei einem Treffen mit EU-Verkehrskommissarin Adina Vălean. Insbesondere der Schiene komme dabei eine große Bedeutung zu. So sei man gemeinsam mit der Bahn-Tochter DB Cargo dabei, die für Hilfsgütertransporte in die Ukraine eingerichtete “Schienenbrücke” dahingehend zu befähigen, große Mengen an Agrargütern aus dem Land zu holen.

    Spurbreiten in der Ukraine: Getreide müsste umgeladen werden

    Eine Sprecherin der DB Cargo bestätigte auf Anfrage: “Bereits jetzt fahren wir mit unseren europäischen DB-Cargo-Töchtern in Polen und Rumänien mehrere Züge täglich mit Getreide durch Europa an diverse Seehäfen.” Nun gehe es darum, diese Agrarexporte auszuweiten. Doch das gestaltet sich schwierig.

    So ist beispielsweise die Spurbreite in der Ukraine eine andere als in der EU. Die Ladungen müssen also an der Grenze auf andere Züge umgeladen werden, was einen immensen Zweitaufwand bedeutet. Auch sei völlig unklar, wie viel Getreide wo genau in der Ukraine ist, sagt Agrarökonomin Bettina Rudloff von der Stiftung Wissenschaft und Politik. “Neben den Beständen in den Häfen liegt ein großer Teil noch in dezentralen Umschlagslagern und auch auf landwirtschaftlichen Betrieben über die Ukraine verteilt. Und das macht natürlich einen großen Unterschied für die Frage, wie wir es aus dem Land bekommen.”

    Auch deshalb und aufgrund der teils zerstörten Infrastruktur im Land muss vielfach auf LKW zurückgegriffen werden. Und die Zeit drängt: Bereits Anfang Juli beginnt die neue Ernte und bis dahin muss in der Ukraine genügend Lagerkapazität zur Verfügung stehen. Andernfalls verdirbt das Getreide auf den Feldern, was die bereits bestehende Krise weiter verstärken würde.

    Kilometerlange Staus an der Grenze

    Um jedoch eine Million Tonnen Getreide auf der Straße aus dem Land zu bringen, seien bereits 40.000 LKW nötig, so Ludwig Striewe, Mitglied der Geschäftsführung von ATR-Landhandel. Der Agrar- und Logistikexperte lebte viele Jahre in der Ukraine und war als Teil der deutschen Beratergruppe Wirtschaft für die ukrainische Regierung tätig.

    Allerdings gibt es weder genug Diesel noch ausreichend LKW. Die meisten stehen in kilometerlangen Staus an den Grenzübergängen. “Die LKW brauchen aktuell drei Tage, um aus der Ukraine raus- und nochmal drei Tage, um wieder reinzukommen“, kritisiert Striewe. Das müsse schneller gehen. Dass die EU vergangene Woche die Importzölle auf ukrainische Produkte für ein Jahr ausgesetzt habe, sei ein längst überfälliger Schritt. Weitere müssten nun schnell folgen, fordert Striewe. Darunter die Aufstockung der Grenzbeamten und die Installation provisorischer und temporärer Übergänge.

    Von der EU geprüft wird außerdem eine vorübergehende Zulassung ukrainischer LKW auf europäischen Straßen. Die Fahrzeuge entsprechen überwiegend der Abgasnorm Euro 2 und dürfen nicht bis zu den Häfen durchfahren, was wiederum eine Umladung des Getreides erforderlich macht.

    Doch auch dann bleibt fraglich, ob die Lager bis Anfang Juli wirklich geleert werden können. Experten schlagen deshalb vor, parallel zur Export-Unterstützung bereits jetzt mit dem Aufbau zusätzlicher Lagerkapazitäten in der Ukraine zu beginnen. Etwa in Form sogenannter Silo-Bags: lange Plastikschläuche, die leicht zu transportieren sind und direkt am Feld errichtet werden können.

    “Eine solche dezentrale Lagerung hätte den zusätzlichen Vorteil, dass die Bestände bei russischen Angriffen nicht auf einmal zerstört oder vereinnahmt werden können”, sagt Ludwig Striewe. Schwerpunkt müsse aber weiter auf der Vereinfachung der Ausfuhren liegen.

    Hungersnöte drohen

    Denn diese machen zwölf Prozent der weltweiten Getreideexporte aus. Zahlreiche, insbesondere afrikanische Länder sind von den Lieferungen stark abhängig. Auch Russland und Belarus sind wichtige Exportländer und haben ihre Lieferungen weitgehend eingestellt. Daneben reagierten große Agrarländer wie Indien oder Argentinien mit Exportstopps, um die eigene Versorgung sicherzustellen.

    Das hat starke Auswirkungen auf den Weltmarkt, wo die bereits sehr hohen Kosten für Lebensmittel immer weiter steigen. Experten, die G7-Gemeinschaft und die Vereinten Nationen warnten bereits vor drohenden Hungersnöten für Millionen von Menschen.

    “Der Markt ist sehr unelastisch. Man kann das Angebot nicht auf Knopfdruck erhöhen, das bedarf einer längeren Vorlaufzeit. Auch die Nachfrage ist unelastisch, denn wir müssen essen. Daher kommen die schnellen und hohen Preisausschläge selbst bei kleinen Mengeneinbrüchen”, sagt SWP-Agrarexpertin Rudloff. Schon vor Ausbruch des Krieges habe es über 800 Millionen Hungernde auf der Welt gegeben. Die jetzige Situation sorge also für ein Zusatzproblem, das gelöst werden müsse. Doch das Grundproblem sei ein systematisches.

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    REPowerEU-Finanzierung durch ETS: Eine Büchse der Pandora

    In den Diskussionen um die Reform des europäischen Emissionshandels (ETS) ging es in den vergangenen Monaten oft um Planungssicherheit für Unternehmen sowie das Verhindern von Preisschocks für Verbraucher:innen und Industrie. Preissprünge wie im vergangenen Herbst hatten den Verdacht nach Marktmanipulation von außen genährt und Forderungen nach mehr Kontrolle des Marktes Nachdruck verliehen (Europe.Table berichtete). Ein stabiler Kohlenstoffmarkt – so die Hoffnung – vereinfache es den Branchen der ETS-Sektoren und anderen Marktteilnehmern, sich den neuen Regeln zu beugen.

    Aus demselben Grund hatte die Kommission bei der Vorstellung des Fit-for-55-Pakets vergangenen Sommer vorgeschlagen, eine deutlich geringere Menge ungenutzter Emissionsrechte vom Markt zu nehmen (rund 110 Millionen Zertifikate) als von Umweltschützern gefordert. Stattdessen soll übergangsweise die doppelte Menge Zertifikate in die Marktstabilitätsreserve (MSR) wandern – 24 statt 12 Prozent der insgesamt verfügbaren Emissionsrechte. Die MSR soll qua Definition der Kommission die Widerstandsfähigkeit des ETS gegenüber größeren Schocks verbessern, indem die Menge der zu versteigernden Zertifikate angepasst wird.

    Auf die Ankündigung folgte der Preisschock

    Entsprechend verwunderlich ist der von der Kommission vergangene Woche veröffentlichte Plan (Europe.Table berichtete), bis Ende 2026 rund 20 Milliarden Euro zur Finanzierung des REPowerEU-Programms durch den Verkauf von Emissionszertifikaten aus der MSR zu mobilisieren. Denn allein die Ankündigung des Vorschlags vergangenen Mittwoch hat für einen Preisschock gesorgt. Der europäische CO2-Preis sank seitdem von über 90 Euro auf unter 80 Euro (Stand: 24. Mai, 2022).

    Dies liege an der Unsicherheit auf dem Markt, sagt Emil Dimanchev, Klimapolitik-Forscher und ehemaliger Analyst für Kohlenstoffmärkte. Marktteilnehmer würden aufgrund der Unsicherheit, wie sich der Markt entwickelt, ihre Risikoexposition reduzieren. Das sorge schlussendlich für den Preisabfall, glaubt Dimanchev. Das bedeutet, dass die Kommission durch ihren Vorschlag genau das verursacht hat, was der MSR eigentlich verhindern soll.

    In Anbetracht der Gesamtinvestitionssumme von REPowerEU von rund 300 Milliarden Euro wäre der aus der MSR finanzierte Teil nur gering, aber die Idee zeigt dennoch: Die Kommission ist bereit, in den Markt einzugreifen, wenn es die äußeren Umstände aus Brüsseler Sicht verlangen. “Das kreiert einen Präzedenzfall”, sagt Dimanchev. Es widerspreche dem ursprünglichen Gedanken der MSR. “Dabei geht es weniger um die Menge der Zertifikate, sondern um das Prinzip.”

    EU widerspricht Emissionshandel-Reformvorschlägen

    Es gebe keine klaren Regeln, ab welchem Punkt einer Krise ein solcher Schritt erlaubt ist. “Ist die Büchse der Pandora einmal offen, ist es schwer, sie wieder zu schließen”, so der Klimapolitik-Forscher. Wenn die Kommission eigenhändig entscheide, wann dieser Punkt erreicht ist, sei das gefährlich, weil es die Verlässlichkeit des Markts und das Vertrauen der Händler erschüttere.

    Derartige Unberechenbarkeiten im EU-Emissionshandel sollten durch dessen Reform eigentlich verhindert werden. Marktstabilität sei eine Voraussetzung dafür, dass das ETS korrekt funktioniert und die Zielvorgaben erreicht werden, schrieb die Kommission Mitte Juli bei der Vorstellung ihres ETS-Reformvorschlags. Die MSR solle dabei überkommene Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage angehen und der EU-Emissionshandel widerstandsfähiger gegen größere Ungleichgewichte machen, heißt es weiter. “Der Mechanismus muss für zuverlässige rechtliche Rahmenbedingungen und langfristige Planungssicherheit sorgen.”

    Nun widerspricht die Kommission also ihrer eigenen Vision der besseren Planbarkeit auf dem Markt. Denn sollten die Pläne tatsächlich umgesetzt werden, dürfte der CO2-Preis durch die zusätzlich frei werdenden Emissionsrechte weiter fallen. Somit wäre überhaupt nicht klar, wie viele Zertifikate aus der Reserve gebraucht werden, um das Ziel von 20 Milliarden Euro zu erreichen. Bei einem CO2-Preis von 100 Euro pro Tonne wären 200 Millionen Zertifikate nötig, bei einem Preis von 80 Euro wären es schon 250 Millionen Zertifikate.

    Drohender Domino-Effekt

    Die Krux dabei ist zudem ein drohender Domino-Effekt. Sinkt der Preis pro Tonne CO2, würden auch mehr Zertifikate für das Erreichen der 20-Milliarden-Marke notwendig sein. So müssten noch mehr Zertifikate auf den Markt gespült werden, die den Preis wiederum weiter drücken würden. “Die Marktstabilitätsreserve würde zur Marktinstabilitätsreserve werden”, sagt Dimanchev.

    Stattdessen sollte die EU-Kommission dafür sorgen, dass die jetzigen Einnahmen aus dem ETS wirkungsvoller eingesetzt werden, um zur Energieunabhängigkeit Europas von Russland beizutragen, fordert der Kohlenstoffmarktexperte. Statt den Kuchen aufzublähen, müsse man ihn besser aufteilen. Durch den Verkauf von CO2-Zertifikaten würden jedes Jahr Milliarden eingesammelt, so Dimanchev. Aus seiner Zeit als ETS-Analyst berichtet er, dass jährlich etwa ein Viertel der Einnahmen gar nicht für Klimaschutzmaßnahmen verwendet werden. Wofür genau dieses Viertel eingesetzt wird, ist nicht bekannt, da Mitgliedstaaten nur zur Berichterstattung von Klimaschutz- und Energieinvestitionen verpflichtet sind.

    2019 waren es vier Milliarden Euro an ETS-Einnahmen, die für andere Zwecke als Klimaschutz oder Energieversorgung verwendet wurden. 2020, als der durchschnittliche CO2-Preis noch bei rund 24 Euro pro Tonne lag, waren es schon fünf Milliarden Euro und 28 Prozent der Gesamteinnahmen aus dem ETS. Dimanchev plädiert deshalb dafür, dieses Geld nun für die Energieunabhängigkeit von Russland und zur Finanzierung der REPowerEU-Pläne zu verwenden. Bei einem durchschnittlichen CO2-Preis von über 50 Euro pro Tonne dauert es laut dem Experten weniger als zwei Jahre, die anvisierten 20 Milliarden Euro aufzubringen, die die Kommission durch MSR-Zertifikate einzunehmen hofft.

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    Europäischer Bergbau: Zurück in die Zukunft

    Um grüne Energie zu erzeugen und die Klimaziele zu erreichen, braucht Europa Windturbinen, Photovoltaikanlagen, Brennstoff- und Solarzellen, Wärmepumpen und Batterien. Das Problem: Rohstoffe, die für deren Herstellung benötigt werden, kommen zum größten Teil von instabilen Partnern aus dem nicht-europäischen Ausland. Viele von ihnen sind zudem knapp und stehen bereits heute nicht mehr in ausreichenden Mengen zur Verfügung. Das zeigen schon jetzt Lieferverzögerungen von Elektroautos oder Solarpanelen.

    Die Europäische Kommission kündigte in ihrer in der vergangenen Woche angenommenen RePowerEU-Mitteilung an, einen Gesetzesvorschlag zu kritischen Rohstoffen zu erarbeiten. Das Rezept der EU, um wichtige Rohstoffe zu sichern, besteht bislang aus drei Zutaten: dem Ausbau von vertrauensvolleren Kooperationen mit anderen Ländern, mehr Produktion im Inland und dem Aktionsplan für eine Kreislaufwirtschaft.

    Erstere Zutat hob Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gestern auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos hervor: Um Rohstoffe für die Energiewende zu sichern, dürfe Europa nicht in dieselbe Falle tappen wie bei Öl und Gas, sagte sie. “Wir sollten alte Abhängigkeiten nicht durch neue ersetzen. Wir arbeiten daher daran, die Widerstandsfähigkeit unserer Lieferketten zu gewährleisten.” Starke internationale Partnerschaften wie jene mit Kanada seien “das Herzstück der Lösung”. So könne die EU vertrauensvolle und ausgewogenere Lieferketten aufbauen.

    Der zweite Teil des Rezepts bedeutet: zurück zu einer heimischen Bergbauindustrie, mit der Europa in der Vergangenheit globale Märkte dominierte. Spätestens Anfang der 2000er-Jahre verlor sie an Einfluss – die Produktion verschwand im günstigeren Ausland, fern der steigenden europäischen Umwelt- und Sozialstandards.

    Europa ist reich an Rohstoffen

    Auf dem Raw Material Summit, den EIT Raw Materials und die Europäische Rohstoffallianz (ERMA) in dieser Woche in Berlin veranstalteten, waren sich Vertreter:innen aus Industrie, Politik und NGOs einig: Europa ist reich an Rohstoffen und muss diese nun wieder besser nutzen. “Wir brauchen einen verantwortungsvollen Bergbausektor und Lieferketten innerhalb Europas”, so Bernd Schäfer, CEO von EIT Raw Materials. Europa stehe an einem “epochalen Wendepunkt”, sagte er in der Eröffnungsrede der Veranstaltung. Nach der russischen Invasion in der Ukraine müsse die EU die Vorteile des Binnenmarktes voll ausschöpfen. “Es ist an der Zeit, rasch hochinnovative und nachhaltige Lieferketten zwischen den Mitgliedstaaten aufzubauen.”

    Projekte zur Gewinnung und Weiterverarbeitung von Metallen und anderen Rohstoffen gibt es bereits zuhauf; oft sind jahrelange Genehmigungsverfahren ein Hindernis. Die Europäische Kommission will gemeinsam mit den Mitgliedstaaten und Regionen eine Übersicht der Bergbau- und Verarbeitungsprojekte in der EU erstellen, die bis 2025 in Betrieb genommen werden können. Besondere Aufmerksamkeit will sie jenen Regionen zukommen lassen, die aufgrund ihrer Bergbaugeschichte bereits über Expertise und technische Fähigkeiten verfügen. Das verkündete die Kommission 2020 – bislang sind jedoch keine Ergebnisse bekannt.

    Höhere Preise für bessere Standards

    Ein weiterer Konflikt: Bergbau belastet Klima und Umwelt. Ein europäischer Bergbausektor muss deshalb verantwortungsbewusst und nachhaltig sein. Im globalen Vergleich sind die europäischen Standards sehr hoch, besitzen eine gute Reputation und Vorbildcharakter. Man müsse diese jedoch auch einhalten, forderte Tobias Kind-Rieper vom WWF. Die portugiesische Regierung hätte zum Beispiel eine Abschätzung der sozialen und Umweltfolgen als Bedingung für den Lithium-Abbau angekündigt. Diese sei für einige Projekte trotzdem nicht erfolgt.

    Eine Sorge, die mit den hohen Standards zusammenhängt, ist die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie. Es stehe fest, dass Rohstoffpreise im Westen höher seien als Preise in Ländern wie China, sagte Erik Eschen vom Permanentmagneten-Hersteller Vacuumschmelze. Dies müsse man jedoch in Kauf nehmen; einige Abnehmer hätten das auch schon erkannt. In den vergangenen zwanzig Jahren habe man schließlich ignoriert, dass auch die starke Abhängigkeit von bestimmten Ländern hohe Kosten verursache, so Eschen.

    Das richtige Framing

    Die dritte Zutat der EU-Strategie ist das Ziel einer Kreislaufwirtschaft: Um ihren Fußabdruck klein zu halten, müssen die Rohstoffe im Kreislauf und möglichst lang in der Nutzung bleiben. Laut einer Studie der NGO PowerShift können durch das Recycling von Aluminium bis zu 95 Prozent der Emissionen im Vergleich zur Primärgewinnung von Aluminium aus Bauxit eingespart werden; Kupfer-Rezyklate erzeugen 30 bis 80 Prozent weniger Emissionen. Auch bei Stahl besteht großes Einsparungspotenzial durch Recycling.

    In einem weiteren Punkt sind sich alle einig: Den Bürger:innen muss besser vermittelt werden, wie wichtig europäische Bergbauprojekte sind. “Wir müssen zeigen, wie groß das Potenzial unter unseren Füßen ist”, sagte der EU-Abgeordnete Reinhard Bütikofer. Es sei klar, dass heimischer Bergbau zunächst einmal Ängste und Unsicherheiten hervorrufe, sagte Sophia Kalantzakos, Wissenschaftlerin an der New York University. Deshalb sei das richtige Framing und Transparenz von allen Beteiligten wichtig.

    Die Bergbauindustrie bemüht sich derweil um ein grüneres Image. In Grönland etwa will das kanadische Unternehmen Greenland Resources in großem Stil Molybdän abbauen, ein Metall, das unter anderem für die europäische Stahlproduktion essenziell ist, bislang aber nicht in Europa produziert wird. Aufgrund des ausgeklügelten Minendesigns soll es das umweltfreundlichste Molybdän-Projekt der Welt werden, wirbt mit besonders niedrigen Emissionen und geringem Wasserverbrauch. “Die Unternehmen scheinen heute weniger profitorientiert und legen mehr Wert auf ethische Standards“, sagte Kalantzakos. Ob sie diese einhalten können, wird sich zeigen. Leonie Düngefeld

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    Kohlestrom soll Gaskrise entspannen

    Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck will Deutschland weiter für ein mögliches Ende russischer Gaslieferungen wappnen und dafür die Zahl der Kohlekraftwerke in Reserve ausbauen. Falls Gasmangel eintritt oder droht, soll der Gasverbrauch in der Stromerzeugung durch einen “Malus” deutlich verringert werden, wie am Dienstag aus dem Bundeswirtschaftsministerium zu hören war. Ein entsprechender Gesetzentwurf ging gestern in die Ressortabstimmung. Mit einem “Sprinterprogramm” soll außerdem über das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) der Neubau von Wasserstoffkraftwerken gefördert werden.

    Bereits kurz darauf wurden Stimmen laut, den Brennstoffwechsel vorzuziehen. “Leider ein richtiges Vorhaben. Sollte meines Erachtens aber schon jetzt genutzt werden, damit die Speicher so rasch wie möglich gefüllt werden”, twitterte Dena-Chef Andreas Kuhlmann. Zustimmung kam in dem Kurznachrichtendienst vom Vize des BDI, Holger Loesch: “Sollte wirklich schon jetzt passieren, nicht erst im Notfall. 16 % vom Gasverbrauch in Energieerzeugung sind ein großes Potential für den Speicherhochlauf.” Eine offizielle Pressemitteilung des BDI gab es am Dienstag bis Redaktionsschluss allerdings nicht.

    Gegen einen schnellen regulatorischen Eingriff wandte sich Energieexperte Marco Wünsch von Prognos und verwies auf den europäischen Binnenmarkt: “Aktuell würde ich das nicht machen. Wenn Gaskraftwerke in Deutschland in der Merit Order schlechter gestellt werden, werden im Ausland ineffizientere Gaskraftwerke einspringen. Potenzial für mehr Kohlestrom sehe ich kurzfristig nicht. Der Gasbedarf würde damit steigen.”

    Ablehnend zu den Plänen des BMWK äußerte sich der Energieverband BDEW: “Dies würde einen erheblichen Eingriff in die Grundrechte der betroffenen Unternehmen darstellen, der nach Ansicht des BDEW unverhältnismäßig und nicht gerechtfertigt wäre.” ber/dpa

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    Öl-Embargo: Von der Leyen erwartet keine Entscheidung auf EU-Gipfel

    EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erwartet nach eigenen Worten nicht, dass es auf dem EU-Gipfel Anfang kommender Woche zu einer Entscheidung über ein Öl-Embargo gegen Russland kommt. “Ich glaube nicht, dass der Gipfel der richtige Ort dafür ist… Wir sollten nicht auf den Gipfel starren”, sagte sie am Dienstag am Rande des Weltwirtschaftsforums zu Reuters. Die Verhandlungen mit den Mitgliedstaaten dauerten noch an, so von der Leyen weiter. Dabei gehe es jetzt vor allem um die Ausarbeitung von Details.

    Ähnlich sieht es Ungarns Regierungschefs Viktor Orbán. Da die noch offenen Fragen schwerwiegend seien, sei es sehr unwahrscheinlich, dass eine umfassende Lösung vor dem Gipfel gefunden werden könne, schreibt Orbán in einem Brief an EU-Ratschef Charles Michel. Zugleich spricht sich der rechtsnationale Politiker in dem Schreiben vom Montag, das Europe.Table vorliegt, dafür aus, nicht bei dem Gipfel über das von der EU-Kommission vorgeschlagene Sanktionspaket zu diskutieren. Dies sei kontraproduktiv und würde nur die interne Spaltung offenbaren, ohne dass es eine realistische Chance gebe, die Differenzen auszuräumen. Ein EU-Beamter bestätigte am Dienstag den Eingang des Schreibens.

    Embargo gegen Russland: Ungarn will Ausnahme oder Zahlung

    Orbán bekräftigt darin zudem, dass Ungarn noch immer stark von russischen Energie-Importen abhänge. Weder die ungarischen Haushalte, noch die ungarische Wirtschaft könnten den Preisschock aushalten, den die vorgeschlagenen Sanktionen verursachen würden. Er verweist zudem darauf, dass die jüngsten Vorschläge der EU-Kommission zur Entlastung besonders von russischer Energie abhängiger Staaten die ungarischen Bedenken nicht ausräumten.

    Die EU-Kommission hatte Anfang März ursprünglich vorgeschlagen, wegen des Ukraine-Kriegs den Import von russischem Rohöl in sechs Monaten und den von Ölprodukten in acht Monaten zu beenden. Ungarn und die Slowakei sollten 20 Monate Zeit bekommen. Auch Nachbesserungsangebote konnten die ungarische Regierung bislang nicht dazu bewegen, ihre Ablehnung aufzugeben. Außenminister Péter Szijjártó machte deutlich, dass sein Land entweder eine komplette Ausnahme für Öl-Lieferungen über Pipelines oder die Zahlung von 15 Milliarden Euro aus EU-Mitteln für Anpassungs- und Folgekosten will. dpa/rtr

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    Bund gibt 17 Milliarden Euro für die Chipindustrie

    Die Ampel-Koalition stockt die Förderung der Halbleiterbranche in Deutschland massiv auf. Der Haushaltsausschuss des Bundestags hat in der Bereinigungssitzung Ende vergangener Woche Mittel von 17,23 Milliarden Euro für Projekte im Bereich Mikroelektronik beschlossen, wie eine Sprecherin des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) auf Anfrage von Europe.Table bestätigte. Davon sollen 3,15 Milliarden Euro in diesem Jahr und 14,08 Milliarden in den Folgejahren bis 2028 fließen.

    Die Haushälter erhöhen damit die von der Bundesregierung geplante Förderung deutlich (Europe.Table berichtete). Ein großer Teil der Mittel dürfte Intel zugutekommen. Der US-Konzern hatte Mitte März angekündigt, 17 Milliarden Euro in den Bau zweier Halbleiterwerke in Magdeburg investieren zu wollen (Europe.Table berichtete). In Regierungs- und Industriekreisen heißt es, Intel sei dafür eine Förderung durch den Bund in Höhe von rund sieben Milliarden Euro in Aussicht gestellt worden. Das BMWK wollte sich zur Förderhöhe nicht äußern. Man sei aber mit Intel “aktuell im intensiven Austausch, mit dem Ziel, das Vorhaben in Kürze bei der Europäischen Kommission einzureichen”, sagte die Sprecherin. Die Brüsseler Wettbewerbshüter müssen die staatliche Beihilfe genehmigen.

    Finanzierung des geplanten IPCEI-Mikroelektronik

    Ein zweiter großer Block ist für die Finanzierung des geplanten IPCEI zu Mikroelektronik und Kommunikationstechnologien vorgesehen. In Industriekreisen ist von rund fünf Milliarden Euro für das Important Project of Common European Interest die Rede. An dem Vorhaben sind 32 Unternehmen in Deutschland beteiligt, darunter Infineon, Bosch und Globalfoundries. Das IPCEI zu Mikroelektronik wurde im Herbst 2020 angestoßen, ist aber wegen aufwendiger Abstimmungsprozesse und der bis zuletzt ungeklärten finanziellen Förderung in Deutschland noch nicht an den Start gegangen (Europe.Table berichtete).

    Das dürfte sich nun ändern: Für die Umsetzung des IPCEI sei die Entscheidung des Haushaltsausschusses “richtungsweisend”, sagt Wolfgang Weber, Vorsitzender der Geschäftsführung des Branchenverbandes ZVEI. Für die Industrie in Deutschland und Europa sei die Versorgung mit Chips von hoher Bedeutung, um die Zukunftsfähigkeit zu sichern. Der SPD-Wirtschaftspolitiker Falko Mohrs spricht von einem “enorm wichtigen Beitrag” zur Förderung des strategisch wichtigen Industriezweigs.

    Auch Spanien gibt Milliarden

    Ein Großteil der Haushaltsmittel kommt aus dem Etat des Bundesfinanzministeriums. Der Einzelplan 60 sieht 2,72 Milliarden Euro an Ausgabenmitteln und 12,48 Milliarden an Verpflichtungsermächtigungen vor. Rund zwei Milliarden Euro kommen aus dem Etat des BMWK, davon 1,6 Milliarden als Verpflichtungsermächtigungen. Ein dreistelliger Millionenbetrag ist zudem im Haushalt des Forschungsministeriums für den Technologiesektor vorgesehen. Das Plenum des Bundestags muss dem Haushaltsentwurf noch zustimmen.

    Die Pläne der Berliner Koalitionspartner werden auch in Brüssel aufmerksam verfolgt. Die EU-Kommission will über den geplanten Chips Act die Ansiedlung von Halbleiterunternehmen fördern (Europe.Table berichtete), um den Anteil Europas an der Chipproduktion bis 2030 auf 20 Prozent mehr als zu verdoppeln. Der Löwenanteil der in Aussicht gestellten Förderung von 43 Milliarden Euro soll dabei von den Mitgliedstaaten aufgebracht werden.

    Auch die spanische Regierung greift dabei tief in die Kasse. Sie hat 12,25 Milliarden Euro freigegeben, um Produzenten von Halbleitern ins Land zu locken. 9,3 Milliarden Euro davon seien vorgesehen, um den Bau von Fabriken zu fördern, sagte Wirtschaftsministerin Nadia Calvino gestern. Gut eine Milliarde Euro sei für Forschung und Entwicklung in dem Bereich eingeplant. Das Geld soll bis 2027 eingesetzt werden.

    Bislang habe die Branche, die vor allem von Asien aus den Weltmarkt beliefert, einen Bogen um Spanien gemacht, sagte Calvino. Fehlende staatliche Unterstützung sei einer der Gründe dafür gewesen. “Wir wollen, dass Spanien eine relevante Rolle in diesem Technologiefeld spielt.”

    Bislang dominieren Firmen aus den USA im Chipdesign und asiatische Hersteller bei der Produktion. In dem Sektor ist international ein Subventionswettlauf entbrannt. “Wir dürfen allerdings nicht ignorieren, was um uns herum passiert”, sagt ZVEI-Geschäftsführer Weber. Die USA, China und Südkorea hätten noch weitaus höhere Fördersummen angekündigt als Europa. tho

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    Studie: Digitale Industrie kann maßgeblich CO2 einsparen

    Die Digitalisierung der Industrie in Deutschland kann in großem Maßstab einen Beitrag zur Erreichung der Klimaziele 2030 leisten. Das geht aus einer Studie der Wirtschaftsberatung Accenture hervor, die am Dienstag vom Digitalverband Bitkom in Berlin veröffentlicht wurde.

    In der Studie werden zwei Szenarien untersucht: eine moderate sowie eine beschleunigte Digitalisierung, die das Tempo bei der Einführung, Verbreitung und Nutzung digitaler Technologien durch entsprechende politische Anreize deutlich anzieht. Bei einem beschleunigten Einsatz digitaler Technologien in der Industrie könnten bis zu 64 Millionen Tonnen CO2 eingespart werden, bei einer langsameren Digitalisierung sinke dieser Wert auf 37 Millionen Tonnen.

    Mit dem Pariser Klimaschutzabkommen hatte sich Deutschland 2015 verpflichtet, bestimmte Klimaziele zu erreichen und Maßnahmen einzuleiten, um die Treibhausgasemissionen zu senken. Im Jahr 2019 lag der CO2-Ausstoß noch bei 805 Megatonnen. 2030 darf der nur noch 543 Megatonnen betragen.

    Als größtes Einsparpotenzial führt die Studie den gezielten Einsatz sogenannter Digitaler Zwillinge an. Darunter versteht man die digitale Abbildung von Produkten und Fertigungsprozessen, um damit zu einem frühen Zeitpunkt schon während der Entwicklung sowohl das Produkt selbst als auch die Fertigung auf einen möglichst geringen CO2-Ausstoß hin zu optimieren. Damit könnten bei einer beschleunigten Digitalisierung der Industrie in Deutschland allein 33 Millionen Tonnen CO2 eingespart werden, bei einer langsameren Digitalisierung seien es 19 Millionen Tonnen.

    In einer ähnlichen Größenordnung liegt das Einsparpotenzial bei einer Automatisierung der Produktion. Hier könne der CO2-Ausstoß um 31 Millionen Tonnen beziehungsweise 18 Millionen Tonnen bei einer langsameren Digitalisierung verringert werden. dpa

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    Frankreich erwartet spätere Umsetzung der globalen Steuerreform

    Die globale Steuerreform wird vermutlich erst Ende 2023 oder Anfang 2024 in Kraft treten – und damit ein Jahr später als eigentlich geplant. Das sagte Frankreichs Finanzminister Bruno Le Maire am Dienstag in Brüssel. Entscheidend sei, dass die Reform überhaupt gelinge. Sie soll die bestehenden Vorgaben in das Digitalzeitalter überführen.

    Knapp 140 Staaten hatten sich vergangenes Jahr auf Details einer globalen Steuerreform geeinigt. Dazu gehört eine Mindeststeuer in Höhe von 15 Prozent für international agierende Unternehmen. Außerdem sollen Schwellenländer mehr Einnahmen von den größten Konzernen der Welt abbekommen. Steueroasen sollen so ausgetrocknet und vor allem die großen Digitalkonzerne stärker in die Pflicht genommen werden.

    Globale Steuerreform: Diskussionen um Mindeststeuer

    Bei der Mindeststeuer stockt die Umsetzung in der EU aber, weil Polen noch Bedenken hat. “Alle offenen Fragen sind beantwortet worden”, sagte Bundesfinanzminister Christian Lindner in Brüssel. Er hoffe, dass die Bedenken sehr bald ausgeräumt seien. Es gebe auch keinen Grund, mit der Umsetzung der Mindeststeuer zu warten. Zwischen den beiden Säulen der geplanten Reform gebe es keine rechtliche Verbindung.

    Die bisherigen Details wurden unter dem Dach der OECD ausgehandelt. Der Generalsekretär der Industriestaaten-Organisation, Mathias Cormann, sagte beim Weltwirtschaftsforum in Davos, er sei vorsichtig optimistisch, dass die EU grünes Licht für die Mindeststeuer geben werde. Allerdings werde die Umsetzung womöglich nicht vor 2024 gelingen.

    Le Maire hofft, dass die Zustimmung der EU-Länder im Juni gelingt. Steuerfragen erfordern in der aus 27 Ländern bestehenden Europäischen Union stets Einstimmigkeit, weswegen Änderungen oft mühsam sind. rtr

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    Verfassungsänderung: Orbán schafft sich Grundlage für weiteren Notstand

    Kurz vor dem Auslaufen des gegenwärtigen Corona-Notstands zum Monatsende hat Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán einen Weg gefunden, um weiterhin per Verordnung regieren zu können. Das Parlament in Budapest schuf dazu am Dienstag eine neue Kategorie des Notstands. Die Regierung kann den Notstand nun auch ausrufen, wenn ein Nachbarland von einem bewaffneten Konflikt, einem Krieg oder einer humanitären Katastrophe betroffen ist. Die Ukraine, gegen die Russland seit drei Monaten einen Angriffskrieg führt, ist einer von Ungarns Nachbarn. Für die entsprechende Verfassungsänderung stimmten die 136 Abgeordneten der rechtsnationalen Fidesz-Partei.

    Corona-Notstand in Ungarn seit Anfang 2020

    Der Gesundheitsnotstand, den Orbán zu Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 verhängte und den das Parlament seitdem mehrfach verlängerte, läuft am 31. Mai aus. Mit der Verfassungsänderung könnte Orbán aber erneut den Notstand ausrufen. Dies würde es ihm erlauben, geltende Gesetze aufzuheben und Zwangsmaßnahmen per Verordnung zu treffen. Das Parlament muss das nach spätestens 15 Tagen bestätigen. Angesichts der großen Mehrheit der von Orbán geführten Fidesz-Partei gilt das als Formsache.

    Den Gesundheitsnotstand nutzte Orbán auch für Zwecke, die kaum mit der Bewältigung der Gesundheitslage begründbar waren. Dazu zählten Maßnahmen, um oppositionell regierte Gemeinden finanziell zu schädigen oder regierungsnahen Geschäftsleuten Vorteile zu verschaffen. dpa

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    Presseschau

    EU-Kommissionsvizin Margrethe Vestager zur Abhängigkeit von Russland: “Wir waren nicht naiv, wir waren gierig” HANDELSBLATT
    Lindner stellt klar: EU wird keine Schulden für Ukraine-Zuschüsse aufnehmen RND
    Von der Leyen im heute journal: “Kandidatenstatus ist kein Freifahrtschein” ZDF
    EU-Staaten beschließen Finanzierung weiterer Waffen für die Ukraine RND
    “Korn-Krieg”: Wie EU-Länder auf drohende Nahrungskrisen reagieren WIWO
    Forderung einiger EU-Länder: Kein Tiger mehr als Haustier TAGESSCHAU
    Orban blockiert EU-Öl-Embargo gegen Russland ZDF
    Krieg in der Ukraine: Ungarn ruft Ausnahmezustand aus NDR
    Pestizidrückstände an Obst aus der EU steigen ZEIT

    Portrait

    Joachim Poß: Stets kritisches SPD-Urgestein

    Joachim Poß ist seit 1966 SPD-Mitglied, davon 37 Jahre lang Abgeordneter im Bundestag.
    Joachim Poß ist seit 1966 SPD-Mitglied, davon 37 Jahre lang Abgeordneter im Bundestag.

    Seit mehr als einem halben Jahrhundert ist Joachim Poß politisch aktiv. Auch im Ruhestand bleibt er nicht leise. Regelmäßig bezieht er Stellung zum politischen Tagesgeschehen. “Ich habe mich schon immer kritisch geäußert. So kritisch, dass es mir in der Vergangenheit auch Disziplinarverfahren eingebracht hat”, sagt er über sein nicht immer herzliches Verhältnis zur eigenen Partei. Gerade das Thema soziale Gerechtigkeit treibt ihn um: “Die Ungleichheit in der Gesellschaft ist durch die Pandemie noch größer geworden.”

    Seit 1966 ist Poß Mitglied der SPD: von 1999 bis 2013 im Bundesparteivorstand. 37 Jahre war er Abgeordneter im Bundestag, davon jahrelang als finanzpolitischer Sprecher der SPD, Mitglied des Finanzausschusses und von 2013 bis 2017 im Ausschuss für die Angelegenheiten der EU.

    Beispiellose Karriere als SPD-Abgeordneter im Bundestag

    Seine Karriere nahm ihren Anfang im Gelsenkirchen der Nachkriegszeit: “Ich komme aus einem Bergbauarbeiterhaushalt. In meiner Jugend erlebte ich große Demonstrationen, die Zukunft dieser Arbeitsplätze war damals schon unsicher.” Poß wurde Redakteur einer Zeitung der Gewerkschaftsjugend und Mitglied des SPD-nahen Jugendverbandes Die Falken. Der Schritt in die Partei war vorgezeichnet. Nach der Schule begann er eine Verwaltungslaufbahn im gehobenen Dienst bei der Stadtverwaltung Gelsenkirchen.

    1980 begann mit der Wahl in den Bundestag seine beispiellose Karriere als Abgeordneter, die bis 2017 andauerte: Joachim Poß’ Wahlkreis Gelsenkirchen 1 brachte ihn immer wieder in den Bundestag, teilweise mit Ergebnissen von knapp 60 Prozent – allen Entwicklungen der SPD zum Trotz. Derartig vertraut und verwurzelt mit der Heimat gestaltete er über das Ende des Kalten Kriegs hinweg internationale Politik mit.

    Beobachter des erstarkenden Populismus

    Im Gespräch berichtet er von seinen Reisen durch Europa und die USA in den vergangenen Dekaden. Einige Entwicklungen, die viel später ihre Zuspitzung fanden, nahm er bereits früh wahr. So sei etwa “die Finanzpolitik in Griechenland schon in den 1990er Jahren schlecht gewesen. Und bevor das Wort in aller Munde war, konnte ich aufkommenden Populismus sehr früh beobachten, in Italien, Frankreich und hier in Deutschland.”

    Gleiches gelte für die USA: In den 00er-Jahren sei er jedes Jahr dort gewesen und habe das Erstarken der Tea Party beobachtet: “Eigentlich ist das hier doch eine ‘civil war’-Situation, sagte ich damals schon zu den amerikanischen Gesprächspartnern; und so wird sie heute ja teilweise auch beschrieben. Und eine Wiederwahl Trumps ist nicht vom Tisch bei Bidens bisheriger schlechter Performance.”

    Das Gespräch mit Europe.Table führt Joachim Poß einige Wochen vor Russlands Angriff auf die Ukraine. In der sich politisch und diplomatisch zuspitzenden Situation erinnert er sich an eine Dienstreise von 2014: “Ich war in Donezk, nur einen Tag vor der Übernahme von Teilen des Donbass durch die sogenannten Separatisten, fing die seltsame, beinahe gespenstische Stimmung ein.” Anlass der Dienstreise war die Einschätzung der Lage in der Ukraine nach dem Maidan. Angesichts von Problemen wie Nationalismus, Armut und Korruption fragt Joachim Poß sich nicht selten, “ob es an mancher Stelle nicht Rückschritte gegeben hat”.Vera Altmolak

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