die Wirtschaft braucht Chips, dann mehr Chips, und bald noch mehr Chips. Industriekommissar Thierry Breton hat vergangene Woche seine Pläne vorgestellt, wie Europa vom abgeschnittenen Abnehmer zum Leading-Edge-Produzenten werden soll. Warum große Teile der deutschen Industrie dennoch nicht begeistert sind, und warum die Rolle des US-Chipherstellers Intel dabei besonders kritisch gesehen wird, hat Till Hoppe für Sie herausgefunden.
Europa hat jede Menge Krisenmanager, wenn es um den Russland-Ukraine-Konflikt geht. Warum Ursula von der Leyen nun eine wesentliche Rolle spielt und wie selbst in Krisenzeiten der Wettbewerb um Wichtigkeit tobt, analysiert Eric Bonse.
Die Revision der Erneuerbare-Energien-Richtlinie (RED III) beschäftigt das Parlament – Berichterstatter Markus Pieper (EVP) hat nun seinen Berichtsentwurf vorgestellt. Timo Landenberger erläutert Ihnen, wo der Parlamentarier nachsteuern will und warum.
Der zweite Trilog zum Digital Services Act brachte wenig unmittelbare Fortschritte, aber eine Klärung der Verhältnisse: Einige haben es deutlich eiliger denn andere. Für die Parlamentarier eine gute Ausgangsposition, wie ich ihnen berichten darf.
Noch lässt sich Krebs nicht besiegen, aber dass mehr getan werden kann, um Krebserkrankungen zu verhindern, darin sind sich die Europaparlamentarier einig. Wie das konkret gelingen soll, schlüsselt Eugenie Ankowitsch Ihnen auf.
Die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag fordert die Bundesregierung auf, eine Gasreserve für den Krisenfall aufbauen zu lassen. Lukas Scheid hat den Antrag gesehen und sagt Ihnen, was die Union von der Ampelregierung nun fordert.
Pat Gelsinger sparte nicht an großen Worten: “Der EU Chips Act ist eine historische Chance, verlorenen Boden gutzumachen”, lobte der Intel-Chef. Das Vorhaben, vergangene Woche von der Europäischen Kommission präsentiert, erleichtere die Pläne des US-Chipkonzerns, seine Präsenz in Europa erheblich auszubauen. Intel sucht derzeit Standorte für zwei neue Mega-Chipfabriken.
Die deutsche Industrie reagiert weniger euphorisch auf den Kommissionsvorschlag. Autoindustrie, Maschinenbau und Elektronikindustrie warnen, nicht die Bedürfnisse der heimischen Industrien auszublenden. Die Verbände befürchten, dass die Kommission die geplante Förderung stark auf sogenannte Leading-Edge-Halbleiter ausrichten wird. Auf Chips also, die die Grenzen des technisch Machbaren in puncto Rechenleistung und Energieverbrauch immer weiter verschieben.
Derzeit liegt diese Grenze in der Massenproduktion bei 5 Nanometer (nm) großen Strukturen auf den Chips, geforscht wird bereits an weniger als 2 nm. Für eben diesen Bereich der “technologischen Exzellenz” eröffne der Chips Act “sehr klare Chancen”, sagte EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton bei der Vorstellung. So sollen etwa das Design und das Testen solcher Chips in Pilotanlagen gefördert werden.
Die Kommission lege einen starken Fokus auf Forschung, Design und Produktion sehr kleiner Strukturgrößen, sagt Sven Baumann, Halbleiterexperte des Verbandes der Elektro- und Digitalindustrie (ZVEI). “Es ist aber wichtig, dass diese Förderung auch für größere Strukturgrößen und Testen neuer Chips zur Verfügung steht.”
Ähnlich argumentiert die Automobilindustrie: Auch in den nächsten zehn bis 15 Jahren werde die Branche einen wachsenden Bedarf an Halbleitern mit Strukturgrößen von mehr als 16 nm haben, sagt VDA-Geschäftsführer Joachim Damasky. “Die Kommission sollte den Mitgliedstaaten den Freiraum geben, auch diese Technologien zu fördern“, fordert er. Der EU Chips Act sei hier leider noch nicht eindeutig genug.
Dahinter steht ein Verteilungskampf um üppige, aber begrenzte Fördergelder, die Kommission und Mitgliedstaaten in den kommenden Jahren an die als strategisch wichtig eingeschätzte Brache ausreichen wollen. Europäische Hersteller sind im Leading-Edge-Bereich nicht mehr präsent. Der Markt wird von drei Unternehmen dominiert: TSMC aus Taiwan, Samsung aus Südkorea – und eben Intel.
Der US-Konzern will massiv in neue Fabriken mit der neuesten Technologie investieren. Gelsinger hatte daher intensiv vor und hinter den Kulissen dafür geworben, die kleinen Strukturgrößen in den Fokus des Chips Act zu rücken – und dafür massive Staatshilfen zu mobilisieren. Intel habe hier “sehr gute Lobbyarbeit geleistet”, heißt es bei der Konkurrenz.
Dabei ist völlig unklar, wie groß der Bedarf der europäischen Industrie nach solchen Mikroprozessoren überhaupt ist. Bislang werden diese vor allem in Smartphones oder Laptops verbaut, die in Europa gar nicht gefertigt werden. Hiesige Großkunden wie die Autoindustrie (mit Ausnahme von Tesla), Pharma oder Maschinenbau verbauen vor allem Mikrocontroller, Sensoren oder Leistungshalbleiter mit deutlich größeren Strukturen. Hier liegen auch die aktuellen Lieferengpässe, die der Industrie zu schaffen machen.
Unstrittig ist: Der Bedarf heimischen Abnehmer dürfte deutlich wachsen, je vernetzter Fahrzeuge und Maschinen werden. Wie sehr Künstliche Intelligenz und Edge Computing die Chipnachfrage hierzulande aber tatsächlich verändern, darüber gibt es kaum belastbare Prognosen.
Für viele Vorhaben in diesen Zukunftsfeldern seien “auf reine Leistung optimierte High-End-Chips nicht notwendig”, argumentiert etwa die Deutsche Akademie für Technikwissenschaften (Acatech). Entscheidender seien oftmals niedrige Kosten, ein niedriger Energieverbrauch und eine lange Lebensdauer.
Ganz anders argumentiert die Unternehmensberatung Kearney in einer Studie aus dem vergangenen Herbst. Die Autoren wagen sogar eine konkrete Vorhersage für den europäischen Markt: Die Nachfrage nach Leading-Edge-Chips in Europa werde bis 2030 “in die Höhe schießen”, heißt es in der Studie, der Anteil an der Gesamtnachfrage von 19 auf 43 Prozent steigen. Ganz am Ende des Papiers findet sich der dezente Hinweis, wer die Studie in Auftrag gegeben hat: Intel.
Andere Experten halten derartige Wachstumsraten in diesem Bereich für unrealistisch. Die Denkfabrik Bruegel etwa argumentiert, für eine Mega-Fab mit diesen Strukturgrößen fehle in Europa die Nachfrage. Die Kommission aber übernimmt die Angaben aus der Kearney-Studie – ohne die eigentlich fällige Einordnung – in eigene Präsentationen.
Eine eigene Folgenabschätzung zum Chips Act ist die Behörde ebenso schuldig geblieben wie eine öffentliche Konsultation – “wegen des dringenden Handlungsbedarfs”, wie es im EU-Gesetzentwurf heißt. Eine Befragung der Stakeholder soll nun im Nachhinein Informationen sammeln, wie groß die aktuelle und künftige Chipnachfrage ist, und die gesammelten Daten in einem Staff Working Document im Laufe des Jahres veröffentlicht werden.
Jan-Peter Kleinhans, Chipexperte der Stiftung Neue Verantwortung, bemängelt die fehlende Informationsgrundlage. “Mit Blick auf die Fokussierung des Chips Act auf Fertigung modernster Chips wäre es wichtig, die zukünftige Nachfrage nach diesen im Verhältnis zu älteren Technologien für Europa einordnen zu können”, sagt er. “Bisher scheint die Datenlage in diesem Bereich sehr dünn.”
In Kommissionskreisen wird versucht, die Sorgen in der Industrie zu dämpfen. Man sei sich darüber bewusst, dass die Halbleiterindustrie auch in anderen Bereichen wie Sensoren oder Leistungshalbleitern einen steigenden Bedarf habe und wolle auch diese in den geplanten Programmen fördern, sagt ein EU-Beamter. Das beihilferechtliche Konzept der “First-of-a-kind facility” (Europe.Table berichtete) erlaube den Mitgliedstaaten auch staatliche Hilfen für technische Fortschritte in reiferen Technologien und Strukturgrößen.
In der Kommission wird zudem auf weitere Studien verwiesen, die ebenfalls einen stark wachsenden Bedarf nach Leading-Edge-Halbleitern vorhersagten. Explizit genannt wird etwa eine Studie der Bundesagentur für Sprunginnovationen (SPRIND) vom vergangenen September. In der öffentlich zugänglichen Kurzfassung spricht sich die Agentur für den Bau einer Auftragsfabrik (Foundry) für 3nm-Halbleiter aus, um bei der Entwicklung von Technologien für das autonome Fahren oder der künstlichen Intelligenz nicht auf asiatische Hersteller angewiesen zu sein. Die Autoren warnen aber zugleich, “es sei schwierig vorherzusagen, wie groß der Bedarf der europäischen Industrie nach solchen High-end-Produktionstechnologien sei”.
In der Branche verursachte diese Empfehlung erheblichen Ärger. Es könne nicht sein, dass eine Bundesagentur für einen US-Konzern lobbyiere, heißt es in Industriekreisen. Andere berichten von einem “innigen Verhältnis” von SPRIND und Intel. Auf Anfrage sagte ein SPRIND-Sprecher, man habe für die Studie “mit zahlreichen Marktteilnehmern gesprochen, unter anderem auch mit Intel”. Weitere Angaben zu den Teilnehmern oder zur Langfassung der Studie wollte der Sprecher unter Verweis auf Vertraulichkeitsvereinbarungen nicht machen. Ein Intel-Sprecher wollte sich nicht dazu äußern.
Auch in die Bundesregierung hat Intel beste Kontakte. Der neue Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) versucht derzeit, ebenso wie sein CDU-Vorgänger Peter Altmaier, den Konzern für eine Milliardeninvestition in Deutschland zu gewinnen. Gelsinger hat klargemacht, worauf es ihm dabei ankommt: “Wenn man im Wettbewerb mit asiatischen Konkurrenten steht, die vom Staat massiv bezuschusst werden, muss man das hier auch machen – oder man spielt nicht mehr mit”.
Die passenden Zahlen liefert hier erneut die Kearney-Studie: Demnach machen die fehlenden staatlichen Anreize rund 80 Prozent des Kostennachteils aus, den eine Leading-Edge-Fabrik in Europa gegenüber Ländern wie Südkorea oder Taiwan habe. Als Quelle für ihr Berechnungsmodell führen die Autoren allerdings einen Anbieter namens “Fab Economics” an, über den nur eine wenig seriös wirkende Website ohne Ansprechpartner im Internet zu finden ist. Auf eine Nachfrage reagierten die Kearney-Autoren bis Reaktionsschluss nicht.
Deutschland und Frankreich beanspruchen eine Führungsrolle. Nach dem französischen Staatschef Emmanuel Macron hat am Dienstag auch Bundeskanzler Olaf Scholz seinen Anspruch mit einem Besuch in Moskau unterstrichen. Scholz betonte nach dem Gespräch mit Kremlchef Wladimir Putin seine Bereitschaft zum Dialog. Zugleich bekräftigte der SPD-Politiker, dass eine weitere Aggression gegen die Ukraine schwerwiegende Folgen für Russland hätte.
Allerdings bleibt unklar, ob Macron und Scholz bei ihrer Pendeldiplomatie zwischen Paris, Berlin, Kiew und Moskau substanzielle Fortschritte erzielen konnten, die auch die anderen Staats- und Regierungschefs überzeugen. Noch fehle es an “deliverables”, die die Einberufung eines EU-Sondergipfels rechtfertigten, hieß es am Dienstag in Brüsseler Ratskreisen. Ratspräsident Charles Michel stehe mit allen 27 EU-Staaten in Kontakt.
Während Michel noch konsultierte, preschte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor. Sie telefonierte mit dem japanischen Premier Kishida Fumio und vereinbarte eine enge Abstimmung in der Russland-Ukraine-Krise.
Auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell meldete sich zu Wort. Es sei “ziemlich klar”, dass die umstrittene Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 nicht in Betrieb gehen könne, wenn es zum Krieg kommt, sagte er der BBC. Einen EU-Beschluss gibt es allerdings noch nicht. Nord Stream 2 ist Teil eines Sanktionspakets, das von der Leyen vorbereitet. Das letzte Wort haben die Staats- und Regierungschefs, die grünes Licht geben müssen.
Von der Leyen hat in diesem Procedere einen großen Vorteil: Sie genießt das Vertrauen von Macron und Scholz – schließlich waren es Berlin und Paris, die sie in ihr Amt gehievt haben. Und sie führt die Gespräche mit den USA. Gleich zweimal nahm die CDU-Politikerin in den letzten Wochen an Beratungen mit US-Präsident Joe Biden teil. Ihr Kabinettschef Björn Seibert hat sich parallel mit Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan abgestimmt.
Von der Leyen hat sich zudem eine zentrale Rolle bei den Vorbereitungen auf den Kriegsfall gesichert. Von der Gasversorgung bis hin zu einer möglichen Flüchtlingswelle aus der Ukraine reicht ihr neues Aufgabengebiet. Die eigentlich zuständigen EU-Kommissare spielen, jedenfalls in der Außendarstellung der Kommissionspräsidentin, nur noch eine Nebenrolle. In den Pressemitteilungen kommen sie unter “ferner liefen” vor.
Auch der Außenbeauftragte Josep Borrell wurde an den Rand gedrängt. Der Spanier hat sich bis heute nicht von seinem verunglückten Treffen mit dem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow im Februar 2021 in Moskau erholt. Damals war Borrell regelrecht gedemütigt worden, während seines laufenden Besuchs wies Russland europäische Diplomaten aus. Seither zeigt er keinerlei Interesse, erneut nach Moskau zu reisen und die Wogen zu glätten. Deshalb kann von der Leyen nun, wenn es um Russland geht, den Ton angeben.
Das macht die Transatlantikerin mit Eifer, mitunter Übereifer. Zeitweise scheint es, als sei sie wieder in die alte vertraute Rolle der Verteidigungsministerin geschlüpft – diesmal nicht für Deutschland, sondern für ganz Europa. Diese Rolle ist ihr so wichtig, dass sie dafür sogar das Europaparlament brüskiert. So sagte von der Leyen einen Termin am Mittwoch in Straßburg ab, bei dem es um die Rechtsstaatlichkeit gehen sollte. Die Russland-Ukraine-Krise sei wichtiger, so ihr Sprecher, sie müsse eiligst zurück nach Brüssel.
Dort erwartet sie allerdings nicht nur das Krisenmanagement, sondern auch ein machtbewusster Rivale: Ratspräsident Charles Michel wartet nur auf eine Gelegenheit, sich einzuschalten und von der Leyen in den Hintergrund zu drängen.
Seit dem sogenannten “Sofagate” bei einem gemeinsamen Besuch in Istanbul im April 2021 ist zwischen den beiden EU-Chefs ein Kleinkrieg um die Außenpolitik entbrannt. Michel durfte damals neben Präsident Recep Tayyip Erdoğan sitzen, von der Leyen wurde aufs Sofa verbannt. Sie sei als Frau diskriminiert worden, klagte von der Leyen, und setzte seither alles daran, sich gegen Michel durchzusetzen. In der Russland-Ukraine-Krise ist ihr dies bisher gelungen. Der Belgier musste sich zurückhalten – und Macron und Scholz den Vortritt gewähren.
Doch nach dem vorläufigen Ende der deutsch-französischen Reisediplomatie dürfte bald wieder der Europäische Rat ins Spiel kommen – mit Michel als Vorsitzendem. Schon beim EU-Afrika-Gipfel am Donnerstag und Freitag will Michel glänzen und von der Leyen in die Ränge verweisen. Geholfen ist damit freilich niemandem. Spätestens bei der nächsten Krisenrunde mit US-Präsident Biden müssen Michel und von der Leyen wieder an einem Strang ziehen. Sonst schwächen sie die EU, die seit dem Beginn der Russland-Ukraine-Krise ohnehin am Katzentisch sitzt.
Nachdem die Europäische Kommission im Rahmen ihres Fit-for-55-Pakets einen Vorschlag zur Revision der Erneuerbare-Energien-Richtlinie (RED III) vorgelegt hatte, präsentierte nun der Berichterstatter des Parlaments, Markus Pieper (EVP), seinen Entwurf. Der energiepolitische Sprecher der CDU/CSU-Gruppe plädiert dafür, den Ausbau der Erneuerbaren technologieneutral zu gestalten und Übergangslösungen zulassen. Die von der Kommission vorgeschlagenen Instrumente kritisiert er als “halbherzig und wenig kreativ”.
Dabei unterstützt Pieper den Plan der Kommission, das Zwischenziel bis 2030 von bislang 32 auf 40 Prozent Anteil erneuerbarer Energien am Gesamtverbrauch zu erhöhen. Dies sei zwar sehr ambitioniert, aber erreichbar und werde zu einer stärkeren Unabhängigkeit von fossilen Brennstoffen führen, was sich wiederum positiv auf die Energiepreise auswirken werde, sagte Pieper am Mittwoch vor Journalisten. Der Abgeordnete begrüßt auch die Einführung spezifischer Sektorziele für Verkehr, Gebäude und Industrie, die einen wichtigen Orientierungsrahmen für die Dekarbonisierung der einzelnen Bereiche darstellen könnten.
Das verbindliche Ziel von 50 Prozent grünem Wasserstoff in der Industrie sei jedoch bis 2030 kaum zu erreichen, da sich die Kommission dabei selbst im Weg stehe. So seien etwa die geplanten Auflagen für die Wasserstoffproduktion zu streng (Europe.Table berichtete). Für die Übergangszeit müsse deshalb auch der Einsatz sogenannter low-carbon fuels (insbesondere blauer Wasserstoff) berücksichtigt werden. Auch das Zwischenziel von 49 Prozent Erneuerbarer im Gebäudesektor sei sehr anspruchsvoll. Pieper schlägt vor, neben der Elektrifizierung auch die stärkere Nutzung grüner Fernwärme sowie die Einbindung erneuerbarer Gase (Beimischung von Wasserstoff) ins bestehende Gasnetz in den Fokus zu nehmen (Europe.Table berichtete).
Hingegen sei das Ziel im Verkehrssektor zu gering und solle von 13 auf 20 Prozent heraufgesetzt werden. Dies könne durch höhere Quoten für synthetische Kraftstoffe erreicht werden. “Das wären echte Signale für Technologieoffenheit, die auch nur schwer zu elektrifizierenden Wirtschafts- und Verkehrsbereiche Optionen eröffnen”, so Pieper.
Daneben kritisierte der Abgeordnete auch den von der Kommission vorgesehenen Weg zum Ausbau der Erneuerbaren in Teilen scharf. “Die vorgeschlagenen Instrumente sind halbherzig. Will man Synergien des Binnenmarktes nutzen, bedarf es mehr grenzüberschreitender Infrastrukturprojekte für grünen Strom und Wasserstoff.” Pieper schlägt deshalb eine Verdopplung von einem auf zwei Projekte je Mitgliedsland vor. Zudem sollen dem Entwurf zufolge alle Mitgliedsstaaten, die einen jährlichen Stromverbrauch von über 100 TWh haben (darunter Deutschland, Spanien und Frankreich) bis 2025 ein drittes Projekt beschließen.
Auch die Vorschläge zur Beschleunigung der Genehmigungsverfahren seien zu vage. Bei Konflikten mit dem Artenschutz müsse künftig der Populationsansatz, nicht aber der Schutz jedes einzelnen Individuums im Vordergrund stehen. Der Entwurf sieht außerdem vor, Innovationsquoten beim Ausbau der erneuerbaren Energien in die Richtlinie mit aufzunehmen. Damit will Pieper die Förderung vielversprechender Technologien, wie etwa schwimmende Windturbinen, vorantreiben.
Die Einführung eines neuen und digitalen Systems für Herkunftsnachweise soll überdies die Bürokratie verringern und mehr kleinen und mittelständischen Unternehmen Zugang zum Markt der Erneuerbaren eröffnen. Dennoch rechnet der Berichterstatter mit einer deutlich begrenzten Verfügbarkeit eigener Ressourcen in der EU und schlägt deshalb die Aufnahme einer Importstrategie für Grünstrom und grünen Wasserstoff vor. In diesem Rahmen sollen die Mitgliedsstaaten verpflichtet werden, Maßnahmen zur Umsetzung dieser Strategie in ihren nationalen Energieplänen festzuschreiben.
Am 3. März will Pieper seinen Bericht im Industrieausschuss vorstellen. Dann haben die Abgeordneten knapp zwei Wochen Zeit, ihre Änderungsanträge einzureichen. Mitte Juli soll der Ausschuss und im September das Plenum des EU-Parlaments über die gemeinsame Position abstimmen. til
Bei der zweiten Trilog-Verhandlungsrunde zum Digital Services Act (DSA) wurde deutlich, dass der Druck, zu einer Einigung zu kommen, vor allem aufseiten des Rates der EU liegt. Die französische Ratspräsidentschaft will möglichst rechtzeitig zu den Präsidentschaftswahlen in Frankreich Mitte April die beiden großen Digitaldossiers DMA und DSA ausverhandelt haben. Von Parlamentsseite sei die Devise Gründlichkeit vor Schnelligkeit ausgegeben worden, heißt es aus Verhandlungskreisen.
Schnelle Einigungen waren für diesen zweiten Trilog nicht erwartet worden und wurden denn auch nicht erzielt. Denn mit der Risikofolgenabschätzung, der Durchsetzung des Digital Services Act und der vom EU-Parlament gewünschten Ausnahme für kleinere und mittlere Unternehmen sowie der Frage von Marktplatzregulierungen standen gleich mehrere höchst umstrittene Regelungsvorschläge zur Debatte.
So will der Rat etwa besonders große Onlineplattformen und Suchmaschinen durch die Kommission beaufsichtigen lassen – was diese unter Umständen jedoch personell überfordern könnte. Auf Initiative Frankreichs hatte der Rat die stärkere Zentralisierung bei der EU-Kommission gefordert. Das Parlament will die Aufsicht hingegen stärker in nationalstaatlicher Verantwortung sehen. Hintergrund der ungewöhnlichen Kompetenzabgabeforderung der Mitgliedstaaten sind die Erfahrungen mit der Durchsetzung der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), bei der einzelne Staaten im Verdacht stehen, das Regulierungsniveau absichtlich zu unterlaufen.
Der dritte Trilog zum DSA steht nun erst Mitte März auf dem politischen Terminkalender. Bis dahin soll die sogenannte technische Ebene, also die Mitarbeiter von Rat, Parlament und Kommission, mögliche Kompromisse ausloten und Einigungsvorschläge erarbeiten. Der Zeitplan hierfür ist eng getaktet, allein in dieser Woche stehen noch mehrere Runden für die Arbeitsebene an, bei denen mögliche Einigungen inhaltlich vorbereitet werden sollen.
Die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung hat zudem gestern ein Gutachten der Münchner Rechtswissenschaftlerin Henrike Weiden zum DSA veröffentlicht, das den Kommissionsvorschlag analysiert und grundsätzlich positiv bewertet. Die frühere Bundesjustizministerin und stellvertretende Vorsitzende der Naumann-Stiftung, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, sieht im Digital Services Act denn auch einen Meilenstein: Mit ihm habe die EU die Chance, weltweit Standards zu setzen. “Plattformbetreiber wie Telegram, die den Rechtsstaat ignorieren, geraten mit dem DSA auch wirtschaftlich unter Druck”, so Leutheusser-Schnarrenberger.
Allerdings finden sich im Gutachten auch Bedenken und einige Kritik am DSA, insbesondere an Regelungen zum Umgang mit strittigen Inhalten. So kritisiert die Autorin, dass die Rechtsdurchsetzung durch die Plattformbetreiber zwar verständlich sei, aber auch “eine weitere Privatisierung bei der Bewertung von Inhalten” mit sich bringen würde. Zudem sei der Begriff der illegalen Inhalte vom jeweiligen nationalstaatlichen Recht abhängig und “deutlich weiter als die Definition eines rechtswidrigen Inhalts” nach Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das einen vorher bestimmten Katalog an Straftaten enthält.
Bei besonders großen Online-Plattformen liefen die Vorgaben des Kommissionsvorschlages zusammen mit bereichsspezifischen Regelungen “wegen des schieren Volumens wohl faktisch auf einen Aufgabenkanon hinaus, der verdächtig nah an einer allgemeinen Verpflichtung zur automatisierten Inhalteüberprüfung liegt”, heißt es im Gutachten weiter. fst
Gerechter Zugang zur Vorsorge, Diagnostik und Behandlung von Krebs, die Förderung grenzüberschreitender Forschung, verschärfte Maßnahmen gegen Tabak, Neuregelungen bei E-Zigaretten und Warnhinweise auf alkoholischen Getränken: Das sind die zentralen Forderungen im Bericht des Sonderausschusses für Krebsbekämpfung (BECA), über die das EU-Parlaments gestern diskutiert und abgestimmt hat. Nach wie vor hingen die Überlebenschancen bei Krebs in der Europäischen Union stark davon ab, wo man lebe, sagte BECA-Berichterstatterin Véronique Trillet-Lenoir (Renew Europe). Diese Ungerechtigkeit solle beseitigt werden. Es gilt als sicher, dass der Initiativbericht – gegebenenfalls in manchen strittigen Punkten abgeschwächt – vom Plenum angenommen wird. Die Abstimmungsergebnisse lagen zu Redaktionsschluss jedoch noch nicht vor.
“Unser wichtigster Hebel ist eine ehrgeizige, multidisziplinäre, unabhängige, koordinierte und angemessen finanzierte europäischer Forschung, die sich stark auf Datenaustausch und künstliche Intelligenz stützt”, betonte Trillet-Lenoir. Die Empfehlungen im Bericht würden den Mitgliedstaaten den Weg zu einer europäischen Charta für Krebspatienten weisen.
Die Europaabgeordneten fordern die Ernennung eines Sonderbeauftragten bei der Europäischen Kommission, der sich mit allen Hindernissen für die grenzüberschreitende Krebsforschung befassen und Wege zu ihrer Beseitigung finden soll. “Grenzüberschreitende Forschung ist unerlässlich, um den Krebs zu bekämpfen”, sagte der Abgeordnete des EU-Parlaments Peter Liese (EVP). Nur durch europäische Zusammenarbeit würden ausreichend schnell genügend Patienten gefunden, zum Beispiel für klinische Prüfungen, um zeitnah Innovationen in den Markt zu bringen. Die Forscher:innen, betonte er, litten derzeit allerdings an übermäßiger Bürokratie und unterschiedlichen Datenschutz-Regelungen in den Mitgliedstaaten.
Ein weiterer zentraler Aspekt ist die Prävention. Im Abschlussbericht werden etwa Warnhinweise bei alkoholischen Getränken, eine Einheitspackung für Zigaretten und andere Tabakprodukte sowie die Erhöhung der Tabaksteuern gefordert. Strittig war allerdings der Umgang mit E-Zigaretten. Im Berichtsentwurf wurde gefordert, dass die EU-Kommission einen Vorschlag machen soll, Aromen zu verbieten, die für Kinder besonders attraktiv sind.
Auch beim Thema Alkohol sind sich die Abgeordneten nicht einig. Der Sonderausschuss zur Krebsbekämpfung des EU-Parlaments fordert Warnhinweise für alle alkoholischen Getränke. Denn die meisten Mitglieder sind überzeugt, dass Alkohol ein erhöhtes Krebsrisiko darstellt und stützen sich dabei auf Aussagen der Weltgesundheitsorganisation WHO. Andere wenden jedoch ein, dass ein maßvoller Alkoholgenuss zu vertreten sei und es bei der Prävention von Krebserkrankungen vor allem darum geht, einen schädlichen Konsum zu vermeiden.
Es geht dabei um handfeste wirtschaftliche Interessen und auch um öffentliche Förderungen. So warnte Stefania Zambelli (Identität und Demokratie / Lega Italien) vor dem Verlust von drei Millionen Arbeitsplätzen in der EU. “Wir können nicht den gesamten Weinsektor in die Knie zwingen”, sagte sie. Anders sieht das etwa Manuela Ripa (Grüne). Verschärfungen für den Konsum seien auch immer ein Kampf gegen wirtschaftliche Interessen. Kein Profit vor Gesundheit, appellierte sie. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass der Bericht auch in diesem Punkt durch Änderungsanträge abgeschwächt wird.
Die Abgeordneten fordern außerdem, dass die Mitgliedstaaten bis spätestens 2025 allen europäischen Patienten Recht auf Vergessenwerden einräumen. Dieses soll spätestens zehn Jahre nach dem Ende ihrer Behandlung wirksam sein, beziehungsweise bis zu fünf Jahre nach dem Ende der Behandlung von Patienten, deren Diagnose vor dem abgeschlossenen 18. Lebensjahr erfolgte. “Es darf nicht sein, dass Menschen, die zum Beispiel als Kind oder Jugendliche Krebs gehabt haben, noch Jahrzehnte später diskriminiert werden, indem man ihnen etwa den Zugang zu Versicherungen oder Krediten erschwert”, sagte Liese. Dies müsse sich ändern, auch durch konkrete Gesetzgebung beispielsweise im Rahmen der Europäischen Versicherungsrichtlinie. Die EU-Kommission soll schnell konkrete Maßnahmen umsetzen.
Vor rund einem Jahr hat die EU-Kommission ihren europäischen Plan zur Krebsbekämpfung vorgelegt. Er umfasst in 42 Punkten den gesamten Krankheitspfad von der Vorsorge über die Diagnostik und Behandlung bis hin zur Förderung der Lebensqualität von Krebskranken und -überlebenden. Rund vier Milliarden Euro will die Kommission in den kommenden Jahren für einschlägige Maßnahmen ausgeben. ank
Die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag ruft die Bundesregierung in Deutschland auf, sich für den Aufbau einer nicht-staatlichen strategischen Gasreserve einzusetzen, um das Energiesystem “krisenfester zu gestalten”. Das geht aus einem noch nicht datierten Bundestagsantrag der Oppositionsparteien hervor, der Europe.Table vorliegt. Die Union fordert darin sowohl Sofortmaßnahmen als auch die Umsetzung mittel- und langfristiger Maßnahmen im Rahmen der von der EU-Kommission im Oktober vorgestellten Toolbox (Europe.Table berichtete).
Neben dem Aufbau von strategischen Gasreserven solle sich Deutschland auf europäischer Ebene dafür einsetzen, Instrumente zur “Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen und europäischen Industrie” zu installieren, um Unternehmen vor Carbon Leakage zu schützen. Außerdem müsse die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern verringert und die Energieeffizienz in der EU gesteigert werden, heißt es in dem Antrag.
Um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Entwicklung der Energiepreise für Verbraucher:innen und Unternehmen auch kurzfristig abzufedern, soll die Regierung neben der bereits angekündigten Abschaffung der EEG-Umlage auch andere Energiesteuern drastisch senken. CDU/CSU fordern, die Stromsteuer von derzeit 20,5 Euro pro Megawattstunde “auf den unionsrechtlich zulässigen Mindeststeuersatz von 1 EUR/MWh bei nichtgewerblicher Nutzung und 0,5 EUR/MWh bei gewerblicher Nutzung abzusenken“. Die Umsatzsteuer auf Strom-, Gas- und Fernwärmelieferungen soll bis Ende 2023 zudem auf sieben Prozent reduziert werden.
Außerdem solle die Besteuerung des Biokraftstoffanteils von Diesel, Super und Benzin wegfallen, die Stromsteuer-Erstattung für die energieintensive Industrie – der sogenannte Spitzenausgleich – verlängert und die Pendlerpauschale auf 0,38 EUR/km erhöht werden. Aktuell liegt der Satz bei 0,30 EUR/km (0,35 EUR/km ab dem 21. Kilometer). luk
Die Datenschutz-Aufsichtsbehörden haben eine europaweite Überprüfung der Nutzung von Cloud-Services durch öffentliche Stellen begonnen. Die seit Herbst geplante Untersuchung soll nun koordiniert prüfen, wie Behörden netzwerkbasierte Speicher- und Verarbeitungsdienste nutzen.
Die Datenschutzgrundverordnung auch für öffentliche Stellen, mit Ausnahme von Sicherheits-, Polizei- und Justizbehörden. Allerdings drohen Behörden bei Rechtsverstößen keine Geldbußen.
Auch deutsche Datenschutz-Aufsichtsbehörden beteiligen sich an dem europäischen Prüfungsvorhaben, das im “Koordinierten Durchsetzungsrahmen” stattfindet. Bei diesem ist neben der eigentlichen Durchsetzung auch die Kooperation zwischen den europäischen Datenschutz-Aufsichtsbehörden beim Vorgehen gegen mutmaßliche Rechtsverstöße ein wesentlicher Aspekt. Insgesamt sollen in einem ersten Schritt über 80 öffentliche Stellen einen Fragebogen aus Reihen der zuständigen 44 europäischen Datenschutz-Aufsichtsbehörden zu von ihnen verwendeten Cloud-Services erhalten. fst
Polen hat die Europäische Union aufgefordert, Kontrollmechanismen für den Emissionshandel einzuführen und die Beteiligung von Finanzspekulanten einzuschränken, teilte die polnische Regierung am Dienstag mit. Die polnische Klimaministerin Anna Moskwa traf sich am Montag mit dem EU-Klimachef Frans Timmermans in Brüssel, um die Pläne der EU zur Reformierung des Emissionshandelssystems (ETS) zu diskutieren.
Polen bezieht mehr als 70 Prozent seiner Energie aus Kohle und argumentiert seit langem, dass die EU-Klimapolitik berücksichtigen muss, dass dieser Energiemix das Erreichen der Klimaziele teurer macht als für andere EU-Mitglieder (Europe.Table berichtete). Andere Länder sehen jedoch in höheren CO2-Preisen einen wesentlichen Anreiz für Unternehmen, in grüne Technologien zu investieren. Polen hatte letzte Woche seine Forderungen bezüglich des ETS an Brüssel übermittelt und eine Koalition aus Ländern gebildet, die das Handelssystem ebenfalls reformieren wollen, so Warschau in einer Erklärung.
“Für uns ist es von entscheidender Bedeutung, die Finanzinstitute so schnell wie möglich aus dem ETS-Markt zurückzuziehen. Unsere zweite Forderung ist der Verzicht auf den Entzug von kostenlosen Zertifikaten“, so Moskwa. Brüssel will die kostenlosen Zertifikate schrittweise abschaffen, um die Industrie zur Senkung der Emissionen zu bewegen.
Moskwa sagte, Brüssel solle “Kontrollmechanismen” auf dem Markt einführen, ohne zu spezifizieren, was diese bewirken würden. “Gegenwärtig ist die Europäische Kommission hilflos und rechtlich und formal nicht in der Lage, in diesen Markt einzugreifen, da es sich um einen freien Markt handelt”, sagte sie und fügte hinzu, dass das nicht so bleiben könne, wenn er als politisches Instrument dienen solle.
Moskwa sagte auch, dass die Reformen der EU-Klimapolitik von den EU-Ländern einstimmig angenommen werden sollten – was bedeutet, dass ein Staat sie blockieren könnte. Polen hat erklärt, es unterstütze die Ziele der grünen Transformation, aber sie müssten ihre sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen berücksichtigen. rtr
Der Europäische Datenschutzbeauftragte Wojciech Wiewiórowski hat ein Verbot der umstrittenen Spionagesoftware Pegasus und vergleichbarer Werkzeuge gefordert. Die Software des israelischen Unternehmens NSO Group führe zu einem “noch nie dagewesenen Maß an Überwachung, die in die intimsten Sphären unseres täglichen Lebens reicht”, sagte der Datenschutzbeauftragte am Dienstag.
Israel war weltweit unter Druck geraten, weil mehrere Staaten die Software missbraucht haben sollen (Europe.Table berichtete), um Smartphones von Menschenrechtsaktivist:innen, Journalist:innen und Politiker:innen auszuspionieren. NSO Group behauptet, nach dem Verkauf in keiner Weise am Betrieb der Software beteiligt zu sein. “Ein Verbot der Entwicklung und des Einsatzes von Spionagesoftware mit den Fähigkeiten von Pegasus in der EU wäre die effektivste Option, um unsere Grundrechte und -freiheiten zu schützen”, sagte Wiewiórowski.
Das Europäische Parlament will zum Pegasus-Einsatz einen Sonderausschuss einsetzen (Europe.Table berichtete). Vergangenes Jahr hatten mehrere Medienorganisationen unter der Leitung der Journalistengruppe Forbidden Stories herausgefunden, dass die Spionagesoftware bei versuchten und erfolgreichen Hacks von Smartphones auf globaler Ebene verwendet wurde. rtr
Die weltweite Inflation hat sich schneller zurückgemeldet, ist deutlicher gestiegen und erweist sich als hartnäckiger und dauerhafter, als die wichtigen Notenbanken ursprünglich für möglich gehalten hatten. Nachdem das Problem zunächst in den USA die Schlagzeilen beherrschte, ist es nun in den Mittelpunkt der politischen Diskussion in vielen anderen hochentwickelten Volkswirtschaften gerückt. In 15 der 34 Länder, die im World Economic Outlook des Internationalen Währungsfonds als hochentwickelte Volkswirtschaften eingestuft werden, lag die Zwölfmonatsinflation bis einschließlich Dezember 2021 bei über 5 Prozent. Einen derart plötzlichen, gemeinsamen Anstieg einer (nach modernen Standards) hohen Inflation gab es seit 20 Jahren nicht.
Auch ist dieser steile Anstieg der Inflation nicht auf die reichen Länder beschränkt. Die Schwellen- und Entwicklungsländer wurden von einer ähnlichen Welle heimgesucht; 78 von 109 dieser Länder haben es ebenfalls mit jährlichen Inflationsraten von über 5 Prozent zu tun. Dieser Anteil der Schwellen- und Entwicklungsländer (71 Prozent) ist etwa doppelt so groß wie Ende 2020. Die Inflation hat sich daher zu einem weltweiten Problem entwickelt – oder zumindest beinah; Asien erweist sich bisher als immun.
Die Haupttreiber des steilen Anstiegs der Inflation sind länderübergreifend verschieden, insbesondere was den Vergleich zwischen hochentwickelten Volkswirtschaften und Schwellen- und Entwicklungsländern angeht. Die in den Diskussionen in den USA vorherrschenden Diagnosen einer “Überhitzung” treffen auf viele Schwellen- und Entwicklungsländer nicht zu, in denen die fiskal- und geldpolitischen Impulse in Reaktion auf COVID-19 begrenzt waren und die wirtschaftliche Erholung 2021 deutlich hinter der in den hochentwickelten Ländern zurückblieb.
Darüber hinaus sind bei den pandemiebedingten Abschwungs- und Erholungsverläufen deutliche Unterschiede zwischen den Ländergruppen unterschiedlichen Einkommens zu verzeichnen. Der Begriff Erholung sei dabei als Rückkehr einer Volkswirtschaft zum Niveau des Pro-Kopf-Einkommens von 2019 definiert. Etwa 41 Prozent der einkommensstarken, hochentwickelten Volkswirtschaften hatten diese Schwelle Ende 2021 erreicht, verglichen mit 28 Prozent der Schwellen- und Entwicklungsländer mittleren Einkommens und nur 23 Prozent der einkommensschwachen Länder.
Doch sind zwischen hochentwickelten und sich entwickelnden Volkswirtschaften die Unterschiede sogar noch größer als dieser Vergleich nahelegt, weil viele Schwellen- und Entwicklungsländer bereits vor der Pandemie einen Rückgang ihres Pro-Kopf-Einkommens verzeichneten, während es zu diesem Zeitpunkt in den hochentwickelten Volkswirtschaften neue Höchststände erreichte. Während viele Schwellen- und Entwicklungsländer in den letzten Jahren die Schätzungen ihrer potenziellen Produktionsleistung gesenkt haben, deutet wenig darauf hin, dass der Inflationsdruck dort in erster Linie von einer Überhitzung im Gefolge hoher Konjunkturimpulse ausgeht.
Eine Entwicklung, die hochentwickelte und Entwicklungsländer gemein haben, ist angesichts einer steigenden Weltnachfrage der Anstieg der Rohstoffpreise. Mit Stand Januar 2022 lagen die Ölpreise um 77 Prozent über ihrem Niveau vom Dezember 2020.
Ein weiteres wichtiges Problem, das hochentwickelte und Entwicklungsländer gleichermaßen betrifft, sind die globalen Lieferketten, die durch die Ereignisse der beiden letzten Jahre noch immer schwer in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Transportkosten sind explodiert. Und anders als beim angebotsbedingten Ölpreisschock der 1970er-Jahre sind die Erschütterungen des Angebots durch COVID-19 vielfältiger und undurchsichtiger und daher, wie die Weltbank in ihrem jüngsten Bericht Global Economic Prospects betont, stärker mit Unsicherheiten behaftet.
In den Schwellen- und Entwicklungsländern haben Währungsabwertungen (bedingt durch geringere Zuflüsse ausländischen Kapitals und Herabstufungen der Länderbonität) zu Preissteigerungen bei Importwaren beigetragen. Und weil die Inflationserwartungen in den Schwellen- und Entwicklungsländern weniger stark verankert sind und stärker mit Währungsschwankungen einhergehen als in den hochentwickelten Ländern, wirken sich dort die Wechselkurse tendenziell schneller und stärker auf die Preise aus.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist die weltweite Inflation bei den Lebensmitteln. Der Anstieg der Lebensmittelpreise über zwölf Monate hinweg übertraf 2021 in 79 Prozent (86 von 109) der Schwellen- und Entwicklungsländer den Wert von 5 Prozent. Auch wenn die hochentwickelten Länder gegen steigende Lebensmittelpreise nicht immun sind, erlebten nur 27 Prozent von ihnen Preisanstiege von über 5 Prozent.
Noch schlimmer ist, dass die Lebensmittelinflation im Allgemeinen die einkommensschwachen Länder (und einkommensschwache Haushalte überall) besonders hart trifft. Das macht sie faktisch zu einer Art regressiver Steuer. Lebensmittel machen in den Schwellen- und Entwicklungsländern einen viel größeren Teil des Konsums eines Durchschnittshaushalts aus; die Inflation dürfte sich in diesen Ländern daher als hartnäckig erweisen. Die heutigen erhöhten Energiepreise werden sich (aufgrund etwa höherer Kosten für Dünger, Transport) unmittelbar in höheren künftigen Lebensmittelpreisen niederschlagen.
Obwohl die meisten Schwellen- und Entwicklungsländer heute keine festen Wechselkurse mehr haben – wie es in den inflationsanfälligen 1970er-Jahren der Fall war -, bleibt der Spielraum für eine “wirklich unabhängige” Geldpolitik in kleinen, offenen Volkswirtschaften ungeachtet ihrer flexiblen Wechselkurse begrenzt. Die Gefahr, dass sie die Inflation aus den globalen Finanzzentren importieren, ist kein Überbleibsel vergangener Zeiten.
Tatsächlich ist das auffälligste Merkmal der heutigen Inflation ihre Allgegenwärtigkeit. In Ermangelung weltweiter politischer Optionen zur Behebung der Störungen in den Lieferketten bleibt die Aufgabe der Inflationsbekämpfung an den wichtigen Notenbanken hängen. Auch wenn die USA (im historischen Vergleich) 2022 eine bescheidene Straffung ihrer Geldpolitik erleben dürften, wird das kaum ausreichen, um das Preiswachstum zu zügeln. Wie Kenneth Rogoff und die Koautorin in einem Aufsatz aus dem Jahr 2013 dokumentiert haben, rührte die Hartnäckigkeit der Inflation der 1970er-Jahre aus der Neigung der US Federal Reserve her, nicht früh genug ausreichend zu tun (bis zu Paul Volckers Ankunft).
Natürlich wäre eine zeitnähere und robustere politische Reaktion der wichtigen Notenbanken für die Schwellen- und Entwicklungsländer kurzfristig keine gute Nachricht. Die meisten würden höhere Finanzierungskosten erleben, und bei einigen könnten Schuldenkrisen deutlich wahrscheinlicher werden. Trotzdem wären die langfristigen Kosten eines verzögerten Handelns größer. Weil die USA und andere hochentwickelte Volkswirtschaften es während der 1970er-Jahre versäumten, die Inflation rasch zu bekämpfen, wurden dort letztlich deutlich drakonischere Maßnahmen nötig, die – neben einer Schuldenkrise der Entwicklungsländer – zur zweitschwersten Rezession in den USA nach dem Krieg führten.
Wie es so schön heißt: “Gleich getan ist viel gespart.” Bis jedoch etwas getan wird, wird das Wiederaufleben der Inflation die Ungleichheit sowohl innerhalb als auch zwischen Ländern weiter verschärfen.
In Kooperation mit Project Syndicate, 2022. Aus dem Englischen von Jan Doolan.
Der Weltraum. Unendliche Weiten. Dies sind die Abenteuer… Halt! Falscher Film. Oder doch nicht? Industrie-, Binnenmarkt-, Verteidigungsindustrie- und Raumfahrt-Kommissar Thierry Breton jedenfalls hat gestern seinen Plan zum Aufbau eines europäischen Satellitenkommunikationsnetzwerkes genauer umrissen.
“Unsere neue Konnektivitätsinfrastruktur wird einen Hochgeschwindigkeits-Internetzugang bieten, als Backup für unsere derzeitige Internetinfrastruktur dienen, unsere Widerstandsfähigkeit und Cybersicherheit erhöhen und Konnektivität für ganz Europa und Afrika bereitstellen”, sagte der Kommandeur der europäischen Sternenflotte in spe. Strategisch superrelevant, extrem leistungsfähig, Europa zukunftsfest machen, darunter geht es mit Breton einfach nicht.
Nur ist das so eine Sache mit den Hochgeschwindigskeits-Internetzugängen aus dem Weltraum: Rasend schnell ist es nicht, jeder 3D-Gamer würde über diese Verbindungen fluchen – denn naturgemäß muss das Signal erst vom Boden zum Satelliten und dann wieder zurück, was länger dauert als die Lichtgeschwindigkeitsreise durch erdnahe Glasfaserkabel.
Die Satelliten brauchen zudem bis heute zudem möglichst Sichtverbindungen zur Erdoberfläche, und so manche Cloud ist dagegen. Je schlechter das Wetter, umso eher treten Leistungsverluste auf. Um das Problem halbwegs zu umgehen, benötigt es Unmengen der kleinen Kommunikations-Trabanten. So wie auch Elon Musks Starlink-Projekt, bei dem vor wenigen Tagen ein Sonnensturm mal eben 40 noch zu nah an der Erde befindliche Satelliten zum Verglühen schickte, und das Breton offensichtlich zum Vorbild für seine Pläne nahm. Thierry Breton, ein industriepolitischer Elon Musk?
Dank der deutschen Breitband-Ausbaupolitik gibt es noch ausreichend Landstriche, denen ein solches Projekt tatsächlich helfen könnte. Und ganz nebenbei würde das Ganze auch noch wie ein Jungbrunnen für die deutsch-französische, pardon, europäische Raumfahrtindustrie wirken. Da sind die angestrebten sechs Milliarden Euro, wenn es um den Aufbau der bretonisch-europäischen Sternenflotte geht, doch bestens angelegtes Geld. Ob das Projekt nach den französischen Präsidentschaftswahlen weiter vorangetrieben wird, steht derweil in den Sternen. Falk Steiner
die Wirtschaft braucht Chips, dann mehr Chips, und bald noch mehr Chips. Industriekommissar Thierry Breton hat vergangene Woche seine Pläne vorgestellt, wie Europa vom abgeschnittenen Abnehmer zum Leading-Edge-Produzenten werden soll. Warum große Teile der deutschen Industrie dennoch nicht begeistert sind, und warum die Rolle des US-Chipherstellers Intel dabei besonders kritisch gesehen wird, hat Till Hoppe für Sie herausgefunden.
Europa hat jede Menge Krisenmanager, wenn es um den Russland-Ukraine-Konflikt geht. Warum Ursula von der Leyen nun eine wesentliche Rolle spielt und wie selbst in Krisenzeiten der Wettbewerb um Wichtigkeit tobt, analysiert Eric Bonse.
Die Revision der Erneuerbare-Energien-Richtlinie (RED III) beschäftigt das Parlament – Berichterstatter Markus Pieper (EVP) hat nun seinen Berichtsentwurf vorgestellt. Timo Landenberger erläutert Ihnen, wo der Parlamentarier nachsteuern will und warum.
Der zweite Trilog zum Digital Services Act brachte wenig unmittelbare Fortschritte, aber eine Klärung der Verhältnisse: Einige haben es deutlich eiliger denn andere. Für die Parlamentarier eine gute Ausgangsposition, wie ich ihnen berichten darf.
Noch lässt sich Krebs nicht besiegen, aber dass mehr getan werden kann, um Krebserkrankungen zu verhindern, darin sind sich die Europaparlamentarier einig. Wie das konkret gelingen soll, schlüsselt Eugenie Ankowitsch Ihnen auf.
Die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag fordert die Bundesregierung auf, eine Gasreserve für den Krisenfall aufbauen zu lassen. Lukas Scheid hat den Antrag gesehen und sagt Ihnen, was die Union von der Ampelregierung nun fordert.
Pat Gelsinger sparte nicht an großen Worten: “Der EU Chips Act ist eine historische Chance, verlorenen Boden gutzumachen”, lobte der Intel-Chef. Das Vorhaben, vergangene Woche von der Europäischen Kommission präsentiert, erleichtere die Pläne des US-Chipkonzerns, seine Präsenz in Europa erheblich auszubauen. Intel sucht derzeit Standorte für zwei neue Mega-Chipfabriken.
Die deutsche Industrie reagiert weniger euphorisch auf den Kommissionsvorschlag. Autoindustrie, Maschinenbau und Elektronikindustrie warnen, nicht die Bedürfnisse der heimischen Industrien auszublenden. Die Verbände befürchten, dass die Kommission die geplante Förderung stark auf sogenannte Leading-Edge-Halbleiter ausrichten wird. Auf Chips also, die die Grenzen des technisch Machbaren in puncto Rechenleistung und Energieverbrauch immer weiter verschieben.
Derzeit liegt diese Grenze in der Massenproduktion bei 5 Nanometer (nm) großen Strukturen auf den Chips, geforscht wird bereits an weniger als 2 nm. Für eben diesen Bereich der “technologischen Exzellenz” eröffne der Chips Act “sehr klare Chancen”, sagte EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton bei der Vorstellung. So sollen etwa das Design und das Testen solcher Chips in Pilotanlagen gefördert werden.
Die Kommission lege einen starken Fokus auf Forschung, Design und Produktion sehr kleiner Strukturgrößen, sagt Sven Baumann, Halbleiterexperte des Verbandes der Elektro- und Digitalindustrie (ZVEI). “Es ist aber wichtig, dass diese Förderung auch für größere Strukturgrößen und Testen neuer Chips zur Verfügung steht.”
Ähnlich argumentiert die Automobilindustrie: Auch in den nächsten zehn bis 15 Jahren werde die Branche einen wachsenden Bedarf an Halbleitern mit Strukturgrößen von mehr als 16 nm haben, sagt VDA-Geschäftsführer Joachim Damasky. “Die Kommission sollte den Mitgliedstaaten den Freiraum geben, auch diese Technologien zu fördern“, fordert er. Der EU Chips Act sei hier leider noch nicht eindeutig genug.
Dahinter steht ein Verteilungskampf um üppige, aber begrenzte Fördergelder, die Kommission und Mitgliedstaaten in den kommenden Jahren an die als strategisch wichtig eingeschätzte Brache ausreichen wollen. Europäische Hersteller sind im Leading-Edge-Bereich nicht mehr präsent. Der Markt wird von drei Unternehmen dominiert: TSMC aus Taiwan, Samsung aus Südkorea – und eben Intel.
Der US-Konzern will massiv in neue Fabriken mit der neuesten Technologie investieren. Gelsinger hatte daher intensiv vor und hinter den Kulissen dafür geworben, die kleinen Strukturgrößen in den Fokus des Chips Act zu rücken – und dafür massive Staatshilfen zu mobilisieren. Intel habe hier “sehr gute Lobbyarbeit geleistet”, heißt es bei der Konkurrenz.
Dabei ist völlig unklar, wie groß der Bedarf der europäischen Industrie nach solchen Mikroprozessoren überhaupt ist. Bislang werden diese vor allem in Smartphones oder Laptops verbaut, die in Europa gar nicht gefertigt werden. Hiesige Großkunden wie die Autoindustrie (mit Ausnahme von Tesla), Pharma oder Maschinenbau verbauen vor allem Mikrocontroller, Sensoren oder Leistungshalbleiter mit deutlich größeren Strukturen. Hier liegen auch die aktuellen Lieferengpässe, die der Industrie zu schaffen machen.
Unstrittig ist: Der Bedarf heimischen Abnehmer dürfte deutlich wachsen, je vernetzter Fahrzeuge und Maschinen werden. Wie sehr Künstliche Intelligenz und Edge Computing die Chipnachfrage hierzulande aber tatsächlich verändern, darüber gibt es kaum belastbare Prognosen.
Für viele Vorhaben in diesen Zukunftsfeldern seien “auf reine Leistung optimierte High-End-Chips nicht notwendig”, argumentiert etwa die Deutsche Akademie für Technikwissenschaften (Acatech). Entscheidender seien oftmals niedrige Kosten, ein niedriger Energieverbrauch und eine lange Lebensdauer.
Ganz anders argumentiert die Unternehmensberatung Kearney in einer Studie aus dem vergangenen Herbst. Die Autoren wagen sogar eine konkrete Vorhersage für den europäischen Markt: Die Nachfrage nach Leading-Edge-Chips in Europa werde bis 2030 “in die Höhe schießen”, heißt es in der Studie, der Anteil an der Gesamtnachfrage von 19 auf 43 Prozent steigen. Ganz am Ende des Papiers findet sich der dezente Hinweis, wer die Studie in Auftrag gegeben hat: Intel.
Andere Experten halten derartige Wachstumsraten in diesem Bereich für unrealistisch. Die Denkfabrik Bruegel etwa argumentiert, für eine Mega-Fab mit diesen Strukturgrößen fehle in Europa die Nachfrage. Die Kommission aber übernimmt die Angaben aus der Kearney-Studie – ohne die eigentlich fällige Einordnung – in eigene Präsentationen.
Eine eigene Folgenabschätzung zum Chips Act ist die Behörde ebenso schuldig geblieben wie eine öffentliche Konsultation – “wegen des dringenden Handlungsbedarfs”, wie es im EU-Gesetzentwurf heißt. Eine Befragung der Stakeholder soll nun im Nachhinein Informationen sammeln, wie groß die aktuelle und künftige Chipnachfrage ist, und die gesammelten Daten in einem Staff Working Document im Laufe des Jahres veröffentlicht werden.
Jan-Peter Kleinhans, Chipexperte der Stiftung Neue Verantwortung, bemängelt die fehlende Informationsgrundlage. “Mit Blick auf die Fokussierung des Chips Act auf Fertigung modernster Chips wäre es wichtig, die zukünftige Nachfrage nach diesen im Verhältnis zu älteren Technologien für Europa einordnen zu können”, sagt er. “Bisher scheint die Datenlage in diesem Bereich sehr dünn.”
In Kommissionskreisen wird versucht, die Sorgen in der Industrie zu dämpfen. Man sei sich darüber bewusst, dass die Halbleiterindustrie auch in anderen Bereichen wie Sensoren oder Leistungshalbleitern einen steigenden Bedarf habe und wolle auch diese in den geplanten Programmen fördern, sagt ein EU-Beamter. Das beihilferechtliche Konzept der “First-of-a-kind facility” (Europe.Table berichtete) erlaube den Mitgliedstaaten auch staatliche Hilfen für technische Fortschritte in reiferen Technologien und Strukturgrößen.
In der Kommission wird zudem auf weitere Studien verwiesen, die ebenfalls einen stark wachsenden Bedarf nach Leading-Edge-Halbleitern vorhersagten. Explizit genannt wird etwa eine Studie der Bundesagentur für Sprunginnovationen (SPRIND) vom vergangenen September. In der öffentlich zugänglichen Kurzfassung spricht sich die Agentur für den Bau einer Auftragsfabrik (Foundry) für 3nm-Halbleiter aus, um bei der Entwicklung von Technologien für das autonome Fahren oder der künstlichen Intelligenz nicht auf asiatische Hersteller angewiesen zu sein. Die Autoren warnen aber zugleich, “es sei schwierig vorherzusagen, wie groß der Bedarf der europäischen Industrie nach solchen High-end-Produktionstechnologien sei”.
In der Branche verursachte diese Empfehlung erheblichen Ärger. Es könne nicht sein, dass eine Bundesagentur für einen US-Konzern lobbyiere, heißt es in Industriekreisen. Andere berichten von einem “innigen Verhältnis” von SPRIND und Intel. Auf Anfrage sagte ein SPRIND-Sprecher, man habe für die Studie “mit zahlreichen Marktteilnehmern gesprochen, unter anderem auch mit Intel”. Weitere Angaben zu den Teilnehmern oder zur Langfassung der Studie wollte der Sprecher unter Verweis auf Vertraulichkeitsvereinbarungen nicht machen. Ein Intel-Sprecher wollte sich nicht dazu äußern.
Auch in die Bundesregierung hat Intel beste Kontakte. Der neue Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) versucht derzeit, ebenso wie sein CDU-Vorgänger Peter Altmaier, den Konzern für eine Milliardeninvestition in Deutschland zu gewinnen. Gelsinger hat klargemacht, worauf es ihm dabei ankommt: “Wenn man im Wettbewerb mit asiatischen Konkurrenten steht, die vom Staat massiv bezuschusst werden, muss man das hier auch machen – oder man spielt nicht mehr mit”.
Die passenden Zahlen liefert hier erneut die Kearney-Studie: Demnach machen die fehlenden staatlichen Anreize rund 80 Prozent des Kostennachteils aus, den eine Leading-Edge-Fabrik in Europa gegenüber Ländern wie Südkorea oder Taiwan habe. Als Quelle für ihr Berechnungsmodell führen die Autoren allerdings einen Anbieter namens “Fab Economics” an, über den nur eine wenig seriös wirkende Website ohne Ansprechpartner im Internet zu finden ist. Auf eine Nachfrage reagierten die Kearney-Autoren bis Reaktionsschluss nicht.
Deutschland und Frankreich beanspruchen eine Führungsrolle. Nach dem französischen Staatschef Emmanuel Macron hat am Dienstag auch Bundeskanzler Olaf Scholz seinen Anspruch mit einem Besuch in Moskau unterstrichen. Scholz betonte nach dem Gespräch mit Kremlchef Wladimir Putin seine Bereitschaft zum Dialog. Zugleich bekräftigte der SPD-Politiker, dass eine weitere Aggression gegen die Ukraine schwerwiegende Folgen für Russland hätte.
Allerdings bleibt unklar, ob Macron und Scholz bei ihrer Pendeldiplomatie zwischen Paris, Berlin, Kiew und Moskau substanzielle Fortschritte erzielen konnten, die auch die anderen Staats- und Regierungschefs überzeugen. Noch fehle es an “deliverables”, die die Einberufung eines EU-Sondergipfels rechtfertigten, hieß es am Dienstag in Brüsseler Ratskreisen. Ratspräsident Charles Michel stehe mit allen 27 EU-Staaten in Kontakt.
Während Michel noch konsultierte, preschte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor. Sie telefonierte mit dem japanischen Premier Kishida Fumio und vereinbarte eine enge Abstimmung in der Russland-Ukraine-Krise.
Auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell meldete sich zu Wort. Es sei “ziemlich klar”, dass die umstrittene Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 nicht in Betrieb gehen könne, wenn es zum Krieg kommt, sagte er der BBC. Einen EU-Beschluss gibt es allerdings noch nicht. Nord Stream 2 ist Teil eines Sanktionspakets, das von der Leyen vorbereitet. Das letzte Wort haben die Staats- und Regierungschefs, die grünes Licht geben müssen.
Von der Leyen hat in diesem Procedere einen großen Vorteil: Sie genießt das Vertrauen von Macron und Scholz – schließlich waren es Berlin und Paris, die sie in ihr Amt gehievt haben. Und sie führt die Gespräche mit den USA. Gleich zweimal nahm die CDU-Politikerin in den letzten Wochen an Beratungen mit US-Präsident Joe Biden teil. Ihr Kabinettschef Björn Seibert hat sich parallel mit Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan abgestimmt.
Von der Leyen hat sich zudem eine zentrale Rolle bei den Vorbereitungen auf den Kriegsfall gesichert. Von der Gasversorgung bis hin zu einer möglichen Flüchtlingswelle aus der Ukraine reicht ihr neues Aufgabengebiet. Die eigentlich zuständigen EU-Kommissare spielen, jedenfalls in der Außendarstellung der Kommissionspräsidentin, nur noch eine Nebenrolle. In den Pressemitteilungen kommen sie unter “ferner liefen” vor.
Auch der Außenbeauftragte Josep Borrell wurde an den Rand gedrängt. Der Spanier hat sich bis heute nicht von seinem verunglückten Treffen mit dem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow im Februar 2021 in Moskau erholt. Damals war Borrell regelrecht gedemütigt worden, während seines laufenden Besuchs wies Russland europäische Diplomaten aus. Seither zeigt er keinerlei Interesse, erneut nach Moskau zu reisen und die Wogen zu glätten. Deshalb kann von der Leyen nun, wenn es um Russland geht, den Ton angeben.
Das macht die Transatlantikerin mit Eifer, mitunter Übereifer. Zeitweise scheint es, als sei sie wieder in die alte vertraute Rolle der Verteidigungsministerin geschlüpft – diesmal nicht für Deutschland, sondern für ganz Europa. Diese Rolle ist ihr so wichtig, dass sie dafür sogar das Europaparlament brüskiert. So sagte von der Leyen einen Termin am Mittwoch in Straßburg ab, bei dem es um die Rechtsstaatlichkeit gehen sollte. Die Russland-Ukraine-Krise sei wichtiger, so ihr Sprecher, sie müsse eiligst zurück nach Brüssel.
Dort erwartet sie allerdings nicht nur das Krisenmanagement, sondern auch ein machtbewusster Rivale: Ratspräsident Charles Michel wartet nur auf eine Gelegenheit, sich einzuschalten und von der Leyen in den Hintergrund zu drängen.
Seit dem sogenannten “Sofagate” bei einem gemeinsamen Besuch in Istanbul im April 2021 ist zwischen den beiden EU-Chefs ein Kleinkrieg um die Außenpolitik entbrannt. Michel durfte damals neben Präsident Recep Tayyip Erdoğan sitzen, von der Leyen wurde aufs Sofa verbannt. Sie sei als Frau diskriminiert worden, klagte von der Leyen, und setzte seither alles daran, sich gegen Michel durchzusetzen. In der Russland-Ukraine-Krise ist ihr dies bisher gelungen. Der Belgier musste sich zurückhalten – und Macron und Scholz den Vortritt gewähren.
Doch nach dem vorläufigen Ende der deutsch-französischen Reisediplomatie dürfte bald wieder der Europäische Rat ins Spiel kommen – mit Michel als Vorsitzendem. Schon beim EU-Afrika-Gipfel am Donnerstag und Freitag will Michel glänzen und von der Leyen in die Ränge verweisen. Geholfen ist damit freilich niemandem. Spätestens bei der nächsten Krisenrunde mit US-Präsident Biden müssen Michel und von der Leyen wieder an einem Strang ziehen. Sonst schwächen sie die EU, die seit dem Beginn der Russland-Ukraine-Krise ohnehin am Katzentisch sitzt.
Nachdem die Europäische Kommission im Rahmen ihres Fit-for-55-Pakets einen Vorschlag zur Revision der Erneuerbare-Energien-Richtlinie (RED III) vorgelegt hatte, präsentierte nun der Berichterstatter des Parlaments, Markus Pieper (EVP), seinen Entwurf. Der energiepolitische Sprecher der CDU/CSU-Gruppe plädiert dafür, den Ausbau der Erneuerbaren technologieneutral zu gestalten und Übergangslösungen zulassen. Die von der Kommission vorgeschlagenen Instrumente kritisiert er als “halbherzig und wenig kreativ”.
Dabei unterstützt Pieper den Plan der Kommission, das Zwischenziel bis 2030 von bislang 32 auf 40 Prozent Anteil erneuerbarer Energien am Gesamtverbrauch zu erhöhen. Dies sei zwar sehr ambitioniert, aber erreichbar und werde zu einer stärkeren Unabhängigkeit von fossilen Brennstoffen führen, was sich wiederum positiv auf die Energiepreise auswirken werde, sagte Pieper am Mittwoch vor Journalisten. Der Abgeordnete begrüßt auch die Einführung spezifischer Sektorziele für Verkehr, Gebäude und Industrie, die einen wichtigen Orientierungsrahmen für die Dekarbonisierung der einzelnen Bereiche darstellen könnten.
Das verbindliche Ziel von 50 Prozent grünem Wasserstoff in der Industrie sei jedoch bis 2030 kaum zu erreichen, da sich die Kommission dabei selbst im Weg stehe. So seien etwa die geplanten Auflagen für die Wasserstoffproduktion zu streng (Europe.Table berichtete). Für die Übergangszeit müsse deshalb auch der Einsatz sogenannter low-carbon fuels (insbesondere blauer Wasserstoff) berücksichtigt werden. Auch das Zwischenziel von 49 Prozent Erneuerbarer im Gebäudesektor sei sehr anspruchsvoll. Pieper schlägt vor, neben der Elektrifizierung auch die stärkere Nutzung grüner Fernwärme sowie die Einbindung erneuerbarer Gase (Beimischung von Wasserstoff) ins bestehende Gasnetz in den Fokus zu nehmen (Europe.Table berichtete).
Hingegen sei das Ziel im Verkehrssektor zu gering und solle von 13 auf 20 Prozent heraufgesetzt werden. Dies könne durch höhere Quoten für synthetische Kraftstoffe erreicht werden. “Das wären echte Signale für Technologieoffenheit, die auch nur schwer zu elektrifizierenden Wirtschafts- und Verkehrsbereiche Optionen eröffnen”, so Pieper.
Daneben kritisierte der Abgeordnete auch den von der Kommission vorgesehenen Weg zum Ausbau der Erneuerbaren in Teilen scharf. “Die vorgeschlagenen Instrumente sind halbherzig. Will man Synergien des Binnenmarktes nutzen, bedarf es mehr grenzüberschreitender Infrastrukturprojekte für grünen Strom und Wasserstoff.” Pieper schlägt deshalb eine Verdopplung von einem auf zwei Projekte je Mitgliedsland vor. Zudem sollen dem Entwurf zufolge alle Mitgliedsstaaten, die einen jährlichen Stromverbrauch von über 100 TWh haben (darunter Deutschland, Spanien und Frankreich) bis 2025 ein drittes Projekt beschließen.
Auch die Vorschläge zur Beschleunigung der Genehmigungsverfahren seien zu vage. Bei Konflikten mit dem Artenschutz müsse künftig der Populationsansatz, nicht aber der Schutz jedes einzelnen Individuums im Vordergrund stehen. Der Entwurf sieht außerdem vor, Innovationsquoten beim Ausbau der erneuerbaren Energien in die Richtlinie mit aufzunehmen. Damit will Pieper die Förderung vielversprechender Technologien, wie etwa schwimmende Windturbinen, vorantreiben.
Die Einführung eines neuen und digitalen Systems für Herkunftsnachweise soll überdies die Bürokratie verringern und mehr kleinen und mittelständischen Unternehmen Zugang zum Markt der Erneuerbaren eröffnen. Dennoch rechnet der Berichterstatter mit einer deutlich begrenzten Verfügbarkeit eigener Ressourcen in der EU und schlägt deshalb die Aufnahme einer Importstrategie für Grünstrom und grünen Wasserstoff vor. In diesem Rahmen sollen die Mitgliedsstaaten verpflichtet werden, Maßnahmen zur Umsetzung dieser Strategie in ihren nationalen Energieplänen festzuschreiben.
Am 3. März will Pieper seinen Bericht im Industrieausschuss vorstellen. Dann haben die Abgeordneten knapp zwei Wochen Zeit, ihre Änderungsanträge einzureichen. Mitte Juli soll der Ausschuss und im September das Plenum des EU-Parlaments über die gemeinsame Position abstimmen. til
Bei der zweiten Trilog-Verhandlungsrunde zum Digital Services Act (DSA) wurde deutlich, dass der Druck, zu einer Einigung zu kommen, vor allem aufseiten des Rates der EU liegt. Die französische Ratspräsidentschaft will möglichst rechtzeitig zu den Präsidentschaftswahlen in Frankreich Mitte April die beiden großen Digitaldossiers DMA und DSA ausverhandelt haben. Von Parlamentsseite sei die Devise Gründlichkeit vor Schnelligkeit ausgegeben worden, heißt es aus Verhandlungskreisen.
Schnelle Einigungen waren für diesen zweiten Trilog nicht erwartet worden und wurden denn auch nicht erzielt. Denn mit der Risikofolgenabschätzung, der Durchsetzung des Digital Services Act und der vom EU-Parlament gewünschten Ausnahme für kleinere und mittlere Unternehmen sowie der Frage von Marktplatzregulierungen standen gleich mehrere höchst umstrittene Regelungsvorschläge zur Debatte.
So will der Rat etwa besonders große Onlineplattformen und Suchmaschinen durch die Kommission beaufsichtigen lassen – was diese unter Umständen jedoch personell überfordern könnte. Auf Initiative Frankreichs hatte der Rat die stärkere Zentralisierung bei der EU-Kommission gefordert. Das Parlament will die Aufsicht hingegen stärker in nationalstaatlicher Verantwortung sehen. Hintergrund der ungewöhnlichen Kompetenzabgabeforderung der Mitgliedstaaten sind die Erfahrungen mit der Durchsetzung der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), bei der einzelne Staaten im Verdacht stehen, das Regulierungsniveau absichtlich zu unterlaufen.
Der dritte Trilog zum DSA steht nun erst Mitte März auf dem politischen Terminkalender. Bis dahin soll die sogenannte technische Ebene, also die Mitarbeiter von Rat, Parlament und Kommission, mögliche Kompromisse ausloten und Einigungsvorschläge erarbeiten. Der Zeitplan hierfür ist eng getaktet, allein in dieser Woche stehen noch mehrere Runden für die Arbeitsebene an, bei denen mögliche Einigungen inhaltlich vorbereitet werden sollen.
Die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung hat zudem gestern ein Gutachten der Münchner Rechtswissenschaftlerin Henrike Weiden zum DSA veröffentlicht, das den Kommissionsvorschlag analysiert und grundsätzlich positiv bewertet. Die frühere Bundesjustizministerin und stellvertretende Vorsitzende der Naumann-Stiftung, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, sieht im Digital Services Act denn auch einen Meilenstein: Mit ihm habe die EU die Chance, weltweit Standards zu setzen. “Plattformbetreiber wie Telegram, die den Rechtsstaat ignorieren, geraten mit dem DSA auch wirtschaftlich unter Druck”, so Leutheusser-Schnarrenberger.
Allerdings finden sich im Gutachten auch Bedenken und einige Kritik am DSA, insbesondere an Regelungen zum Umgang mit strittigen Inhalten. So kritisiert die Autorin, dass die Rechtsdurchsetzung durch die Plattformbetreiber zwar verständlich sei, aber auch “eine weitere Privatisierung bei der Bewertung von Inhalten” mit sich bringen würde. Zudem sei der Begriff der illegalen Inhalte vom jeweiligen nationalstaatlichen Recht abhängig und “deutlich weiter als die Definition eines rechtswidrigen Inhalts” nach Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das einen vorher bestimmten Katalog an Straftaten enthält.
Bei besonders großen Online-Plattformen liefen die Vorgaben des Kommissionsvorschlages zusammen mit bereichsspezifischen Regelungen “wegen des schieren Volumens wohl faktisch auf einen Aufgabenkanon hinaus, der verdächtig nah an einer allgemeinen Verpflichtung zur automatisierten Inhalteüberprüfung liegt”, heißt es im Gutachten weiter. fst
Gerechter Zugang zur Vorsorge, Diagnostik und Behandlung von Krebs, die Förderung grenzüberschreitender Forschung, verschärfte Maßnahmen gegen Tabak, Neuregelungen bei E-Zigaretten und Warnhinweise auf alkoholischen Getränken: Das sind die zentralen Forderungen im Bericht des Sonderausschusses für Krebsbekämpfung (BECA), über die das EU-Parlaments gestern diskutiert und abgestimmt hat. Nach wie vor hingen die Überlebenschancen bei Krebs in der Europäischen Union stark davon ab, wo man lebe, sagte BECA-Berichterstatterin Véronique Trillet-Lenoir (Renew Europe). Diese Ungerechtigkeit solle beseitigt werden. Es gilt als sicher, dass der Initiativbericht – gegebenenfalls in manchen strittigen Punkten abgeschwächt – vom Plenum angenommen wird. Die Abstimmungsergebnisse lagen zu Redaktionsschluss jedoch noch nicht vor.
“Unser wichtigster Hebel ist eine ehrgeizige, multidisziplinäre, unabhängige, koordinierte und angemessen finanzierte europäischer Forschung, die sich stark auf Datenaustausch und künstliche Intelligenz stützt”, betonte Trillet-Lenoir. Die Empfehlungen im Bericht würden den Mitgliedstaaten den Weg zu einer europäischen Charta für Krebspatienten weisen.
Die Europaabgeordneten fordern die Ernennung eines Sonderbeauftragten bei der Europäischen Kommission, der sich mit allen Hindernissen für die grenzüberschreitende Krebsforschung befassen und Wege zu ihrer Beseitigung finden soll. “Grenzüberschreitende Forschung ist unerlässlich, um den Krebs zu bekämpfen”, sagte der Abgeordnete des EU-Parlaments Peter Liese (EVP). Nur durch europäische Zusammenarbeit würden ausreichend schnell genügend Patienten gefunden, zum Beispiel für klinische Prüfungen, um zeitnah Innovationen in den Markt zu bringen. Die Forscher:innen, betonte er, litten derzeit allerdings an übermäßiger Bürokratie und unterschiedlichen Datenschutz-Regelungen in den Mitgliedstaaten.
Ein weiterer zentraler Aspekt ist die Prävention. Im Abschlussbericht werden etwa Warnhinweise bei alkoholischen Getränken, eine Einheitspackung für Zigaretten und andere Tabakprodukte sowie die Erhöhung der Tabaksteuern gefordert. Strittig war allerdings der Umgang mit E-Zigaretten. Im Berichtsentwurf wurde gefordert, dass die EU-Kommission einen Vorschlag machen soll, Aromen zu verbieten, die für Kinder besonders attraktiv sind.
Auch beim Thema Alkohol sind sich die Abgeordneten nicht einig. Der Sonderausschuss zur Krebsbekämpfung des EU-Parlaments fordert Warnhinweise für alle alkoholischen Getränke. Denn die meisten Mitglieder sind überzeugt, dass Alkohol ein erhöhtes Krebsrisiko darstellt und stützen sich dabei auf Aussagen der Weltgesundheitsorganisation WHO. Andere wenden jedoch ein, dass ein maßvoller Alkoholgenuss zu vertreten sei und es bei der Prävention von Krebserkrankungen vor allem darum geht, einen schädlichen Konsum zu vermeiden.
Es geht dabei um handfeste wirtschaftliche Interessen und auch um öffentliche Förderungen. So warnte Stefania Zambelli (Identität und Demokratie / Lega Italien) vor dem Verlust von drei Millionen Arbeitsplätzen in der EU. “Wir können nicht den gesamten Weinsektor in die Knie zwingen”, sagte sie. Anders sieht das etwa Manuela Ripa (Grüne). Verschärfungen für den Konsum seien auch immer ein Kampf gegen wirtschaftliche Interessen. Kein Profit vor Gesundheit, appellierte sie. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass der Bericht auch in diesem Punkt durch Änderungsanträge abgeschwächt wird.
Die Abgeordneten fordern außerdem, dass die Mitgliedstaaten bis spätestens 2025 allen europäischen Patienten Recht auf Vergessenwerden einräumen. Dieses soll spätestens zehn Jahre nach dem Ende ihrer Behandlung wirksam sein, beziehungsweise bis zu fünf Jahre nach dem Ende der Behandlung von Patienten, deren Diagnose vor dem abgeschlossenen 18. Lebensjahr erfolgte. “Es darf nicht sein, dass Menschen, die zum Beispiel als Kind oder Jugendliche Krebs gehabt haben, noch Jahrzehnte später diskriminiert werden, indem man ihnen etwa den Zugang zu Versicherungen oder Krediten erschwert”, sagte Liese. Dies müsse sich ändern, auch durch konkrete Gesetzgebung beispielsweise im Rahmen der Europäischen Versicherungsrichtlinie. Die EU-Kommission soll schnell konkrete Maßnahmen umsetzen.
Vor rund einem Jahr hat die EU-Kommission ihren europäischen Plan zur Krebsbekämpfung vorgelegt. Er umfasst in 42 Punkten den gesamten Krankheitspfad von der Vorsorge über die Diagnostik und Behandlung bis hin zur Förderung der Lebensqualität von Krebskranken und -überlebenden. Rund vier Milliarden Euro will die Kommission in den kommenden Jahren für einschlägige Maßnahmen ausgeben. ank
Die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag ruft die Bundesregierung in Deutschland auf, sich für den Aufbau einer nicht-staatlichen strategischen Gasreserve einzusetzen, um das Energiesystem “krisenfester zu gestalten”. Das geht aus einem noch nicht datierten Bundestagsantrag der Oppositionsparteien hervor, der Europe.Table vorliegt. Die Union fordert darin sowohl Sofortmaßnahmen als auch die Umsetzung mittel- und langfristiger Maßnahmen im Rahmen der von der EU-Kommission im Oktober vorgestellten Toolbox (Europe.Table berichtete).
Neben dem Aufbau von strategischen Gasreserven solle sich Deutschland auf europäischer Ebene dafür einsetzen, Instrumente zur “Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen und europäischen Industrie” zu installieren, um Unternehmen vor Carbon Leakage zu schützen. Außerdem müsse die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern verringert und die Energieeffizienz in der EU gesteigert werden, heißt es in dem Antrag.
Um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Entwicklung der Energiepreise für Verbraucher:innen und Unternehmen auch kurzfristig abzufedern, soll die Regierung neben der bereits angekündigten Abschaffung der EEG-Umlage auch andere Energiesteuern drastisch senken. CDU/CSU fordern, die Stromsteuer von derzeit 20,5 Euro pro Megawattstunde “auf den unionsrechtlich zulässigen Mindeststeuersatz von 1 EUR/MWh bei nichtgewerblicher Nutzung und 0,5 EUR/MWh bei gewerblicher Nutzung abzusenken“. Die Umsatzsteuer auf Strom-, Gas- und Fernwärmelieferungen soll bis Ende 2023 zudem auf sieben Prozent reduziert werden.
Außerdem solle die Besteuerung des Biokraftstoffanteils von Diesel, Super und Benzin wegfallen, die Stromsteuer-Erstattung für die energieintensive Industrie – der sogenannte Spitzenausgleich – verlängert und die Pendlerpauschale auf 0,38 EUR/km erhöht werden. Aktuell liegt der Satz bei 0,30 EUR/km (0,35 EUR/km ab dem 21. Kilometer). luk
Die Datenschutz-Aufsichtsbehörden haben eine europaweite Überprüfung der Nutzung von Cloud-Services durch öffentliche Stellen begonnen. Die seit Herbst geplante Untersuchung soll nun koordiniert prüfen, wie Behörden netzwerkbasierte Speicher- und Verarbeitungsdienste nutzen.
Die Datenschutzgrundverordnung auch für öffentliche Stellen, mit Ausnahme von Sicherheits-, Polizei- und Justizbehörden. Allerdings drohen Behörden bei Rechtsverstößen keine Geldbußen.
Auch deutsche Datenschutz-Aufsichtsbehörden beteiligen sich an dem europäischen Prüfungsvorhaben, das im “Koordinierten Durchsetzungsrahmen” stattfindet. Bei diesem ist neben der eigentlichen Durchsetzung auch die Kooperation zwischen den europäischen Datenschutz-Aufsichtsbehörden beim Vorgehen gegen mutmaßliche Rechtsverstöße ein wesentlicher Aspekt. Insgesamt sollen in einem ersten Schritt über 80 öffentliche Stellen einen Fragebogen aus Reihen der zuständigen 44 europäischen Datenschutz-Aufsichtsbehörden zu von ihnen verwendeten Cloud-Services erhalten. fst
Polen hat die Europäische Union aufgefordert, Kontrollmechanismen für den Emissionshandel einzuführen und die Beteiligung von Finanzspekulanten einzuschränken, teilte die polnische Regierung am Dienstag mit. Die polnische Klimaministerin Anna Moskwa traf sich am Montag mit dem EU-Klimachef Frans Timmermans in Brüssel, um die Pläne der EU zur Reformierung des Emissionshandelssystems (ETS) zu diskutieren.
Polen bezieht mehr als 70 Prozent seiner Energie aus Kohle und argumentiert seit langem, dass die EU-Klimapolitik berücksichtigen muss, dass dieser Energiemix das Erreichen der Klimaziele teurer macht als für andere EU-Mitglieder (Europe.Table berichtete). Andere Länder sehen jedoch in höheren CO2-Preisen einen wesentlichen Anreiz für Unternehmen, in grüne Technologien zu investieren. Polen hatte letzte Woche seine Forderungen bezüglich des ETS an Brüssel übermittelt und eine Koalition aus Ländern gebildet, die das Handelssystem ebenfalls reformieren wollen, so Warschau in einer Erklärung.
“Für uns ist es von entscheidender Bedeutung, die Finanzinstitute so schnell wie möglich aus dem ETS-Markt zurückzuziehen. Unsere zweite Forderung ist der Verzicht auf den Entzug von kostenlosen Zertifikaten“, so Moskwa. Brüssel will die kostenlosen Zertifikate schrittweise abschaffen, um die Industrie zur Senkung der Emissionen zu bewegen.
Moskwa sagte, Brüssel solle “Kontrollmechanismen” auf dem Markt einführen, ohne zu spezifizieren, was diese bewirken würden. “Gegenwärtig ist die Europäische Kommission hilflos und rechtlich und formal nicht in der Lage, in diesen Markt einzugreifen, da es sich um einen freien Markt handelt”, sagte sie und fügte hinzu, dass das nicht so bleiben könne, wenn er als politisches Instrument dienen solle.
Moskwa sagte auch, dass die Reformen der EU-Klimapolitik von den EU-Ländern einstimmig angenommen werden sollten – was bedeutet, dass ein Staat sie blockieren könnte. Polen hat erklärt, es unterstütze die Ziele der grünen Transformation, aber sie müssten ihre sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen berücksichtigen. rtr
Der Europäische Datenschutzbeauftragte Wojciech Wiewiórowski hat ein Verbot der umstrittenen Spionagesoftware Pegasus und vergleichbarer Werkzeuge gefordert. Die Software des israelischen Unternehmens NSO Group führe zu einem “noch nie dagewesenen Maß an Überwachung, die in die intimsten Sphären unseres täglichen Lebens reicht”, sagte der Datenschutzbeauftragte am Dienstag.
Israel war weltweit unter Druck geraten, weil mehrere Staaten die Software missbraucht haben sollen (Europe.Table berichtete), um Smartphones von Menschenrechtsaktivist:innen, Journalist:innen und Politiker:innen auszuspionieren. NSO Group behauptet, nach dem Verkauf in keiner Weise am Betrieb der Software beteiligt zu sein. “Ein Verbot der Entwicklung und des Einsatzes von Spionagesoftware mit den Fähigkeiten von Pegasus in der EU wäre die effektivste Option, um unsere Grundrechte und -freiheiten zu schützen”, sagte Wiewiórowski.
Das Europäische Parlament will zum Pegasus-Einsatz einen Sonderausschuss einsetzen (Europe.Table berichtete). Vergangenes Jahr hatten mehrere Medienorganisationen unter der Leitung der Journalistengruppe Forbidden Stories herausgefunden, dass die Spionagesoftware bei versuchten und erfolgreichen Hacks von Smartphones auf globaler Ebene verwendet wurde. rtr
Die weltweite Inflation hat sich schneller zurückgemeldet, ist deutlicher gestiegen und erweist sich als hartnäckiger und dauerhafter, als die wichtigen Notenbanken ursprünglich für möglich gehalten hatten. Nachdem das Problem zunächst in den USA die Schlagzeilen beherrschte, ist es nun in den Mittelpunkt der politischen Diskussion in vielen anderen hochentwickelten Volkswirtschaften gerückt. In 15 der 34 Länder, die im World Economic Outlook des Internationalen Währungsfonds als hochentwickelte Volkswirtschaften eingestuft werden, lag die Zwölfmonatsinflation bis einschließlich Dezember 2021 bei über 5 Prozent. Einen derart plötzlichen, gemeinsamen Anstieg einer (nach modernen Standards) hohen Inflation gab es seit 20 Jahren nicht.
Auch ist dieser steile Anstieg der Inflation nicht auf die reichen Länder beschränkt. Die Schwellen- und Entwicklungsländer wurden von einer ähnlichen Welle heimgesucht; 78 von 109 dieser Länder haben es ebenfalls mit jährlichen Inflationsraten von über 5 Prozent zu tun. Dieser Anteil der Schwellen- und Entwicklungsländer (71 Prozent) ist etwa doppelt so groß wie Ende 2020. Die Inflation hat sich daher zu einem weltweiten Problem entwickelt – oder zumindest beinah; Asien erweist sich bisher als immun.
Die Haupttreiber des steilen Anstiegs der Inflation sind länderübergreifend verschieden, insbesondere was den Vergleich zwischen hochentwickelten Volkswirtschaften und Schwellen- und Entwicklungsländern angeht. Die in den Diskussionen in den USA vorherrschenden Diagnosen einer “Überhitzung” treffen auf viele Schwellen- und Entwicklungsländer nicht zu, in denen die fiskal- und geldpolitischen Impulse in Reaktion auf COVID-19 begrenzt waren und die wirtschaftliche Erholung 2021 deutlich hinter der in den hochentwickelten Ländern zurückblieb.
Darüber hinaus sind bei den pandemiebedingten Abschwungs- und Erholungsverläufen deutliche Unterschiede zwischen den Ländergruppen unterschiedlichen Einkommens zu verzeichnen. Der Begriff Erholung sei dabei als Rückkehr einer Volkswirtschaft zum Niveau des Pro-Kopf-Einkommens von 2019 definiert. Etwa 41 Prozent der einkommensstarken, hochentwickelten Volkswirtschaften hatten diese Schwelle Ende 2021 erreicht, verglichen mit 28 Prozent der Schwellen- und Entwicklungsländer mittleren Einkommens und nur 23 Prozent der einkommensschwachen Länder.
Doch sind zwischen hochentwickelten und sich entwickelnden Volkswirtschaften die Unterschiede sogar noch größer als dieser Vergleich nahelegt, weil viele Schwellen- und Entwicklungsländer bereits vor der Pandemie einen Rückgang ihres Pro-Kopf-Einkommens verzeichneten, während es zu diesem Zeitpunkt in den hochentwickelten Volkswirtschaften neue Höchststände erreichte. Während viele Schwellen- und Entwicklungsländer in den letzten Jahren die Schätzungen ihrer potenziellen Produktionsleistung gesenkt haben, deutet wenig darauf hin, dass der Inflationsdruck dort in erster Linie von einer Überhitzung im Gefolge hoher Konjunkturimpulse ausgeht.
Eine Entwicklung, die hochentwickelte und Entwicklungsländer gemein haben, ist angesichts einer steigenden Weltnachfrage der Anstieg der Rohstoffpreise. Mit Stand Januar 2022 lagen die Ölpreise um 77 Prozent über ihrem Niveau vom Dezember 2020.
Ein weiteres wichtiges Problem, das hochentwickelte und Entwicklungsländer gleichermaßen betrifft, sind die globalen Lieferketten, die durch die Ereignisse der beiden letzten Jahre noch immer schwer in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Transportkosten sind explodiert. Und anders als beim angebotsbedingten Ölpreisschock der 1970er-Jahre sind die Erschütterungen des Angebots durch COVID-19 vielfältiger und undurchsichtiger und daher, wie die Weltbank in ihrem jüngsten Bericht Global Economic Prospects betont, stärker mit Unsicherheiten behaftet.
In den Schwellen- und Entwicklungsländern haben Währungsabwertungen (bedingt durch geringere Zuflüsse ausländischen Kapitals und Herabstufungen der Länderbonität) zu Preissteigerungen bei Importwaren beigetragen. Und weil die Inflationserwartungen in den Schwellen- und Entwicklungsländern weniger stark verankert sind und stärker mit Währungsschwankungen einhergehen als in den hochentwickelten Ländern, wirken sich dort die Wechselkurse tendenziell schneller und stärker auf die Preise aus.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist die weltweite Inflation bei den Lebensmitteln. Der Anstieg der Lebensmittelpreise über zwölf Monate hinweg übertraf 2021 in 79 Prozent (86 von 109) der Schwellen- und Entwicklungsländer den Wert von 5 Prozent. Auch wenn die hochentwickelten Länder gegen steigende Lebensmittelpreise nicht immun sind, erlebten nur 27 Prozent von ihnen Preisanstiege von über 5 Prozent.
Noch schlimmer ist, dass die Lebensmittelinflation im Allgemeinen die einkommensschwachen Länder (und einkommensschwache Haushalte überall) besonders hart trifft. Das macht sie faktisch zu einer Art regressiver Steuer. Lebensmittel machen in den Schwellen- und Entwicklungsländern einen viel größeren Teil des Konsums eines Durchschnittshaushalts aus; die Inflation dürfte sich in diesen Ländern daher als hartnäckig erweisen. Die heutigen erhöhten Energiepreise werden sich (aufgrund etwa höherer Kosten für Dünger, Transport) unmittelbar in höheren künftigen Lebensmittelpreisen niederschlagen.
Obwohl die meisten Schwellen- und Entwicklungsländer heute keine festen Wechselkurse mehr haben – wie es in den inflationsanfälligen 1970er-Jahren der Fall war -, bleibt der Spielraum für eine “wirklich unabhängige” Geldpolitik in kleinen, offenen Volkswirtschaften ungeachtet ihrer flexiblen Wechselkurse begrenzt. Die Gefahr, dass sie die Inflation aus den globalen Finanzzentren importieren, ist kein Überbleibsel vergangener Zeiten.
Tatsächlich ist das auffälligste Merkmal der heutigen Inflation ihre Allgegenwärtigkeit. In Ermangelung weltweiter politischer Optionen zur Behebung der Störungen in den Lieferketten bleibt die Aufgabe der Inflationsbekämpfung an den wichtigen Notenbanken hängen. Auch wenn die USA (im historischen Vergleich) 2022 eine bescheidene Straffung ihrer Geldpolitik erleben dürften, wird das kaum ausreichen, um das Preiswachstum zu zügeln. Wie Kenneth Rogoff und die Koautorin in einem Aufsatz aus dem Jahr 2013 dokumentiert haben, rührte die Hartnäckigkeit der Inflation der 1970er-Jahre aus der Neigung der US Federal Reserve her, nicht früh genug ausreichend zu tun (bis zu Paul Volckers Ankunft).
Natürlich wäre eine zeitnähere und robustere politische Reaktion der wichtigen Notenbanken für die Schwellen- und Entwicklungsländer kurzfristig keine gute Nachricht. Die meisten würden höhere Finanzierungskosten erleben, und bei einigen könnten Schuldenkrisen deutlich wahrscheinlicher werden. Trotzdem wären die langfristigen Kosten eines verzögerten Handelns größer. Weil die USA und andere hochentwickelte Volkswirtschaften es während der 1970er-Jahre versäumten, die Inflation rasch zu bekämpfen, wurden dort letztlich deutlich drakonischere Maßnahmen nötig, die – neben einer Schuldenkrise der Entwicklungsländer – zur zweitschwersten Rezession in den USA nach dem Krieg führten.
Wie es so schön heißt: “Gleich getan ist viel gespart.” Bis jedoch etwas getan wird, wird das Wiederaufleben der Inflation die Ungleichheit sowohl innerhalb als auch zwischen Ländern weiter verschärfen.
In Kooperation mit Project Syndicate, 2022. Aus dem Englischen von Jan Doolan.
Der Weltraum. Unendliche Weiten. Dies sind die Abenteuer… Halt! Falscher Film. Oder doch nicht? Industrie-, Binnenmarkt-, Verteidigungsindustrie- und Raumfahrt-Kommissar Thierry Breton jedenfalls hat gestern seinen Plan zum Aufbau eines europäischen Satellitenkommunikationsnetzwerkes genauer umrissen.
“Unsere neue Konnektivitätsinfrastruktur wird einen Hochgeschwindigkeits-Internetzugang bieten, als Backup für unsere derzeitige Internetinfrastruktur dienen, unsere Widerstandsfähigkeit und Cybersicherheit erhöhen und Konnektivität für ganz Europa und Afrika bereitstellen”, sagte der Kommandeur der europäischen Sternenflotte in spe. Strategisch superrelevant, extrem leistungsfähig, Europa zukunftsfest machen, darunter geht es mit Breton einfach nicht.
Nur ist das so eine Sache mit den Hochgeschwindigskeits-Internetzugängen aus dem Weltraum: Rasend schnell ist es nicht, jeder 3D-Gamer würde über diese Verbindungen fluchen – denn naturgemäß muss das Signal erst vom Boden zum Satelliten und dann wieder zurück, was länger dauert als die Lichtgeschwindigkeitsreise durch erdnahe Glasfaserkabel.
Die Satelliten brauchen zudem bis heute zudem möglichst Sichtverbindungen zur Erdoberfläche, und so manche Cloud ist dagegen. Je schlechter das Wetter, umso eher treten Leistungsverluste auf. Um das Problem halbwegs zu umgehen, benötigt es Unmengen der kleinen Kommunikations-Trabanten. So wie auch Elon Musks Starlink-Projekt, bei dem vor wenigen Tagen ein Sonnensturm mal eben 40 noch zu nah an der Erde befindliche Satelliten zum Verglühen schickte, und das Breton offensichtlich zum Vorbild für seine Pläne nahm. Thierry Breton, ein industriepolitischer Elon Musk?
Dank der deutschen Breitband-Ausbaupolitik gibt es noch ausreichend Landstriche, denen ein solches Projekt tatsächlich helfen könnte. Und ganz nebenbei würde das Ganze auch noch wie ein Jungbrunnen für die deutsch-französische, pardon, europäische Raumfahrtindustrie wirken. Da sind die angestrebten sechs Milliarden Euro, wenn es um den Aufbau der bretonisch-europäischen Sternenflotte geht, doch bestens angelegtes Geld. Ob das Projekt nach den französischen Präsidentschaftswahlen weiter vorangetrieben wird, steht derweil in den Sternen. Falk Steiner