es sind Einigungen, mit denen viele gar nicht mehr gerechnet hatten: Die Berichterstatter:innen des federführenden Umweltausschusses (ENVI) haben am Dienstag einen gewaltigen Schritt auf dem Weg zur Neugestaltung des europäischen Emissionshandelssystems gemacht. Der wichtigste Kompromiss: Der ETS 2 für den Straßenverkehr und das Heizen von Gebäuden kommt – wenn auch mit Einschränkungen. Doch nicht in allen Punkten gibt es Einigkeit. Lukas Scheid hat die Details.
Die EU-Kommission will, dass der Ausbau von Solarenergie in den Mitgliedstaaten schneller vorangeht. Das geht aus einem Entwurf für eine Solarstrategie der Kommission hervor. Die Mitgliedstaaten sollen nach dem Willen Brüssels zügig Förderprogramme vorlegen, die schon im kommenden Jahr wirksam werden. Ein wesentliches Ziel: Photovoltaik soll sich für Hausbesitzer in Zukunft schneller rechnen. Manuel Berkel analysiert die wichtigsten Punkte des Entwurfs.
CDU-Politiker sprachen in Bezug auf die Türkei von einer Privilegierten Partnerschaft, Emmanuel Macron nennt es eine “Europäische Politische Gemeinschaft”: Der Vorschlag, den Frankreichs Präsident am Europatag machte, ist nicht neu, wird nun aber wieder debattiert: Braucht es eine Art Vorstufe für Länder, die der EU beitreten möchten, aber in deren Augen noch nicht so weit sind? Die möglichen Beitrittskandidaten jedenfalls reagieren misstrauisch auf die Idee, wie Till Hoppe und Falk Steiner berichten.
Mit einem Verordnungs-Vorschlag will EU-Innenkommissarin Ylva Johansson den Schutz von Kindern im Netz verbessern. So sollen Darstellungen, die den sexuellen Missbrauch von Kindern zeigen, möglichst schnell und dauerhaft aus dem Internet entfernt werden. Doch die Maßnahmen, mit denen Johansson das erreichen möchte, sorgen für Kritik. Mit einer davon habe die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auch schon Bekanntschaft gemacht, schreibt Falk Steiner. Ein Europa-Abgeordneter tobt gar: “Zensursula ist zurück.”
Um kurz vor 17 Uhr am Dienstag meldete Grünen-Schattenberichterstatter Michael Bloss via Twitter Vollzug. “We have a deal for EU’s biggest climate tool box – the EU Emission Trading Scheme!” Nach tagelangen Verhandlungen der Berichterstatter:innen des federführenden Umweltausschusses (ENVI) wurden in vielen Punkten Einigungen erzielt, mit denen viele schon nicht mehr gerechnet hatten (Europe.Table berichtete).
Wichtigster Kompromiss: Der zweite EU-Emissionshandel für den Straßenverkehr und das Heizen von Gebäuden (ETS 2) kommt (Europe.Table berichtete) – allerdings mit Einschränkungen. Vorerst soll er nur für gewerblich genutzte Gebäude und Schwerlastfahrzeuge gelten, mit einem Mindestpreis von 50 Euro pro Tonne CO2. Bis 2026 soll die EU-Kommission prüfen, ob die Ausweitung auf private Haushalte bezüglich drohender Energie- und Mobilitätsarmut infrage kommt.
Frühestens 2029 würde die Ausweitung vollzogen werden, sofern die Energiepreise unter dem Durchschnitt von März 2022 lägen und der Klima-Sozialfonds bereits drei Jahre vorher Haushalte entlasten würde. Die steigenden Kosten der Brenn- und Kraftstoffherstellung dürften die Unternehmen nur zur Hälfte an die Endkunden weitergeben. Das heißt, sie müssten ihre Preiszusammensetzung offenlegen.
Schon länger klar ist die Einigung, dass Emissionen von kommunaler Müllverbrennung ab 2026 in den bestehenden ETS aufgenommen werden. Der Luftverkehr innerhalb der EU soll ab 2025 den vollen Preis für seine Emissionen zahlen und keine kostenlosen Zertifikate mehr erhalten. Der Schiffsverkehr soll ab 2024 aufgenommen werden und bis 2027 auch auf Schiffe ab 400 GT (Gross Tonnage) ausgeweitet. Zudem sollen ab 2027 nicht nur die Hälfte der Emissionen von Fahrten zwischen EU-Häfen und Häfen in Drittländern im Emissionshandel bezahlt werden, sondern alle.
Die Verteilung der Einnahmen aus dem ETS ist ebenfalls Teil des Kompromisses, der am Dienstag gefunden wurde. Schon vorab war klar, dass der Innovationsfonds durch einen Klima-Investitionsfonds ersetzt werden soll, um nicht nur neue und innovative Projekte fördern zu können, sondern auch Methoden, die die Klimaneutralität unterstützen. Gestern einigten sich die Berichterstatter:innen darauf, dass der Fonds mit insgesamt 1.46 Milliarden Zertifikaten gefüllt wird, aus deren Erlösen Klimaschutzmaßnahmen finanziert werden sollen. 12 Prozent des Fonds sind für Investitionen in erneuerbare Energien reserviert.
Der Modernisation Fund wird zudem um zwei Prozent aufgestockt, sodass künftig vier Prozent der insgesamt versteigerten Zertifikate in diesen Fonds fließen würden.
Die Verhandler:innen einigten sich auch auf ein paar Bedingungen für die Verwendung der ETS-Einnahmen. Mindestens 12 Prozent der Einnahmen müssen an klimafreundliche öffentliche Transportmittel gehen, weitere 12 Prozent in internationalen Klimaschutz fließen.
Der Deal hat allerdings auch ein paar Lücken. Die Uneinigkeiten bei der Einführung des CO2-Grenzausgleichmechanismus (CBAM) konnten auch beim letzten Shadow-Meeting vor der Abstimmung im ENVI (16./18. Mai) nicht ausgeräumt werden. So will eine Mehrheit abseits der EVP um den verantwortlichen Berichterstatter Peter Liese (CDU) ab 2031 keine kostenlosen CO2-Zuteilungen mehr für die Industrie ausgeben. Stattdessen soll der CBAM bis dahin vollständig eingeführt werden.
Dieser sogenannte alternative Kompromiss, da er ohne die Zustimmung des Berichterstatters getroffen wurde, sollte kommende Woche angenommen werden. Ob die Mehrheit im ENVI aus Grünen, S&D, Renew und Linken auch bei der Abstimmung im Plenum im Juni bestehen bleibt, ist fraglich. Abgeordnete der Sozialdemokraten und Liberalen im ITRE-Ausschuss hatten sich zusammen mit der EVP auf 2034 als Enddatum der freien Zertifikate geeinigt (Europe.Table berichtete). Liese selbst ist sich daher zu “99 Prozent sicher”, dass der alternative ENVI-Kompromiss im Plenum scheitert.
Auch bei der einmaligen Löschung überschüssiger Zertifikate gibt es eine alternative Einigung. 205 Millionen ungenutzte CO2-Zertifikate sollen auf einen Schlag gelöscht werden, um die Ambition des ETS zu erhöhen. Die Kommission hatte 110 Millionen vorgesehen, die EVP will lediglich den Linear Reduction Factor (LRF) von 4.2 auf 5.09 anheben, also die jährliche Reduzierung der neu auf dem Markt frei werdenden Zertifikate.
Wenn in München heute die Intersolar Europe beginnt, dürften es die Besucherinnen und Besucher wohlwollend aufnehmen: Solaranlagen auf Dächern sollen sich künftig in weniger als zehn Jahren amortisieren und die Mitgliedsstaaten der EU ihre Förderung entsprechend ausrichten. Das fordert die Kommission in einem Entwurf der Solarstrategie, den “Contexte” am Dienstag veröffentlichte.
Die Brüsseler Behörde wünscht sich darin von den Mitgliedsstaaten “vorhersehbare Amortisationszeiten von weniger als 10 Jahren” für Solaranlagen, Energiespeicher und Wärmepumpen. An anderer Stelle ist explizit von Dachanlagen die Rede. Unter den aktuellen Rahmenbedingungen in Deutschland rechneten sich solche PV-Dachanlagen teilweise erst nach deutlich mehr als zehn Jahren, sagte eine Sprecherin des Bundesverbands Solarwirtschaft (BSW). Durchschnittlich liege die Amortisationszeit für Kleinanlagen bei ungefähr 15 Jahren, bestätigte auch das Marktforschungsinstitut EUPD Research.
Die Kommission hält also deutlich attraktivere Rahmenbedingungen für nötig, um den Zubau von Solarenergie ausreichend zu beschleunigen. Bis 2025 soll die installierte PV-Kapazität auf 300 Gigawatt (GW) verdoppelt werden, bis 2030 sollen es schon 500 GW sein. Für die laufende Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) könnte die Zehn-Jahres-Marke zur Richtschnur werden.
Eckpunkte der Solarstrategie hatte die Kommission bis Mitte April öffentlich konsultiert, über 400 Stellungnahmen gingen ein. Eine Solar-Dachinitiative hatte sie dann im Entwurf für REPowerEU angekündigt (Europe.Table berichtete), womit die EU unabhängiger von russischen Energielieferungen werden will.
Den Zubau von Solaranlagen sollen die EU-Staaten dazu stärker mit der Renovierung von Gebäuden verzahnen. Die Kommission ruft die Regierungen auf, schnell nationale Förderprogramme vorzulegen, die bereits 2023 wirksam werden. Die Förderung von Dachanlagen sollen sie darin auf jene Hälfte aller Gebäude mit unterdurchschnittlichem energetischem Zustand konzentrieren (Effizienzklasse D oder schlechter). Energieberatungen seien nach dem One-stop-shop-Prinzip zu organisieren – also Angeboten, die sowohl zu Solarenergie als auch zu Energieeffizienz informieren.
Zur Solardachpflicht für neue Gebäude ist der Entwurf nicht eindeutig (Europe.Table berichtete). An einer Stelle ist von einer Pflicht für alle neuen Immobilien die Rede, an anderer Stelle heißt es, Neubauten sollten lediglich “Solar-ready” sein. Schon bis 2025 sollen Solaranlagen allerdings auf allen passenden öffentlichen Bestandsgebäuden installiert sein.
Zur Industrieförderung und der EU-Allianz für die Solarindustrie ist der Entwurf ebenfalls noch nicht besonders konkret. Der Aufbau europäischer Produktionskapazitäten ist inzwischen ein erklärtes Ziel der Kommission. Der Verband SolarPower Europe hatte sich einen Solar-Fonds mit einer Milliarde Euro nach dem Vorbild des Chip-Fonds gewünscht, um bis 2025 private Investitionen von acht Milliarden Euro zu hebeln.
Die Kommission verweist jedoch lediglich auf bestehende Finanzinstrumente und kündigt einen Mechanismus zur Koordination der einschlägigen Programme an. Erwogen wird außerdem ein eigenes Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse (IPCEI) für “bahnbrechende Technologien und Innovationen in der PV-Wertschöpfungskette”.
Eher diplomatisch-zurückhaltend gibt sich die Kommission auch bei den Nachhaltigkeitskriterien für Solarmodule. Die europäische Industrie sieht in strengen Anforderungen einen Schutz vor der Konkurrenz aus China. SolarPower Europe hatte die Kommission dazu aufgerufen, Kriterien für Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft zu implementieren, um ein Level-Playing-Field mit außereuropäischen Herstellern zu schaffen. Als Forum böten sich dazu auch die TTC-Gespräche mit den USA an (Europe.Table berichtete).
Die Kommission verweist zwar auf laufende Arbeiten an den Verordnungen zum Ökodesign (Europe.Table berichtete) und für Energielabel. Sie betont jedoch lediglich, dass die neuen Anforderungen Vergleichsmöglichkeiten für Käufer schaffen würden, die zum Beispiel auch bei Ausschreibungen für erneuerbare Energien berücksichtigt werden könnten. Internationale PV-Hersteller ruft die Kommission nur dazu auf, mehr Informationen zur Nachhaltigkeit und zum CO2-Fußabdruck ihrer Produkte bereitzustellen.
Eine klare Grenze will Brüssel allerdings bei Menschen- und Arbeitsrechten ziehen, insbesondere beim Thema Zwangsarbeit. Mehrere chinesische Hersteller stehen unter Verdacht, Solarkomponenten in der Provinz Xinjiang zu produzieren und dabei auf Zwangsarbeit zurückzugreifen.
Ein Grundvertrauen hat die europäische Solarindustrie offenbar in die Pläne der EU. Bis 2026 werde die Union hinter China wieder zur zweitstärksten Nachfrageregion weltweit werden, prognostiziert SolarPower Europe in seinem am Dienstag vorgestellten Global Market Outlook.
In Kiew kam Emmanuel Macrons Vorschlag nicht gut an. “Wenn wir nicht den Kandidatenstatus bekommen, bedeutet das, dass uns Europa übers Ohr hauen will”, sagte Ukraines Außenminister Dmytro Kuleba gewohnt undiplomatisch. Mit einer assoziierten Partnerschaft werde sich die Ukraine nicht zufriedengeben.
Ein solches Modell hatte Macron am Montag ins Spiel gebracht (Europe.Table berichtete). Frankreichs Präsident schwebt eine “Europäische Politische Gemeinschaft” vor – sie soll Ländern offenstehen, die die Werte der EU teilen, aber noch nicht reif sind für einen Beitritt. Der Name ist neu, die Idee nicht: Immer wieder hat die Gemeinschaft diskutiert, wie sie beitrittswillige Staaten an sich binden kann, ohne sie gleich als Vollmitglieder in den Klub aufzunehmen. Für die Türkei etwa hatten CDU-Politiker den Begriff einer Privilegierten Partnerschaft geprägt.
Weder Ankara damals noch Kiew oder die Beitrittsaspiranten auf dem Westbalkan heute wollen sich aber mit einer Mitgliedschaft zweiter Klasse zufriedengeben. Das weiß auch die Bundesregierung: Außenministerin Annalena Baerbock stellte der Ukraine bei ihrem gestrigen Besuch in Kiew eine Vollmitgliedschaft in Aussicht. Auf dem Weg dahin könne es aber “keine Abkürzung” geben, sagte die Grünen-Politikerin. Vergangene Woche hatte Kanzler Olaf Scholz dafür plädiert, Serbien, Albanien, Nordmazedonien, Montenegro, Kosovo und Bosnien-Herzegowina so schnell wie möglich in die EU aufzunehmen, um den Einfluss Russlands und Chinas dort zurückzudrängen.
Dass der neue Vorschlag vom französischen Staatspräsidenten kommt, nährt Misstrauen: Paris sperrt sich seit Langem gegen eine erneute EU-Erweiterung. Dabei habe Macron noch gar nicht gesagt, was ihm konkret vorschwebe, sagt Nicolai von Ondarza, Leiter der Forschungsgruppe Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik.
So sei unklar, ob die Aufnahme in die Europäische Politische Gemeinschaft einen Zwischenschritt hin zur EU-Mitgliedschaft oder eine Alternative dazu darstellen solle. Ebenso offengelassen habe der Präsident, ob die Europäische Politische Gemeinschaft eine eigene Organisationsform erhalten solle oder die Länder als assoziierte Mitglieder an die EU angedockt werden sollten. Bislang sei Macrons Idee nicht viel mehr als eine Zeile im Redetext, ätzt auch eine EU-Diplomatin.
Macron habe mit seinem Vorschlag aber eine wichtige Diskussion angestoßen, sagt von Ondarza. Auch in der EU-Kommission werde darüber nachgedacht, wie die EU einigen Ländern eine Teilintegration anbieten könne, auch wenn der Beitritt noch viele Jahre oder gar Jahrzehnte entfernt sei.
Der Krieg in der Ukraine hat den Handlungsdruck auf die Gemeinschaft enorm erhöht. Die Kommission wird im Juni voraussichtlich empfehlen, Kiew den offiziellen Status als EU-Beitrittskandidat zu geben. Etwas anderes ist angesichts der Opfer im Kampf gegen Russland schwer vorstellbar. “Wir haben für unsere Mitgliedschaft bereits mit Blut bezahlt”, sagte die stellvertretende Ministerpräsidentin Olha Stefanishyna.
Die Mitgliedstaaten müssen der Empfehlung einstimmig zustimmen. Laut Stefanishyna haben einige Regierungen noch Vorbehalte, darunter Berlin.
Macron machte zudem deutlich: Selbst wenn der Europäische Rat im Juni den Weg freimacht, dürften noch etliche Jahre bis zum Abschluss der Verhandlungen vergehen. Der belgische Ministerpräsident Alexander De Croo mahnte daher bei seinem Besuch in Berlin, sich nicht allein auf den Erweiterungsprozess zu konzentrieren. Dieser sei “ein langer administrativer Prozess, der oft sehr frustrierend ist”.
Die EU müsse “sehr viel kreativer sein” und Ländern wie der Ukraine helfen, Teil der europäischen Familie zu sein, so de Croo. “Das ist etwas anderes als der Erweiterungsprozess.” Auch bei einem anderen Mitgliedstaat heißt es, es sei an der Zeit, aus dem binären Denken Mitgliedschaft oder nicht auszubrechen.
Die Aufnahme neuer Mitglieder aber würde zugleich den Druck erhöhen, die Kompetenzverteilung und Entscheidungsstrukturen innerhalb der EU zu reformieren. Macron verlieh der Diskussion am Montag neuen Schwung, als er sich zum Abschluss der Konferenz zur Zukunft Europas für eine Änderung der EU-Verträge aussprach. Der amtierende Ratspräsident will das Thema auf die Agenda des Gipfels Ende Juni setzen lassen.
In der Berliner Ampel-Koalition findet Macron dafür durchaus Zustimmung. Eine Erweiterung der Europäischen Union sei im ureigenen Interesse des Friedensprojektes Europa, sagte der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag, Anton Hofreiter, zu Europe.Table. “Bei zunehmender Erweiterung ist aber auch klar, dass wir unsere Arbeitsweise daran anpassen müssen.” Er begrüße, dass Macron die Diskussion darüber nun anstoße, so der Grünen-Politiker.
Scholz hingegen sieht die Forderungen nach Vertragsänderungen reservierter, die vor allem aus dem Europaparlament erhoben werden. Deutschland werde dabei nicht auf der Bremse stehen, sagte er. Allerdings lasse sich eine effizientere EU auch unterhalb der Ebene von Änderungen der EU-Verträge erreichen. Dazu gehöre auch die Abschaffung der Einstimmigkeit in vielen Politikfeldern, wie sie die Teilnehmer der Zukunftskonferenz gefordert hatten.
Tatsächlich lässt sich der oft lähmende Zwang zur Einstimmigkeit in der Gemeinsamen Außenpolitik durch die sogenannte Passerelle-Klausel in bestimmten Fällen umgehen. Dieses “Brückchen” in Artikel 31 des EU-Vertrages ermöglicht einen Mehrheitsentscheid, wenn der Rat einen Beschluss der Staats- und Regierungschefs umsetzen soll, also die bereits grundsätzlich geeinte Position. Allerdings kann gegen das Mehrheitsverfahren durch jedes Ratsmitglied ein Veto eingelegt werden. Dann würde im ersten Schritt im Rat ein Mehrheitsbeschluss gefasst, der dann wiederum vom Europäischen Rat einstimmig verabschiedet werden müsste.
Thu Nguyen, Expertin des Jacques Delors Centre, hält eine Vertragsänderung daher zumindest langfristig für geboten, um die Handlungsfähigkeit der EU zu erhöhen. Kurzfristig fehle dafür aber die nötige Unterstützung unter den Mitgliedstaaten. “Daher sollte nicht sämtliches politisches Kapital in diese Art der Veränderung investiert werden”, so Nguyen. “Vieles lässt sich auch ohne Vertragsänderungen reformieren.”
Am Montag hatten sich 13 Regierungen in einem gemeinsamen Papier dagegen ausgesprochen, nun einen überstürzten Prozess für Verfassungsänderungen einzuleiten. SWP-Experte von Ondarza warnt daher: “Kurzfristig mit knapper Mehrheit einen Konvent einzuberufen, würde eine Spaltung der EU riskieren zu einer Zeit, in der sie um Zusammenhalt ringt.”
Die Zukunftskonferenz allein jedenfalls rechtfertigt aus seiner Sicht kaum den Zeitdruck. Nach einer noch unveröffentlichten SWP-Analyse erfordern nur zwölf der 178 Vorschläge der Bürgerpanels eine Vertragsänderung. Dazu zählt insbesondere eine Ausweitung der EU-Kompetenzen auf dem Gebiet der Gesundheits- und der Sozialpolitik und ein Initiativrecht für das Europaparlament, das dieses lautstark fordert. Mit Falk Steiner
Ein Ziel der Maßnahmen: Darstellungen sexuellen Kindesmissbrauchs sollen möglichst schnell und dauerhaft aus dem Netz entfernt werden. Johanssons Vorhaben ist nun in einer Entwurfsversion bekanntgeworden. Drei Vorhaben dürften danach im Kern der Kritik stehen:
Das “EU Centre on Child Sexual Abuse” soll, so heißt es in Kapitel 4 des Vorschlages, die Umsetzung der Regulierung “bezüglich der Erkennung, Meldung, Entfernung oder der Verhinderung der Zugänglichkeit und Sperrung” unterstützen und bei der Umsetzung mitwirken. Diesem Zentrum will die EU-Kommission die “weitestgehend möglichen Rechte” auch auf nationaler Ebene einräumen. Zugleich soll jeder Mitgliedstaat eine Koordinationsstelle benennen, die mit dem EU Centre abgestimmt vorgehen und ihm zuarbeiten soll und zugleich auf dessen Unterstützung zurückgreifen kann.
Der Vorschlag, der maßgeblich unter Verantwortung der deutschen Cybercrime-EU-Beamtin Cathrin Bauer-Bulst erarbeitet wurde, sieht wesentliche Mitwirkungspflichten für Anbieter von Hostingdiensten, aber auch von Kommunikationsdiensten vor. In Artikel 7 wird dargelegt, wie die jeweils zuständige Koordinierungsstelle Anbieter mittels einer Detektionsanordnung zur aktiven Suche nach Abbildungen sexuellen Kindesmissbrauchs zwingen können soll. Hierfür reicht es nach Auffassung der DG Home bereits aus, wenn ein Anbieter “wahrscheinlich … in nennenswertem Umfang für die Verbreitung” von Abbildungen sexuellen Kindesmissbrauchs genutzt werde. Dies dürfte für fast alle größeren Kommunikationsanbieter gelten.
Auch zur Erkennung bislang unbekannter Missbrauchsdarstellungen sollen die Anbieter zur Mitwirkung verpflichtet werden können. Diese Mitwirkung soll unter anderem durch automatisierte Erkennung von Inhalten stattfinden: In Artikel 10 des Entwurfs ist ausdrücklich vorgesehen, dass die Verpflichteten vom EU Centre für tauglich befundene Technologien installieren und betreiben müssten.
Auch in weiteren Fällen sollen Anbieter zur Detektion verpflichtet werden: Nämlich dann, wenn deren Dienste aus Sicht der zuständigen Stellen dafür genutzt werden können, an potenzielle Opfer heranzutreten. Zur Begründung soll dabei ausreichen, dass es sich dabei um einen interpersonalen Kommunikationsdienst handele, bei dem es wahrscheinlich sei, dass dieser für diese Zwecke genutzt würde und dass es Fälle bei diesem oder vergleichbaren Diensten im vorangegangenen Jahr gegeben habe.
2009 plädierte die damalige Bundesfamilienministerin von der Leyen mit nachweislichen Falschbehauptungen für “Stoppschilder im Internet”. Ihr Anliegen war dabei identisch mit dem, was nun von Innenkommissarin Johansson eingebracht werden soll: Die Anbieter von Internetzugangsdiensten sollen Webseiten blockieren, auf denen Darstellungen sexuellen Kindesmissbrauchs zu finden sind. Da diese Seiten möglichst nicht öffentlich bekannt sein sollen, werden hierfür geheim gehaltene Sperrlisten geführt.
Allerdings zeigten Analysen geleakter Filterlisten in der Vergangenheit immer wieder hohe Fehlerquoten bei derartigen Blockadelisten. Durch die sachlich begründete Intransparenz fällt eine Überprüfung der Sperrungen zusätzlich schwer. Kritiker werfen Befürwortern derartiger Systeme daher vor, eine Infrastruktur der Intransparenz für jedwede Form von Zensur per Gesetz errichten zu lassen. Zudem lassen sich derartige Blockaden technisch leicht umgehen.
Die nun in Abschnitt 5 der geplanten Verordnung vorgesehenen “Blocking obligations” sind der Versuch, aus den damaligen Protesten Lehren zu ziehen und zugleich dennoch eine solche Infrastruktur von den Mitgliedstaaten abzufordern. So sind in Artikel 16 unter anderem Abwägungsprozesse vorgeschrieben. Die tatsächliche Sperrverfügung muss entweder von einer unabhängigen zuständigen Behörde oder von Gerichten angeordnet werden. Die Internet-Zugangsanbieter sollen gegen entsprechende Sperrverfügungen auch gerichtlich vorgehen können.
Ein Vorschlag, der anders als die absehbar strittigen Punkte auf ungeteilte Zustimmung stoßen dürfte, ist ein geplantes Recht für Betroffene auf Information: Wenn identifizierte Opfer sexuellen Missbrauchs dies wollen, sollen sie künftig ein Recht auf Auskunft erhalten. Ihnen stünde dann das Recht zu, benachrichtigt zu werden, wenn Inhalte, die sie betreffen, aufgefunden würden. Darüber hinaus sollen sie auch Unterstützung in Anspruch nehmen können, wenn sie von einzelnen Anbietern eine Entfernung der Inhalte fordern wollen.
Ursula von der Leyen habe recht damit, dass der Kampf gegen Kindesmissbrauchsmaterialien deutlich verstärkt werden müsse, sagt Moritz Körner (FDP/Renew). Doch der Vorschlag der Kommission ist für ihn ungeeignet: “Würden von der Leyen und ihre Innenkommissarin Johansson damit durchkommen, wäre das digitale Briefgeheimnis tot”, tobt Körner. “Nach dem Vorschlag der EU-Kommission würden private Unternehmen gezwungen werden, Polizei zu spielen, ihre Kunden auszuspionieren und beim Staat zu melden – diese Stasi 2.0 ist abzulehnen.” Körner greift zum ganz großen Geschütz: “Zensursula ist zurück.”
Patrick Breyer (Piraten/EFA) hatte bereits in den vergangenen Monaten gegen die Pläne Johanssons unter dem Stichwort “Chatkontrolle” protestiert. Gegen einen Filtermechanismus, den die Plattform Facebook einsetzt, hat Breyer am Montag Klage bei einem irischen Gericht eingereicht. Breyer spricht von einem “Big-Brother-Angriff auf unsere Handys, Privatnachrichten und Fotos mithilfe fehleranfälliger Algorithmen”, der einen “Riesenschritt in Richtung eines Überwachungsstaates nach chinesischem Vorbild” darstelle.
Die mit dem Schmähnahmen “Zensursula” verbundene Gesetzgebung der heutigen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen passierte 2009 unter wütenden Protesten von Internetfreiheitsaktivisten gegen das vollständige Gesetzgebungsvorhaben: Das sogenannte Zugangserschwerungsgesetz wurde verabschiedet, jedoch nie angewandt und unter der folgenden schwarz-gelben Koalition per Aufhebungsgesetz ersatzlos gestrichen.
Das geplante Transportverbot von russischem Öl ist nach Angaben aus EU-Kreisen vorerst nicht mehr Teil des geplanten Sanktionspakets gegen Russland. Es sei weitere Koordination auf internationaler Ebene und in der G7-Gruppe nötig, erfuhr die Deutsche Presse-Agentur (dpa) von Diplomaten. Unter anderem Griechenland, Zypern und Malta hatten sich gegen die Maßnahme gewehrt, da sie befürchten, dass dies ihre Reedereien einseitig benachteiligen könnte.
Ein Verbot für europäische Firmen, Öltanker zu versichern, die russisches Öl transportieren, ist den Diplomaten zufolge weiterhin Teil der geplanten EU-Sanktionen gegen Russland. Dies könnte es Russland erschweren, Öl an andere Länder zu liefern.
Die Diskussionen um das geplante EU-Sanktionspaket drehen sich seit Tagen im Kreis. Insbesondere Ungarn blockiert ein vorgeschlagenes Embargo gegen russische Öl-Importe und fordert weitgehende Ausnahmen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kehrte am Montag ohne handfeste Ergebnisse von Gesprächen mit dem ungarischen Premierminister Viktor Orbán zurück. “Wir haben Fortschritte gemacht, aber es ist noch mehr Arbeit nötig”, sagte sie. In den nächsten Tagen soll eine Videokonferenz mit regionalen Partnern zu Lösungen bei der Ölversorgung stattfinden, ein Datum steht jedoch noch nicht fest.
Aus Diplomaten-Kreisen hieß es, dass die Sanktionen gegen Russland voraussichtlich auch heute nicht auf der Tagesordnung beim regulären Treffen der ständigen Vertreter der EU-Länder stehen werden. Man warte noch auf Fortschritte in Gesprächen mit den Staaten, die besonders von dem Importstopp betroffen wären. Länder wie die Slowakei und Bulgarien haben sich den Forderungen Ungarns angeschlossen.
Der bulgarische Präsident Rumen Radew kritisierte das EU-Öl-Embargo: “Wir dürfen es nicht zulassen, dass die Sanktionen unseren eigenen sozialen und wirtschaftlichen Systemen schaden”, sagte er nach einem Treffen mit seinem tschechischen Kollegen Miloš Zeman am Dienstag in Prag. Es gelte, die Besonderheiten der einzelnen EU-Mitgliedstaaten zu berücksichtigen.
Die EU-Kommission hatte vergangene Woche als Kompromiss vorgeschlagen, Ungarn und der Slowakei bis Ende 2024 sowie Tschechien bis Mitte 2024 Zeit einzuräumen, um den Öl-Importstopp vollständig umzusetzen. dpa
Der Angriff auf das Satellitennetz KA-SAT des US-Betreibers Viacom (Europe.Table berichtete) ist durch die EU-Mitgliedstaaten als “schädliche Cyberaktivität durch die Russische Föderation” klassifiziert worden. Das teilte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Dienstag mit. Dies ist das erste Mal, dass eine solche Einschätzung der EU mit klarer Attribution eines Angreifers getroffen wurde – die grundsätzlich auch Folgen entsprechend der Cyber Diplomacy Toolbox der EU haben könnte (Europe.Table berichtete). Allerdings würden derartige Maßnahmen einen einstimmigen Beschluss der Mitgliedstaaten erfordern.
Bei dem Cyberangriff eine Stunde vor dem Angriff von Russlands Truppen in vorher nicht besetzte Gebiete der Ukraine am 24. Februar 2022 wurde KA-SAT in Teilen unbrauchbar. Ziel der Operation war offenbar vor allem, ukrainische Kommunikationsverbindungen abzuschneiden. Das von diesem Satellitennetz abgedeckte Gebiet umfasst aber auch weite Teile Ost-, Mittel- und Westeuropas, wo ebenfalls Schäden entstanden, die der Angreifer offensichtlich in Kauf nahm.
In Deutschland hatte der Fall auch deshalb für Aufsehen gesorgt, weil unter anderem 5.800 Windkraftanlagen von Enercon per Satellitennetz nicht mehr erreichbar waren. Die für die Verbindung notwendigen Modems hatten über das gehackte KA-SAT-Netz ein schadhaftes Software-Update erhalten. Enercon spricht von insgesamt 30.000 Modems europaweit. Teils wurden diese durch die Schadsoftware irreparabel beschädigt.
Gut zwei Monate nach dem Cyberangriff sind laut dem Windkraftanlagenhersteller “nahezu alle betroffenen Windenergieanlagen mittlerweile wieder online und in die Fernüberwachung und Fernwartung integriert”, wie ein Unternehmenssprecher mitteilt. Für die IT-Sicherheit der Anbindung sieht der Hersteller, der eine Task Force zur Schadensbegrenzung eingerichtet hatte, die Betreiber der WKA in der Pflicht. fst
Schlagabtausch vor dem EU-Gerichtshof (EuGH): Die Facebook-Muttergesellschaft Meta hat am Dienstag bei einer Verhandlung vor dem EuGH in Luxemburg scharfe Kritik an dem Vorgehen des Bundeskartellamts geübt, das der umfassenden Sammlung der Daten von Facebook-Nutzern einen Riegel vorschieben will.
Die dafür zugrunde liegende und ins Jahr 2019 zurückreichende Entscheidung der Wettbewerbshüter unterstreicht einerseits den wachsenden Druck auf US-Internetkonzerne wie Facebook. Allerdings steht in dem konkreten Fall auch zur Debatte, ob die Kartellwächter bei der Behandlung von Datenschutz-Fragen ihre Kompetenzen überschritten haben.
Die Anordnung des Bundeskartellamts für die “weitreichenden Einschränkungen” von Facebook sei eindeutig fehlerhaft, sagte Meta-Anwalt Hans-Georg Kamann vor einem 15-köpfigen EuGH-Richter-Gremium. Die Bonner Behörde habe damit offen gegen die Bestimmungen der europäischen Datenschutz-Grundverordnung verstoßen. Kamann beschuldigte das Kartellamt, nicht mit der irischen Datenschutzbehörde kooperiert zu haben, die für Facebook wegen dessen Konzernsitz in Irland zuständig sei.
Diesen Vorwurf ließ Kartellamts-Vertreter Jörg Nothdurft nicht gelten und erklärte, es habe sehr wohl Kontakte zur irischen Behörde gegeben. Die Bundesregierung verteidigte die Entscheidung des Kartellamts, im Sinne des Wettbewerbsschutzes auch Datenschutzfragen nachzugehen. Schließlich dienten Nutzerdaten den Tech-Konzernen dazu, ihre Marktmacht auszubauen, sagte der juristische Vertreter der Bundesregierung, Philipp Krüger.
Das Kartellamt hatte 2019 entschieden, dass Facebook seine Marktmacht missbraucht habe, indem es bestimmte Daten von Nutzern ohne deren ausdrückliche Zustimmung gesammelt habe. Dabei ging es um personenbezogene Daten, die Nutzer bei WhatsApp oder Instagram – die ebenfalls zu Facebook gehören – und anderen Diensten hinterlassen. Das Kartellamt hatte Facebook auch mit Verweis auf den Datenschutz untersagt, die Nutzerdaten aus verschiedenen Quellen zusammenzuführen. Dagegen geht der US-Konzern juristisch vor. Das zuletzt zuständige Oberlandesgericht Düsseldorf lässt nun zunächst zentrale Fragen vom EuGH klären. rtr
Die Ausfuhren der EU von recyclebaren Rohstoffen, einschließlich Abfall, Schrott und anderen Nebenprodukten, erreichten im vergangenen Jahr ein Rekordhoch von 40,6 Millionen Tonnen, wie das EU-Statistikamt Eurostat gestern mitteilte.
Eurostat-Daten zeigen, dass die Exporte in Nicht-EU-Länder, fast die Hälfte davon Eisenmetalle wie Eisen und Stahl, innerhalb eines Jahres um 2,0 Millionen Tonnen und im Vergleich zu 2004 um 80 Prozent gestiegen sind. Die Türkei war im vergangenen Jahr das wichtigste Zielland für recyclebare Rohstoffe aus der EU, gefolgt von Großbritannien, Indien und Ägypten.
Die EU-Importe von wiederverwertbaren Rohstoffen, vor allem von organischen Produkten und Holz, erreichten im vergangenen Jahr 46,8 Millionen Tonnen und liegen damit 7 Prozent über dem Niveau von 2004. Laut Eurostat waren Argentinien und Brasilien die wichtigsten Herkunftsländer für Importe.
Neben Metallen und organischen Produkten wie Lebensmittelresten zählen zu wiederverwertbaren Materialien laut Begriffsbestimmungen von Eurostat auch Papier, Textilien, Glas, Plastik und Gummi.
Die EU plant im Kontext ihres Aktionsplans für die Kreislaufwirtschaft auch ein neues Konzept für die Abfallentsorgung. Im November 2021 stellte die EU-Kommission einen Vorschlag für eine überarbeitete Abfallverbringungsverordnung vor. Damit möchte sie Wiederverwendung und Recycling innerhalb der EU erleichtern und sicherstellen, “dass die EU ihre Abfallproblematik nicht in Drittländer verlagert”, sowie die illegale Verbringung von Abfällen bekämpfen, heißt es in dem Dokument. Heute diskutiert der ENVI-Ausschuss des Parlaments den Entwurf seines Berichts. leo/ rtr
In nur wenigen Monaten hat die Europäische Union ihre Abhängigkeit von russischem Öl derart verringert, dass sie nun bereit ist, ein Embargo zu verhängen. Die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen hat einen Plan für ein Importverbot von russischem Rohöl für den größten Teil der EU in den nächsten sechs Monaten angekündigt, und von Mineralölerzeugnissen bis Ende des Jahres. Doch um echte Auswirkungen auf den russischen Haushalt zu haben, muss Europa auch seine Abhängigkeit von Gas aus Russland beenden. Dies wird sich als deutlich schwieriger erweisen.
Europa hat es aus mehreren Gründen geschafft, seinen Bedarf an russischem Öl so rasch zu reduzieren. Öl lässt sich leicht per Tanker und nicht nur per Pipeline liefern, und es ist relativ einfach, auf dem Weltmarkt neue Lieferanten zu finden. Das Problem ist, dass es auch relativ einfach ist, ausreichend neue Abnehmer zu finden – und Russland hat viele -, um die durch ein EU-Embargo bedingten Verluste weitgehend auszugleichen.
Beim Gas ist das anders. Europa braucht Erdgas als winterliches Heizmittel und als Rohstoff für die weltgrößte chemische Industrie, auf die ein erheblicher Anteil der EU-Exporte entfällt. Bestimmte Merkmale des Erdgasmarktes werden es viel schwieriger und kostspieliger machen, Alternativen für russische Lieferungen zu finden, als das beim Öl der Fall war.
Zunächst einmal gibt es, weil die meisten Erdgasproduzenten langfristige Verträge mit ihren Käufern haben, außerhalb Russlands kaum freie Produktionskapazitäten. Zwar gibt es Spotmärkte, auf denen man begrenzte Mengen an Gas kaufen oder verkaufen kann. Doch besteht deren Zweck darin, Angebot und Nachfrage bedarfsgerecht regional umzuverteilen und nicht darin, ein zusätzliches Angebot zu schaffen.
Europas nervöse Energieminister haben bereits verschiedene globale Gasproduzenten besucht. Ihre Hoffnung war es, diese zur Ausweitung ihrer Produktion zu bewegen. Und viele große Gasproduzenten kommen dem gern nach. Aber sie warnen, dass es bis zu vier Jahre dauert, neue Projekte zu starten, und dass das wirtschaftlich nur dann sinnvoll ist, wenn der Kunde bereit ist, einen 20-Jahres-Vertrag zu unterzeichnen.
All dies bedeutet, dass das Angebot an Erdgas kurzfristig kaum veränderbar ist. Die einzige Möglichkeit für Europas, einen Mangel an Gas aus Russland auszugleichen, besteht daher in einer Kombination aus Energieeinsparungen und erhöhten Importen.
Damit steht Europa vor einer weiteren Herausforderung. Der Transport von Erdgas ist teuer, und seine Lagerung schwierig. Flüssigerdgas (LNG), das per Schiff transportiert werden kann (Europe.Table berichtete), bietet die wichtigste Alternative zu per Pipeline transportiertem russischen Gas, obwohl damit eigene Herausforderungen verbunden sind.
Nachdem das Gas verflüssigt und auf einen Spezialtanker verladen wurde, machen ein paar tausend Kilometer Fahrt keinen großen Unterschied. Das ist der Hauptgrund für die Integration der asiatischen und europäischen LNG-Märkte mit in der Regel kaum voneinander abweichenden Preisen auf beiden Kontinenten. Die Spotpreise für Gas erreichten schon im letzten Herbst – Monate vor dem russischen Einmarsch in der Ukraine – ein sehr hohes Niveau, weil eine starke Konjunkturerholung in Asien die Nachfrage befeuerte.
Schon vor Beginn des Krieges in der Ukraine importierte Europa fast genauso viel LNG wie Pipeline-Gas. Doch um seine Abhängigkeit von Gas aus Russland zu beenden, muss Europa diese LNG-Importe enorm steigern. Das wird teuer, denn es bedeutet, dass ursprünglich für Asien gedachte Transporte nach Europa umgeleitet werden müssen. Zum Glück ist dies aufgrund einer wichtigen Asymmetrie im LNG-Handel technisch möglich: Es dauert viel länger, Verflüssigungsanlagen zu bauen, als die Wiederverdampfung zu organisieren.
Wenn das LNG ankommt, müssen die Importländer lediglich das Flüssiggas in den Tankern erhitzen. Energieexperten verweisen häufig darauf, dass viele Länder nicht genügend feste LNG-Anlagen haben, um ihre Importe zu steigern. Doch schwimmende LNG-Terminals sind ebenfalls eine Option, und Länder wie Deutschland, Frankreich und Italien nutzen diese bereits, um sicherzustellen, dass sie das LNG bei Ankunft auch entladen können.
Zusammen mit den Pipelines, die die meisten EU-Anbieter vernetzen, bieten diese flexiblen Verdampfungsanlagen einen gewissen Schutz vor russischen Versuchen, gegen einzelne Länder vorzugehen. Europa hat in dieser Frage bereits seine Solidarität bewiesen. Als der russische Energieriese Gazprom kürzlich seine Gaslieferungen an Polen und Bulgarien einstellte, sorgten Pipelines aus Deutschland und Griechenland dafür, dass die beiden Länder bekamen, was sie brauchten. Die Frage ist, ob Europa dieselbe Entschlossenheit an den Tag legen wird, wenn alle Länder unter Druck stehen.
Verflüssigungsanlagen andererseits sind viel schwieriger zu beschaffen, und ihr Bau dauert viel länger, weil sie riesige Kühlsysteme benötigen, die das Gas auf -160 °C abkühlen. Dies hat zwei politisch bedeutsame Konsequenzen.
Einige hoffen, dass die USA Europa mit dringend benötigtem LNG versorgen können. Aber die bestehenden US-Verflüssigungsanlagen sind derzeit voll ausgelastet, und es würde mehrere Jahre dauern, um neue Anlagen zu bauen. Solange Amerikas Exportkapazitäten begrenzt sind, wird die Umlenkung der US-Lieferungen aus Asien nach Europa nichts tun, um den Nachfrage-Überschuss auf dem gemeinsamen LNG-Markt der EU und Asiens zu verringern. Für die USA hat dies den Vorteil, dass die Erdgaspreise dort viel niedriger geblieben sind als in Europa oder Asien.
Die Herausforderung, LNG-Verflüssigungsanlagen zu bauen, erhöht auch die Kosten für Russland, wenn dieses versucht, das Gas zu exportieren, das Europa nicht mehr abnimmt. Russland wäre mehrere Jahre lang nicht in der Lage, die 140 Milliarden Kubikmeter Erdgas zu verkaufen, die bisher jedes Jahr nach Europa gingen.
Wenn Europa bereit ist, den Preis für teure LNG-Importe zu bezahlen, könnte es daher Russlands Fähigkeit, sich mittels seiner Gasexporte harte Devisen zu beschaffen, schwer beeinträchtigen. Das würde ein echtes Loch in Wladimir Putins Kriegskasse reißen.
In Kooperation mit Project Syndicate. Aus dem Englischen von Jan Doolan.
es sind Einigungen, mit denen viele gar nicht mehr gerechnet hatten: Die Berichterstatter:innen des federführenden Umweltausschusses (ENVI) haben am Dienstag einen gewaltigen Schritt auf dem Weg zur Neugestaltung des europäischen Emissionshandelssystems gemacht. Der wichtigste Kompromiss: Der ETS 2 für den Straßenverkehr und das Heizen von Gebäuden kommt – wenn auch mit Einschränkungen. Doch nicht in allen Punkten gibt es Einigkeit. Lukas Scheid hat die Details.
Die EU-Kommission will, dass der Ausbau von Solarenergie in den Mitgliedstaaten schneller vorangeht. Das geht aus einem Entwurf für eine Solarstrategie der Kommission hervor. Die Mitgliedstaaten sollen nach dem Willen Brüssels zügig Förderprogramme vorlegen, die schon im kommenden Jahr wirksam werden. Ein wesentliches Ziel: Photovoltaik soll sich für Hausbesitzer in Zukunft schneller rechnen. Manuel Berkel analysiert die wichtigsten Punkte des Entwurfs.
CDU-Politiker sprachen in Bezug auf die Türkei von einer Privilegierten Partnerschaft, Emmanuel Macron nennt es eine “Europäische Politische Gemeinschaft”: Der Vorschlag, den Frankreichs Präsident am Europatag machte, ist nicht neu, wird nun aber wieder debattiert: Braucht es eine Art Vorstufe für Länder, die der EU beitreten möchten, aber in deren Augen noch nicht so weit sind? Die möglichen Beitrittskandidaten jedenfalls reagieren misstrauisch auf die Idee, wie Till Hoppe und Falk Steiner berichten.
Mit einem Verordnungs-Vorschlag will EU-Innenkommissarin Ylva Johansson den Schutz von Kindern im Netz verbessern. So sollen Darstellungen, die den sexuellen Missbrauch von Kindern zeigen, möglichst schnell und dauerhaft aus dem Internet entfernt werden. Doch die Maßnahmen, mit denen Johansson das erreichen möchte, sorgen für Kritik. Mit einer davon habe die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auch schon Bekanntschaft gemacht, schreibt Falk Steiner. Ein Europa-Abgeordneter tobt gar: “Zensursula ist zurück.”
Um kurz vor 17 Uhr am Dienstag meldete Grünen-Schattenberichterstatter Michael Bloss via Twitter Vollzug. “We have a deal for EU’s biggest climate tool box – the EU Emission Trading Scheme!” Nach tagelangen Verhandlungen der Berichterstatter:innen des federführenden Umweltausschusses (ENVI) wurden in vielen Punkten Einigungen erzielt, mit denen viele schon nicht mehr gerechnet hatten (Europe.Table berichtete).
Wichtigster Kompromiss: Der zweite EU-Emissionshandel für den Straßenverkehr und das Heizen von Gebäuden (ETS 2) kommt (Europe.Table berichtete) – allerdings mit Einschränkungen. Vorerst soll er nur für gewerblich genutzte Gebäude und Schwerlastfahrzeuge gelten, mit einem Mindestpreis von 50 Euro pro Tonne CO2. Bis 2026 soll die EU-Kommission prüfen, ob die Ausweitung auf private Haushalte bezüglich drohender Energie- und Mobilitätsarmut infrage kommt.
Frühestens 2029 würde die Ausweitung vollzogen werden, sofern die Energiepreise unter dem Durchschnitt von März 2022 lägen und der Klima-Sozialfonds bereits drei Jahre vorher Haushalte entlasten würde. Die steigenden Kosten der Brenn- und Kraftstoffherstellung dürften die Unternehmen nur zur Hälfte an die Endkunden weitergeben. Das heißt, sie müssten ihre Preiszusammensetzung offenlegen.
Schon länger klar ist die Einigung, dass Emissionen von kommunaler Müllverbrennung ab 2026 in den bestehenden ETS aufgenommen werden. Der Luftverkehr innerhalb der EU soll ab 2025 den vollen Preis für seine Emissionen zahlen und keine kostenlosen Zertifikate mehr erhalten. Der Schiffsverkehr soll ab 2024 aufgenommen werden und bis 2027 auch auf Schiffe ab 400 GT (Gross Tonnage) ausgeweitet. Zudem sollen ab 2027 nicht nur die Hälfte der Emissionen von Fahrten zwischen EU-Häfen und Häfen in Drittländern im Emissionshandel bezahlt werden, sondern alle.
Die Verteilung der Einnahmen aus dem ETS ist ebenfalls Teil des Kompromisses, der am Dienstag gefunden wurde. Schon vorab war klar, dass der Innovationsfonds durch einen Klima-Investitionsfonds ersetzt werden soll, um nicht nur neue und innovative Projekte fördern zu können, sondern auch Methoden, die die Klimaneutralität unterstützen. Gestern einigten sich die Berichterstatter:innen darauf, dass der Fonds mit insgesamt 1.46 Milliarden Zertifikaten gefüllt wird, aus deren Erlösen Klimaschutzmaßnahmen finanziert werden sollen. 12 Prozent des Fonds sind für Investitionen in erneuerbare Energien reserviert.
Der Modernisation Fund wird zudem um zwei Prozent aufgestockt, sodass künftig vier Prozent der insgesamt versteigerten Zertifikate in diesen Fonds fließen würden.
Die Verhandler:innen einigten sich auch auf ein paar Bedingungen für die Verwendung der ETS-Einnahmen. Mindestens 12 Prozent der Einnahmen müssen an klimafreundliche öffentliche Transportmittel gehen, weitere 12 Prozent in internationalen Klimaschutz fließen.
Der Deal hat allerdings auch ein paar Lücken. Die Uneinigkeiten bei der Einführung des CO2-Grenzausgleichmechanismus (CBAM) konnten auch beim letzten Shadow-Meeting vor der Abstimmung im ENVI (16./18. Mai) nicht ausgeräumt werden. So will eine Mehrheit abseits der EVP um den verantwortlichen Berichterstatter Peter Liese (CDU) ab 2031 keine kostenlosen CO2-Zuteilungen mehr für die Industrie ausgeben. Stattdessen soll der CBAM bis dahin vollständig eingeführt werden.
Dieser sogenannte alternative Kompromiss, da er ohne die Zustimmung des Berichterstatters getroffen wurde, sollte kommende Woche angenommen werden. Ob die Mehrheit im ENVI aus Grünen, S&D, Renew und Linken auch bei der Abstimmung im Plenum im Juni bestehen bleibt, ist fraglich. Abgeordnete der Sozialdemokraten und Liberalen im ITRE-Ausschuss hatten sich zusammen mit der EVP auf 2034 als Enddatum der freien Zertifikate geeinigt (Europe.Table berichtete). Liese selbst ist sich daher zu “99 Prozent sicher”, dass der alternative ENVI-Kompromiss im Plenum scheitert.
Auch bei der einmaligen Löschung überschüssiger Zertifikate gibt es eine alternative Einigung. 205 Millionen ungenutzte CO2-Zertifikate sollen auf einen Schlag gelöscht werden, um die Ambition des ETS zu erhöhen. Die Kommission hatte 110 Millionen vorgesehen, die EVP will lediglich den Linear Reduction Factor (LRF) von 4.2 auf 5.09 anheben, also die jährliche Reduzierung der neu auf dem Markt frei werdenden Zertifikate.
Wenn in München heute die Intersolar Europe beginnt, dürften es die Besucherinnen und Besucher wohlwollend aufnehmen: Solaranlagen auf Dächern sollen sich künftig in weniger als zehn Jahren amortisieren und die Mitgliedsstaaten der EU ihre Förderung entsprechend ausrichten. Das fordert die Kommission in einem Entwurf der Solarstrategie, den “Contexte” am Dienstag veröffentlichte.
Die Brüsseler Behörde wünscht sich darin von den Mitgliedsstaaten “vorhersehbare Amortisationszeiten von weniger als 10 Jahren” für Solaranlagen, Energiespeicher und Wärmepumpen. An anderer Stelle ist explizit von Dachanlagen die Rede. Unter den aktuellen Rahmenbedingungen in Deutschland rechneten sich solche PV-Dachanlagen teilweise erst nach deutlich mehr als zehn Jahren, sagte eine Sprecherin des Bundesverbands Solarwirtschaft (BSW). Durchschnittlich liege die Amortisationszeit für Kleinanlagen bei ungefähr 15 Jahren, bestätigte auch das Marktforschungsinstitut EUPD Research.
Die Kommission hält also deutlich attraktivere Rahmenbedingungen für nötig, um den Zubau von Solarenergie ausreichend zu beschleunigen. Bis 2025 soll die installierte PV-Kapazität auf 300 Gigawatt (GW) verdoppelt werden, bis 2030 sollen es schon 500 GW sein. Für die laufende Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) könnte die Zehn-Jahres-Marke zur Richtschnur werden.
Eckpunkte der Solarstrategie hatte die Kommission bis Mitte April öffentlich konsultiert, über 400 Stellungnahmen gingen ein. Eine Solar-Dachinitiative hatte sie dann im Entwurf für REPowerEU angekündigt (Europe.Table berichtete), womit die EU unabhängiger von russischen Energielieferungen werden will.
Den Zubau von Solaranlagen sollen die EU-Staaten dazu stärker mit der Renovierung von Gebäuden verzahnen. Die Kommission ruft die Regierungen auf, schnell nationale Förderprogramme vorzulegen, die bereits 2023 wirksam werden. Die Förderung von Dachanlagen sollen sie darin auf jene Hälfte aller Gebäude mit unterdurchschnittlichem energetischem Zustand konzentrieren (Effizienzklasse D oder schlechter). Energieberatungen seien nach dem One-stop-shop-Prinzip zu organisieren – also Angeboten, die sowohl zu Solarenergie als auch zu Energieeffizienz informieren.
Zur Solardachpflicht für neue Gebäude ist der Entwurf nicht eindeutig (Europe.Table berichtete). An einer Stelle ist von einer Pflicht für alle neuen Immobilien die Rede, an anderer Stelle heißt es, Neubauten sollten lediglich “Solar-ready” sein. Schon bis 2025 sollen Solaranlagen allerdings auf allen passenden öffentlichen Bestandsgebäuden installiert sein.
Zur Industrieförderung und der EU-Allianz für die Solarindustrie ist der Entwurf ebenfalls noch nicht besonders konkret. Der Aufbau europäischer Produktionskapazitäten ist inzwischen ein erklärtes Ziel der Kommission. Der Verband SolarPower Europe hatte sich einen Solar-Fonds mit einer Milliarde Euro nach dem Vorbild des Chip-Fonds gewünscht, um bis 2025 private Investitionen von acht Milliarden Euro zu hebeln.
Die Kommission verweist jedoch lediglich auf bestehende Finanzinstrumente und kündigt einen Mechanismus zur Koordination der einschlägigen Programme an. Erwogen wird außerdem ein eigenes Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse (IPCEI) für “bahnbrechende Technologien und Innovationen in der PV-Wertschöpfungskette”.
Eher diplomatisch-zurückhaltend gibt sich die Kommission auch bei den Nachhaltigkeitskriterien für Solarmodule. Die europäische Industrie sieht in strengen Anforderungen einen Schutz vor der Konkurrenz aus China. SolarPower Europe hatte die Kommission dazu aufgerufen, Kriterien für Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft zu implementieren, um ein Level-Playing-Field mit außereuropäischen Herstellern zu schaffen. Als Forum böten sich dazu auch die TTC-Gespräche mit den USA an (Europe.Table berichtete).
Die Kommission verweist zwar auf laufende Arbeiten an den Verordnungen zum Ökodesign (Europe.Table berichtete) und für Energielabel. Sie betont jedoch lediglich, dass die neuen Anforderungen Vergleichsmöglichkeiten für Käufer schaffen würden, die zum Beispiel auch bei Ausschreibungen für erneuerbare Energien berücksichtigt werden könnten. Internationale PV-Hersteller ruft die Kommission nur dazu auf, mehr Informationen zur Nachhaltigkeit und zum CO2-Fußabdruck ihrer Produkte bereitzustellen.
Eine klare Grenze will Brüssel allerdings bei Menschen- und Arbeitsrechten ziehen, insbesondere beim Thema Zwangsarbeit. Mehrere chinesische Hersteller stehen unter Verdacht, Solarkomponenten in der Provinz Xinjiang zu produzieren und dabei auf Zwangsarbeit zurückzugreifen.
Ein Grundvertrauen hat die europäische Solarindustrie offenbar in die Pläne der EU. Bis 2026 werde die Union hinter China wieder zur zweitstärksten Nachfrageregion weltweit werden, prognostiziert SolarPower Europe in seinem am Dienstag vorgestellten Global Market Outlook.
In Kiew kam Emmanuel Macrons Vorschlag nicht gut an. “Wenn wir nicht den Kandidatenstatus bekommen, bedeutet das, dass uns Europa übers Ohr hauen will”, sagte Ukraines Außenminister Dmytro Kuleba gewohnt undiplomatisch. Mit einer assoziierten Partnerschaft werde sich die Ukraine nicht zufriedengeben.
Ein solches Modell hatte Macron am Montag ins Spiel gebracht (Europe.Table berichtete). Frankreichs Präsident schwebt eine “Europäische Politische Gemeinschaft” vor – sie soll Ländern offenstehen, die die Werte der EU teilen, aber noch nicht reif sind für einen Beitritt. Der Name ist neu, die Idee nicht: Immer wieder hat die Gemeinschaft diskutiert, wie sie beitrittswillige Staaten an sich binden kann, ohne sie gleich als Vollmitglieder in den Klub aufzunehmen. Für die Türkei etwa hatten CDU-Politiker den Begriff einer Privilegierten Partnerschaft geprägt.
Weder Ankara damals noch Kiew oder die Beitrittsaspiranten auf dem Westbalkan heute wollen sich aber mit einer Mitgliedschaft zweiter Klasse zufriedengeben. Das weiß auch die Bundesregierung: Außenministerin Annalena Baerbock stellte der Ukraine bei ihrem gestrigen Besuch in Kiew eine Vollmitgliedschaft in Aussicht. Auf dem Weg dahin könne es aber “keine Abkürzung” geben, sagte die Grünen-Politikerin. Vergangene Woche hatte Kanzler Olaf Scholz dafür plädiert, Serbien, Albanien, Nordmazedonien, Montenegro, Kosovo und Bosnien-Herzegowina so schnell wie möglich in die EU aufzunehmen, um den Einfluss Russlands und Chinas dort zurückzudrängen.
Dass der neue Vorschlag vom französischen Staatspräsidenten kommt, nährt Misstrauen: Paris sperrt sich seit Langem gegen eine erneute EU-Erweiterung. Dabei habe Macron noch gar nicht gesagt, was ihm konkret vorschwebe, sagt Nicolai von Ondarza, Leiter der Forschungsgruppe Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik.
So sei unklar, ob die Aufnahme in die Europäische Politische Gemeinschaft einen Zwischenschritt hin zur EU-Mitgliedschaft oder eine Alternative dazu darstellen solle. Ebenso offengelassen habe der Präsident, ob die Europäische Politische Gemeinschaft eine eigene Organisationsform erhalten solle oder die Länder als assoziierte Mitglieder an die EU angedockt werden sollten. Bislang sei Macrons Idee nicht viel mehr als eine Zeile im Redetext, ätzt auch eine EU-Diplomatin.
Macron habe mit seinem Vorschlag aber eine wichtige Diskussion angestoßen, sagt von Ondarza. Auch in der EU-Kommission werde darüber nachgedacht, wie die EU einigen Ländern eine Teilintegration anbieten könne, auch wenn der Beitritt noch viele Jahre oder gar Jahrzehnte entfernt sei.
Der Krieg in der Ukraine hat den Handlungsdruck auf die Gemeinschaft enorm erhöht. Die Kommission wird im Juni voraussichtlich empfehlen, Kiew den offiziellen Status als EU-Beitrittskandidat zu geben. Etwas anderes ist angesichts der Opfer im Kampf gegen Russland schwer vorstellbar. “Wir haben für unsere Mitgliedschaft bereits mit Blut bezahlt”, sagte die stellvertretende Ministerpräsidentin Olha Stefanishyna.
Die Mitgliedstaaten müssen der Empfehlung einstimmig zustimmen. Laut Stefanishyna haben einige Regierungen noch Vorbehalte, darunter Berlin.
Macron machte zudem deutlich: Selbst wenn der Europäische Rat im Juni den Weg freimacht, dürften noch etliche Jahre bis zum Abschluss der Verhandlungen vergehen. Der belgische Ministerpräsident Alexander De Croo mahnte daher bei seinem Besuch in Berlin, sich nicht allein auf den Erweiterungsprozess zu konzentrieren. Dieser sei “ein langer administrativer Prozess, der oft sehr frustrierend ist”.
Die EU müsse “sehr viel kreativer sein” und Ländern wie der Ukraine helfen, Teil der europäischen Familie zu sein, so de Croo. “Das ist etwas anderes als der Erweiterungsprozess.” Auch bei einem anderen Mitgliedstaat heißt es, es sei an der Zeit, aus dem binären Denken Mitgliedschaft oder nicht auszubrechen.
Die Aufnahme neuer Mitglieder aber würde zugleich den Druck erhöhen, die Kompetenzverteilung und Entscheidungsstrukturen innerhalb der EU zu reformieren. Macron verlieh der Diskussion am Montag neuen Schwung, als er sich zum Abschluss der Konferenz zur Zukunft Europas für eine Änderung der EU-Verträge aussprach. Der amtierende Ratspräsident will das Thema auf die Agenda des Gipfels Ende Juni setzen lassen.
In der Berliner Ampel-Koalition findet Macron dafür durchaus Zustimmung. Eine Erweiterung der Europäischen Union sei im ureigenen Interesse des Friedensprojektes Europa, sagte der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag, Anton Hofreiter, zu Europe.Table. “Bei zunehmender Erweiterung ist aber auch klar, dass wir unsere Arbeitsweise daran anpassen müssen.” Er begrüße, dass Macron die Diskussion darüber nun anstoße, so der Grünen-Politiker.
Scholz hingegen sieht die Forderungen nach Vertragsänderungen reservierter, die vor allem aus dem Europaparlament erhoben werden. Deutschland werde dabei nicht auf der Bremse stehen, sagte er. Allerdings lasse sich eine effizientere EU auch unterhalb der Ebene von Änderungen der EU-Verträge erreichen. Dazu gehöre auch die Abschaffung der Einstimmigkeit in vielen Politikfeldern, wie sie die Teilnehmer der Zukunftskonferenz gefordert hatten.
Tatsächlich lässt sich der oft lähmende Zwang zur Einstimmigkeit in der Gemeinsamen Außenpolitik durch die sogenannte Passerelle-Klausel in bestimmten Fällen umgehen. Dieses “Brückchen” in Artikel 31 des EU-Vertrages ermöglicht einen Mehrheitsentscheid, wenn der Rat einen Beschluss der Staats- und Regierungschefs umsetzen soll, also die bereits grundsätzlich geeinte Position. Allerdings kann gegen das Mehrheitsverfahren durch jedes Ratsmitglied ein Veto eingelegt werden. Dann würde im ersten Schritt im Rat ein Mehrheitsbeschluss gefasst, der dann wiederum vom Europäischen Rat einstimmig verabschiedet werden müsste.
Thu Nguyen, Expertin des Jacques Delors Centre, hält eine Vertragsänderung daher zumindest langfristig für geboten, um die Handlungsfähigkeit der EU zu erhöhen. Kurzfristig fehle dafür aber die nötige Unterstützung unter den Mitgliedstaaten. “Daher sollte nicht sämtliches politisches Kapital in diese Art der Veränderung investiert werden”, so Nguyen. “Vieles lässt sich auch ohne Vertragsänderungen reformieren.”
Am Montag hatten sich 13 Regierungen in einem gemeinsamen Papier dagegen ausgesprochen, nun einen überstürzten Prozess für Verfassungsänderungen einzuleiten. SWP-Experte von Ondarza warnt daher: “Kurzfristig mit knapper Mehrheit einen Konvent einzuberufen, würde eine Spaltung der EU riskieren zu einer Zeit, in der sie um Zusammenhalt ringt.”
Die Zukunftskonferenz allein jedenfalls rechtfertigt aus seiner Sicht kaum den Zeitdruck. Nach einer noch unveröffentlichten SWP-Analyse erfordern nur zwölf der 178 Vorschläge der Bürgerpanels eine Vertragsänderung. Dazu zählt insbesondere eine Ausweitung der EU-Kompetenzen auf dem Gebiet der Gesundheits- und der Sozialpolitik und ein Initiativrecht für das Europaparlament, das dieses lautstark fordert. Mit Falk Steiner
Ein Ziel der Maßnahmen: Darstellungen sexuellen Kindesmissbrauchs sollen möglichst schnell und dauerhaft aus dem Netz entfernt werden. Johanssons Vorhaben ist nun in einer Entwurfsversion bekanntgeworden. Drei Vorhaben dürften danach im Kern der Kritik stehen:
Das “EU Centre on Child Sexual Abuse” soll, so heißt es in Kapitel 4 des Vorschlages, die Umsetzung der Regulierung “bezüglich der Erkennung, Meldung, Entfernung oder der Verhinderung der Zugänglichkeit und Sperrung” unterstützen und bei der Umsetzung mitwirken. Diesem Zentrum will die EU-Kommission die “weitestgehend möglichen Rechte” auch auf nationaler Ebene einräumen. Zugleich soll jeder Mitgliedstaat eine Koordinationsstelle benennen, die mit dem EU Centre abgestimmt vorgehen und ihm zuarbeiten soll und zugleich auf dessen Unterstützung zurückgreifen kann.
Der Vorschlag, der maßgeblich unter Verantwortung der deutschen Cybercrime-EU-Beamtin Cathrin Bauer-Bulst erarbeitet wurde, sieht wesentliche Mitwirkungspflichten für Anbieter von Hostingdiensten, aber auch von Kommunikationsdiensten vor. In Artikel 7 wird dargelegt, wie die jeweils zuständige Koordinierungsstelle Anbieter mittels einer Detektionsanordnung zur aktiven Suche nach Abbildungen sexuellen Kindesmissbrauchs zwingen können soll. Hierfür reicht es nach Auffassung der DG Home bereits aus, wenn ein Anbieter “wahrscheinlich … in nennenswertem Umfang für die Verbreitung” von Abbildungen sexuellen Kindesmissbrauchs genutzt werde. Dies dürfte für fast alle größeren Kommunikationsanbieter gelten.
Auch zur Erkennung bislang unbekannter Missbrauchsdarstellungen sollen die Anbieter zur Mitwirkung verpflichtet werden können. Diese Mitwirkung soll unter anderem durch automatisierte Erkennung von Inhalten stattfinden: In Artikel 10 des Entwurfs ist ausdrücklich vorgesehen, dass die Verpflichteten vom EU Centre für tauglich befundene Technologien installieren und betreiben müssten.
Auch in weiteren Fällen sollen Anbieter zur Detektion verpflichtet werden: Nämlich dann, wenn deren Dienste aus Sicht der zuständigen Stellen dafür genutzt werden können, an potenzielle Opfer heranzutreten. Zur Begründung soll dabei ausreichen, dass es sich dabei um einen interpersonalen Kommunikationsdienst handele, bei dem es wahrscheinlich sei, dass dieser für diese Zwecke genutzt würde und dass es Fälle bei diesem oder vergleichbaren Diensten im vorangegangenen Jahr gegeben habe.
2009 plädierte die damalige Bundesfamilienministerin von der Leyen mit nachweislichen Falschbehauptungen für “Stoppschilder im Internet”. Ihr Anliegen war dabei identisch mit dem, was nun von Innenkommissarin Johansson eingebracht werden soll: Die Anbieter von Internetzugangsdiensten sollen Webseiten blockieren, auf denen Darstellungen sexuellen Kindesmissbrauchs zu finden sind. Da diese Seiten möglichst nicht öffentlich bekannt sein sollen, werden hierfür geheim gehaltene Sperrlisten geführt.
Allerdings zeigten Analysen geleakter Filterlisten in der Vergangenheit immer wieder hohe Fehlerquoten bei derartigen Blockadelisten. Durch die sachlich begründete Intransparenz fällt eine Überprüfung der Sperrungen zusätzlich schwer. Kritiker werfen Befürwortern derartiger Systeme daher vor, eine Infrastruktur der Intransparenz für jedwede Form von Zensur per Gesetz errichten zu lassen. Zudem lassen sich derartige Blockaden technisch leicht umgehen.
Die nun in Abschnitt 5 der geplanten Verordnung vorgesehenen “Blocking obligations” sind der Versuch, aus den damaligen Protesten Lehren zu ziehen und zugleich dennoch eine solche Infrastruktur von den Mitgliedstaaten abzufordern. So sind in Artikel 16 unter anderem Abwägungsprozesse vorgeschrieben. Die tatsächliche Sperrverfügung muss entweder von einer unabhängigen zuständigen Behörde oder von Gerichten angeordnet werden. Die Internet-Zugangsanbieter sollen gegen entsprechende Sperrverfügungen auch gerichtlich vorgehen können.
Ein Vorschlag, der anders als die absehbar strittigen Punkte auf ungeteilte Zustimmung stoßen dürfte, ist ein geplantes Recht für Betroffene auf Information: Wenn identifizierte Opfer sexuellen Missbrauchs dies wollen, sollen sie künftig ein Recht auf Auskunft erhalten. Ihnen stünde dann das Recht zu, benachrichtigt zu werden, wenn Inhalte, die sie betreffen, aufgefunden würden. Darüber hinaus sollen sie auch Unterstützung in Anspruch nehmen können, wenn sie von einzelnen Anbietern eine Entfernung der Inhalte fordern wollen.
Ursula von der Leyen habe recht damit, dass der Kampf gegen Kindesmissbrauchsmaterialien deutlich verstärkt werden müsse, sagt Moritz Körner (FDP/Renew). Doch der Vorschlag der Kommission ist für ihn ungeeignet: “Würden von der Leyen und ihre Innenkommissarin Johansson damit durchkommen, wäre das digitale Briefgeheimnis tot”, tobt Körner. “Nach dem Vorschlag der EU-Kommission würden private Unternehmen gezwungen werden, Polizei zu spielen, ihre Kunden auszuspionieren und beim Staat zu melden – diese Stasi 2.0 ist abzulehnen.” Körner greift zum ganz großen Geschütz: “Zensursula ist zurück.”
Patrick Breyer (Piraten/EFA) hatte bereits in den vergangenen Monaten gegen die Pläne Johanssons unter dem Stichwort “Chatkontrolle” protestiert. Gegen einen Filtermechanismus, den die Plattform Facebook einsetzt, hat Breyer am Montag Klage bei einem irischen Gericht eingereicht. Breyer spricht von einem “Big-Brother-Angriff auf unsere Handys, Privatnachrichten und Fotos mithilfe fehleranfälliger Algorithmen”, der einen “Riesenschritt in Richtung eines Überwachungsstaates nach chinesischem Vorbild” darstelle.
Die mit dem Schmähnahmen “Zensursula” verbundene Gesetzgebung der heutigen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen passierte 2009 unter wütenden Protesten von Internetfreiheitsaktivisten gegen das vollständige Gesetzgebungsvorhaben: Das sogenannte Zugangserschwerungsgesetz wurde verabschiedet, jedoch nie angewandt und unter der folgenden schwarz-gelben Koalition per Aufhebungsgesetz ersatzlos gestrichen.
Das geplante Transportverbot von russischem Öl ist nach Angaben aus EU-Kreisen vorerst nicht mehr Teil des geplanten Sanktionspakets gegen Russland. Es sei weitere Koordination auf internationaler Ebene und in der G7-Gruppe nötig, erfuhr die Deutsche Presse-Agentur (dpa) von Diplomaten. Unter anderem Griechenland, Zypern und Malta hatten sich gegen die Maßnahme gewehrt, da sie befürchten, dass dies ihre Reedereien einseitig benachteiligen könnte.
Ein Verbot für europäische Firmen, Öltanker zu versichern, die russisches Öl transportieren, ist den Diplomaten zufolge weiterhin Teil der geplanten EU-Sanktionen gegen Russland. Dies könnte es Russland erschweren, Öl an andere Länder zu liefern.
Die Diskussionen um das geplante EU-Sanktionspaket drehen sich seit Tagen im Kreis. Insbesondere Ungarn blockiert ein vorgeschlagenes Embargo gegen russische Öl-Importe und fordert weitgehende Ausnahmen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kehrte am Montag ohne handfeste Ergebnisse von Gesprächen mit dem ungarischen Premierminister Viktor Orbán zurück. “Wir haben Fortschritte gemacht, aber es ist noch mehr Arbeit nötig”, sagte sie. In den nächsten Tagen soll eine Videokonferenz mit regionalen Partnern zu Lösungen bei der Ölversorgung stattfinden, ein Datum steht jedoch noch nicht fest.
Aus Diplomaten-Kreisen hieß es, dass die Sanktionen gegen Russland voraussichtlich auch heute nicht auf der Tagesordnung beim regulären Treffen der ständigen Vertreter der EU-Länder stehen werden. Man warte noch auf Fortschritte in Gesprächen mit den Staaten, die besonders von dem Importstopp betroffen wären. Länder wie die Slowakei und Bulgarien haben sich den Forderungen Ungarns angeschlossen.
Der bulgarische Präsident Rumen Radew kritisierte das EU-Öl-Embargo: “Wir dürfen es nicht zulassen, dass die Sanktionen unseren eigenen sozialen und wirtschaftlichen Systemen schaden”, sagte er nach einem Treffen mit seinem tschechischen Kollegen Miloš Zeman am Dienstag in Prag. Es gelte, die Besonderheiten der einzelnen EU-Mitgliedstaaten zu berücksichtigen.
Die EU-Kommission hatte vergangene Woche als Kompromiss vorgeschlagen, Ungarn und der Slowakei bis Ende 2024 sowie Tschechien bis Mitte 2024 Zeit einzuräumen, um den Öl-Importstopp vollständig umzusetzen. dpa
Der Angriff auf das Satellitennetz KA-SAT des US-Betreibers Viacom (Europe.Table berichtete) ist durch die EU-Mitgliedstaaten als “schädliche Cyberaktivität durch die Russische Föderation” klassifiziert worden. Das teilte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Dienstag mit. Dies ist das erste Mal, dass eine solche Einschätzung der EU mit klarer Attribution eines Angreifers getroffen wurde – die grundsätzlich auch Folgen entsprechend der Cyber Diplomacy Toolbox der EU haben könnte (Europe.Table berichtete). Allerdings würden derartige Maßnahmen einen einstimmigen Beschluss der Mitgliedstaaten erfordern.
Bei dem Cyberangriff eine Stunde vor dem Angriff von Russlands Truppen in vorher nicht besetzte Gebiete der Ukraine am 24. Februar 2022 wurde KA-SAT in Teilen unbrauchbar. Ziel der Operation war offenbar vor allem, ukrainische Kommunikationsverbindungen abzuschneiden. Das von diesem Satellitennetz abgedeckte Gebiet umfasst aber auch weite Teile Ost-, Mittel- und Westeuropas, wo ebenfalls Schäden entstanden, die der Angreifer offensichtlich in Kauf nahm.
In Deutschland hatte der Fall auch deshalb für Aufsehen gesorgt, weil unter anderem 5.800 Windkraftanlagen von Enercon per Satellitennetz nicht mehr erreichbar waren. Die für die Verbindung notwendigen Modems hatten über das gehackte KA-SAT-Netz ein schadhaftes Software-Update erhalten. Enercon spricht von insgesamt 30.000 Modems europaweit. Teils wurden diese durch die Schadsoftware irreparabel beschädigt.
Gut zwei Monate nach dem Cyberangriff sind laut dem Windkraftanlagenhersteller “nahezu alle betroffenen Windenergieanlagen mittlerweile wieder online und in die Fernüberwachung und Fernwartung integriert”, wie ein Unternehmenssprecher mitteilt. Für die IT-Sicherheit der Anbindung sieht der Hersteller, der eine Task Force zur Schadensbegrenzung eingerichtet hatte, die Betreiber der WKA in der Pflicht. fst
Schlagabtausch vor dem EU-Gerichtshof (EuGH): Die Facebook-Muttergesellschaft Meta hat am Dienstag bei einer Verhandlung vor dem EuGH in Luxemburg scharfe Kritik an dem Vorgehen des Bundeskartellamts geübt, das der umfassenden Sammlung der Daten von Facebook-Nutzern einen Riegel vorschieben will.
Die dafür zugrunde liegende und ins Jahr 2019 zurückreichende Entscheidung der Wettbewerbshüter unterstreicht einerseits den wachsenden Druck auf US-Internetkonzerne wie Facebook. Allerdings steht in dem konkreten Fall auch zur Debatte, ob die Kartellwächter bei der Behandlung von Datenschutz-Fragen ihre Kompetenzen überschritten haben.
Die Anordnung des Bundeskartellamts für die “weitreichenden Einschränkungen” von Facebook sei eindeutig fehlerhaft, sagte Meta-Anwalt Hans-Georg Kamann vor einem 15-köpfigen EuGH-Richter-Gremium. Die Bonner Behörde habe damit offen gegen die Bestimmungen der europäischen Datenschutz-Grundverordnung verstoßen. Kamann beschuldigte das Kartellamt, nicht mit der irischen Datenschutzbehörde kooperiert zu haben, die für Facebook wegen dessen Konzernsitz in Irland zuständig sei.
Diesen Vorwurf ließ Kartellamts-Vertreter Jörg Nothdurft nicht gelten und erklärte, es habe sehr wohl Kontakte zur irischen Behörde gegeben. Die Bundesregierung verteidigte die Entscheidung des Kartellamts, im Sinne des Wettbewerbsschutzes auch Datenschutzfragen nachzugehen. Schließlich dienten Nutzerdaten den Tech-Konzernen dazu, ihre Marktmacht auszubauen, sagte der juristische Vertreter der Bundesregierung, Philipp Krüger.
Das Kartellamt hatte 2019 entschieden, dass Facebook seine Marktmacht missbraucht habe, indem es bestimmte Daten von Nutzern ohne deren ausdrückliche Zustimmung gesammelt habe. Dabei ging es um personenbezogene Daten, die Nutzer bei WhatsApp oder Instagram – die ebenfalls zu Facebook gehören – und anderen Diensten hinterlassen. Das Kartellamt hatte Facebook auch mit Verweis auf den Datenschutz untersagt, die Nutzerdaten aus verschiedenen Quellen zusammenzuführen. Dagegen geht der US-Konzern juristisch vor. Das zuletzt zuständige Oberlandesgericht Düsseldorf lässt nun zunächst zentrale Fragen vom EuGH klären. rtr
Die Ausfuhren der EU von recyclebaren Rohstoffen, einschließlich Abfall, Schrott und anderen Nebenprodukten, erreichten im vergangenen Jahr ein Rekordhoch von 40,6 Millionen Tonnen, wie das EU-Statistikamt Eurostat gestern mitteilte.
Eurostat-Daten zeigen, dass die Exporte in Nicht-EU-Länder, fast die Hälfte davon Eisenmetalle wie Eisen und Stahl, innerhalb eines Jahres um 2,0 Millionen Tonnen und im Vergleich zu 2004 um 80 Prozent gestiegen sind. Die Türkei war im vergangenen Jahr das wichtigste Zielland für recyclebare Rohstoffe aus der EU, gefolgt von Großbritannien, Indien und Ägypten.
Die EU-Importe von wiederverwertbaren Rohstoffen, vor allem von organischen Produkten und Holz, erreichten im vergangenen Jahr 46,8 Millionen Tonnen und liegen damit 7 Prozent über dem Niveau von 2004. Laut Eurostat waren Argentinien und Brasilien die wichtigsten Herkunftsländer für Importe.
Neben Metallen und organischen Produkten wie Lebensmittelresten zählen zu wiederverwertbaren Materialien laut Begriffsbestimmungen von Eurostat auch Papier, Textilien, Glas, Plastik und Gummi.
Die EU plant im Kontext ihres Aktionsplans für die Kreislaufwirtschaft auch ein neues Konzept für die Abfallentsorgung. Im November 2021 stellte die EU-Kommission einen Vorschlag für eine überarbeitete Abfallverbringungsverordnung vor. Damit möchte sie Wiederverwendung und Recycling innerhalb der EU erleichtern und sicherstellen, “dass die EU ihre Abfallproblematik nicht in Drittländer verlagert”, sowie die illegale Verbringung von Abfällen bekämpfen, heißt es in dem Dokument. Heute diskutiert der ENVI-Ausschuss des Parlaments den Entwurf seines Berichts. leo/ rtr
In nur wenigen Monaten hat die Europäische Union ihre Abhängigkeit von russischem Öl derart verringert, dass sie nun bereit ist, ein Embargo zu verhängen. Die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen hat einen Plan für ein Importverbot von russischem Rohöl für den größten Teil der EU in den nächsten sechs Monaten angekündigt, und von Mineralölerzeugnissen bis Ende des Jahres. Doch um echte Auswirkungen auf den russischen Haushalt zu haben, muss Europa auch seine Abhängigkeit von Gas aus Russland beenden. Dies wird sich als deutlich schwieriger erweisen.
Europa hat es aus mehreren Gründen geschafft, seinen Bedarf an russischem Öl so rasch zu reduzieren. Öl lässt sich leicht per Tanker und nicht nur per Pipeline liefern, und es ist relativ einfach, auf dem Weltmarkt neue Lieferanten zu finden. Das Problem ist, dass es auch relativ einfach ist, ausreichend neue Abnehmer zu finden – und Russland hat viele -, um die durch ein EU-Embargo bedingten Verluste weitgehend auszugleichen.
Beim Gas ist das anders. Europa braucht Erdgas als winterliches Heizmittel und als Rohstoff für die weltgrößte chemische Industrie, auf die ein erheblicher Anteil der EU-Exporte entfällt. Bestimmte Merkmale des Erdgasmarktes werden es viel schwieriger und kostspieliger machen, Alternativen für russische Lieferungen zu finden, als das beim Öl der Fall war.
Zunächst einmal gibt es, weil die meisten Erdgasproduzenten langfristige Verträge mit ihren Käufern haben, außerhalb Russlands kaum freie Produktionskapazitäten. Zwar gibt es Spotmärkte, auf denen man begrenzte Mengen an Gas kaufen oder verkaufen kann. Doch besteht deren Zweck darin, Angebot und Nachfrage bedarfsgerecht regional umzuverteilen und nicht darin, ein zusätzliches Angebot zu schaffen.
Europas nervöse Energieminister haben bereits verschiedene globale Gasproduzenten besucht. Ihre Hoffnung war es, diese zur Ausweitung ihrer Produktion zu bewegen. Und viele große Gasproduzenten kommen dem gern nach. Aber sie warnen, dass es bis zu vier Jahre dauert, neue Projekte zu starten, und dass das wirtschaftlich nur dann sinnvoll ist, wenn der Kunde bereit ist, einen 20-Jahres-Vertrag zu unterzeichnen.
All dies bedeutet, dass das Angebot an Erdgas kurzfristig kaum veränderbar ist. Die einzige Möglichkeit für Europas, einen Mangel an Gas aus Russland auszugleichen, besteht daher in einer Kombination aus Energieeinsparungen und erhöhten Importen.
Damit steht Europa vor einer weiteren Herausforderung. Der Transport von Erdgas ist teuer, und seine Lagerung schwierig. Flüssigerdgas (LNG), das per Schiff transportiert werden kann (Europe.Table berichtete), bietet die wichtigste Alternative zu per Pipeline transportiertem russischen Gas, obwohl damit eigene Herausforderungen verbunden sind.
Nachdem das Gas verflüssigt und auf einen Spezialtanker verladen wurde, machen ein paar tausend Kilometer Fahrt keinen großen Unterschied. Das ist der Hauptgrund für die Integration der asiatischen und europäischen LNG-Märkte mit in der Regel kaum voneinander abweichenden Preisen auf beiden Kontinenten. Die Spotpreise für Gas erreichten schon im letzten Herbst – Monate vor dem russischen Einmarsch in der Ukraine – ein sehr hohes Niveau, weil eine starke Konjunkturerholung in Asien die Nachfrage befeuerte.
Schon vor Beginn des Krieges in der Ukraine importierte Europa fast genauso viel LNG wie Pipeline-Gas. Doch um seine Abhängigkeit von Gas aus Russland zu beenden, muss Europa diese LNG-Importe enorm steigern. Das wird teuer, denn es bedeutet, dass ursprünglich für Asien gedachte Transporte nach Europa umgeleitet werden müssen. Zum Glück ist dies aufgrund einer wichtigen Asymmetrie im LNG-Handel technisch möglich: Es dauert viel länger, Verflüssigungsanlagen zu bauen, als die Wiederverdampfung zu organisieren.
Wenn das LNG ankommt, müssen die Importländer lediglich das Flüssiggas in den Tankern erhitzen. Energieexperten verweisen häufig darauf, dass viele Länder nicht genügend feste LNG-Anlagen haben, um ihre Importe zu steigern. Doch schwimmende LNG-Terminals sind ebenfalls eine Option, und Länder wie Deutschland, Frankreich und Italien nutzen diese bereits, um sicherzustellen, dass sie das LNG bei Ankunft auch entladen können.
Zusammen mit den Pipelines, die die meisten EU-Anbieter vernetzen, bieten diese flexiblen Verdampfungsanlagen einen gewissen Schutz vor russischen Versuchen, gegen einzelne Länder vorzugehen. Europa hat in dieser Frage bereits seine Solidarität bewiesen. Als der russische Energieriese Gazprom kürzlich seine Gaslieferungen an Polen und Bulgarien einstellte, sorgten Pipelines aus Deutschland und Griechenland dafür, dass die beiden Länder bekamen, was sie brauchten. Die Frage ist, ob Europa dieselbe Entschlossenheit an den Tag legen wird, wenn alle Länder unter Druck stehen.
Verflüssigungsanlagen andererseits sind viel schwieriger zu beschaffen, und ihr Bau dauert viel länger, weil sie riesige Kühlsysteme benötigen, die das Gas auf -160 °C abkühlen. Dies hat zwei politisch bedeutsame Konsequenzen.
Einige hoffen, dass die USA Europa mit dringend benötigtem LNG versorgen können. Aber die bestehenden US-Verflüssigungsanlagen sind derzeit voll ausgelastet, und es würde mehrere Jahre dauern, um neue Anlagen zu bauen. Solange Amerikas Exportkapazitäten begrenzt sind, wird die Umlenkung der US-Lieferungen aus Asien nach Europa nichts tun, um den Nachfrage-Überschuss auf dem gemeinsamen LNG-Markt der EU und Asiens zu verringern. Für die USA hat dies den Vorteil, dass die Erdgaspreise dort viel niedriger geblieben sind als in Europa oder Asien.
Die Herausforderung, LNG-Verflüssigungsanlagen zu bauen, erhöht auch die Kosten für Russland, wenn dieses versucht, das Gas zu exportieren, das Europa nicht mehr abnimmt. Russland wäre mehrere Jahre lang nicht in der Lage, die 140 Milliarden Kubikmeter Erdgas zu verkaufen, die bisher jedes Jahr nach Europa gingen.
Wenn Europa bereit ist, den Preis für teure LNG-Importe zu bezahlen, könnte es daher Russlands Fähigkeit, sich mittels seiner Gasexporte harte Devisen zu beschaffen, schwer beeinträchtigen. Das würde ein echtes Loch in Wladimir Putins Kriegskasse reißen.
In Kooperation mit Project Syndicate. Aus dem Englischen von Jan Doolan.