Table.Briefing: Europe

Macrons Rede + Piotr Buras im Interview + Schweiz im Konflikt mit EU

  • Macrons Rede: Momentum für EU-Reform
  • Piotr Buras (ECFR) über Russland: “Scholz war in dieser Krise unsichtbar”
  • Termine
  • Konflikt mit Brüssel: Schweizer Bundespräsident sucht Unterstützung in Berlin
  • EU-Kommission erwägt, Quarantäne-Zeiten zu verkürzen
  • DSA-Schlussdebatte: Neuer Goldstandard gesucht
  • Gas aus Norwegen: Premier Støre dämpft Erwartungen
  • Blinken sagt Ukraine weitere Unterstützung zu
  • Chipausrüster ASML darf Top-Produkte nicht nach China liefern
  • Scholz will auch Entwicklungsländer im Klimaclub haben
  • Standpunkt: Warum hat fast niemand die Inflation kommen sehen?
Liebe Leserin, lieber Leser,

Emmanuel Macrons berühmte Sorbonne-Rede ist fünf Jahre her, nun nutzte Frankreichs Präsident die EU-Bühne, um seine europapolitischen Ambitionen zu bekräftigen. Zu Beginn der französischen EU-Ratspräsidentschaft sprach er sich im Europaparlament in Straßburg für ein souveränes Europa und eine “gemeinsame Sicherheitsordnung” aus. In diesen Tagen sei durchaus ein Momentum für eine ehrgeizige EU-Reform zu erkennen, schreibt Eric Bonse in seiner Analyse. Das könnte auf lange Sicht sogar für die Reform des Stabilitätspakts gelten – auch wenn Macron dieses Thema erst mal ausklammerte. 

Die Gefahr eines russischen Angriffs auf die Ukraine sei so groß wie nie, sagt Piotr Buras im Interview mit Till Hoppe. Der Leiter des Warschauer Büros des European Council on Foreign Relations übt vor diesem Hintergrund scharfe Kritik an der deutschen Regierung, besonders an Olaf Scholz. “Anders als Angela Merkel hat er es an politischer Führung vermissen lassen”, so Buras. Der Kanzler müsse sich durchsetzen – auch in seiner eigenen Partei, in der es bei manchen eine “falsche Wahrnehmung der Brandt’schen Ostpolitik” gebe. 

Seit dem Abbruch von Verhandlungen über eine neue Grundlage für die bilateralen Beziehungen kriselt es zwischen Bern und Brüssel. Der Schweizer Zugang zum EU-Binnenmarkt ist auf EU-Seite inzwischen als Rosinenpickerei verpönt, in einigen Bereichen drohen für Hersteller und Handel zusätzliche Kosten und Bürokratie. Wie Stephan Israel berichtet, ist der heutige Besuch des Schweizer Bundespräsidenten und Außenministers Ignazio Cassis in Berlin daher mit der Hoffnung auf Unterstützung aus Deutschland verbunden. Rückenwind von der deutschen Industrie gibt es schon jetzt. 

Ihre
Sarah Schaefer
Bild von Sarah  Schaefer

Analyse

Macrons Rede: Momentum für EU-Reform

In einer programmatischen Rede plädierte Emmanuel Macron für ein selbstbewusstes und souveränes Europa. Die EU müsse eine “gemeinsame Sicherheitsordnung auf unserem Kontinent aufbauen”, ein neues Bündnis mit Afrika schließen und lange aufgeschobene Reformen angehen, etwa beim Schengen-Raum oder bei der Energiepolitik, sagte Frankreichs Präsident am Mittwoch im Europaparlament in Straßburg. Ausdrücklich bekannte sich Macron zur umstrittenen Taxonomie (Europe.Table berichtete), wonach Atomkraft und Gas als nachhaltige Energien gelten sollen.

Der Staatschef, der bei der Präsidentschaftswahl im April antreten und mit seiner EU-Bilanz punkten will, bekräftigte auch seine Forderung nach einem “europäischen Digitalmodell”. Kurz vor der Abstimmung über den Digital Services Act (DSA) am Donnerstag sprach sich Macron für fairen Wettbewerb aus. Facebook und Co müssten in die Schranken gewiesen werden. 

Ist nun also der Moment der “europäischen Renaissance” und der EU-Reform gekommen, den Macron seit Jahren herbeisehnt? Kann der französische EU-Vorsitz die nötigen Impulse geben? Die Antwort fällt – je nach parteipolitischer Brille – unterschiedlich aus. So zeigten sich Christdemokraten und Grüne nach Macrons Rede enttäuscht.

“Macron hat heute viele wolkige Überschriften und wenig Konkretes präsentiert”, kritisiert der wirtschaftspolitische Sprecher der EVP-Fraktion im EU-Parlament, Markus Ferber (CSU) die Rede. Wenn es doch einmal konkreter wurde, so liefen die Vorschläge “auf staatlichen Interventionismus und mehr Bürokratie hinaus”, beklagt Ferber. 

“Fehlstart” in die Ratspräsidentschaft

Noch negativer äußerte sich Rasmus Andresen, Sprecher der deutschen Grünen. Die französische Ratspräsidentschaft habe mit einem “Fehlstart” begonnen – der Taxonomie. Nun drohe ein zäher Streit über die europäische Energiepolitik. Auch beim Initiativrecht für das Parlament sei Macron konkrete Zusagen schuldig geblieben. 

Demgegenüber begrüßen die Sozialdemokraten Macrons Einsatz für ein “soziales Europa”. Es wäre “ein Fortschritt”, die Lohndifferenz zwischen Männern und Frauen zu überwinden, mehr Frauen in Aufsichtsräte zu bringen und bessere Arbeit sowie einen besseren Mindestlohn durchzusetzen, sagte Jens Geier, Chef der SPD-Gruppe.

Setzt man einmal die Parteibrille ab, so lässt sich durchaus ein Momentum für eine ambitionierte EU-Reform erkennen. Denn nicht nur Frankreich, sondern auch Deutschland verfolgt eine proeuropäische Agenda. Die Ampel-Regierung in Berlin hat sich sogar umstrittene  Reformen wie die Abschaffung des Vetorechts in der Außenpolitik auf ihre Fahnen geschrieben.

Berlin und Paris ziehen auch an einem Strang, wenn es um die aktuelle Krise zwischen Russland und der Ukraine geht. So fordert die Bundesregierung genau wie Macron, das Normandie-Format wiederzubeleben und die beiden Konfliktpartner an einen Tisch zu holen. Außenministerin Annalena Baerbock hat dies sogar in Moskau bekräftigt.

Macron klammert EU-Stabilitätspakt in Rede aus

Auch die nun von Macron anvisierte neue europäische Sicherheitsordnung dürfte in Berlin auf offene Ohren  stoßen. Über Details wird zwar noch zu reden sein. Doch die enge Abstimmung zwischen Bundeskanzleramt und Élysée-Palast, die sich schon beim ersten EU-Gipfel von Kanzler Olaf Scholz im Dezember gezeigt hat, stimmt optimistisch.

Weniger gut sind die Aussichten für eine Reform des Stabilitätspakts – zumindest kurzfristig. Finanzminister Christian Lindner hat sich bei seinem ersten Ecofin-Rat in Brüssel zwar als “freundlicher Falke” präsentiert, der sich um Kompromisse bemühen werde. Ein Ende der “obsoleten” Schuldenregeln, wie sie Frankreich fordert, hat er aber ausgeschlossen. 

Macron hat das Thema denn auch bei seiner Straßburger Rede ausgeklammert. Unter französischem Vorsitz dürfte der Streit nicht gelöst werden. Mittelfristig stehen die Chancen aber nicht schlecht, da mittlerweile auch “echte” fiskalpolitische Falken wie die Niederlande auf Reformkurs eingeschwenkt sind. Lindner ist in der Defensive.

Wie lange der FDP-Chef seine Blockade durchhalten kann, wird am Ende nicht von Macron, sondern von Scholz und von dem grünen Koalitionspartner abhängen. Denn bei den Fiskalregeln geht es nicht nur um Schulden, sondern auch um Investitionen – vor allem für eine aktive Klimapolitik. Und dafür gibt es ein starkes Momentum, in ganz Europa.

Mehr zum Thema

    • Digitalpolitik
    • Emmanuel Macron
    • Energiepolitik
    • Europapolitik
    • Klimaschutz

    Piotr Buras: “Olaf Scholz war in dieser Krise unsichtbar”

    Russland-Konfilkt:
    Piotr Buras ist Leiter des Warschauer Büros des Thinktanks ECFR.

    Herr Buras, die USA und Europa drohen Russland mit massiven Konsequenzen, sollte es in die Ukraine einmarschieren. Halten Sie dieses Abschreckungsszenario für glaubwürdig?

    Nein, jedenfalls nicht von europäischer Seite. Die Europäer haben ihre Hausaufgaben nicht gemacht, und das liegt teilweise auch an Deutschland. Die Gefahr eines russischen Angriffs auf die Ukraine und damit die Zerstörung der Sicherheitsordnung in Europa ist so groß wie noch nie. Aber die EU hat noch nicht einmal ein Sanktionspaket fertig, mit dem sie Moskau abschrecken könnte. Dabei sind ökonomische Strafmaßnahmen das einzige Druckmittel, das wir haben.

    Welche Verantwortung dafür trägt Deutschland? Weiß die russische Seite wirklich “um unsere Entschlossenheit”, wie Bundeskanzler Olaf Scholz gestern sagte?

    Es war überfällig, dass sich Scholz eindeutiger äußert. Dazu zähle ich auch, dass er beim Besuch des Nato-Generalsekretärs am Dienstag betont hat, alle Optionen lägen noch auf dem Tisch – also auch der Ausschluss Russlands aus SWIFT und ein Stopp von Nord Stream 2. Die Bundesregierung hatte bislang keine klare Position, was desaströs war. Von der SPD hörte man etwas anderes als von Grünen und FDP.

    Russland-Konflikt: Scholz hat an politischer Führung vermissen lassen

    Welche Verantwortung an dem Schlingerkurs trägt der neue Bundeskanzler?

    Olaf Scholz war in dieser Krise bislang unsichtbar. Anders als Angela Merkel hat er es an politischer Führung vermissen lassen. Aus Sicht der mittel- und osteuropäischen Länder ist diese Krise sehr ernst, der deutsche Bundeskanzler aber reiste zu Wochenbeginn lieber nach Madrid. Inzwischen scheinen Scholz und Außenministerin Baerbock aber an einem Strang zu ziehen.

    Ist Scholz’ Partei, die SPD, das Problem?  

    In der SPD tragen einflussreiche Persönlichkeiten wie Kevin Kühnert eine harte Linie nicht mit. Dahinter steht eine falsche Wahrnehmung der Brandt’schen Ostpolitik, die nicht nur auf Dialog baute, sondern ebenso auf Abschreckung. Nun muss sich zeigen, ob Scholz ein starker Bundeskanzler ist, der sich auch in seiner Partei durchsetzen kann. Es bleiben jedenfalls Zweifel, ob die SPD mitzieht, wenn es im Konflikt mit Russland hart auf hart kommen sollte.

    Deutschland hat mit Nord Stream 2 besondere Verantwortung

    Ist Berlin der große Schwachpunkt in Europas Antwort auf Moskau, oder nur einer von vielen?

    Ich würde Berlin nicht die ganze Schuld für das Desaster europäischer Politik in dieser Krise zusprechen. Aber die Bundesregierung muss anerkennen, dass Deutschland eine besondere Verantwortung hat, wegen seines wirtschaftlichen Gewichts und wegen Nord Stream 2. Bislang wurde es dieser Verantwortung nicht gerecht, aber es gibt Lichtblicke. Dazu zählt die sehr klare Kommunikation Baerbocks bei ihren Besuchen in Kiew und Moskau.

    Wie stark ist das Druckmittel Nord Stream 2 überhaupt?

    Manche argumentieren, wir hätten überhaupt keinen Einfluss auf Putin. Aber dann könnten wir unsere Außenpolitik und die europäische Souveränität schlichtweg vergessen. Dann bliebe uns nur zu hoffen, dass die Amerikaner das Problem für uns regeln. Ich bin der Meinung, dass wir mit Wirtschaftssanktionen und Nord Stream 2 durchaus Instrumente haben. Diese sollte man nicht einfach vom Tisch nehmen.

    Fehlt es hier am strategischen Denken in Berlin?

    Der Bluff gehört zur Diplomatie dazu. Man weiß nicht, ob es wahr ist, wenn gesagt wird, dass Nord Stream 2 im Falle eines Angriffs gestoppt wird. Andere Dinge sind wahr, sollten aber derzeit nicht öffentlich ausgesprochen werden. Dazu gehört, dass die Ukraine kein Mitglied der Nato wird. In Deutschland handhaben es manche der Verantwortliche genau umgekehrt, gerade in der SPD. Sie warnen vor einer Nato-Mitgliedschaft Kiews und wollen Nord Stream 2 keinesfalls antasten.

    Deutschland steigt aus Atomkraft und Kohle aus und setzt zur Kompensation in den nächsten Jahren noch stärker auf Erdgas. Damit wächst auch die Abhängigkeit von Russland.

    Es ist ein deutscher Sonderweg, der im derzeitigen geopolitischen Kontext unglücklich ist. Die verstärkte Abhängigkeit von russischem Gas muss Berlin aber nicht zwingend erpressbar machen – wenn der politische Wille vorhanden ist, entsprechenden Versuchen entgegenzutreten.

    Berlin und Paris wollen das Normandie-Format wiederbeleben, um den Konflikt mit Moskau zu entschärfen. Kann das in der jetzigen Lage gelingen?

    Das bezweifele ich. Wenn überhaupt, können die Vierer-Gespräche gewisse Fortschritte erzielen, wenn vorher eine gewisse Entspannung erreicht wurde.

    Mehr zum Thema

      • Deutschland
      • Energie
      • Energiepolitik
      • International
      • Olaf Scholz

      Termine

      24.01.2022 – 18:30-19:30 Uhr, online
      DBV, Podiumsdiskussion Die Ampelkoalition steht – was bedeutet dies für Wald und Klimaschutz?
      Die Referenten des Deutschen Bauernverbandes (DBV) diskutieren, was Wälder und Bewirtschaftende von den neuen Zielsetzungen der Bundesregierung zu erwarten haben. INFOS

      25.01.2022 – 08:30-10:00 Uhr, online
      DGAP, Vortrag Außenpolitischer Ausblick 2022
      Bei dieser Veranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) werden aktuelle außenpolitische Themen wie die neue deutsche China-Strategie oder der Russland-Ukraine-Konflikt diskutiert. INFOS & ANMELDUNG

      25.01.2022 – 09:00-12:40 Uhr, online
      VKU, Seminar Smart City-Projekte zum Erfolg führen
      Die Referent:innen des Verbands kommunaler Unternehmen (VKU) zeigen aktuelle Entwicklungen und Innovationen im Bereich Smart City auf sowie Beispiele aus der Praxis bei der Umsetzung von Smart-City-Projekten. INFOS & ANMELDUNG

      25.01.2022 – 15:00-17:00 Uhr, online
      ZTM, Konferenz Wie verändert sich die Versorgung in der Notfallmedizin?
      Bei diesem Symposium des Zentrums für Telemedizin (ZTM) werden neue Möglichkeiten in der Notfallmedizin durch den Einsatz von Robotik, Drohnen und Augmented Reality diskutiert. INFOS & ANMELDUNG

      25.01.2022 – 18:15-20:00 Uhr, online
      Eco, Podiumsdiskussion Jahresauftakt Net-Talk mit Bundesdigitalminister Volker Wissing
      Bundesdigitalminister Volker Wissing und die Vorsitzende des Digitalausschusses Tabea Rößner werden aktuelle digitalpolitische Themen mit dem Vorstandsvorsitzenden des Verbandes der Internetwirtschaft (Eco) Oliver Süme diskutieren. INFOS & ANMELDUNG

      25.01.2022 – 19:30 Uhr, online
      SZ, Diskussion Energiewende: Schaffen wir das?
      Bei dieser Veranstaltung der Süddeutschen Zeitung (SZ) werden Herausforderungen durch die steigenden Energiepreise und Chancen durch den Ausbau erneuerbarer Energien im Zuge einer Energiewende diskutiert. INFOS & ANMELDUNG

      Konflikt mit Brüssel: Schweizer Bundespräsident sucht Unterstützung in Berlin

      Die Regierung nennt sich in der Schweiz Bundesrat, und dort wechseln sich die sieben Mitglieder jedes Jahr in der Rolle des Staatsoberhaupts ab. Wenn Außenminister Ignazio Cassis heute in Berlin zu Besuch ist, kommt er in Personalunion auch als Bundespräsident. So kann der Tessiner neben Außenministerin Annalena Baerbock auch Bundeskanzler Olaf Scholz und vor allem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier treffen.

      Der Wechsel in Berlin bietet zuerst einmal die Chance für einen Neuanfang. Der Konflikt zwischen der Schweiz und der EU über eine neue Rechtsgrundlage für die komplexe bilaterale Beziehung hat zuletzt bis nach Berlin ausgestrahlt. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen soll sich bei der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel bitter über den Affront beklagt haben, nachdem die Schweizer Regierung nach acht Jahren die Verhandlungen über ein sogenanntes Rahmenabkommen einseitig für beendet erklärte.

      EU: Schweiz muss handeln um Rahmenabkommen-Konflikt zu lösen

      Für Ignazio Cassis ist es auch sonst mehr als ein Höflichkeitsbesuch. Der Außenminister hat seit seinem Amtsantritt als Bundespräsident am 1. Januar schon Wien besucht und erhofft sich nun auch in Berlin Unterstützung im Konflikt mit Brüssel. In der EU sieht man allerdings seit dem einseitigen Verhandlungsabbruch den Ball im Feld der Schweiz und erwartet Antworten, wie die Regierung in Bern die Konfliktpunkte aus dem gescheiterten Rahmenabkommen lösen will.

      Die Schweiz genießt dank 120 bilateralen Abkommen einen sektoriellen Zugang zum EU-Binnenmarkt. Ein Modell, das die EU den Briten explizit nicht angeboten hat. Auch für die Schweiz war der maßgeschneiderte Zugang ursprünglich nur als Übergangslösung gedacht. Dies in der Erwartung, dass die Schweiz eines Tages doch noch der EU oder zumindest dem EWR beitreten würde.

      Der Schweizer Zugang ist inzwischen in Brüssel als Rosinenpickerei verpönt. Zudem ist die Verwaltung der vorwiegend statischen Abkommen immer komplizierter geworden. EU-Kommission und Mitgliedstaaten fordern deshalb seit Jahren, dass die Schweiz neues EU-Recht künftig “dynamisch” übernimmt und in letzter Instanz den Europäischen Gerichtshof als Streitschlichter akzeptiert.

      BDI fordert Rückkehr zu Gesprächen

      Etwas Argumentationshilfe hat Ignazio Cassis vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) bekommen, der rechtzeitig zum Besuch ein Positionspapier veröffentlicht hat. Es sei notwendig, nach dem Scheitern des Rahmenabkommens zügig konstruktive Gespräche wieder aufzunehmen, fordert BDI-Hauptgeschäftsführer Joachim Lang. Angesichts geopolitischer Spannungen sei ein langwieriger Konflikt mit der Schweiz “überflüssig”. Die Zusammenarbeit müsse sich an den drei Prioritäten strategische Souveränität Europas, Green Deal und europäische Wettbewerbsfähigkeit orientieren.

      Wegen der Blockade um das Rahmenabkommen droht jetzt allerdings zuerst einmal die langsame Erosion des Status quo. So hat sich die EU zuletzt geweigert, das Abkommen über technische Handelshemmnisse (MRA) für den Bereich der Medizinalprodukte aufzudatieren. Gefährdet ist auch ein wichtiges Update für den Bereich der Maschinenindustrie, das 2023 ansteht. “Es kommt bereits zu erheblichen wirtschaftlichen Störungen im Handel zwischen der EU und der Schweiz, insbesondere von Medizinalprodukten und in absehbarer Zeit im Maschinenbau”, mahnt BDI-Hauptgeschäftsführer Joachim Lang.

      Streitpunkt Horizon Europe

      Konkret drohen für Hersteller und Handel zusätzliche Kosten und Bürokratie. Firmen müssen zusätzlich Bevollmächtige ernennen und Produkte zum Teil doppelt zertifizieren lassen. Ohne Rahmenabkommen ist auch ein Abschluss eines Stromabkommens nicht möglich, das den Anschluss der Schweiz mit ihren Speicherkraftwerken an den Energiebinnenmarkt der EU sicherstellen soll. Derzeit kann die Schweiz beim sogenannten Market Coupling nicht mitmachen, und auch die Teilnahme am Terre-Markt für Regelenergie ist in der Schwebe.

      Der BDI kritisiert in seinem Positionspapier weiter, dass Brüssel die Schweiz anders als bisher beim EU-Forschungsprogramm Horizon Europe wie ein gewöhnliches Drittland behandelt und eine volle Assoziierung verweigert. Die Beteiligung der Schweiz an Horizon Europe sei wichtig für deutsche Unternehmen und ein florierendes europäisches Innovations-Ökosystem. Eine volle Assoziierung der Schweiz müsse das Ziel sein.

      Das BDI-Positionspapier ist Rückenwind für Ignazio Cassis in Berlin, allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt: Eine stabile Partnerschaft mit der Schweiz erfordere “ein angemessenes Verhältnis von Rechten und Pflichten”, mahnt auch Hauptgeschäftsführer Joachim Lang. Faire Wettbewerbsbedingungen gehörten weiter auf die Tagesordnung. Zwingend erforderlich sei auch die einheitliche Auslegung des Binnenmarktrechts durch den EuGH. Genau im Konflikt um Regeln für Staatsbeihilfen oder den verbindlichen Streitbeilegungsmechanismus sind die Gespräche zwischen Bern und Brüssel zuletzt gescheitert. Stephan Israel

      Mehr zum Thema

        • Bundesregierung
        • Deutschland
        • Europapolitik
        • International
        • Schweiz

        News

        EU-Kommission erwägt, Quarantäne-Zeiten zu verkürzen

        Vor dem Hintergrund massiv steigender Infektionszahlen mit der Omikron-Variante bereitet sich die EU-Kommission auf einen Strategiewechsel im Kampf gegen die Corona-Pandemie vor. Die hohe Zahl der Betroffenen mache möglicherweise einen “pragmatischeren Ansatz” im Umgang mit den Infizierten nötig, sagte EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides im Gespräch mit Europe.Table und anderen europäischen Medien.

        Corona-Quarantäne-Zeiten kürzen: Die Optionen der EU

        So könnten die Corona-Quarantäne-Zeiten verkürzt werden. Außerdem prüfe die Kommission gemeinsam mit der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA eine Anpassung der Impfstoffe an Omikron. “Alle Optionen liegen auf dem Tisch, wir sind bereit zu handeln”, so Kyriakides. Am Freitag treffen sich die EU-Gesundheitsminister und die Kommission zu einer virtuellen Sondersitzung, um über die nächsten Schritte zu beraten.

        Zurückhaltend äußerte sich Kyriakides zu einem möglichen Ende der Pandemie und den Übergang in eine endemische Lage. “Es hat schon viele Wendungen gegeben”, sagte sie, “ich werde daher keine Vorhersagen machen”. Klar sei, dass die EU weiter auf Impfungen und Booster setze. “Die Impfung hat nicht versagt”, betonte die Kommissarin. Derzeit seien 70 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in der EU vollständig geimpft und 40 Prozent geboostert. Dies sei aber noch nicht genug, um hinreichenden Schutz vor dem Coronavirus zu gewähren. Die Impfkampagne müsse daher weitergehenebo

        Mehr zum Thema

          • Coronavirus
          • Gesundheit
          • Gesundheitspolitik

          DSA-Schlussdebatte: Neuer Goldstandard gesucht

          Die Schlussdebatte zum Standpunkt des Europäischen Parlaments zum Digital Services Act (DSA) war von gewichtigen Worten zur Rolle des europäischen Regelwerks geprägt. Ein Regelwerk, mit dem – je nach Perspektive – den Internetriesen, Betrügern und Radikalen im Netz oder gleich dem Wilden Westen Einhalt geboten werden soll. Die EP-Berichterstatterin Christel Schaldemose (S&D) sprach von einem “Goldstandard digitaler Regulierung”, der so wie die Datenschutzgrundverordnung international als Vorbild dienen und nachgeahmt werden solle. 

          Besonderen Wert legte die dänische Sozialdemokratin darauf, dass es künftig für Nutzer und Verbraucher einfacher werden solle, Dienstleister im Netz zu kontaktieren – ob bei illegalen Produkten oder bei der Verpflichtung von Anbietern, womöglich illegale Inhalte zu prüfen.

          Kommissionsvizepräsidentin Margarethe Vestager betonte, der DSA sei “ein Weg für die Demokratie, ihre Macht zu zeigen”. Das Signal sei: “Es gibt keinen Bereich, in dem die Demokratie nicht regiert.” Es sei eine “historische Debatte, die hoffentlich beenden wird, was man nicht zu Unrecht einen Wilden Westen im Netz genannt hat”, sagte EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton.

          Auch bei der Digital Services Act-Schlussdebatte Streit um Uploadfilter

          Erst am Morgen hatte Breton ein witzig gemeintes Video mit einer Western-Szene per Twitter verbreitet, mit dem er auf die Digital Services Act-Schlussdebatte hinwies. Der SPD-Abgeordnete Tiemo Wölken erinnerte den Kommissar im Plenum, dass es Kommission und Rat waren, die beim Urheberrecht auf automatisierte Filter für Inhalte gedrungen hatten: “Das hätte er nicht machen können, wenn dieses Haus für Parodie keine Ausnahme eingebracht hätte.”

          Wölken warf der EVP vor, Uploadfilter für Inhalte einführen zu wollen. Gemeint ist damit die Verpflichtung, gleichartige Inhalte nach einer Sperrung automatisiert zu unterbinden (Änderungsantrag 515, eingereicht unter anderem von vielen CDU/CSU-MdEP).

          Dass man eben nicht die Plattformen für die Inhalte haftbar machen wolle, um Overblocking und Uploadfilter zu vermeiden, betonte Moritz Körner (FDP/Renew). Die Änderungsanträge aus Reihen der EVP wies er mit dem Hinweis darauf zurück, dass diese “von Kollegen stammen, die offenbar das Internet immer noch nicht verstanden haben.” Weder sei eine Klarnamenpflicht noch eine Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung im Kompromiss enthalten, was Körner als Erfolg wertet.

          Kim van Sparrentak (GroenLinks, Grüne/EFA) zeigte sich schon mit dem Schaldemose-Bericht unzufrieden: “Dieser Deal, der in IMCO geschlossen wurde, wurde wärmstens von Big Tech begrüßt“, kritisierte sie und forderte, dass polarisierende Algorithmen per Voreinstellung ausgeschaltet sein sollten.

          EVP-Abgeordnete versuchen Dark-Pattern-Verbot zu verhindern

          Auch, ob sogenannte Dark Patterns verboten werden sollten, beschäftigte die Parlamentarier angesichts von Änderungsanträgen erneut. “Das ist unverantwortlich, das eine der ganz großen Errungenschaften”, kritisierte Evelyne Gebhardt (SPD/S&D), “Verarsche” nannte den Antrag ihr sozialdemokratischer Kollege Tiemo Wölken, was die Parlamentsdolmetscher etwas weniger hart in andere EU-Sprachen überbrachten.

          “Anstatt endlich das skrupellose Geschäft mit unseren persönlichsten Daten zu beenden, bleibt das Gesetz über digitale Dienste leider an dieser Stelle nach dem ersten Schritt stehen”, kritisierte Martin Schirdewan (Linke). Das Verbot personalisierter Werbung für Minderjährige begrüße er, aber es bräuchte ein Komplettverbot der Verwertung sensibler Daten wie politischer Einstellung oder zur Sexualität.

          Alexandra Geese (Grüne/EFA) sagte, das Europaparlament hätte überwachungsbasierte Werbeformen per DSA verbieten sollen. Geeses Fraktion hatte mit entsprechenden Anträgen jedoch keine Mehrheit dafür gewinnen können (Europe.Table berichtete). Der DSA sei nur ein erster, aber wichtiger Schritt.

          Kulturausschuss fühlt sich ignoriert

          Deutlich mehr inhaltliche Argumente führte hingegen Sabine Verheyen (CDU/EVP) für ihre Kritik am Bericht an: Dieser sei zwar eine Chance auf einen echten Meilenstein. Aber: “Der DSA, wie er jetzt ist, wird schwerwiegende Folgen für Bereiche des Kultur-, Sport und Medienbereichs haben”, so Verheyen. Sie warb für eine mehrfach vom Kulturausschuss vorgeschlagene Ausnahme für Medien (Europe.Table berichtete).

          Kritik, in der sie sich mit anderen Mitgliedern des Kultur-Ausschusses einig war: Petra Kammerevert (SPD/S&D) klagte: “Keine einzige unserer Forderungen wurde übernommen.” Journalismus und Medien würden geschädigt, wenn Internetfirmen über die Zulässigkeit ihrer Inhalte entscheiden dürften. Die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für Kultur und Medien sei vollständig übergangen worden.

          Noch während die letzten Wortbeiträge in der Aussprache zum Schaldemose-Bericht liefen, konnten die Abgeordneten bereits über die Änderungsanträge abstimmen. Das Ergebnis dieser Abstimmungen soll Donnerstagvormittag vorliegen.

          Die Digital Services Act-Schlussdebatte im Straßburger Plenum war auch die letzte Debatte der ebenfalls an den Verhandlungen beteiligten Sozialdemokratin Evelyne Gebhardt, die nach 28 Jahren aus dem EP ausscheidet (Europe.Table berichtete).

          Mehr zum Thema

            • Digital Services Act
            • Digitalisierung
            • Digitalpolitik
            • Europapolitik
            • Margrethe Vestager

            Gas aus Norwegen: Premier Støre dämpft Erwartungen

            Die Situation auf den Energiemärkten bleibt weiter angespannt, die Preise für Erdgas klettern von einem Hoch zum nächsten, während sich die Füllstände der Gasspeicher in Europa auf einem historischen Tiefstand befinden. Verschärft wird die Lage durch den anhaltenden Ukraine-Konflikt und die eisige Stimmung zwischen Moskau und dem Westen.

            Mehr als die Hälfte seines Erdgasbedarfs bezieht Deutschland aus Russland und die Sorge wächst, Moskau könnte im Ernstfall die Lieferungen des staatlich kontrollierten Energiekonzerns Gazprom aussetzen. Das wirft die Frage nach Alternativen auf.

            Gas aus Norwegen könne Ausfall aus Russland nicht kompensieren

            Etwa ein Drittel des Gases in Deutschland stammt aus Norwegen. Doch der norwegische Premierminister Jonas Gahr Støre dämpfte bei einem Besuch in Berlin die Erwartungen. Keinesfalls könnten die Energieunternehmen seines Landes einen Ausfall aus Russland kompensieren, sagte der Sozialdemokrat am Mittwoch bei einer Veranstaltung des Industrie- und Handelskammertags. Vielmehr seien diese bereits an ihrer Kapazitätsgrenze.

            Am Abend sprach Støre auch mit Bundeskanzler Olaf Scholz über die Fortsetzung der Gaslieferungen nach Deutschland. Norwegen bleibe ein verlässlicher Partner, kündigte der Premierminister an. Doch man wolle die Partnerschaft “einen Schritt nach vorn” bringen. Das Szenario für künftige Gaslieferungen sei nicht mehr “business as usual”. Auch Norwegen befinde sich mitten in der grünen Transformation und setze beim Gas deshalb auf die Abspaltung von CO2 und die Speicherung unter dem Meeresboden (Carbon Capture and Storage, CCS) und damit auf blauen Wasserstoff.

            Doch während vor der Küste Norwegens die größte CO2-Deponie Europas entsteht, ist das CCS-Verfahren in Deutschland umstritten. Umweltschützer warnen vor der Gefahr durch Leckagen, die sich schädlich auf die Umwelt auswirken könnten. til

            Mehr zum Thema

              • Deutschland
              • Energie
              • Energiepolitik
              • Erdgas
              • Norwegen

              Blinken sagt Ukraine weitere Unterstützung zu

              Im Konflikt um die Ukraine stehen sich Russland und der Westen zunehmend unversöhnlich gegenüber, wollen mit einer neuen diplomatischen Offensive aber den Gesprächskanal offenhalten. Russland warnte am Mittwoch vor der Lieferung von Waffen in die ehemalige Sowjet-Republik. Dagegen sagte US-Außenminister Antony Blinken der Ukraine bei einem Besuch in Kiew weitere Unterstützung zu, einschließlich militärischen Geräts. Die USA blieben aber einer diplomatischen Lösung verpflichtet, sagte Blinken, der am Freitag mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow in Genf zusammenkommen wird.

              Der russische Vize-Außenminister Sergej Rjabkow sagte laut Nachrichtenagentur Interfax, die Sicherheitslage in Europa sei “kritisch”. Daher sollte der Westen keine Waffen an die Ukraine liefern. Großbritannien hat nach eigenen Angaben bereits damit begonnen, dem osteuropäischen Land Panzerabwehr-Waffen zur Verfügung zu stellen. Die Bundesregierung schließt einen solchen Weg offiziell nach wie vor aus. Allerdings mehren sich die Stimmen innerhalb der Koalition und vor allem aus der FDP, die eine Überprüfung dieser Position fordern.

              USA will die Ukraine im Russland-Konflikt unterstützen

              Blinken betonte in Kiew die Entschlossenheit der USA, die Ukraine im Konflikt mit Russland zu unterstützen. Angesichts der massiven Truppenpräsenz an der Grenze könne Russland jederzeit eine Invasion starten. Er hoffe, dass sein geplantes Treffen mit Lawrow die diplomatischen Kanäle offenhalte. Russland habe bislang aber trotz aller diplomatischer Bemühungen das Gegenteil einer Deeskalation verfolgt. Ukraines Außenminister Dmytro Kuleba warf Russland vor, sein Land zu destabilisieren. Moskau versuche, Panik in der Ukraine zu schüren und die Wirtschaft sowie das Finanzsystem zu unterwandern

              Am Donnerstag will der Außenminister USA zunächst nach Berlin reisen, um mit Bundeskanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock das weitere Vorgehen im Russland-Ukraine-Konflikt zu besprechen. Auch die Außenminister Frankreichs und Großbritanniens sollen eingebunden werden. Scholz mahnte Russland, für eine Deeskalation zu sorgen. “Die russische Seite weiß um unsere Entschlossenheit“, sagte der Kanzler beim virtuellen Davos-Treffen des Weltwirtschaftsforums. “Ich hoffe, ihr ist auch bewusst, dass der Nutzen von Kooperation deutlich höher ist als der Preis weiterer Konfrontation.” Der Dialog müsse aufrechterhalten werden. rtr

              Mehr zum Thema

                • International

                Chipausrüster ASML darf Top-Produkte nicht nach China liefern

                Der niederländische Chipausrüster ASML hat nach eigenen Angaben noch keine Lizenz zur Lieferung von neusten Versionen bestimmter Geräte zur Halbleiterherstellung nach China erhalten. Unter dem Druck der US-Regierung verweigern die niederländischen Behörden ASML bisher die Exporterlaubnis für Anlagen, deren Anwendungsgebiete auch als militärisch eingestuft werden – darunter auch für Fotolitographie-Systeme.

                Der Konzern, der den Markt für diese Technologie weitgehend beherrscht, darf aber ältere Geräte in die Volksrepublik liefern. ASML-Chef Peter Wennink hält es für unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich, dass die Chinesen die Top-Technologie nachbilden können. “Sie werden es mit Sicherheit versuchen.” rtr

                Mehr zum Thema

                  • China
                  • Chips
                  • Halbleiter
                  • International
                  • Niederlande
                  • Technologie

                  Scholz will auch Entwicklungsländer im Klimaclub haben

                  Bundeskanzler Olaf Scholz hat für eine breite, weltweite Mitgliedschaft in dem von ihm angeregten Klimaclub geworben. “Wir wollen kein exklusiver Club sein”, sagte Olaf Scholz am Mittwoch auf dem virtuellen Weltwirtschaftsforum in Davos. “Indem wir Themen wie Technologietransfer und Klimafinanzierung angehen, hoffen wir, auch Entwicklungs- und Schwellenländer an Bord zu holen.”

                  Deutschland werde die Initiative im Rahmen seiner derzeitigen G7-Präsidentschaft vorantreiben. Den wichtigsten westlichen Industrieländern komme dabei eine besondere Rolle zu. “Wir werden unseren G7-Vorsitz nutzen, um die G7 zum Kern eines internationalen Klimaclubs zu machen”, sagte Scholz in seiner auf Englisch gehaltene Rede.

                  Scholz’ Klimaclub für Paradigmenwechsel in der Klimapolitik

                  Die Bundesregierung wolle einen Paradigmenwechsel in der internationalen Klimapolitik: “Indem wir nicht länger auf die Langsamsten und Unambitioniertesten warten, sondern mit gutem Beispiel vorangehen”, sagte Scholz. Man werde aus dem Kostenfaktor des Kampfes gegen Klimawandel einen Wettbewerbsvorteil machen. Dies gelinge, wenn man sich auf gemeinsame Mindeststandards einige.

                  Die Club-Mitglieder sollen sich verpflichten, das Klimaziel einer maximalen Erderwärmung von 1,5 Grad einzuhalten und bis spätestens 2050 klimaneutral zu werden. Außerdem sollen sie gemeinsam eine CO2-Bepreisung vorantreiben und dafür sorgen, dass Produkte aus Ländern mit niedrigeren Klimaschutzstandards keinen Wettbewerbsvorteil haben. Zudem müsse man sich an die WTO-Regeln halten. rtr

                  Mehr zum Thema

                    • Finanzen
                    • International
                    • Klima & Umwelt
                    • Klimaschutz
                    • Klimaziele

                    Presseschau

                    Faeser will Telegram von Apple und Google verbannen lassen WELT
                    EU-Kommission will Polen wegen ausstehender Strafzahlung Mittel kürzen ZEIT
                    Scholz fordert globalen “Klima-Club” in Rede zum Weltwirtschaftsforum RPONLINE
                    Emmanuel Macron will Umweltschutz in Grundrechtecharta aufnehmen ZEIT
                    Wegen hoher Energiepreise: Wüst fordert schnelle Abschaffung der EEG-Umlage RND
                    EU-Kommissarin Vestager hat Facebooks Metaverse auf dem Kieker HEISE
                    Twitter includes Spain in experiment to detect misleading tweets ELPAIS
                    Parlament fragt nach von der Leyens SMS – EU-Kommission mauert SPIEGEL
                    Neuer Rechtsrahmen für Europol: Speichern, was die Festplatte hält​ HEISE

                    Standpunkt

                    Warum hat fast niemand die Inflation kommen sehen?

                    Von Jason Furman
                    Jason Furman: Die Inflation in den USA

Jason Furman ist Professor für wirtschaftspolitische Praxis und war Vorsitzender des wirtschaftlichen Sachverständigenrates von Barack Obama.
                    Jason Furman ist Professor für wirtschaftspolitische Praxis und war Vorsitzender des wirtschaftlichen Sachverständigenrates von Barack Obama.

                    Als 2008 die globale Finanzkrise Volkswirtschaften überall auf der Welt in Bedrängnis brachte, stellte die britische Königin Elizabeth II. bei einem Besuch der London School of Economics die berühmte Frage: “Warum hat niemand das kommen sehen?” Die hohe Inflation des vergangenen Jahres – insbesondere in den USA, wo der Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahr im Dezember mit 7 Prozent den höchsten Stand seit vier Jahrzehnten erreichte – sollte dieselbe Frage nach sich ziehen.

                    Inflation ist nicht annähernd so schlimm wie eine Finanzkrise, besonders wenn der Preisanstieg mit einer starken Verbesserung der Konjunktur einhergeht. Und während Finanzkrisen per se unvorhersehbar sein mögen, gehören Inflationsprognosen zum Alltag makroökonomischer Modellierung.

                    Warum also haben fast alle die Entwicklung der Inflation in den USA derart falsch eingeschätzt? Eine Umfrage unter 36 Prognostikern des privaten Sektors im Mai ergab für 2021 eine mittlere Inflationserwartung von 2,3 Prozent (gemessen anhand des PCE-Kernpreisindexes, der faktischen Messgröße der US Federal Reserve für die Zielerreichung). Insgesamt sah die Gruppe eine Wahrscheinlichkeit von 0,5 Prozent, dass die Inflation im vergangenen Jahr 4 Prozent übersteigen würde – doch scheinen es gemäß PCE-Kernindex 4,5 Prozent zu sein.

                    Auch der Offenmarktausschuss der Fed lag daneben, der für die Festlegung der Leitzinsen verantwortlich ist: Keines seiner 18 Mitglieder erwartete für 2021 eine Inflation von über 2,5 Prozent in den USA. Die Finanzmärkte scheinen die Entwicklung ebenfalls nicht auf dem Schirm gehabt zu haben: Aus den Anleihekursen lassen sich ähnliche Vorhersagen ableiten. Und dasselbe gilt für den Internationalen Währungsfonds, das Congressional Budget Office, die Regierung von Präsident Joe Biden und selbst viele konservative Ökonomen.

                    Widerspruch in den Einschätzungen

                    Zum Teil resultierte diese kollektive Fehleinschätzung aus Entwicklungen, die die Prognostiker nicht erwarteten oder erwarten konnten. Fed-Chairman Jerome Powell etwa äußerte wie viele andere auch, dass die Delta-Variante des Coronavirus die Öffnung der Volkswirtschaft verzögert und damit die Inflation in die Höhe getrieben habe. Doch hatten Powell und andere zuvor argumentiert, dass der Anstieg der Inflation im Frühjahr 2021 durch eine übermäßig schnelle Öffnung begünstigt worden sei, die auf die impfbedingt niedrigeren Fallzahlen zurückzuführen war. Dass diese Ausreden beide richtig sind, ist unwahrscheinlich. Wie die Pandemie 2020 bewirkte das Aufkommen der Delta-Variante vermutlich, dass die Inflation niedriger ausfiel als das sonst der Fall gewesen wäre.

                    Eine weitere unvorhergesehene Entwicklung, die angeblich die Inflationsprognosen sprengte, waren Verwerfungen in den Lieferketten. Doch während die Pandemie echte Engpässe in einigen Produktionsnetzen verursacht hat, liegt der Ausstoß der meisten viel höher als im Vorjahr. Sowohl in den USA als auch weltweit sind Industrieproduktion und Transportvolumen steil gestiegen.

                    Dies bringt uns zu einer wichtigeren Ursache von Prognosefehlern: dass wir unsere wirtschaftlichen Modelle nicht ernst genug nehmen. Prognosen, die auf der Fortschreibung der jüngsten Vergangenheit beruhen, sind fast immer genauso gut oder besser als solche, die auf komplexen Modellen basieren. Doch gibt es dabei freilich eine Ausnahme: wenn wirtschaftliche Einflüsse vorhanden sind, die weit außerhalb der jüngsten Erfahrungen liegen. Die fiskalpolitischen Maßnahmen zur Unterstützung der US-Wirtschaft 2021 in der außergewöhnlichen Höhe von 2,5 Billionen Dollar etwa – was 11 Prozent vom BIP entspricht – waren viel umfangreicher als alle früheren derartigen Maßnahmen seit dem Zweiten Weltkrieg.

                    Zentrale Einflüsse blieben unberücksichtigt

                    Ein simples fiskalisches Multiplikatormodell hätte vorhergesagt, dass die durchschnittliche Wirtschaftsleistung in den letzten drei Quartalen des Jahres 2021 um 2 bis 5 Prozent über den vor Beginn der Pandemie abgegebenen Schätzungen des wirtschaftlichen Potenzials liegen würde. Um zu glauben, dass Konjunkturimpulse dieser Größenordnung keine Inflation hervorrufen würden, musste man entweder der Ansicht sein, dass eine derart enorme Anpassung innerhalb weniger Monate möglich ist oder dass die Fiskalpolitik wirkungslos ist und die Gesamtnachfrage nicht erhöht. Beide Annahmen sind nicht plausibel.

                    Die Wirtschaftsmodelle boten zugleich beträchtlichen Grund zu der Annahme, dass mehrere Faktoren das Potenzial der US-Wirtschaft 2021 verringern würden. Dazu gehörten vorzeitige Todesfälle, ein Rückgang der Einwanderung, unterbliebene Investitionen in Anlagen, die Kosten der Stärkung der Volkswirtschaft gegen COVID-19, ein pandemiebedingtes Ausscheiden aus dem Erwerbsleben von Teilen der Erwerbsbevölkerung und all die Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn man eine zerrissene Wirtschaft rasch wieder aufbaut. Diese Beschränkungen machten es sehr wahrscheinlich, dass die zusätzliche Nachfrage die Inflation weiter in die Höhe treiben würde.

                    Eine letzte Reihe von Fehlern ergab sich, weil unsere Modelle zentrale Einflüsse oder Interpretationen unberücksichtigt ließen. Soweit Wirtschaftsmodelle herangezogen wurden, verwendeten diese häufig eine Phillips-Kurve, um die Inflation oder auf der Arbeitslosenquote basierende Änderungen der Inflation vorherzusagen. Doch taten sich diese Bezugssysteme schwer, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass aufgrund der COVID-19-Krise die natürliche Arbeitslosenquote (zumindest vorübergehend) gestiegen sein dürfte.

                    Noch wichtiger ist, dass die Arbeitslosigkeit nicht die einzige Möglichkeit darstellt, um eine mangelnde wirtschaftliche Auslastung zu messen. Schätzungen aus der Zeit vor der Pandemie zeigen, dass die Rate der Eigenkündigungen und das Verhältnis von Arbeitslosen zu offenen Stellen einen besseren Vorhersagewert in Bezug auf die Lohn- und Preisinflation haben. Diese anderen Kennzahlen für die wirtschaftliche Auslastung waren Anfang 2021 bereits angespannt und im Frühjahr dann sehr angespannt.

                    Ein nützliches Modell

                    Im Nachhinein besteht das geistige Modell, dass ich bei der Betrachtung des Jahres 2021 am nützlichsten finde, in der Anwendung fiskalischer Multiplikatoren auf das nominale BIP, um vorherzusagen, welcher Teil der fiskalischen Konjunkturhilfen ausgegeben werden wird, und dann zu versuchen, das reale BIP vorherzusagen, indem man ermittelt, wie hoch die Produktivkapazität der Volkswirtschaft ist. Die Differenz zwischen beiden ist dann die Inflation.

                    Die Multiplikatoren legten nahe, dass die Gesamtausgaben 2021 deutlich steigen würden, während die Produktionsbeschränkungen nahelegten, dass die Produktionsleistung nicht gleichermaßen stark zunehmen würde. Die Differenz war die unerwartet höhere Inflation.

                    Was bedeutet das nun für unser Verständnis der Inflationsentwicklung 2022? Statt bei unseren Prognosen schlicht davon auszugehen, dass die Zukunft der Vergangenheit ähneln wird, müssen wir, wenn wir unsere Modelle ernst nehmen, das hohe Nachfrageniveau, fortdauernde Angebotsbeschränkungen und noch angespanntere Arbeitsmärkte mit stark steigenden Nominallöhnen sowie höhere Inflationserwartungen berücksichtigen. Einige Arten von Inflation, insbesondere bei den Preisen für Waren, werden in diesem Jahr vermutlich zurückgehen, aber andere, darunter Preissteigerungen bei den Dienstleistungen, dürften zunehmen.

                    Ich erwarte daher für die USA ein weiteres Jahr mit erheblicher Inflation, die womöglich nicht so hoch sein wird wie 2021, aber eventuell im Bereich von 3 bis 4 Prozent liegt. Die wichtigste Lehre des letzten Jahres, was die Prognostik angeht, ist jedoch Demut. Wir alle sollten die Fehlermargen unserer Prognosen deutlich höher anzusetzen und bereit sein, unsere Erwartungen an die sich entfaltende wirtschaftliche Lage anzupassen.

                    In Kooperation mit Project Syndicate, 2022. Aus dem Englischen von Jan Doolan.

                    Mehr zum Thema

                      • Coronavirus
                      • Finanzen
                      • Inflation
                      • Leitzinsen

                      Europe.Table Redaktion

                      EUROPE.TABLE REDAKTION

                      Licenses:
                        • Macrons Rede: Momentum für EU-Reform
                        • Piotr Buras (ECFR) über Russland: “Scholz war in dieser Krise unsichtbar”
                        • Termine
                        • Konflikt mit Brüssel: Schweizer Bundespräsident sucht Unterstützung in Berlin
                        • EU-Kommission erwägt, Quarantäne-Zeiten zu verkürzen
                        • DSA-Schlussdebatte: Neuer Goldstandard gesucht
                        • Gas aus Norwegen: Premier Støre dämpft Erwartungen
                        • Blinken sagt Ukraine weitere Unterstützung zu
                        • Chipausrüster ASML darf Top-Produkte nicht nach China liefern
                        • Scholz will auch Entwicklungsländer im Klimaclub haben
                        • Standpunkt: Warum hat fast niemand die Inflation kommen sehen?
                        Liebe Leserin, lieber Leser,

                        Emmanuel Macrons berühmte Sorbonne-Rede ist fünf Jahre her, nun nutzte Frankreichs Präsident die EU-Bühne, um seine europapolitischen Ambitionen zu bekräftigen. Zu Beginn der französischen EU-Ratspräsidentschaft sprach er sich im Europaparlament in Straßburg für ein souveränes Europa und eine “gemeinsame Sicherheitsordnung” aus. In diesen Tagen sei durchaus ein Momentum für eine ehrgeizige EU-Reform zu erkennen, schreibt Eric Bonse in seiner Analyse. Das könnte auf lange Sicht sogar für die Reform des Stabilitätspakts gelten – auch wenn Macron dieses Thema erst mal ausklammerte. 

                        Die Gefahr eines russischen Angriffs auf die Ukraine sei so groß wie nie, sagt Piotr Buras im Interview mit Till Hoppe. Der Leiter des Warschauer Büros des European Council on Foreign Relations übt vor diesem Hintergrund scharfe Kritik an der deutschen Regierung, besonders an Olaf Scholz. “Anders als Angela Merkel hat er es an politischer Führung vermissen lassen”, so Buras. Der Kanzler müsse sich durchsetzen – auch in seiner eigenen Partei, in der es bei manchen eine “falsche Wahrnehmung der Brandt’schen Ostpolitik” gebe. 

                        Seit dem Abbruch von Verhandlungen über eine neue Grundlage für die bilateralen Beziehungen kriselt es zwischen Bern und Brüssel. Der Schweizer Zugang zum EU-Binnenmarkt ist auf EU-Seite inzwischen als Rosinenpickerei verpönt, in einigen Bereichen drohen für Hersteller und Handel zusätzliche Kosten und Bürokratie. Wie Stephan Israel berichtet, ist der heutige Besuch des Schweizer Bundespräsidenten und Außenministers Ignazio Cassis in Berlin daher mit der Hoffnung auf Unterstützung aus Deutschland verbunden. Rückenwind von der deutschen Industrie gibt es schon jetzt. 

                        Ihre
                        Sarah Schaefer
                        Bild von Sarah  Schaefer

                        Analyse

                        Macrons Rede: Momentum für EU-Reform

                        In einer programmatischen Rede plädierte Emmanuel Macron für ein selbstbewusstes und souveränes Europa. Die EU müsse eine “gemeinsame Sicherheitsordnung auf unserem Kontinent aufbauen”, ein neues Bündnis mit Afrika schließen und lange aufgeschobene Reformen angehen, etwa beim Schengen-Raum oder bei der Energiepolitik, sagte Frankreichs Präsident am Mittwoch im Europaparlament in Straßburg. Ausdrücklich bekannte sich Macron zur umstrittenen Taxonomie (Europe.Table berichtete), wonach Atomkraft und Gas als nachhaltige Energien gelten sollen.

                        Der Staatschef, der bei der Präsidentschaftswahl im April antreten und mit seiner EU-Bilanz punkten will, bekräftigte auch seine Forderung nach einem “europäischen Digitalmodell”. Kurz vor der Abstimmung über den Digital Services Act (DSA) am Donnerstag sprach sich Macron für fairen Wettbewerb aus. Facebook und Co müssten in die Schranken gewiesen werden. 

                        Ist nun also der Moment der “europäischen Renaissance” und der EU-Reform gekommen, den Macron seit Jahren herbeisehnt? Kann der französische EU-Vorsitz die nötigen Impulse geben? Die Antwort fällt – je nach parteipolitischer Brille – unterschiedlich aus. So zeigten sich Christdemokraten und Grüne nach Macrons Rede enttäuscht.

                        “Macron hat heute viele wolkige Überschriften und wenig Konkretes präsentiert”, kritisiert der wirtschaftspolitische Sprecher der EVP-Fraktion im EU-Parlament, Markus Ferber (CSU) die Rede. Wenn es doch einmal konkreter wurde, so liefen die Vorschläge “auf staatlichen Interventionismus und mehr Bürokratie hinaus”, beklagt Ferber. 

                        “Fehlstart” in die Ratspräsidentschaft

                        Noch negativer äußerte sich Rasmus Andresen, Sprecher der deutschen Grünen. Die französische Ratspräsidentschaft habe mit einem “Fehlstart” begonnen – der Taxonomie. Nun drohe ein zäher Streit über die europäische Energiepolitik. Auch beim Initiativrecht für das Parlament sei Macron konkrete Zusagen schuldig geblieben. 

                        Demgegenüber begrüßen die Sozialdemokraten Macrons Einsatz für ein “soziales Europa”. Es wäre “ein Fortschritt”, die Lohndifferenz zwischen Männern und Frauen zu überwinden, mehr Frauen in Aufsichtsräte zu bringen und bessere Arbeit sowie einen besseren Mindestlohn durchzusetzen, sagte Jens Geier, Chef der SPD-Gruppe.

                        Setzt man einmal die Parteibrille ab, so lässt sich durchaus ein Momentum für eine ambitionierte EU-Reform erkennen. Denn nicht nur Frankreich, sondern auch Deutschland verfolgt eine proeuropäische Agenda. Die Ampel-Regierung in Berlin hat sich sogar umstrittene  Reformen wie die Abschaffung des Vetorechts in der Außenpolitik auf ihre Fahnen geschrieben.

                        Berlin und Paris ziehen auch an einem Strang, wenn es um die aktuelle Krise zwischen Russland und der Ukraine geht. So fordert die Bundesregierung genau wie Macron, das Normandie-Format wiederzubeleben und die beiden Konfliktpartner an einen Tisch zu holen. Außenministerin Annalena Baerbock hat dies sogar in Moskau bekräftigt.

                        Macron klammert EU-Stabilitätspakt in Rede aus

                        Auch die nun von Macron anvisierte neue europäische Sicherheitsordnung dürfte in Berlin auf offene Ohren  stoßen. Über Details wird zwar noch zu reden sein. Doch die enge Abstimmung zwischen Bundeskanzleramt und Élysée-Palast, die sich schon beim ersten EU-Gipfel von Kanzler Olaf Scholz im Dezember gezeigt hat, stimmt optimistisch.

                        Weniger gut sind die Aussichten für eine Reform des Stabilitätspakts – zumindest kurzfristig. Finanzminister Christian Lindner hat sich bei seinem ersten Ecofin-Rat in Brüssel zwar als “freundlicher Falke” präsentiert, der sich um Kompromisse bemühen werde. Ein Ende der “obsoleten” Schuldenregeln, wie sie Frankreich fordert, hat er aber ausgeschlossen. 

                        Macron hat das Thema denn auch bei seiner Straßburger Rede ausgeklammert. Unter französischem Vorsitz dürfte der Streit nicht gelöst werden. Mittelfristig stehen die Chancen aber nicht schlecht, da mittlerweile auch “echte” fiskalpolitische Falken wie die Niederlande auf Reformkurs eingeschwenkt sind. Lindner ist in der Defensive.

                        Wie lange der FDP-Chef seine Blockade durchhalten kann, wird am Ende nicht von Macron, sondern von Scholz und von dem grünen Koalitionspartner abhängen. Denn bei den Fiskalregeln geht es nicht nur um Schulden, sondern auch um Investitionen – vor allem für eine aktive Klimapolitik. Und dafür gibt es ein starkes Momentum, in ganz Europa.

                        Mehr zum Thema

                          • Digitalpolitik
                          • Emmanuel Macron
                          • Energiepolitik
                          • Europapolitik
                          • Klimaschutz

                          Piotr Buras: “Olaf Scholz war in dieser Krise unsichtbar”

                          Russland-Konfilkt:
                          Piotr Buras ist Leiter des Warschauer Büros des Thinktanks ECFR.

                          Herr Buras, die USA und Europa drohen Russland mit massiven Konsequenzen, sollte es in die Ukraine einmarschieren. Halten Sie dieses Abschreckungsszenario für glaubwürdig?

                          Nein, jedenfalls nicht von europäischer Seite. Die Europäer haben ihre Hausaufgaben nicht gemacht, und das liegt teilweise auch an Deutschland. Die Gefahr eines russischen Angriffs auf die Ukraine und damit die Zerstörung der Sicherheitsordnung in Europa ist so groß wie noch nie. Aber die EU hat noch nicht einmal ein Sanktionspaket fertig, mit dem sie Moskau abschrecken könnte. Dabei sind ökonomische Strafmaßnahmen das einzige Druckmittel, das wir haben.

                          Welche Verantwortung dafür trägt Deutschland? Weiß die russische Seite wirklich “um unsere Entschlossenheit”, wie Bundeskanzler Olaf Scholz gestern sagte?

                          Es war überfällig, dass sich Scholz eindeutiger äußert. Dazu zähle ich auch, dass er beim Besuch des Nato-Generalsekretärs am Dienstag betont hat, alle Optionen lägen noch auf dem Tisch – also auch der Ausschluss Russlands aus SWIFT und ein Stopp von Nord Stream 2. Die Bundesregierung hatte bislang keine klare Position, was desaströs war. Von der SPD hörte man etwas anderes als von Grünen und FDP.

                          Russland-Konflikt: Scholz hat an politischer Führung vermissen lassen

                          Welche Verantwortung an dem Schlingerkurs trägt der neue Bundeskanzler?

                          Olaf Scholz war in dieser Krise bislang unsichtbar. Anders als Angela Merkel hat er es an politischer Führung vermissen lassen. Aus Sicht der mittel- und osteuropäischen Länder ist diese Krise sehr ernst, der deutsche Bundeskanzler aber reiste zu Wochenbeginn lieber nach Madrid. Inzwischen scheinen Scholz und Außenministerin Baerbock aber an einem Strang zu ziehen.

                          Ist Scholz’ Partei, die SPD, das Problem?  

                          In der SPD tragen einflussreiche Persönlichkeiten wie Kevin Kühnert eine harte Linie nicht mit. Dahinter steht eine falsche Wahrnehmung der Brandt’schen Ostpolitik, die nicht nur auf Dialog baute, sondern ebenso auf Abschreckung. Nun muss sich zeigen, ob Scholz ein starker Bundeskanzler ist, der sich auch in seiner Partei durchsetzen kann. Es bleiben jedenfalls Zweifel, ob die SPD mitzieht, wenn es im Konflikt mit Russland hart auf hart kommen sollte.

                          Deutschland hat mit Nord Stream 2 besondere Verantwortung

                          Ist Berlin der große Schwachpunkt in Europas Antwort auf Moskau, oder nur einer von vielen?

                          Ich würde Berlin nicht die ganze Schuld für das Desaster europäischer Politik in dieser Krise zusprechen. Aber die Bundesregierung muss anerkennen, dass Deutschland eine besondere Verantwortung hat, wegen seines wirtschaftlichen Gewichts und wegen Nord Stream 2. Bislang wurde es dieser Verantwortung nicht gerecht, aber es gibt Lichtblicke. Dazu zählt die sehr klare Kommunikation Baerbocks bei ihren Besuchen in Kiew und Moskau.

                          Wie stark ist das Druckmittel Nord Stream 2 überhaupt?

                          Manche argumentieren, wir hätten überhaupt keinen Einfluss auf Putin. Aber dann könnten wir unsere Außenpolitik und die europäische Souveränität schlichtweg vergessen. Dann bliebe uns nur zu hoffen, dass die Amerikaner das Problem für uns regeln. Ich bin der Meinung, dass wir mit Wirtschaftssanktionen und Nord Stream 2 durchaus Instrumente haben. Diese sollte man nicht einfach vom Tisch nehmen.

                          Fehlt es hier am strategischen Denken in Berlin?

                          Der Bluff gehört zur Diplomatie dazu. Man weiß nicht, ob es wahr ist, wenn gesagt wird, dass Nord Stream 2 im Falle eines Angriffs gestoppt wird. Andere Dinge sind wahr, sollten aber derzeit nicht öffentlich ausgesprochen werden. Dazu gehört, dass die Ukraine kein Mitglied der Nato wird. In Deutschland handhaben es manche der Verantwortliche genau umgekehrt, gerade in der SPD. Sie warnen vor einer Nato-Mitgliedschaft Kiews und wollen Nord Stream 2 keinesfalls antasten.

                          Deutschland steigt aus Atomkraft und Kohle aus und setzt zur Kompensation in den nächsten Jahren noch stärker auf Erdgas. Damit wächst auch die Abhängigkeit von Russland.

                          Es ist ein deutscher Sonderweg, der im derzeitigen geopolitischen Kontext unglücklich ist. Die verstärkte Abhängigkeit von russischem Gas muss Berlin aber nicht zwingend erpressbar machen – wenn der politische Wille vorhanden ist, entsprechenden Versuchen entgegenzutreten.

                          Berlin und Paris wollen das Normandie-Format wiederbeleben, um den Konflikt mit Moskau zu entschärfen. Kann das in der jetzigen Lage gelingen?

                          Das bezweifele ich. Wenn überhaupt, können die Vierer-Gespräche gewisse Fortschritte erzielen, wenn vorher eine gewisse Entspannung erreicht wurde.

                          Mehr zum Thema

                            • Deutschland
                            • Energie
                            • Energiepolitik
                            • International
                            • Olaf Scholz

                            Termine

                            24.01.2022 – 18:30-19:30 Uhr, online
                            DBV, Podiumsdiskussion Die Ampelkoalition steht – was bedeutet dies für Wald und Klimaschutz?
                            Die Referenten des Deutschen Bauernverbandes (DBV) diskutieren, was Wälder und Bewirtschaftende von den neuen Zielsetzungen der Bundesregierung zu erwarten haben. INFOS

                            25.01.2022 – 08:30-10:00 Uhr, online
                            DGAP, Vortrag Außenpolitischer Ausblick 2022
                            Bei dieser Veranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) werden aktuelle außenpolitische Themen wie die neue deutsche China-Strategie oder der Russland-Ukraine-Konflikt diskutiert. INFOS & ANMELDUNG

                            25.01.2022 – 09:00-12:40 Uhr, online
                            VKU, Seminar Smart City-Projekte zum Erfolg führen
                            Die Referent:innen des Verbands kommunaler Unternehmen (VKU) zeigen aktuelle Entwicklungen und Innovationen im Bereich Smart City auf sowie Beispiele aus der Praxis bei der Umsetzung von Smart-City-Projekten. INFOS & ANMELDUNG

                            25.01.2022 – 15:00-17:00 Uhr, online
                            ZTM, Konferenz Wie verändert sich die Versorgung in der Notfallmedizin?
                            Bei diesem Symposium des Zentrums für Telemedizin (ZTM) werden neue Möglichkeiten in der Notfallmedizin durch den Einsatz von Robotik, Drohnen und Augmented Reality diskutiert. INFOS & ANMELDUNG

                            25.01.2022 – 18:15-20:00 Uhr, online
                            Eco, Podiumsdiskussion Jahresauftakt Net-Talk mit Bundesdigitalminister Volker Wissing
                            Bundesdigitalminister Volker Wissing und die Vorsitzende des Digitalausschusses Tabea Rößner werden aktuelle digitalpolitische Themen mit dem Vorstandsvorsitzenden des Verbandes der Internetwirtschaft (Eco) Oliver Süme diskutieren. INFOS & ANMELDUNG

                            25.01.2022 – 19:30 Uhr, online
                            SZ, Diskussion Energiewende: Schaffen wir das?
                            Bei dieser Veranstaltung der Süddeutschen Zeitung (SZ) werden Herausforderungen durch die steigenden Energiepreise und Chancen durch den Ausbau erneuerbarer Energien im Zuge einer Energiewende diskutiert. INFOS & ANMELDUNG

                            Konflikt mit Brüssel: Schweizer Bundespräsident sucht Unterstützung in Berlin

                            Die Regierung nennt sich in der Schweiz Bundesrat, und dort wechseln sich die sieben Mitglieder jedes Jahr in der Rolle des Staatsoberhaupts ab. Wenn Außenminister Ignazio Cassis heute in Berlin zu Besuch ist, kommt er in Personalunion auch als Bundespräsident. So kann der Tessiner neben Außenministerin Annalena Baerbock auch Bundeskanzler Olaf Scholz und vor allem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier treffen.

                            Der Wechsel in Berlin bietet zuerst einmal die Chance für einen Neuanfang. Der Konflikt zwischen der Schweiz und der EU über eine neue Rechtsgrundlage für die komplexe bilaterale Beziehung hat zuletzt bis nach Berlin ausgestrahlt. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen soll sich bei der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel bitter über den Affront beklagt haben, nachdem die Schweizer Regierung nach acht Jahren die Verhandlungen über ein sogenanntes Rahmenabkommen einseitig für beendet erklärte.

                            EU: Schweiz muss handeln um Rahmenabkommen-Konflikt zu lösen

                            Für Ignazio Cassis ist es auch sonst mehr als ein Höflichkeitsbesuch. Der Außenminister hat seit seinem Amtsantritt als Bundespräsident am 1. Januar schon Wien besucht und erhofft sich nun auch in Berlin Unterstützung im Konflikt mit Brüssel. In der EU sieht man allerdings seit dem einseitigen Verhandlungsabbruch den Ball im Feld der Schweiz und erwartet Antworten, wie die Regierung in Bern die Konfliktpunkte aus dem gescheiterten Rahmenabkommen lösen will.

                            Die Schweiz genießt dank 120 bilateralen Abkommen einen sektoriellen Zugang zum EU-Binnenmarkt. Ein Modell, das die EU den Briten explizit nicht angeboten hat. Auch für die Schweiz war der maßgeschneiderte Zugang ursprünglich nur als Übergangslösung gedacht. Dies in der Erwartung, dass die Schweiz eines Tages doch noch der EU oder zumindest dem EWR beitreten würde.

                            Der Schweizer Zugang ist inzwischen in Brüssel als Rosinenpickerei verpönt. Zudem ist die Verwaltung der vorwiegend statischen Abkommen immer komplizierter geworden. EU-Kommission und Mitgliedstaaten fordern deshalb seit Jahren, dass die Schweiz neues EU-Recht künftig “dynamisch” übernimmt und in letzter Instanz den Europäischen Gerichtshof als Streitschlichter akzeptiert.

                            BDI fordert Rückkehr zu Gesprächen

                            Etwas Argumentationshilfe hat Ignazio Cassis vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) bekommen, der rechtzeitig zum Besuch ein Positionspapier veröffentlicht hat. Es sei notwendig, nach dem Scheitern des Rahmenabkommens zügig konstruktive Gespräche wieder aufzunehmen, fordert BDI-Hauptgeschäftsführer Joachim Lang. Angesichts geopolitischer Spannungen sei ein langwieriger Konflikt mit der Schweiz “überflüssig”. Die Zusammenarbeit müsse sich an den drei Prioritäten strategische Souveränität Europas, Green Deal und europäische Wettbewerbsfähigkeit orientieren.

                            Wegen der Blockade um das Rahmenabkommen droht jetzt allerdings zuerst einmal die langsame Erosion des Status quo. So hat sich die EU zuletzt geweigert, das Abkommen über technische Handelshemmnisse (MRA) für den Bereich der Medizinalprodukte aufzudatieren. Gefährdet ist auch ein wichtiges Update für den Bereich der Maschinenindustrie, das 2023 ansteht. “Es kommt bereits zu erheblichen wirtschaftlichen Störungen im Handel zwischen der EU und der Schweiz, insbesondere von Medizinalprodukten und in absehbarer Zeit im Maschinenbau”, mahnt BDI-Hauptgeschäftsführer Joachim Lang.

                            Streitpunkt Horizon Europe

                            Konkret drohen für Hersteller und Handel zusätzliche Kosten und Bürokratie. Firmen müssen zusätzlich Bevollmächtige ernennen und Produkte zum Teil doppelt zertifizieren lassen. Ohne Rahmenabkommen ist auch ein Abschluss eines Stromabkommens nicht möglich, das den Anschluss der Schweiz mit ihren Speicherkraftwerken an den Energiebinnenmarkt der EU sicherstellen soll. Derzeit kann die Schweiz beim sogenannten Market Coupling nicht mitmachen, und auch die Teilnahme am Terre-Markt für Regelenergie ist in der Schwebe.

                            Der BDI kritisiert in seinem Positionspapier weiter, dass Brüssel die Schweiz anders als bisher beim EU-Forschungsprogramm Horizon Europe wie ein gewöhnliches Drittland behandelt und eine volle Assoziierung verweigert. Die Beteiligung der Schweiz an Horizon Europe sei wichtig für deutsche Unternehmen und ein florierendes europäisches Innovations-Ökosystem. Eine volle Assoziierung der Schweiz müsse das Ziel sein.

                            Das BDI-Positionspapier ist Rückenwind für Ignazio Cassis in Berlin, allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt: Eine stabile Partnerschaft mit der Schweiz erfordere “ein angemessenes Verhältnis von Rechten und Pflichten”, mahnt auch Hauptgeschäftsführer Joachim Lang. Faire Wettbewerbsbedingungen gehörten weiter auf die Tagesordnung. Zwingend erforderlich sei auch die einheitliche Auslegung des Binnenmarktrechts durch den EuGH. Genau im Konflikt um Regeln für Staatsbeihilfen oder den verbindlichen Streitbeilegungsmechanismus sind die Gespräche zwischen Bern und Brüssel zuletzt gescheitert. Stephan Israel

                            Mehr zum Thema

                              • Bundesregierung
                              • Deutschland
                              • Europapolitik
                              • International
                              • Schweiz

                              News

                              EU-Kommission erwägt, Quarantäne-Zeiten zu verkürzen

                              Vor dem Hintergrund massiv steigender Infektionszahlen mit der Omikron-Variante bereitet sich die EU-Kommission auf einen Strategiewechsel im Kampf gegen die Corona-Pandemie vor. Die hohe Zahl der Betroffenen mache möglicherweise einen “pragmatischeren Ansatz” im Umgang mit den Infizierten nötig, sagte EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides im Gespräch mit Europe.Table und anderen europäischen Medien.

                              Corona-Quarantäne-Zeiten kürzen: Die Optionen der EU

                              So könnten die Corona-Quarantäne-Zeiten verkürzt werden. Außerdem prüfe die Kommission gemeinsam mit der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA eine Anpassung der Impfstoffe an Omikron. “Alle Optionen liegen auf dem Tisch, wir sind bereit zu handeln”, so Kyriakides. Am Freitag treffen sich die EU-Gesundheitsminister und die Kommission zu einer virtuellen Sondersitzung, um über die nächsten Schritte zu beraten.

                              Zurückhaltend äußerte sich Kyriakides zu einem möglichen Ende der Pandemie und den Übergang in eine endemische Lage. “Es hat schon viele Wendungen gegeben”, sagte sie, “ich werde daher keine Vorhersagen machen”. Klar sei, dass die EU weiter auf Impfungen und Booster setze. “Die Impfung hat nicht versagt”, betonte die Kommissarin. Derzeit seien 70 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in der EU vollständig geimpft und 40 Prozent geboostert. Dies sei aber noch nicht genug, um hinreichenden Schutz vor dem Coronavirus zu gewähren. Die Impfkampagne müsse daher weitergehenebo

                              Mehr zum Thema

                                • Coronavirus
                                • Gesundheit
                                • Gesundheitspolitik

                                DSA-Schlussdebatte: Neuer Goldstandard gesucht

                                Die Schlussdebatte zum Standpunkt des Europäischen Parlaments zum Digital Services Act (DSA) war von gewichtigen Worten zur Rolle des europäischen Regelwerks geprägt. Ein Regelwerk, mit dem – je nach Perspektive – den Internetriesen, Betrügern und Radikalen im Netz oder gleich dem Wilden Westen Einhalt geboten werden soll. Die EP-Berichterstatterin Christel Schaldemose (S&D) sprach von einem “Goldstandard digitaler Regulierung”, der so wie die Datenschutzgrundverordnung international als Vorbild dienen und nachgeahmt werden solle. 

                                Besonderen Wert legte die dänische Sozialdemokratin darauf, dass es künftig für Nutzer und Verbraucher einfacher werden solle, Dienstleister im Netz zu kontaktieren – ob bei illegalen Produkten oder bei der Verpflichtung von Anbietern, womöglich illegale Inhalte zu prüfen.

                                Kommissionsvizepräsidentin Margarethe Vestager betonte, der DSA sei “ein Weg für die Demokratie, ihre Macht zu zeigen”. Das Signal sei: “Es gibt keinen Bereich, in dem die Demokratie nicht regiert.” Es sei eine “historische Debatte, die hoffentlich beenden wird, was man nicht zu Unrecht einen Wilden Westen im Netz genannt hat”, sagte EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton.

                                Auch bei der Digital Services Act-Schlussdebatte Streit um Uploadfilter

                                Erst am Morgen hatte Breton ein witzig gemeintes Video mit einer Western-Szene per Twitter verbreitet, mit dem er auf die Digital Services Act-Schlussdebatte hinwies. Der SPD-Abgeordnete Tiemo Wölken erinnerte den Kommissar im Plenum, dass es Kommission und Rat waren, die beim Urheberrecht auf automatisierte Filter für Inhalte gedrungen hatten: “Das hätte er nicht machen können, wenn dieses Haus für Parodie keine Ausnahme eingebracht hätte.”

                                Wölken warf der EVP vor, Uploadfilter für Inhalte einführen zu wollen. Gemeint ist damit die Verpflichtung, gleichartige Inhalte nach einer Sperrung automatisiert zu unterbinden (Änderungsantrag 515, eingereicht unter anderem von vielen CDU/CSU-MdEP).

                                Dass man eben nicht die Plattformen für die Inhalte haftbar machen wolle, um Overblocking und Uploadfilter zu vermeiden, betonte Moritz Körner (FDP/Renew). Die Änderungsanträge aus Reihen der EVP wies er mit dem Hinweis darauf zurück, dass diese “von Kollegen stammen, die offenbar das Internet immer noch nicht verstanden haben.” Weder sei eine Klarnamenpflicht noch eine Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung im Kompromiss enthalten, was Körner als Erfolg wertet.

                                Kim van Sparrentak (GroenLinks, Grüne/EFA) zeigte sich schon mit dem Schaldemose-Bericht unzufrieden: “Dieser Deal, der in IMCO geschlossen wurde, wurde wärmstens von Big Tech begrüßt“, kritisierte sie und forderte, dass polarisierende Algorithmen per Voreinstellung ausgeschaltet sein sollten.

                                EVP-Abgeordnete versuchen Dark-Pattern-Verbot zu verhindern

                                Auch, ob sogenannte Dark Patterns verboten werden sollten, beschäftigte die Parlamentarier angesichts von Änderungsanträgen erneut. “Das ist unverantwortlich, das eine der ganz großen Errungenschaften”, kritisierte Evelyne Gebhardt (SPD/S&D), “Verarsche” nannte den Antrag ihr sozialdemokratischer Kollege Tiemo Wölken, was die Parlamentsdolmetscher etwas weniger hart in andere EU-Sprachen überbrachten.

                                “Anstatt endlich das skrupellose Geschäft mit unseren persönlichsten Daten zu beenden, bleibt das Gesetz über digitale Dienste leider an dieser Stelle nach dem ersten Schritt stehen”, kritisierte Martin Schirdewan (Linke). Das Verbot personalisierter Werbung für Minderjährige begrüße er, aber es bräuchte ein Komplettverbot der Verwertung sensibler Daten wie politischer Einstellung oder zur Sexualität.

                                Alexandra Geese (Grüne/EFA) sagte, das Europaparlament hätte überwachungsbasierte Werbeformen per DSA verbieten sollen. Geeses Fraktion hatte mit entsprechenden Anträgen jedoch keine Mehrheit dafür gewinnen können (Europe.Table berichtete). Der DSA sei nur ein erster, aber wichtiger Schritt.

                                Kulturausschuss fühlt sich ignoriert

                                Deutlich mehr inhaltliche Argumente führte hingegen Sabine Verheyen (CDU/EVP) für ihre Kritik am Bericht an: Dieser sei zwar eine Chance auf einen echten Meilenstein. Aber: “Der DSA, wie er jetzt ist, wird schwerwiegende Folgen für Bereiche des Kultur-, Sport und Medienbereichs haben”, so Verheyen. Sie warb für eine mehrfach vom Kulturausschuss vorgeschlagene Ausnahme für Medien (Europe.Table berichtete).

                                Kritik, in der sie sich mit anderen Mitgliedern des Kultur-Ausschusses einig war: Petra Kammerevert (SPD/S&D) klagte: “Keine einzige unserer Forderungen wurde übernommen.” Journalismus und Medien würden geschädigt, wenn Internetfirmen über die Zulässigkeit ihrer Inhalte entscheiden dürften. Die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für Kultur und Medien sei vollständig übergangen worden.

                                Noch während die letzten Wortbeiträge in der Aussprache zum Schaldemose-Bericht liefen, konnten die Abgeordneten bereits über die Änderungsanträge abstimmen. Das Ergebnis dieser Abstimmungen soll Donnerstagvormittag vorliegen.

                                Die Digital Services Act-Schlussdebatte im Straßburger Plenum war auch die letzte Debatte der ebenfalls an den Verhandlungen beteiligten Sozialdemokratin Evelyne Gebhardt, die nach 28 Jahren aus dem EP ausscheidet (Europe.Table berichtete).

                                Mehr zum Thema

                                  • Digital Services Act
                                  • Digitalisierung
                                  • Digitalpolitik
                                  • Europapolitik
                                  • Margrethe Vestager

                                  Gas aus Norwegen: Premier Støre dämpft Erwartungen

                                  Die Situation auf den Energiemärkten bleibt weiter angespannt, die Preise für Erdgas klettern von einem Hoch zum nächsten, während sich die Füllstände der Gasspeicher in Europa auf einem historischen Tiefstand befinden. Verschärft wird die Lage durch den anhaltenden Ukraine-Konflikt und die eisige Stimmung zwischen Moskau und dem Westen.

                                  Mehr als die Hälfte seines Erdgasbedarfs bezieht Deutschland aus Russland und die Sorge wächst, Moskau könnte im Ernstfall die Lieferungen des staatlich kontrollierten Energiekonzerns Gazprom aussetzen. Das wirft die Frage nach Alternativen auf.

                                  Gas aus Norwegen könne Ausfall aus Russland nicht kompensieren

                                  Etwa ein Drittel des Gases in Deutschland stammt aus Norwegen. Doch der norwegische Premierminister Jonas Gahr Støre dämpfte bei einem Besuch in Berlin die Erwartungen. Keinesfalls könnten die Energieunternehmen seines Landes einen Ausfall aus Russland kompensieren, sagte der Sozialdemokrat am Mittwoch bei einer Veranstaltung des Industrie- und Handelskammertags. Vielmehr seien diese bereits an ihrer Kapazitätsgrenze.

                                  Am Abend sprach Støre auch mit Bundeskanzler Olaf Scholz über die Fortsetzung der Gaslieferungen nach Deutschland. Norwegen bleibe ein verlässlicher Partner, kündigte der Premierminister an. Doch man wolle die Partnerschaft “einen Schritt nach vorn” bringen. Das Szenario für künftige Gaslieferungen sei nicht mehr “business as usual”. Auch Norwegen befinde sich mitten in der grünen Transformation und setze beim Gas deshalb auf die Abspaltung von CO2 und die Speicherung unter dem Meeresboden (Carbon Capture and Storage, CCS) und damit auf blauen Wasserstoff.

                                  Doch während vor der Küste Norwegens die größte CO2-Deponie Europas entsteht, ist das CCS-Verfahren in Deutschland umstritten. Umweltschützer warnen vor der Gefahr durch Leckagen, die sich schädlich auf die Umwelt auswirken könnten. til

                                  Mehr zum Thema

                                    • Deutschland
                                    • Energie
                                    • Energiepolitik
                                    • Erdgas
                                    • Norwegen

                                    Blinken sagt Ukraine weitere Unterstützung zu

                                    Im Konflikt um die Ukraine stehen sich Russland und der Westen zunehmend unversöhnlich gegenüber, wollen mit einer neuen diplomatischen Offensive aber den Gesprächskanal offenhalten. Russland warnte am Mittwoch vor der Lieferung von Waffen in die ehemalige Sowjet-Republik. Dagegen sagte US-Außenminister Antony Blinken der Ukraine bei einem Besuch in Kiew weitere Unterstützung zu, einschließlich militärischen Geräts. Die USA blieben aber einer diplomatischen Lösung verpflichtet, sagte Blinken, der am Freitag mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow in Genf zusammenkommen wird.

                                    Der russische Vize-Außenminister Sergej Rjabkow sagte laut Nachrichtenagentur Interfax, die Sicherheitslage in Europa sei “kritisch”. Daher sollte der Westen keine Waffen an die Ukraine liefern. Großbritannien hat nach eigenen Angaben bereits damit begonnen, dem osteuropäischen Land Panzerabwehr-Waffen zur Verfügung zu stellen. Die Bundesregierung schließt einen solchen Weg offiziell nach wie vor aus. Allerdings mehren sich die Stimmen innerhalb der Koalition und vor allem aus der FDP, die eine Überprüfung dieser Position fordern.

                                    USA will die Ukraine im Russland-Konflikt unterstützen

                                    Blinken betonte in Kiew die Entschlossenheit der USA, die Ukraine im Konflikt mit Russland zu unterstützen. Angesichts der massiven Truppenpräsenz an der Grenze könne Russland jederzeit eine Invasion starten. Er hoffe, dass sein geplantes Treffen mit Lawrow die diplomatischen Kanäle offenhalte. Russland habe bislang aber trotz aller diplomatischer Bemühungen das Gegenteil einer Deeskalation verfolgt. Ukraines Außenminister Dmytro Kuleba warf Russland vor, sein Land zu destabilisieren. Moskau versuche, Panik in der Ukraine zu schüren und die Wirtschaft sowie das Finanzsystem zu unterwandern

                                    Am Donnerstag will der Außenminister USA zunächst nach Berlin reisen, um mit Bundeskanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock das weitere Vorgehen im Russland-Ukraine-Konflikt zu besprechen. Auch die Außenminister Frankreichs und Großbritanniens sollen eingebunden werden. Scholz mahnte Russland, für eine Deeskalation zu sorgen. “Die russische Seite weiß um unsere Entschlossenheit“, sagte der Kanzler beim virtuellen Davos-Treffen des Weltwirtschaftsforums. “Ich hoffe, ihr ist auch bewusst, dass der Nutzen von Kooperation deutlich höher ist als der Preis weiterer Konfrontation.” Der Dialog müsse aufrechterhalten werden. rtr

                                    Mehr zum Thema

                                      • International

                                      Chipausrüster ASML darf Top-Produkte nicht nach China liefern

                                      Der niederländische Chipausrüster ASML hat nach eigenen Angaben noch keine Lizenz zur Lieferung von neusten Versionen bestimmter Geräte zur Halbleiterherstellung nach China erhalten. Unter dem Druck der US-Regierung verweigern die niederländischen Behörden ASML bisher die Exporterlaubnis für Anlagen, deren Anwendungsgebiete auch als militärisch eingestuft werden – darunter auch für Fotolitographie-Systeme.

                                      Der Konzern, der den Markt für diese Technologie weitgehend beherrscht, darf aber ältere Geräte in die Volksrepublik liefern. ASML-Chef Peter Wennink hält es für unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich, dass die Chinesen die Top-Technologie nachbilden können. “Sie werden es mit Sicherheit versuchen.” rtr

                                      Mehr zum Thema

                                        • China
                                        • Chips
                                        • Halbleiter
                                        • International
                                        • Niederlande
                                        • Technologie

                                        Scholz will auch Entwicklungsländer im Klimaclub haben

                                        Bundeskanzler Olaf Scholz hat für eine breite, weltweite Mitgliedschaft in dem von ihm angeregten Klimaclub geworben. “Wir wollen kein exklusiver Club sein”, sagte Olaf Scholz am Mittwoch auf dem virtuellen Weltwirtschaftsforum in Davos. “Indem wir Themen wie Technologietransfer und Klimafinanzierung angehen, hoffen wir, auch Entwicklungs- und Schwellenländer an Bord zu holen.”

                                        Deutschland werde die Initiative im Rahmen seiner derzeitigen G7-Präsidentschaft vorantreiben. Den wichtigsten westlichen Industrieländern komme dabei eine besondere Rolle zu. “Wir werden unseren G7-Vorsitz nutzen, um die G7 zum Kern eines internationalen Klimaclubs zu machen”, sagte Scholz in seiner auf Englisch gehaltene Rede.

                                        Scholz’ Klimaclub für Paradigmenwechsel in der Klimapolitik

                                        Die Bundesregierung wolle einen Paradigmenwechsel in der internationalen Klimapolitik: “Indem wir nicht länger auf die Langsamsten und Unambitioniertesten warten, sondern mit gutem Beispiel vorangehen”, sagte Scholz. Man werde aus dem Kostenfaktor des Kampfes gegen Klimawandel einen Wettbewerbsvorteil machen. Dies gelinge, wenn man sich auf gemeinsame Mindeststandards einige.

                                        Die Club-Mitglieder sollen sich verpflichten, das Klimaziel einer maximalen Erderwärmung von 1,5 Grad einzuhalten und bis spätestens 2050 klimaneutral zu werden. Außerdem sollen sie gemeinsam eine CO2-Bepreisung vorantreiben und dafür sorgen, dass Produkte aus Ländern mit niedrigeren Klimaschutzstandards keinen Wettbewerbsvorteil haben. Zudem müsse man sich an die WTO-Regeln halten. rtr

                                        Mehr zum Thema

                                          • Finanzen
                                          • International
                                          • Klima & Umwelt
                                          • Klimaschutz
                                          • Klimaziele

                                          Presseschau

                                          Faeser will Telegram von Apple und Google verbannen lassen WELT
                                          EU-Kommission will Polen wegen ausstehender Strafzahlung Mittel kürzen ZEIT
                                          Scholz fordert globalen “Klima-Club” in Rede zum Weltwirtschaftsforum RPONLINE
                                          Emmanuel Macron will Umweltschutz in Grundrechtecharta aufnehmen ZEIT
                                          Wegen hoher Energiepreise: Wüst fordert schnelle Abschaffung der EEG-Umlage RND
                                          EU-Kommissarin Vestager hat Facebooks Metaverse auf dem Kieker HEISE
                                          Twitter includes Spain in experiment to detect misleading tweets ELPAIS
                                          Parlament fragt nach von der Leyens SMS – EU-Kommission mauert SPIEGEL
                                          Neuer Rechtsrahmen für Europol: Speichern, was die Festplatte hält​ HEISE

                                          Standpunkt

                                          Warum hat fast niemand die Inflation kommen sehen?

                                          Von Jason Furman
                                          Jason Furman: Die Inflation in den USA

Jason Furman ist Professor für wirtschaftspolitische Praxis und war Vorsitzender des wirtschaftlichen Sachverständigenrates von Barack Obama.
                                          Jason Furman ist Professor für wirtschaftspolitische Praxis und war Vorsitzender des wirtschaftlichen Sachverständigenrates von Barack Obama.

                                          Als 2008 die globale Finanzkrise Volkswirtschaften überall auf der Welt in Bedrängnis brachte, stellte die britische Königin Elizabeth II. bei einem Besuch der London School of Economics die berühmte Frage: “Warum hat niemand das kommen sehen?” Die hohe Inflation des vergangenen Jahres – insbesondere in den USA, wo der Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahr im Dezember mit 7 Prozent den höchsten Stand seit vier Jahrzehnten erreichte – sollte dieselbe Frage nach sich ziehen.

                                          Inflation ist nicht annähernd so schlimm wie eine Finanzkrise, besonders wenn der Preisanstieg mit einer starken Verbesserung der Konjunktur einhergeht. Und während Finanzkrisen per se unvorhersehbar sein mögen, gehören Inflationsprognosen zum Alltag makroökonomischer Modellierung.

                                          Warum also haben fast alle die Entwicklung der Inflation in den USA derart falsch eingeschätzt? Eine Umfrage unter 36 Prognostikern des privaten Sektors im Mai ergab für 2021 eine mittlere Inflationserwartung von 2,3 Prozent (gemessen anhand des PCE-Kernpreisindexes, der faktischen Messgröße der US Federal Reserve für die Zielerreichung). Insgesamt sah die Gruppe eine Wahrscheinlichkeit von 0,5 Prozent, dass die Inflation im vergangenen Jahr 4 Prozent übersteigen würde – doch scheinen es gemäß PCE-Kernindex 4,5 Prozent zu sein.

                                          Auch der Offenmarktausschuss der Fed lag daneben, der für die Festlegung der Leitzinsen verantwortlich ist: Keines seiner 18 Mitglieder erwartete für 2021 eine Inflation von über 2,5 Prozent in den USA. Die Finanzmärkte scheinen die Entwicklung ebenfalls nicht auf dem Schirm gehabt zu haben: Aus den Anleihekursen lassen sich ähnliche Vorhersagen ableiten. Und dasselbe gilt für den Internationalen Währungsfonds, das Congressional Budget Office, die Regierung von Präsident Joe Biden und selbst viele konservative Ökonomen.

                                          Widerspruch in den Einschätzungen

                                          Zum Teil resultierte diese kollektive Fehleinschätzung aus Entwicklungen, die die Prognostiker nicht erwarteten oder erwarten konnten. Fed-Chairman Jerome Powell etwa äußerte wie viele andere auch, dass die Delta-Variante des Coronavirus die Öffnung der Volkswirtschaft verzögert und damit die Inflation in die Höhe getrieben habe. Doch hatten Powell und andere zuvor argumentiert, dass der Anstieg der Inflation im Frühjahr 2021 durch eine übermäßig schnelle Öffnung begünstigt worden sei, die auf die impfbedingt niedrigeren Fallzahlen zurückzuführen war. Dass diese Ausreden beide richtig sind, ist unwahrscheinlich. Wie die Pandemie 2020 bewirkte das Aufkommen der Delta-Variante vermutlich, dass die Inflation niedriger ausfiel als das sonst der Fall gewesen wäre.

                                          Eine weitere unvorhergesehene Entwicklung, die angeblich die Inflationsprognosen sprengte, waren Verwerfungen in den Lieferketten. Doch während die Pandemie echte Engpässe in einigen Produktionsnetzen verursacht hat, liegt der Ausstoß der meisten viel höher als im Vorjahr. Sowohl in den USA als auch weltweit sind Industrieproduktion und Transportvolumen steil gestiegen.

                                          Dies bringt uns zu einer wichtigeren Ursache von Prognosefehlern: dass wir unsere wirtschaftlichen Modelle nicht ernst genug nehmen. Prognosen, die auf der Fortschreibung der jüngsten Vergangenheit beruhen, sind fast immer genauso gut oder besser als solche, die auf komplexen Modellen basieren. Doch gibt es dabei freilich eine Ausnahme: wenn wirtschaftliche Einflüsse vorhanden sind, die weit außerhalb der jüngsten Erfahrungen liegen. Die fiskalpolitischen Maßnahmen zur Unterstützung der US-Wirtschaft 2021 in der außergewöhnlichen Höhe von 2,5 Billionen Dollar etwa – was 11 Prozent vom BIP entspricht – waren viel umfangreicher als alle früheren derartigen Maßnahmen seit dem Zweiten Weltkrieg.

                                          Zentrale Einflüsse blieben unberücksichtigt

                                          Ein simples fiskalisches Multiplikatormodell hätte vorhergesagt, dass die durchschnittliche Wirtschaftsleistung in den letzten drei Quartalen des Jahres 2021 um 2 bis 5 Prozent über den vor Beginn der Pandemie abgegebenen Schätzungen des wirtschaftlichen Potenzials liegen würde. Um zu glauben, dass Konjunkturimpulse dieser Größenordnung keine Inflation hervorrufen würden, musste man entweder der Ansicht sein, dass eine derart enorme Anpassung innerhalb weniger Monate möglich ist oder dass die Fiskalpolitik wirkungslos ist und die Gesamtnachfrage nicht erhöht. Beide Annahmen sind nicht plausibel.

                                          Die Wirtschaftsmodelle boten zugleich beträchtlichen Grund zu der Annahme, dass mehrere Faktoren das Potenzial der US-Wirtschaft 2021 verringern würden. Dazu gehörten vorzeitige Todesfälle, ein Rückgang der Einwanderung, unterbliebene Investitionen in Anlagen, die Kosten der Stärkung der Volkswirtschaft gegen COVID-19, ein pandemiebedingtes Ausscheiden aus dem Erwerbsleben von Teilen der Erwerbsbevölkerung und all die Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn man eine zerrissene Wirtschaft rasch wieder aufbaut. Diese Beschränkungen machten es sehr wahrscheinlich, dass die zusätzliche Nachfrage die Inflation weiter in die Höhe treiben würde.

                                          Eine letzte Reihe von Fehlern ergab sich, weil unsere Modelle zentrale Einflüsse oder Interpretationen unberücksichtigt ließen. Soweit Wirtschaftsmodelle herangezogen wurden, verwendeten diese häufig eine Phillips-Kurve, um die Inflation oder auf der Arbeitslosenquote basierende Änderungen der Inflation vorherzusagen. Doch taten sich diese Bezugssysteme schwer, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass aufgrund der COVID-19-Krise die natürliche Arbeitslosenquote (zumindest vorübergehend) gestiegen sein dürfte.

                                          Noch wichtiger ist, dass die Arbeitslosigkeit nicht die einzige Möglichkeit darstellt, um eine mangelnde wirtschaftliche Auslastung zu messen. Schätzungen aus der Zeit vor der Pandemie zeigen, dass die Rate der Eigenkündigungen und das Verhältnis von Arbeitslosen zu offenen Stellen einen besseren Vorhersagewert in Bezug auf die Lohn- und Preisinflation haben. Diese anderen Kennzahlen für die wirtschaftliche Auslastung waren Anfang 2021 bereits angespannt und im Frühjahr dann sehr angespannt.

                                          Ein nützliches Modell

                                          Im Nachhinein besteht das geistige Modell, dass ich bei der Betrachtung des Jahres 2021 am nützlichsten finde, in der Anwendung fiskalischer Multiplikatoren auf das nominale BIP, um vorherzusagen, welcher Teil der fiskalischen Konjunkturhilfen ausgegeben werden wird, und dann zu versuchen, das reale BIP vorherzusagen, indem man ermittelt, wie hoch die Produktivkapazität der Volkswirtschaft ist. Die Differenz zwischen beiden ist dann die Inflation.

                                          Die Multiplikatoren legten nahe, dass die Gesamtausgaben 2021 deutlich steigen würden, während die Produktionsbeschränkungen nahelegten, dass die Produktionsleistung nicht gleichermaßen stark zunehmen würde. Die Differenz war die unerwartet höhere Inflation.

                                          Was bedeutet das nun für unser Verständnis der Inflationsentwicklung 2022? Statt bei unseren Prognosen schlicht davon auszugehen, dass die Zukunft der Vergangenheit ähneln wird, müssen wir, wenn wir unsere Modelle ernst nehmen, das hohe Nachfrageniveau, fortdauernde Angebotsbeschränkungen und noch angespanntere Arbeitsmärkte mit stark steigenden Nominallöhnen sowie höhere Inflationserwartungen berücksichtigen. Einige Arten von Inflation, insbesondere bei den Preisen für Waren, werden in diesem Jahr vermutlich zurückgehen, aber andere, darunter Preissteigerungen bei den Dienstleistungen, dürften zunehmen.

                                          Ich erwarte daher für die USA ein weiteres Jahr mit erheblicher Inflation, die womöglich nicht so hoch sein wird wie 2021, aber eventuell im Bereich von 3 bis 4 Prozent liegt. Die wichtigste Lehre des letzten Jahres, was die Prognostik angeht, ist jedoch Demut. Wir alle sollten die Fehlermargen unserer Prognosen deutlich höher anzusetzen und bereit sein, unsere Erwartungen an die sich entfaltende wirtschaftliche Lage anzupassen.

                                          In Kooperation mit Project Syndicate, 2022. Aus dem Englischen von Jan Doolan.

                                          Mehr zum Thema

                                            • Coronavirus
                                            • Finanzen
                                            • Inflation
                                            • Leitzinsen

                                            Europe.Table Redaktion

                                            EUROPE.TABLE REDAKTION

                                            Licenses:

                                              Jetzt kostenlos anmelden und sofort weiterlesen

                                              Keine Bankdaten. Keine automatische Verlängerung.

                                              Sie haben bereits das Table.Briefing Abonnement?

                                              Anmelden und weiterlesen