Table.Briefing: China

SVOLT-Europachef im Interview + Schweiz ringt um China-Strategie

  • Interview: SVOLT erwartet Mangel an Akkus
  • Schweiz diskutiert Verhältnis zu China
  • Tesla muss Software des Autopiloten updaten
  • Fusion von Technikriesen freigegeben
  • FDP hat das stärkste China-Profil
  • Peking setzt Ukraine unter Druck
  • Dong Jingwei, der mutmaßliche Überläufer
  • Zur Sprache: “flachliegen”
Liebe Leserin, lieber Leser,

die Rollen sind in diesem Jahrzehnt umgedreht: China kommt als technologisch überlegener Investor nach Deutschland. “Europa kann die Elektrowende alleine nicht vollziehen”, sagt Kai-Uwe Wollenhaupt dem China.Table in unserem Montags-Interview. Der Europa-Chef des Batterieherstellers SVOLT erklärt darin, warum sein Unternehmen im Saarland gleich mit Spitzentechnik startet, während die europäische Industrie meist nur die vorige Generation nach China gebracht hat.

Wollenhaupt beschreibt damit nicht weniger als eine Zeitenwende, die eigentlich ein völliges Umdenken in der Öffentlichkeit auslösen müsste. “Die Gleichung ‘China schlecht, Europa gut’ passt in unsere globale Zeit nicht rein”, lautet seine Schlussfolgerung. “Es gibt viele Ebenen, auf denen wir China begegnen. Auf manchen als Rivalen, auf anderen als Partner.”

Genau mit dem Dilemma “Partner oder Rivale?” kämpft derzeit auch die Schweiz. Amelie Richter analysiert, warum die überfällige Anpassung der China-Politik unserem Nachbarn so schwerfällt. Auch wenn die Schweiz kleiner ist und nicht der EU angehört: Die Fragen, die in Bern diskutiert werden, geben einen Vorgeschmack auf das, was die neue Bundesregierung nach der Wahl auch in Deutschland bewältigen muss.

Einen guten Start in die Woche wünscht

Ihr
Finn Mayer-Kuckuk
Bild von Finn  Mayer-Kuckuk

Interview

“Die hohe Akzeptanz der Elektromobilität hat die Industrie überrascht”

Kai-Uwe Wollenhaupt, President SVOLT Europe & Vice President SVOLT Energy Technology
Kai-Uwe Wollenhaupt, President SVOLT Europe

Herr Wollenhaupt, die Zahl der möglichen Standorte für die Investition von SVOLT in Europa ging in die Dutzende. Weshalb das Saarland?

Dafür sprechen viele Faktoren. Was uns aber am meisten überzeugt hat, ist das sehr agile politische Umfeld, in dem wir durch die zusätzliche Unterstützung durch die SHS Strukturholding Saar wertvolle Hilfe bei der Umsetzung unserer Vorhaben erhalten.

In welcher Form?

Die Strukturholding wird die Gebäude und Infrastruktur der Zellfabrik in Überherrn und der Modul- und Hochvoltspeicherfabrik in Heusweiler bauen. Wir sprechen ab, was wir brauchen, und die Strukturholding erarbeitet dann die Umsetzung, damit wir erst gar nicht in die Falle tappen, eine chinesische Lösung auf die europäischen Anforderungen anzuwenden. In diesem Fall könnte die Umsetzung unter Umständen signifikant verzögert werden. Aktuell stehen wir vor der Herausforderung, die Prozesse, die in China entwickelt wurden, auf die europäischen Bedürfnisse und Anforderungen anzupassen.

Die Strukturholding ist zudem für SVOLT in Vorleistung getreten und hat die Baugrundstücke gekauft. Sie dürfen nun in aller Ruhe entscheiden, ob sie die Gelände später übernehmen oder nur pachten wollen. Was tun Sie?

Das ist noch nicht endgültig entschieden, aber das beeinflusst die Rentabilität der Strukturholding nicht. Der Standort Heusweiler entsteht auf dem ehemaligen Gelände einer Laminatfabrik. SHS hätte auch kein Problem mit einer Mietlösung, weil ihr das nach marktüblichen Konditionen eine vernünftige Rendite einbringen würde. Deswegen sagt mir mein Bauchgefühl, dass wir in Heusweiler pachten und dass es sich lohnen würde, wenn wir in Überherrn Eigentümer werden. Aber wichtig ist im Endeffekt, dass der Finanzierungsbedarf durch entsprechende Rückflüsse abgedeckt wird und entsprechende Sicherheiten da sind, damit die handelnden Partner keinerlei Risiken eingehen.

In Überherrn lohnt sich der Kauf auch deshalb, weil der Standort in einer strukturschwachen Zone liegt und Sie deshalb auf zehn Prozent der Investitionssumme als Subvention hoffen können.

Zugegeben nehmen wir das natürlich gerne mit. Andere tun das ja auch. Dennoch ist die Förderung nicht der einzige Faktor für die Investitionsentscheidung gewesen. Dies ist nur ein einmaliger positiver Effekt. Wir müssen aber einen Standort aufbauen, der langfristig profitabel ist. Da spielen Subventionen nach einigen Jahren keine Rolle mehr. Noch haben wir den finalen Antrag auf die GAW-Förderung gar nicht gestellt. Das muss präzise vorbereitet sein, denn Brüssel hat bei einem solchen Investitionsvolumen die finale Entscheidungshoheit. Aber ich gehe davon aus, dass das in unserem Falle gelingt.

Als Folge geopolitischer Entwicklungen werden chinesische Investitionen zunehmend kritisch beäugt. Spüren Sie Ablehnung?

Auf saarländischer Regierungsebene sehe ich das nicht. Das kommt eher aus einer Minderheit der Bevölkerung. Aber das ist nur ein sehr kleines Segment, das teilweise China-Bashing betreibt (im China.Table lesen). Da handelt es sich um Leute, die beunruhigt sind, dass dort ein Koloss entsteht, den man nicht greifen kann. Dadurch entstehen Ängste vor Umweltschäden und hohem Wasserverbrauch. Ich sage dazu: Wir werden den lokalen rechtlichen Ansprüchen und Regularien entsprechen. Da braucht niemand Angst zu haben. Es gibt unternehmerische Risiken, aber die gibt es überall. Die Gleichung “China schlecht, Europa gut” passt in unsere globale Zeit nicht rein.

Die wachsenden Spannungen zwischen China, den USA und Europa sind für Sie kein Grund zur Sorge?

Es gibt viele Ebenen, auf denen wir China begegnen. Auf manchen als Rivalen, auf anderen als Partner. In unserem Industrieumfeld beziehen wir uns eher auf die Partnerschaft. Als SVOLT sind wir nicht politisch aktiv. Europa kann die Elektrowende alleine nicht vollziehen. Deswegen ist diese Partnerschaft sehr hilfreich. Wenn das alles nur auf purer Rivalität aufbauen würde, hätte das Unterfangen keine Zukunft. Wenn ich in China mit Kollegen rede, wird auch stark unterschieden zwischen dem Verhältnis zu Europa und dem zu Nordamerika. Ich gehe aber auch davon aus, dass das Verhältnis zu den USA künftig weniger emotional geführt wird.

Ihr chinesischer Mitbewerber CATL baut in Thüringen einen Standort auf, Tesla will in Brandenburg produzieren, und deutsche Autobauer schaffen ebenfalls neue Kapazitäten. Wird Deutschland zum Batterie-Produktionsstandort Nummer eins in der Welt?

Naja, die Technologie kommt aus Asien – China, Korea, Japan. Da gibt es viele Leute, die einen Vorsprung im Know-how haben. Die Elektromobilität wird beispielsweise in China enorm gefördert. Es gibt viele Start-ups, die viel kürzere Entwicklungszeiten haben als wir in Europa. Das geschieht zudem unter einer wettbewerbsfähigen Kostenstruktur. In Deutschland sind es die OEM der Autobranche, die an Modellzyklen von sieben Jahren gewöhnt waren. Wir müssen hier erst einmal die Lücke schließen. Deswegen glaube ich nicht, dass wir die Technologie der Chinesen oder Koreaner überholen werden. Wenn man aber die Kraft und Geschwindigkeit, die in China existiert, mit den Vorteilen Europas positiv verbinden kann, dann schafft man ein Unternehmen, das extrem wettbewerbsfähig ist.

Welche Vorteile wollen Sie zusammenbringen?

Wir profitieren hier von einem sehr starken Maschinenbau und einem Pool hocheffizienter Arbeitskräfte, die in der Lage sind, die Komplexität, die der Batteriebau mit sich bringt, zu managen. In unserer zukünftigen Batteriezellenfabrik in Überherrn werden wir rund 3500 Prozessparameter erfolgreich managen müssen. Wenn man in China einmal eine Entscheidung gefällt hat, dann ist die Umsetzungsgeschwindigkeit enorm hoch. Wichtig ist es, die Entscheidungsfindung so zu beeinflussen, dass sie ins europäische Umfeld transferiert werden kann und wir somit von der Geschwindigkeit profitieren können. Eine der Stärken von SVOLT ist die große Zahl an internationalen Kollegen. Wir sind auch nicht perfekt, aber wir arbeiten kontinuierlich daran. Bisher funktioniert das gut. Wir sind heute noch ein kleines aber stark wachsendes Team in Europa.

Gibt es in China keine hocheffizienten Arbeitskräfte?

In China wird anders gemanagt. Auch von der Ausbildung her ist es hier in Deutschland anders. Im Saarland sorgt außerdem der Strukturwandel dafür, dass qualifizierte Fachkräfte einfacher zu finden sind, weil auch andere Unternehmen hier diesen Bedarf haben. Die Nachfrage schafft ein größeres Angebot. Und wenn man die Personalfluktuation zwischen China und Europa vergleicht, dann ist es sicher so, dass es uns hier eher gelingt, die wachsende Qualität, die wir unseren Mitarbeitern antrainieren, im Unternehmen zu halten. Nicht umsonst ist Deutschland ein erfolgreicher Exporteur trotz hoher Kostenstruktur.

Und dennoch werden Sie frühestens erst Ende 2023 in die Serienproduktion von Batterien gehen. Werden Sie das Opfer deutscher Bürokratie?

Sicherlich geschieht in Europa nicht immer alles in der Geschwindigkeit, die wir gerne hätten. Wenn man in China eine Fabrik aufbaut, braucht man anderthalb Jahre. Hier brauchen wir drei. Aber wenn man das vorher weiß, ist das kein allzu großes Problem.

Wenn es soweit ist, werden deutsche SVOLT-Batterien dann besser sein als chinesische?

Nein, wir sind ein globales Unternehmen. Die Qualität darf sich nicht unterscheiden. Die Audits führen internationale Teams durch, die überall die gleichen Maßstäbe ansetzen.

Die Branche spricht nicht gerne über die Ausschussquote, die bei rund 30 Prozent liegen soll. Hoffen sie die Quote verringern und eine höhere Anzahl von Batterien in Topqualität in Deutschland produzieren zu können?

Es würde mich freuen, wenn es so wäre. Aber auf Powerpoint kann ich viel erzählen. Ich kenne meine Kollegen in China. Die haben einen Erfahrungsvorsprung, mit dem sie einen Level erreichen, den wir hier erst noch erreichen wollen. Aber wir werden uns alle Mühe geben, dass wir irgendwann im Wettbewerb innerhalb des Unternehmens eine Benchmark setzen können.

Und dann auch für den chinesischen Markt produzieren?

Nein, so weit kommt es nicht. Wir müssen aber wettbewerbsfähig sein, gegenüber der Batterien, die vom chinesischen Markt nach Europa kommen. Das gelingt auch, weil die Chinesen uns den neusten Stand der Technologie hier in Deutschland zur Verfügung stellen. Wir Europäer haben dagegen in der Vergangenheit immer nur technologisch die zweite Generation in unsere lokalen Fertigungsstätten in China aufgebaut…

…weil deutsche Unternehmen Angst haben müssen, dass ihre Technologie gestohlen wird?

Dagegen plant SVOLT, die aktuell modernste Fabrik mit der derzeit besten Technologie in Überherrn aufzubauen. Wir bauen hier kein Copy-and-Paste. Darüber hinaus bringt SVOLT auch Technologien wie die Künstliche Intelligenz mit.

SVOLT-CEO Yang Hongxin prognostiziert, dass wegen des E-Auto-Booms die Batteriehersteller die Nachfrage der kommenden Jahre nur zu 60 bis 80 Prozent abdecken können. Hat die Branche den Boom verschlafen?

Nein, verschlafen hat da keiner was. SVOLT jedenfalls nicht. Wir hatten gegen Ende 2019 vier Gigawattstunden Batterieleistung installiert und sind jetzt schon bei dem Viereinhalbfachen. Unser Plan ist, 2025 über 200 Gigawattstunden installiert zu haben. Es ist eher so, dass das Umfeld überrascht wurde von der Akzeptanz, die die Elektromobilität zurzeit erfährt. Die ist größer, als wir als Industrie kurzfristig mitziehen können. Deswegen wird es erst einmal darum gehen, den Mangel zu managen. Jeder, der heute die Möglichkeit hat Kapazitäten zu reservieren, sollte das tun. Der Mangel wird uns erst einmal weiter begleiten.

Sie haben einen Preisverfall von derzeit rund 100 Euro pro Kilowattstunde auf nur noch 65 Euro angekündigt. Wenn aber die Nachfrage größer sein wird als das Angebot, weshalb sollten die Preise nicht steigen?

Das hat vor allem mit den steigenden Volumina und mit der fortschreitenden Produktionstechnik zu tun. Bis 2025 werden wir die Geschwindigkeit unserer Montage-Prozesse im Vergleich zu 2019 vervierfacht haben. Darüber hinaus gibt es Entwicklungen wie zum Beispiel das Nassbeschichtungsverfahren, welches mit Trockenbeschichtungstechnologien substituiert wird. Dafür benötigen wir signifikant weniger Platz und Energie. Heute gibt es auch weniger Modul-Lösungen als früher, sondern es gibt signifikante Entwicklungen das Cell-to-Pack-Verfahren anzuwenden. Dadurch steigt die Ausnutzung, sodass in gleichem Bauraum eine größere Menge Energie gespeichert werden kann. Des Weiteren werden weniger Bauteile benötigt. Im nächsten Schritt gibt es jetzt schon Überlegungen für Cell-to-Chassis-Lösungen, in dem die Batterien direkt in die Karosserien integriert werden können.

Werden Sie der Branche mit Unterstützung aus China einen Preiskampf liefern, die dem Batteriebau der deutschen OEM aus der Autoindustrie den Garaus macht?

Nein, die zukünftige Lokalisierungsquote liegt in Europa bei mehr als 60 Prozent. Das kann man aus China heraus nicht leisten. Wegen der aufwändigen Lieferkette macht es auch keinen Sinn, längerfristig aus China zu liefern. Das machen wir jetzt nur so lange, bis wir in Europa die lokalen Kapazitäten aufgebaut haben.

Das neue Anti-Sanktionsgesetz in China könnte Unternehmen dazu zwingen, eine vom Rest der Welt unabhängige Lieferkette parallel für den chinesischen Markt aufzubauen. Bereiten Sie sich auf ein solches Szenario vor?

Für uns drängt sich die Frage nach verschiedenen Lieferketten aus einer anderen Perspektive auf. Für den Batteriebau benötigen wir viele sensible Materialien, die in einem anspruchsvollen Umfeld gelagert werden müssen. Das kann man nicht alles ins Flugzeug packen, nicht einmal in einen Zug, sondern das muss größtenteils verschifft werden. Das bedeutet, die Lieferkette hat eine Reaktionszeit von ungefähr sechs Wochen. Bei einem Qualitätsproblem müssen also sechs Wochen Kapazität ausgetauscht werden. Das ist sehr teuer. Die Regularien zu den Lokalisierungsquoten tun ihr Übriges. Das heißt im Umkehrschluss aber auch, dass immer mehr erfolgreiche chinesische Zulieferer nach Europa kommen werden. Bei Batteriezellen ist “local für local” auch eine Notwendigkeit, die sich aus der Komplexität der Materialien ergibt.

Das heißt, die Stabilisierung von Lieferketten wird zu einer immer größeren Herausforderung?

Das ist sie in unserer Branche schon deshalb, weil die Entwicklungsprozesse so schnell sind und wir als Unternehmen hinterherkommen müssen. Da kann einem schon manchmal schwindelig werden. Es ist alles ein “moving target”. Wir versuchen aber, so viel Einfluss wie möglich zu nehmen, indem wir das Material für sensible Bereiche selber herstellen. Auch Firmenbeteiligungen im Miningbereich helfen uns. Aber wir als SVOLT Europa stehen da noch am Anfang. Dagegen sind unsere Partner in China bereits etabliert, in Europa gibt es da noch weiteren Handlungsbedarf.

Und der ganze Aufwand für zehn Jahre, bis der nächste Antrieb kommt.

Es wird in Zukunft unterschiedliche Antriebe geben. Es wäre zu blauäugig, mit diesem kurzen Horizont jetzt in mehrere Terrawatt zu investieren. Aber es wäre auch falsch zu glauben, es gibt nichts anderes. Es gibt aber kein gut oder schlecht. Wo Wasserstoff Sinn ergibt, wird er sich durchsetzen. Doch der Sicherheitsaspekt, den man bei Batterien in den Griff bekommt, der steht den Wasserstoff-Lösungen noch bevor. Wir haben keine Angst vor anderen Antrieben. Ganz im Gegenteil, sie werden eine sehr fruchtbare Ergänzung sein, die die Batterie keineswegs überflüssig machen.

Kai-Uwe Wollenhaupt ist seit zwei Jahren Präsident der Europa-Tochter des chinesischen Batterieherstellers SVOLT. Zuvor hatte der Manager Führungspositionen bei SCS Stahlschmidt Cable Systems, dem Dienstleister PSM International und bei dem Stahlchemie-Spezialisten SKW.
SVOLT aus Changzhou ist einer der größter Hersteller von E-Auto-Batterien in China und gewinnt weltweit schnell Marktanteile. Das Unternehmen hat sich 2018 von dem Fahrzeughersteller Great Wall abgespalten und investiert derzeit im Saarland.

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Analyse

Die Schweiz ringt um eine zeitgemäße China-Strategie

Gut drei Monate ist es nun her, dass die EU Sanktionen gegen vier Beamte und eine Organisation wegen Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang verhängt hat. Die europäischen Nicht-EU-Staaten Norwegen und Island schlossen sich den EU-Sanktionen an – die Regierung in der Schweizer Bundeshauptstadt Bern schwieg dagegen. Die Schweiz verschleppe China-Sanktionen und lasse sich auffallend viel Zeit mit einer Reaktion, kritisierten Medien. Lediglich eine Arbeitsgruppe sei gebildet worden. Fehlt den Eidgenoss:innen eine Taktik zum Umgang mit der erstarkenden Volksrepublik? In der Zivilgesellschaft und dem Parlament formen sich zunehmend Rufe nach einem Umdenken in der China-Strategie.

Für die Schweiz sind solche Überlegungen noch schwerer als für Deutschland. Ein Land mit 8,5 Millionen Einwohnern steht hier einem Milliardenvolk gegenüber. Auch wer technologisch und finanziell so stark ist wie die Schweiz, empfindet das als extremes Ungleichgewicht. Zugleich hat sich das Land in den vergangenen Jahren wirtschaftlich bewusst mit China verflochten. Was seinerzeit als schlaue Strategie galt, schafft nun Probleme.

Denn Kritiker:innen zufolge hat das bisherige Konzept in eine Sackgasse geführt: Zu lange habe das Land den Wirtschaftsbeziehungen klaren Vorrang gegeben, sagt der Politologe und Schweizer China-Experte Ralph Weber. Andere Fragen, wie die Menschenrechte, blieben außen vor. Damit habe sich die Schweiz in eine Schieflage manövriert, in der nun “zunehmende wirtschaftliche Integration auch den eigenen Handlungsbereich eingeschränkt hat”, so Weber im Gespräch mit China.Table. Es werde immer schwerer, die wirtschaftlichen Beziehungen an den eigenen Werten und Vorstellungen auszurichten.

Ein Dilemma für die Schweizer: “Man ist in einer sehr vertrackten Lage, da man die wirtschaftlichen Verbindungen zwar weiterhin vertiefen will, andererseits die Volksrepublik China global konfrontativer auftritt und die schweizerische Zivilgesellschaft und das Parlament den Druck auf die Regierung und die Wirtschaft erhöhen.” Keine Meinung oder Positionierung zu haben, ist Webers Ansicht nach nicht mehr möglich: Am Mythos der neutralen Schweiz müsse, was China betrifft, endlich “gerüttelt” werden. Weber spitzt zu: “Man könnte polemisch schon sagen: Was ist das für eine Unabhängigkeit, die sich fast in einen Fatalismus eingeht und sagt “Wir können ja eh nichts machen.” Die Schweiz hoffe, dass sich die Debatte um den richtigen China-Ansatz aussitzen lasse. “Das ist genau die Position, die nicht funktionieren wird.” 

Wirtschaft setzt auf Annäherung und Dialog

Diese Diskussion müsse das Land nun austragen, betont Weber. Der Politologe erkennt die vertrackte Lage für Unternehmen an: Die zunehmenden Berichte etwa über Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang und damit verbundene Forderungen nach nachhaltigen Lieferketten seien für Firmen natürlich “unbequem” – aber auch lange davor habe es schon Anzeichen dafür gegeben, auf welchem Weg sich China befindet, sagt Weber. Die autoritäre Entwicklung in der Volksrepublik sei bereits seit 2007/2008 sichtbar. “Deswegen kann man auch nicht einfach sagen, dass nun mit Xi Jinping in China plötzlich alles anders sei.”

In der Schweizer Wirtschaft will man aber weiterhin auf Annäherung setzen: “Ich glaube nicht, dass Bashing zu einer Verbesserung führt. Wir sind überzeugt, dass wir über Dialog mehr erreichen”, sagt Rudolf Minsch vom Dachverband Economiesuisse. Die internationale Staatengemeinschaft müsse China besser in die Wirtschaftsordnung nach dem Zweiten Weltkrieg einbinden. “Das ist unsere präferierte Lösung”, so der Ökonom. Dass das auch Risiken birgt, ist Minsch klar: “Die Interessen von China werden zum Teil sehr offensichtlich und forsch vorangetrieben.” Auch dass generell die kritischen Stimmen lauter werden, wenn es um den Austausch mit China geht, werde bei dem Wirtschaftsverband gesehen, betont Minsch. 

Auf Sanktionen werde die Schweizer Wirtschaft aber dennoch nicht setzen. Strafmaßnahmen – auch die jüngsten zwischen Brüssel und Peking – seien immer eine “politische Einschätzung” und eher “Schaulaufen”, so Minsch. Für ihn gehen sie am eigentlichen Ziel vorbei, denn: “Wenn es zu Sanktionen kommt, führt das nicht zu einer Verbesserung vor Ort.”

Minsch zufolge florieren die wirtschaftlichen Beziehungen mit China in diesem Jahr wieder. Die Coronakrise habe 2020 große Schwierigkeiten verursacht, die Lieferketten seien temporär unterbrochen gewesen. Doch die Normalisierung ging schnell: “Wir haben 2020 eine Steigerung des Außenhandels gesehen, trotz Corona.” Auch 2021 sehe es sehr positiv aus. Als Beispiele nennt Minsch die Uhren-Industrie, den Maschinenbau, Textil und Pharma

Schweizer Textilmaschinenhersteller auch in Xinjiang

Anders als die EU, deren Investitionsabkommen mit der Volksrepublik (CAI) derzeit nicht weiter bearbeitet wird, hat die Schweiz bereits seit 2014 ein Freihandelsabkommen mit China. Die Eidgenoss:innen waren damals das erste europäische Land, das eine solche Vereinbarung mit Peking abschloss. Vor allem die Schweizer Maschinenhersteller profitieren seitdem von dem Abkommen mit China. Die Textilmaschinenhersteller Rieter, Saurer und Uster Technologies sind auch in Xinjiang tätig. Rieter wirbt einem Bericht von SRF zufolge auf seiner Webseite sogar mit seinen Kunden in der Region. Dazu gehören die Textilunternehmen Changji Esquel und Aksu Huafu. Beides Unternehmen, die von den USA mit Sanktionen belegt wurden, weil sie Zwangsarbeit in der Produktion einsetzen sollen.

Auch die Schweiz macht sich Gedanken darüber, wie Lieferketten nachhaltiger gestaltet werden und Produkte aus mit Menschenrechtsverletzungen verbundener Herstellung vermieden werden können. Die sogenannte Volksinitiative zur Firmenverantwortung war zuletzt jedoch im November 2020 an der Urne knapp gescheitert. “Wir sind froh, dass das abgelehnt wurde. Es hätte sich um eine neuartige Regulierungsform mit Durchsetzung vor Schweizer Gerichten gehandelt”, sagt Minsch von Economiesuisse. Die damit verbundene Missbrauchsanfälligkeit hätte die Unternehmen in der Schweiz stark exponiert. Ein nun vorliegender Gegenvorschlag verzichte auf “experimentelle Rechtsinstrumente” und orientiere sich an der Regulierung in der EU, gehe aber etwas darüber hinaus, so Minsch. Generell gibt es aber ein Problem: “Die Kontrolle ist fast unmöglich durchzusetzen”, sagt Minsch.

Als richtigen Ansatz sieht der Ökonom indes den Menschenrechtsdialog zwischen der Schweiz und China. “Über den Dialog hat die Schweiz ihre Forderungen eingebracht, das ist die richtige Stoßrichtung.” Von der Corona-Pandemie sei der Austausch aber jäh unterbrochen worden. Minsch zeigt jedoch Zweifel daran, welchen Einfluss der Dialog wirklich haben kann: “Es wäre aber auch vermessen, dass die Schweiz als kleiner Staat China Vorschriften macht.”

Mattli: Gegenvorschlag zu Konzernverantwortung ist “zahnlos”

Da die Initiative zur Konzernverantwortung abgelehnt wurde, könnte der vom Parlament beschlossene Gegenvorschlag noch in diesem Jahr in Kraft treten – sofern es kein Referendum darüber geben sollte. Die Referendumsfrist läuft im Juli ab. Der Gegenvorschlag verlangt von größeren Firmen nach dem Muster des EU-Lieferkettengesetzes Berichterstattungspflichten zu Themen wie Umwelt, Menschenrechten und Korruption. Betroffen wären börsennotierte Firmen und nicht notierte Finanzdienstleister ab 500 Mitarbeiter:innen. Hinzu kommen spezifische Sorgfaltspflichten in Sachen Kinderarbeit und Konfliktmaterialien. Diese Pflichten würden dann jeweils die ganze Lieferkette umfassen.

Der Gegenvorschlag zur Konzernverantwortung sei “zahnlos”, sagt Angela Mattli von der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in der Schweiz. “Das ist nicht mehr als ein freiwilliges Reporting für Unternehmen in einer willkürlichen Auswahl von Risikobranchen.” Auch dem Menschenrechtsdialog kann Mattli nur wenig abgewinnen: Denn was dieser wirklich bringe, sei fraglich. Eigentlich hätte das Gesprächsformat jedes Jahr stattfinden sollen. Zuletzt habe es den Dialog aber 2018 gegeben – also lange vor Beginn der Corona-Pandemie.

“In der Beziehung zu China hat sich die Schweiz bisher zu stark auf die Wirtschaft konzentriert, die Menschenrechte haben bisher eine eher kleinere Rolle gespielt”, so Mattli. Was der Dialog zwischen Bern und Peking bringt, soll nun überprüft werden. Dass der Dialog evaluiert werde, sei gut und dringend nötig gewesen, findet Mattli. Sie fordert, dass sich die Schweiz den EU-Sanktionen gegen Beamte in Xinjiang anschließt. Generell bedarf es ihrer Ansicht nach mehr Kooperation mit Brüssel. 

Die EU könnte dabei auch von der Schweiz lernen. Denn diese hat durch das Freihandelsabkommen bereits Erfahrung mit chinesischen Zusagen, beispielsweise was die Umsetzung zugesagter Vorgaben und Kernnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) angeht. Im CAI sagte die chinesische Seite zu, sich um die Implementierung und Anerkennung mancher ILO-Vorgaben “zu bemühen”. Kann sich die EU darauf verlassen, dass Zugeständnisse vonseiten China auch in die Tat umgesetzt werden? Mattli hat darauf mit Hinblick auf die Schweizer Erfahrungen eine deutliche Antwort: “Im Moment denke ich nicht, nein.” Was dazu aus der Volksrepublik gesagt werde, seien “schöne Worte” – mehr aber auch nicht.

Außenpolitische Kommission für Neuverhandlung des Abkommens

Einen kleinen Schritt in Richtung Neuaufstellung der chinesisch-schweizerischen Beziehungen ging das Parlament am Freitag. Mit 13 zu 12 Stimmen sprach sich die Außenpolitische Kommission des Nationalrates knapp dafür aus, das Freihandelsabkommen mit China neu zu verhandeln, wie die GfbV mitteilte. Mit der Annahme der entsprechenden Resolution solle nun der Bundesrat beauftragt werden, mit der chinesischen Regierung ein zusätzliches Kapitel zur Einhaltung der internationalen Standards im Bereich Menschen- und Arbeitsrechte auszuhandeln.

Ob es dazu kommen wird, ist jedoch fraglich, die Kommission hat primär beratende Funktion. Sie ähnelt damit einem Ausschuss des Deutschen Bundestags. Der entscheidende Schritt, raus aus einer vermeintlichen Neutralität der Schweiz, muss von der Regierung kommen. Doch dort herrscht weiterhin Stillstand – diesmal vielleicht aber fremdbestimmt: Eigentlich wollte Wirtschaftsminister und Bundespräsident Guy Parmelin als einer der ersten politischen Besucher aus Europa nach dem Corona-Ausbruch im Juli nach Peking reisen. Die Pläne scheiterten allerdings an Chinas Einreisebestimmungen: Die Wirtschaftsdelegation hätte sich nach der Ankunft in Quarantäne begeben müssen. 

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News

Unruhiger Autopilot macht “Rückruf” von 285.000 Teslas nötig

Tesla muss offenbar die Software von Tausenden seiner Fahrzeuge in China aktualisieren. In über 285.000 bereits verkauften Tesla-Modellen gibt es nach Berichten von AFP, Bloomberg und Reuters Probleme mit dem Autopiloten. Das System könne sich während der Fahrt versehentlich selbst aktivieren. Nach dem Anspringen beschleunigt es dann zuweilen unkontrolliert, was Unfälle verursachen könne. Die Nachbesserunge erfolgt per Update, die Fahrzeuge müssen nicht in die Garage. Formal handelt es sich sich jedoch um einen Rückruf, den die Behörden angeordnet haben.

Elon Musk musste sich in den vergangenen Monaten immer wieder mit Rückschlägen auf dem für Tesla wichtigsten Markt in China auseinandersetzen. Die Kritik einer Tesla-Kundin bei der Automesse in Shanghai im Mai zeigte öffentlichkeitswirksam die Wut von Teslabesitzern hinsichtlich mangelnder Sicherheitsstandards (China.Table berichtete). Peking hat seinen Beamten und Institutionen auf lokaler Ebene zuletzt den Besitz von Tesla-Autos mit der Begründung auf die Sicherheitsrisiken untersagt. Die Volksrepublik ist der größte Absatzmarkt für Neufahrzeuge und ein Drittel der weltweit neu zugelassenen Teslas entfallen auf China. Im vergangenen Jahr verdoppelte Tesla seinen Umsatz in China auf 6,6 Milliarden US-Dollar. niw

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Großfusion von CETC und Potevio erhält grünes Licht

Die chinesische Regierung hat die Verschmelzung zweier großer staatlicher Technikkonzerne zu einem neuen Marktführer genehmigt. China Electronics Technology Group Corporation (CETC) darf wie geplant die China Putian Information Industry Group (Potevio) übernehmen. Das meldet die japanische Wirtschaftszeitung “Nikkei”. Durch den Zusammenschluss der beiden Unternehmen entsteht einer der größten Technikkonzerne der Welt (China.Table berichtete). Die Planer haben die Fusion aus strategischen Gründen eingefädelt. Sie sollen dabei helfen, das eigene Land von Technik aus den USA unabhängiger zu machen.

CETC und Potevio sind wichtige Militärzulieferer. Sie sind trotz ihrer Größe bisher auf die Bestellung zahlreicher Komponenten in den USA angewiesen – beispielsweise bei Chips für drahtlose Datenübertragung. Die Regierung hofft, dass sie gemeinsam groß genug sind, um alle nötigen Bauteile künftig selber zu entwickeln. Gemeinsamen kommen die beiden Staatsbetriebe auf einen Umsatz von rund 50 Milliarden Dollar. fin

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Merics: FDP hat im Wahlkampf die meisten China-Inhalte

Das Berliner Forschungsinstitut Merics hat die Wahlprogramme der Parteien im Detail auf ihre China-Positionen hin durchleuchtet. Das Ergebnis des systematischen Vergleichs: Die FDP geht in ihrem Programm am umfangreichsten auf China ein und schlägt insgesamt einen kritischen Ton an. Die wenigsten Erwähnungen des Landes finden sich im Programm der Linken. Doch auch die CDU formuliert nur zu wenigen offenen Fragen eine Position. Die Grünen und SPD liegen im Mittelfeld. “Während die CDU/CSU vor allem die außen- und sicherheitspolitische Herausforderung betont, die China darstellt, legen die Grünen ihren Schwerpunkt auf die Menschenrechtslage einerseits und die Notwendigkeit eines Klimadialogs andererseits”, schreibt Studienautorin Ariane Reimers.

Dennoch finden sich zahlreiche Gemeinsamkeiten der beiden Spitzenreiter in diesem Wahlkampf. So sind sich die Unionsparteien und die Grünen bei der “grundsätzlichen Einordnung” Chinas erstaunlich einig: beide bezeichnen es als “Wettbewerber, Partner, systemischer Rivale”. Beide sind zudem dafür, China gemeinsam mit den USA entgegenzutreten, um gemeinsame Interessen wie den Datenschutz durchzusetzen. fin

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Peking setzt Ukraine unter Druck

China hat der Ukraine gedroht, die für das Land bestimmten Corona-Impfstoffe zurückzuhalten, sollten die Ukraine ihre Unterstützung für einen Aufruf für mehr Kontrolle zur Einhaltung von Menschenrechten in der Region Xinjiang nicht zurückziehen. Die Ukraine hatte sich vergangene Woche zunächst einer Erklärung von über 40 Ländern angeschlossen (China.Table berichtete), in der China aufgefordert wurde, unabhängigen Beobachtern den Zugang zu Xinjiang zu gewähren. Menschenrechtsorganisationen werfen China vor, die Minderheit der muslimischen Uiguren dort zu misshandeln. Chinas weltweite Impfdiplomatie hatte zuletzt auch Europa gespalten (China.Table berichtete).

Unter dem Druck Chinas soll die Ukraine ihre Interstützung für die Erklärung vor Veröffentlichung zurückgezogen haben, so AP, die sich auf zwei Diplomatenaussagen stützt. Laut Gesundheitsminister Maxim Stepanov hatte die Ukraine bis Anfang Mai 1,2 der 1,9 Millionen angekündigten Impfdosen von dem chinesischen Impfstoffhersteller Sinovac erhalten. Einer der beiden westlichen Diplomaten nannte es ein Zeichen der “nackten” Diplomatie Chinas. niw

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Presseschau

Senior Nato officer warns of China’s ‘shocking’ military advances FT (PAY)
France and U.S. Agree on the Perils of a Rising China, Blinken Says NYTIMES
Scholars on LinkedIn Are Being Blocked in China ‘Without Telling Them Why’ WSJ (PAY)
China releases new visuals captured by Tianwen-1 Mars probe GLOBALTIMES (STAATSMEDIUM)
Apple Daily’s death leaves a shadow over free press in Hong Kong FT (PAY)
China eyes new generation of tech-driven helicopters GLOBALTIMES (STAATSMEDIUM)
President Xi to grant July 1 Medal to outstanding Party members on Tuesday CTGN (STAATSMEDIUM)
Chinas RRaumfahrt: Die neue Supermacht im All WELT (PAY)
Tesla ruft in China offenbar 285.000 Fahrzeuge zurück SPIEGEL
100 Jahre Kommunistische Partei Chinas FAZ

Portrait

Dong Jingwei – Topspion auf Abwegen?

Dong Jingwei, ehemaliger Chef der Spionageabwehr Chinas

Ein Gerücht, das klingt, als hätten es Donald Trump und seine Anhängerschaft in die Welt gesetzt: Das Coronvirus sei womöglich nicht auf natürlichem Weg entstanden, sondern im Institut für Virologie in Wuhan. Doch dieses Mal ist es nicht Trump, der diesen Verdacht äußert, sondern sein Nachfolger Joe Biden. Biden wird eigentlich nachgesagt, erst die Faktenlage zu checken, bevor er sich mit einem Thema an die Öffentlichkeit wagt. Doch nun hat er seinen Geheimdiensten befohlen, mit “aller Anstrengung dem Ursprung der Corona-Pandemie” nachzugehen. Und die Labor-Theorie schließt auch er nicht mehr aus.  

Die Quelle hat die US-Regierung offiziell nicht genannt. Aber die Gerüchte verdichten sich, dass es sich bei dem Hauptinformanten um niemand geringeres handelt als um Dong Jingwei (董经纬), den ehemaligen Chef der Spionageabwehr und – sollte er noch im Amt sein – Vizeminister des mächtigen Ministeriums für Staatssicherheit (MSS), in China selbst auch bekannt und gefürchtet als Guoanbu. Dem US-Nachrichtenportal Daily Beast zufolge soll der Topspion bereits Mitte Februar mit seiner Tochter über Hongkong in die USA geflohen sein und die Behörden mit entsprechenden Informationen versorgt haben, darunter auch über Chinas Biowaffenprogramm. Es wäre der ranghöchste chinesische Überläufer in die Vereinigten Staaten. Bisher handelt es sich nur um Gerüchte. Wenn sie sich aber bewahrheiteten, dann schlüge das ein wie eine Bombe. Offiziell bestreitet die US-Regierung einen solchen Übertritt (China.Table berichtete).

Geboren im Kreis Zhao in der Provinz Hebei in der Nähe von Peking leitete Dong Jingwei bis 2017 die Abteilung für Staatssicherheit der Provinz Hebei. Er hätte es wahrscheinlich nicht zu nationaler Bedeutung gebracht, wäre er nicht 2010 einer der Drahtzieher der Verhaftung von vier japanischen Geschäftsleuten gewesen, die angeblich Aufnahmen einer Militäreinrichtung gemacht hatten. Die Verhaftung wandte sich explizit gegen den damaligen Staats- und Parteichef Hu Jintao, dem die Hardliner innerhalb der KP Chinas einen zu laxen Umgang mit ausländischen Geschäftsleuten vorwarfen. Zu Hus schärfsten internen Kritikern gehörte auch Xi Jinping, damals noch Vize-Parteichef. 

Nachdem Xi zum Staats- und Parteichef aufgestiegen war, gab es auch für Dong Jingweis Aufstieg im Sicherheitsapparat keinen Halt mehr. 2018 wurde Dong Jingwei zum Vize-Chef der Staatssicherheit ernannt. Er wurde auch persönlich zu einem der engsten Berater von Xi Jinping. Die Informationen, die er den USA möglicherweise zukommen ließ, könnten es entsprechend in sich haben. Neben frühen Studien des Coronavirus und unterschiedlichen Szenarien seiner Ausbreitung soll er auch verraten haben, welche Regierungseinrichtungen und Organisationen involviert waren. Auch die Identitäten chinesischer Agenten soll er den USA mitgeteilt haben. 

Dong Jingwei angeblich auch Thema beim Spitzentreffen

Dass Dong Jingwei und seine Tochter in die USA geflohen sei, bestätigt auch Han Lianchao, ein früherer Mitarbeiter des chinesischen Außenministeriums, der sich nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Tiananmen-Platz im Jahre 1989 in die USA abgesetzt hatte. Han zufolge soll Dong Jingweis Flucht auch beim Treffen zwischen US-Außenminister Antony Blinken und seinem chinesischen Amtskollegen Wang Yi im März in Alaska Thema gewesen sein und zusätzlich zur miesen Stimmung beigetragen haben. Wang hatte gefordert, Dong nach China zurückzuführen – was Blinken ablehnte.

Was die Glaubwürdigkeit an diesen Berichten allerdings trübt: Es sind in den USA vor allem konservative und Trump-freundliche Medien, die die Gerüchte aufgreifen und sie zum Anlass nehmen, die Biden-Regierung zu kritisieren. Denn Biden hatte lange nichts von der Labor-Theorie wissen wollen. 

In China selbst wird Dong Jingwei in den chinesischen Staatsmedien lediglich im Zusammenhang mit einem Seminar erwähnt, auf dem er andere Geheimdienstoffiziere dazu aufforderte, “alle Bemühungen zu verstärken, ausländische Agenten und Insider zu jagen, die mit ‘antichinesischen’ Kräften zusammenarbeiten”. Wenn Zweifel am Aufenthaltsort oder dem Gesundheitszustand eines Kaders aufkommen, reagiert China zuweilen damit, aktuelle Bilder der Person in den Staatsmedien zu veröffentlichen – ein Dementi mit chinesischen Charakteristiken.

Aus dem Bericht geht aber weder Ort noch genaue Zeit des Seminars hervor. Außerdem hat die Regierung am 23. Juni ein Bild veröffentlicht, auf dem Dong Jingwei bei einer Sitzung der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) zu sehen ist. Ob er das auf dem Bild aber wirklich ist, lässt sich nicht eindeutig sagen. Zumindest sitzt er exakt in der gleichen Pose wie auf einem anderen Bild aus der Vergangenheit. Felix Lee

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Personalien

Derek Chang is the new CEO at content protection provider Friend MTS. Chang was most recently CEO of NBA China until early June and has held leadership positions at several recognized sports, media, and entertainment providers in his career. He will be based for Friend MTS out of London. Chang was named one of the “50 Most Influential People in Sports Business” by Sports Business Journal and one of the “Top 100 Leaders in Cable” by Cablefax Magazine. He holds an MBA from Stanford University and a bachelor’s degree in history from Yale University.

Extensive management changes were announced at Bosch: Stefan Hartung will be the new chairman of the management board. The 55-year-old previously headed the dominant mobility division at Bosch and is set to take over leadership at the automotive supplier in 2022. In the first quarter, Bosch benefited most from China. Sales there were up 54.4 percent compared to the same quarter a year prior, but also up 26.7 percent compared to the first quarter of 2019.

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Zur Sprache

tangpíng 躺平 – flachliegen

躺平 – tǎngpíng – flachliegen

Wann hat man das stabilste Gleichgewicht? Genau, im Liegen. Mag das vielleicht auch für die Work-Life-Balance zutreffen? In China jedenfalls trended derzeit das sogenannte Flachliegen (躺平tǎngpíng, aus 躺tǎng = “liegen” und 平píng “flach”) als Social-Media-Schlagwort. Es ist als eine Art stilles Auflehnen der jungen Generation gegen ein zunehmend durch Konkurrenzdruck und schwindende Aufstiegschancen geprägtes Bildungs- und Arbeitsumfeld in den großen Metropolen des Landes zu verstehen. Viele junge Chines:innen sind mit dem, was nach jahrelangem Büffeln (auf Schul- und Unibänken) und Burnen (am Arbeitsplatz) unterm Strich herauskommt, unzufrieden. Ausklinken aus dem Wettbewerb erscheint da als attraktiver Ausweg. Flachliegen statt Querstellen also. Mögen sich die anderen aufreiben.

Generell wächst sich im chinesischen Sprachgebrauch seit einiger Zeit ein stattliches neues Wortfeld rund um die Work-Life-Balance (工作与生活的平衡 gōngzuò yǔ shēnghuó de pínghéng) aus. Zahlreiche Neologismen spiegeln das Spannungsfeld, das der rasante Wirtschaftsausstieg und die Tech-Revolution im Alltag hinterlassen haben. Schon vor einigen Jahren traten die sogenannten Buddhist-Youngsters auf den Plan, eine Art Vorgänger der “Tangpinger”. Schon damals deutete sich an, dass viele junge Chinesen genug davon hatten, sich wegen Schulstress, Karrieresorgen, Wohnungskauf und Partnersuche verrückt zu machen. Mehr Gelassenheit – weniger Muss, so lautete ihr Credo. In der chinesischen Internetsprache wurde diese Lebenseinstellung damals unter dem Hashtag 佛系 fóxì subsumiert, die Dinge “buddhistisch angehen” oder es “buddhistisch nehmen”, so könnte man sagen. Die Follower taufte man entsprechend 佛系青年 fóxì qīngnián “buddhistisch eingestellte Jugend”.

Zu den neuesten Wortkreationen gehört außerdem die Zahlenkombi 996 (jiǔ jiǔ liù), die ausufernde Arbeitszeiten und die neue Überstundenkultur beschreibt (von 9 bis 9 Uhr schuften – und das 6 Tage die Woche). Und unter dem Schlagwort 内卷 nèijuǎn (“Involution”) werden alle Arten von übertriebenem, ja teils ins Absurde ausuferndem Wettbewerb zusammengefasst, die sich manchmal regelrecht verselbstständigen (ein Beispiel ist der Nachhilfe-Wahn, mit dem sich chinesische Mittelschichteltern übertrumpfen). “Neijuan” ist im wahrsten Wortsinne “eine Rolle inwärts”, die allen Beteiligten das Leben schwer macht.

So verführerisch und Meme-reich die Flachliegen-Philosophie auch daherkommen mag, bleibt es tatsächlich natürlich schwierig, sich aus den gesellschaftlichen und familiären Verpflichtungen völlig “freizuliegen”. Schließlich muss man sich die Liegelogik auch leisten können. Da werden Erinnerungen an schon fast vergessene Klassenunterschiede im chinesischen Schienenverkehr wach, wo man traditionell zwischen Soft- und Hard-Sleeper-Abteilen (软卧 ruǎnwò “weich liegen” und 硬卧 yìngwò “hart liegen”) unterscheidet. Analog gibt es auch unter Tangpingern durchaus unterschiedliche Liegeklassen. Denn nur wer ein entsprechendes Finanz- oder Beziehungspolster mitbringt, wird weich und komfortabel liegen und sich die eine oder andere Verweigerungshaltung leisten können. Für andere liegt es sich auf der Tangping-Matratze auf lange Sicht dagegen leider eher hart.

Verena Menzel betreibt in Peking die Online-Sprachschule www.new-chinese.org 

China.Table Redaktion

CHINA.TABLE REDAKTION

Licenses:
    • Interview: SVOLT erwartet Mangel an Akkus
    • Schweiz diskutiert Verhältnis zu China
    • Tesla muss Software des Autopiloten updaten
    • Fusion von Technikriesen freigegeben
    • FDP hat das stärkste China-Profil
    • Peking setzt Ukraine unter Druck
    • Dong Jingwei, der mutmaßliche Überläufer
    • Zur Sprache: “flachliegen”
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    die Rollen sind in diesem Jahrzehnt umgedreht: China kommt als technologisch überlegener Investor nach Deutschland. “Europa kann die Elektrowende alleine nicht vollziehen”, sagt Kai-Uwe Wollenhaupt dem China.Table in unserem Montags-Interview. Der Europa-Chef des Batterieherstellers SVOLT erklärt darin, warum sein Unternehmen im Saarland gleich mit Spitzentechnik startet, während die europäische Industrie meist nur die vorige Generation nach China gebracht hat.

    Wollenhaupt beschreibt damit nicht weniger als eine Zeitenwende, die eigentlich ein völliges Umdenken in der Öffentlichkeit auslösen müsste. “Die Gleichung ‘China schlecht, Europa gut’ passt in unsere globale Zeit nicht rein”, lautet seine Schlussfolgerung. “Es gibt viele Ebenen, auf denen wir China begegnen. Auf manchen als Rivalen, auf anderen als Partner.”

    Genau mit dem Dilemma “Partner oder Rivale?” kämpft derzeit auch die Schweiz. Amelie Richter analysiert, warum die überfällige Anpassung der China-Politik unserem Nachbarn so schwerfällt. Auch wenn die Schweiz kleiner ist und nicht der EU angehört: Die Fragen, die in Bern diskutiert werden, geben einen Vorgeschmack auf das, was die neue Bundesregierung nach der Wahl auch in Deutschland bewältigen muss.

    Einen guten Start in die Woche wünscht

    Ihr
    Finn Mayer-Kuckuk
    Bild von Finn  Mayer-Kuckuk

    Interview

    “Die hohe Akzeptanz der Elektromobilität hat die Industrie überrascht”

    Kai-Uwe Wollenhaupt, President SVOLT Europe & Vice President SVOLT Energy Technology
    Kai-Uwe Wollenhaupt, President SVOLT Europe

    Herr Wollenhaupt, die Zahl der möglichen Standorte für die Investition von SVOLT in Europa ging in die Dutzende. Weshalb das Saarland?

    Dafür sprechen viele Faktoren. Was uns aber am meisten überzeugt hat, ist das sehr agile politische Umfeld, in dem wir durch die zusätzliche Unterstützung durch die SHS Strukturholding Saar wertvolle Hilfe bei der Umsetzung unserer Vorhaben erhalten.

    In welcher Form?

    Die Strukturholding wird die Gebäude und Infrastruktur der Zellfabrik in Überherrn und der Modul- und Hochvoltspeicherfabrik in Heusweiler bauen. Wir sprechen ab, was wir brauchen, und die Strukturholding erarbeitet dann die Umsetzung, damit wir erst gar nicht in die Falle tappen, eine chinesische Lösung auf die europäischen Anforderungen anzuwenden. In diesem Fall könnte die Umsetzung unter Umständen signifikant verzögert werden. Aktuell stehen wir vor der Herausforderung, die Prozesse, die in China entwickelt wurden, auf die europäischen Bedürfnisse und Anforderungen anzupassen.

    Die Strukturholding ist zudem für SVOLT in Vorleistung getreten und hat die Baugrundstücke gekauft. Sie dürfen nun in aller Ruhe entscheiden, ob sie die Gelände später übernehmen oder nur pachten wollen. Was tun Sie?

    Das ist noch nicht endgültig entschieden, aber das beeinflusst die Rentabilität der Strukturholding nicht. Der Standort Heusweiler entsteht auf dem ehemaligen Gelände einer Laminatfabrik. SHS hätte auch kein Problem mit einer Mietlösung, weil ihr das nach marktüblichen Konditionen eine vernünftige Rendite einbringen würde. Deswegen sagt mir mein Bauchgefühl, dass wir in Heusweiler pachten und dass es sich lohnen würde, wenn wir in Überherrn Eigentümer werden. Aber wichtig ist im Endeffekt, dass der Finanzierungsbedarf durch entsprechende Rückflüsse abgedeckt wird und entsprechende Sicherheiten da sind, damit die handelnden Partner keinerlei Risiken eingehen.

    In Überherrn lohnt sich der Kauf auch deshalb, weil der Standort in einer strukturschwachen Zone liegt und Sie deshalb auf zehn Prozent der Investitionssumme als Subvention hoffen können.

    Zugegeben nehmen wir das natürlich gerne mit. Andere tun das ja auch. Dennoch ist die Förderung nicht der einzige Faktor für die Investitionsentscheidung gewesen. Dies ist nur ein einmaliger positiver Effekt. Wir müssen aber einen Standort aufbauen, der langfristig profitabel ist. Da spielen Subventionen nach einigen Jahren keine Rolle mehr. Noch haben wir den finalen Antrag auf die GAW-Förderung gar nicht gestellt. Das muss präzise vorbereitet sein, denn Brüssel hat bei einem solchen Investitionsvolumen die finale Entscheidungshoheit. Aber ich gehe davon aus, dass das in unserem Falle gelingt.

    Als Folge geopolitischer Entwicklungen werden chinesische Investitionen zunehmend kritisch beäugt. Spüren Sie Ablehnung?

    Auf saarländischer Regierungsebene sehe ich das nicht. Das kommt eher aus einer Minderheit der Bevölkerung. Aber das ist nur ein sehr kleines Segment, das teilweise China-Bashing betreibt (im China.Table lesen). Da handelt es sich um Leute, die beunruhigt sind, dass dort ein Koloss entsteht, den man nicht greifen kann. Dadurch entstehen Ängste vor Umweltschäden und hohem Wasserverbrauch. Ich sage dazu: Wir werden den lokalen rechtlichen Ansprüchen und Regularien entsprechen. Da braucht niemand Angst zu haben. Es gibt unternehmerische Risiken, aber die gibt es überall. Die Gleichung “China schlecht, Europa gut” passt in unsere globale Zeit nicht rein.

    Die wachsenden Spannungen zwischen China, den USA und Europa sind für Sie kein Grund zur Sorge?

    Es gibt viele Ebenen, auf denen wir China begegnen. Auf manchen als Rivalen, auf anderen als Partner. In unserem Industrieumfeld beziehen wir uns eher auf die Partnerschaft. Als SVOLT sind wir nicht politisch aktiv. Europa kann die Elektrowende alleine nicht vollziehen. Deswegen ist diese Partnerschaft sehr hilfreich. Wenn das alles nur auf purer Rivalität aufbauen würde, hätte das Unterfangen keine Zukunft. Wenn ich in China mit Kollegen rede, wird auch stark unterschieden zwischen dem Verhältnis zu Europa und dem zu Nordamerika. Ich gehe aber auch davon aus, dass das Verhältnis zu den USA künftig weniger emotional geführt wird.

    Ihr chinesischer Mitbewerber CATL baut in Thüringen einen Standort auf, Tesla will in Brandenburg produzieren, und deutsche Autobauer schaffen ebenfalls neue Kapazitäten. Wird Deutschland zum Batterie-Produktionsstandort Nummer eins in der Welt?

    Naja, die Technologie kommt aus Asien – China, Korea, Japan. Da gibt es viele Leute, die einen Vorsprung im Know-how haben. Die Elektromobilität wird beispielsweise in China enorm gefördert. Es gibt viele Start-ups, die viel kürzere Entwicklungszeiten haben als wir in Europa. Das geschieht zudem unter einer wettbewerbsfähigen Kostenstruktur. In Deutschland sind es die OEM der Autobranche, die an Modellzyklen von sieben Jahren gewöhnt waren. Wir müssen hier erst einmal die Lücke schließen. Deswegen glaube ich nicht, dass wir die Technologie der Chinesen oder Koreaner überholen werden. Wenn man aber die Kraft und Geschwindigkeit, die in China existiert, mit den Vorteilen Europas positiv verbinden kann, dann schafft man ein Unternehmen, das extrem wettbewerbsfähig ist.

    Welche Vorteile wollen Sie zusammenbringen?

    Wir profitieren hier von einem sehr starken Maschinenbau und einem Pool hocheffizienter Arbeitskräfte, die in der Lage sind, die Komplexität, die der Batteriebau mit sich bringt, zu managen. In unserer zukünftigen Batteriezellenfabrik in Überherrn werden wir rund 3500 Prozessparameter erfolgreich managen müssen. Wenn man in China einmal eine Entscheidung gefällt hat, dann ist die Umsetzungsgeschwindigkeit enorm hoch. Wichtig ist es, die Entscheidungsfindung so zu beeinflussen, dass sie ins europäische Umfeld transferiert werden kann und wir somit von der Geschwindigkeit profitieren können. Eine der Stärken von SVOLT ist die große Zahl an internationalen Kollegen. Wir sind auch nicht perfekt, aber wir arbeiten kontinuierlich daran. Bisher funktioniert das gut. Wir sind heute noch ein kleines aber stark wachsendes Team in Europa.

    Gibt es in China keine hocheffizienten Arbeitskräfte?

    In China wird anders gemanagt. Auch von der Ausbildung her ist es hier in Deutschland anders. Im Saarland sorgt außerdem der Strukturwandel dafür, dass qualifizierte Fachkräfte einfacher zu finden sind, weil auch andere Unternehmen hier diesen Bedarf haben. Die Nachfrage schafft ein größeres Angebot. Und wenn man die Personalfluktuation zwischen China und Europa vergleicht, dann ist es sicher so, dass es uns hier eher gelingt, die wachsende Qualität, die wir unseren Mitarbeitern antrainieren, im Unternehmen zu halten. Nicht umsonst ist Deutschland ein erfolgreicher Exporteur trotz hoher Kostenstruktur.

    Und dennoch werden Sie frühestens erst Ende 2023 in die Serienproduktion von Batterien gehen. Werden Sie das Opfer deutscher Bürokratie?

    Sicherlich geschieht in Europa nicht immer alles in der Geschwindigkeit, die wir gerne hätten. Wenn man in China eine Fabrik aufbaut, braucht man anderthalb Jahre. Hier brauchen wir drei. Aber wenn man das vorher weiß, ist das kein allzu großes Problem.

    Wenn es soweit ist, werden deutsche SVOLT-Batterien dann besser sein als chinesische?

    Nein, wir sind ein globales Unternehmen. Die Qualität darf sich nicht unterscheiden. Die Audits führen internationale Teams durch, die überall die gleichen Maßstäbe ansetzen.

    Die Branche spricht nicht gerne über die Ausschussquote, die bei rund 30 Prozent liegen soll. Hoffen sie die Quote verringern und eine höhere Anzahl von Batterien in Topqualität in Deutschland produzieren zu können?

    Es würde mich freuen, wenn es so wäre. Aber auf Powerpoint kann ich viel erzählen. Ich kenne meine Kollegen in China. Die haben einen Erfahrungsvorsprung, mit dem sie einen Level erreichen, den wir hier erst noch erreichen wollen. Aber wir werden uns alle Mühe geben, dass wir irgendwann im Wettbewerb innerhalb des Unternehmens eine Benchmark setzen können.

    Und dann auch für den chinesischen Markt produzieren?

    Nein, so weit kommt es nicht. Wir müssen aber wettbewerbsfähig sein, gegenüber der Batterien, die vom chinesischen Markt nach Europa kommen. Das gelingt auch, weil die Chinesen uns den neusten Stand der Technologie hier in Deutschland zur Verfügung stellen. Wir Europäer haben dagegen in der Vergangenheit immer nur technologisch die zweite Generation in unsere lokalen Fertigungsstätten in China aufgebaut…

    …weil deutsche Unternehmen Angst haben müssen, dass ihre Technologie gestohlen wird?

    Dagegen plant SVOLT, die aktuell modernste Fabrik mit der derzeit besten Technologie in Überherrn aufzubauen. Wir bauen hier kein Copy-and-Paste. Darüber hinaus bringt SVOLT auch Technologien wie die Künstliche Intelligenz mit.

    SVOLT-CEO Yang Hongxin prognostiziert, dass wegen des E-Auto-Booms die Batteriehersteller die Nachfrage der kommenden Jahre nur zu 60 bis 80 Prozent abdecken können. Hat die Branche den Boom verschlafen?

    Nein, verschlafen hat da keiner was. SVOLT jedenfalls nicht. Wir hatten gegen Ende 2019 vier Gigawattstunden Batterieleistung installiert und sind jetzt schon bei dem Viereinhalbfachen. Unser Plan ist, 2025 über 200 Gigawattstunden installiert zu haben. Es ist eher so, dass das Umfeld überrascht wurde von der Akzeptanz, die die Elektromobilität zurzeit erfährt. Die ist größer, als wir als Industrie kurzfristig mitziehen können. Deswegen wird es erst einmal darum gehen, den Mangel zu managen. Jeder, der heute die Möglichkeit hat Kapazitäten zu reservieren, sollte das tun. Der Mangel wird uns erst einmal weiter begleiten.

    Sie haben einen Preisverfall von derzeit rund 100 Euro pro Kilowattstunde auf nur noch 65 Euro angekündigt. Wenn aber die Nachfrage größer sein wird als das Angebot, weshalb sollten die Preise nicht steigen?

    Das hat vor allem mit den steigenden Volumina und mit der fortschreitenden Produktionstechnik zu tun. Bis 2025 werden wir die Geschwindigkeit unserer Montage-Prozesse im Vergleich zu 2019 vervierfacht haben. Darüber hinaus gibt es Entwicklungen wie zum Beispiel das Nassbeschichtungsverfahren, welches mit Trockenbeschichtungstechnologien substituiert wird. Dafür benötigen wir signifikant weniger Platz und Energie. Heute gibt es auch weniger Modul-Lösungen als früher, sondern es gibt signifikante Entwicklungen das Cell-to-Pack-Verfahren anzuwenden. Dadurch steigt die Ausnutzung, sodass in gleichem Bauraum eine größere Menge Energie gespeichert werden kann. Des Weiteren werden weniger Bauteile benötigt. Im nächsten Schritt gibt es jetzt schon Überlegungen für Cell-to-Chassis-Lösungen, in dem die Batterien direkt in die Karosserien integriert werden können.

    Werden Sie der Branche mit Unterstützung aus China einen Preiskampf liefern, die dem Batteriebau der deutschen OEM aus der Autoindustrie den Garaus macht?

    Nein, die zukünftige Lokalisierungsquote liegt in Europa bei mehr als 60 Prozent. Das kann man aus China heraus nicht leisten. Wegen der aufwändigen Lieferkette macht es auch keinen Sinn, längerfristig aus China zu liefern. Das machen wir jetzt nur so lange, bis wir in Europa die lokalen Kapazitäten aufgebaut haben.

    Das neue Anti-Sanktionsgesetz in China könnte Unternehmen dazu zwingen, eine vom Rest der Welt unabhängige Lieferkette parallel für den chinesischen Markt aufzubauen. Bereiten Sie sich auf ein solches Szenario vor?

    Für uns drängt sich die Frage nach verschiedenen Lieferketten aus einer anderen Perspektive auf. Für den Batteriebau benötigen wir viele sensible Materialien, die in einem anspruchsvollen Umfeld gelagert werden müssen. Das kann man nicht alles ins Flugzeug packen, nicht einmal in einen Zug, sondern das muss größtenteils verschifft werden. Das bedeutet, die Lieferkette hat eine Reaktionszeit von ungefähr sechs Wochen. Bei einem Qualitätsproblem müssen also sechs Wochen Kapazität ausgetauscht werden. Das ist sehr teuer. Die Regularien zu den Lokalisierungsquoten tun ihr Übriges. Das heißt im Umkehrschluss aber auch, dass immer mehr erfolgreiche chinesische Zulieferer nach Europa kommen werden. Bei Batteriezellen ist “local für local” auch eine Notwendigkeit, die sich aus der Komplexität der Materialien ergibt.

    Das heißt, die Stabilisierung von Lieferketten wird zu einer immer größeren Herausforderung?

    Das ist sie in unserer Branche schon deshalb, weil die Entwicklungsprozesse so schnell sind und wir als Unternehmen hinterherkommen müssen. Da kann einem schon manchmal schwindelig werden. Es ist alles ein “moving target”. Wir versuchen aber, so viel Einfluss wie möglich zu nehmen, indem wir das Material für sensible Bereiche selber herstellen. Auch Firmenbeteiligungen im Miningbereich helfen uns. Aber wir als SVOLT Europa stehen da noch am Anfang. Dagegen sind unsere Partner in China bereits etabliert, in Europa gibt es da noch weiteren Handlungsbedarf.

    Und der ganze Aufwand für zehn Jahre, bis der nächste Antrieb kommt.

    Es wird in Zukunft unterschiedliche Antriebe geben. Es wäre zu blauäugig, mit diesem kurzen Horizont jetzt in mehrere Terrawatt zu investieren. Aber es wäre auch falsch zu glauben, es gibt nichts anderes. Es gibt aber kein gut oder schlecht. Wo Wasserstoff Sinn ergibt, wird er sich durchsetzen. Doch der Sicherheitsaspekt, den man bei Batterien in den Griff bekommt, der steht den Wasserstoff-Lösungen noch bevor. Wir haben keine Angst vor anderen Antrieben. Ganz im Gegenteil, sie werden eine sehr fruchtbare Ergänzung sein, die die Batterie keineswegs überflüssig machen.

    Kai-Uwe Wollenhaupt ist seit zwei Jahren Präsident der Europa-Tochter des chinesischen Batterieherstellers SVOLT. Zuvor hatte der Manager Führungspositionen bei SCS Stahlschmidt Cable Systems, dem Dienstleister PSM International und bei dem Stahlchemie-Spezialisten SKW.
    SVOLT aus Changzhou ist einer der größter Hersteller von E-Auto-Batterien in China und gewinnt weltweit schnell Marktanteile. Das Unternehmen hat sich 2018 von dem Fahrzeughersteller Great Wall abgespalten und investiert derzeit im Saarland.

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    Analyse

    Die Schweiz ringt um eine zeitgemäße China-Strategie

    Gut drei Monate ist es nun her, dass die EU Sanktionen gegen vier Beamte und eine Organisation wegen Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang verhängt hat. Die europäischen Nicht-EU-Staaten Norwegen und Island schlossen sich den EU-Sanktionen an – die Regierung in der Schweizer Bundeshauptstadt Bern schwieg dagegen. Die Schweiz verschleppe China-Sanktionen und lasse sich auffallend viel Zeit mit einer Reaktion, kritisierten Medien. Lediglich eine Arbeitsgruppe sei gebildet worden. Fehlt den Eidgenoss:innen eine Taktik zum Umgang mit der erstarkenden Volksrepublik? In der Zivilgesellschaft und dem Parlament formen sich zunehmend Rufe nach einem Umdenken in der China-Strategie.

    Für die Schweiz sind solche Überlegungen noch schwerer als für Deutschland. Ein Land mit 8,5 Millionen Einwohnern steht hier einem Milliardenvolk gegenüber. Auch wer technologisch und finanziell so stark ist wie die Schweiz, empfindet das als extremes Ungleichgewicht. Zugleich hat sich das Land in den vergangenen Jahren wirtschaftlich bewusst mit China verflochten. Was seinerzeit als schlaue Strategie galt, schafft nun Probleme.

    Denn Kritiker:innen zufolge hat das bisherige Konzept in eine Sackgasse geführt: Zu lange habe das Land den Wirtschaftsbeziehungen klaren Vorrang gegeben, sagt der Politologe und Schweizer China-Experte Ralph Weber. Andere Fragen, wie die Menschenrechte, blieben außen vor. Damit habe sich die Schweiz in eine Schieflage manövriert, in der nun “zunehmende wirtschaftliche Integration auch den eigenen Handlungsbereich eingeschränkt hat”, so Weber im Gespräch mit China.Table. Es werde immer schwerer, die wirtschaftlichen Beziehungen an den eigenen Werten und Vorstellungen auszurichten.

    Ein Dilemma für die Schweizer: “Man ist in einer sehr vertrackten Lage, da man die wirtschaftlichen Verbindungen zwar weiterhin vertiefen will, andererseits die Volksrepublik China global konfrontativer auftritt und die schweizerische Zivilgesellschaft und das Parlament den Druck auf die Regierung und die Wirtschaft erhöhen.” Keine Meinung oder Positionierung zu haben, ist Webers Ansicht nach nicht mehr möglich: Am Mythos der neutralen Schweiz müsse, was China betrifft, endlich “gerüttelt” werden. Weber spitzt zu: “Man könnte polemisch schon sagen: Was ist das für eine Unabhängigkeit, die sich fast in einen Fatalismus eingeht und sagt “Wir können ja eh nichts machen.” Die Schweiz hoffe, dass sich die Debatte um den richtigen China-Ansatz aussitzen lasse. “Das ist genau die Position, die nicht funktionieren wird.” 

    Wirtschaft setzt auf Annäherung und Dialog

    Diese Diskussion müsse das Land nun austragen, betont Weber. Der Politologe erkennt die vertrackte Lage für Unternehmen an: Die zunehmenden Berichte etwa über Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang und damit verbundene Forderungen nach nachhaltigen Lieferketten seien für Firmen natürlich “unbequem” – aber auch lange davor habe es schon Anzeichen dafür gegeben, auf welchem Weg sich China befindet, sagt Weber. Die autoritäre Entwicklung in der Volksrepublik sei bereits seit 2007/2008 sichtbar. “Deswegen kann man auch nicht einfach sagen, dass nun mit Xi Jinping in China plötzlich alles anders sei.”

    In der Schweizer Wirtschaft will man aber weiterhin auf Annäherung setzen: “Ich glaube nicht, dass Bashing zu einer Verbesserung führt. Wir sind überzeugt, dass wir über Dialog mehr erreichen”, sagt Rudolf Minsch vom Dachverband Economiesuisse. Die internationale Staatengemeinschaft müsse China besser in die Wirtschaftsordnung nach dem Zweiten Weltkrieg einbinden. “Das ist unsere präferierte Lösung”, so der Ökonom. Dass das auch Risiken birgt, ist Minsch klar: “Die Interessen von China werden zum Teil sehr offensichtlich und forsch vorangetrieben.” Auch dass generell die kritischen Stimmen lauter werden, wenn es um den Austausch mit China geht, werde bei dem Wirtschaftsverband gesehen, betont Minsch. 

    Auf Sanktionen werde die Schweizer Wirtschaft aber dennoch nicht setzen. Strafmaßnahmen – auch die jüngsten zwischen Brüssel und Peking – seien immer eine “politische Einschätzung” und eher “Schaulaufen”, so Minsch. Für ihn gehen sie am eigentlichen Ziel vorbei, denn: “Wenn es zu Sanktionen kommt, führt das nicht zu einer Verbesserung vor Ort.”

    Minsch zufolge florieren die wirtschaftlichen Beziehungen mit China in diesem Jahr wieder. Die Coronakrise habe 2020 große Schwierigkeiten verursacht, die Lieferketten seien temporär unterbrochen gewesen. Doch die Normalisierung ging schnell: “Wir haben 2020 eine Steigerung des Außenhandels gesehen, trotz Corona.” Auch 2021 sehe es sehr positiv aus. Als Beispiele nennt Minsch die Uhren-Industrie, den Maschinenbau, Textil und Pharma

    Schweizer Textilmaschinenhersteller auch in Xinjiang

    Anders als die EU, deren Investitionsabkommen mit der Volksrepublik (CAI) derzeit nicht weiter bearbeitet wird, hat die Schweiz bereits seit 2014 ein Freihandelsabkommen mit China. Die Eidgenoss:innen waren damals das erste europäische Land, das eine solche Vereinbarung mit Peking abschloss. Vor allem die Schweizer Maschinenhersteller profitieren seitdem von dem Abkommen mit China. Die Textilmaschinenhersteller Rieter, Saurer und Uster Technologies sind auch in Xinjiang tätig. Rieter wirbt einem Bericht von SRF zufolge auf seiner Webseite sogar mit seinen Kunden in der Region. Dazu gehören die Textilunternehmen Changji Esquel und Aksu Huafu. Beides Unternehmen, die von den USA mit Sanktionen belegt wurden, weil sie Zwangsarbeit in der Produktion einsetzen sollen.

    Auch die Schweiz macht sich Gedanken darüber, wie Lieferketten nachhaltiger gestaltet werden und Produkte aus mit Menschenrechtsverletzungen verbundener Herstellung vermieden werden können. Die sogenannte Volksinitiative zur Firmenverantwortung war zuletzt jedoch im November 2020 an der Urne knapp gescheitert. “Wir sind froh, dass das abgelehnt wurde. Es hätte sich um eine neuartige Regulierungsform mit Durchsetzung vor Schweizer Gerichten gehandelt”, sagt Minsch von Economiesuisse. Die damit verbundene Missbrauchsanfälligkeit hätte die Unternehmen in der Schweiz stark exponiert. Ein nun vorliegender Gegenvorschlag verzichte auf “experimentelle Rechtsinstrumente” und orientiere sich an der Regulierung in der EU, gehe aber etwas darüber hinaus, so Minsch. Generell gibt es aber ein Problem: “Die Kontrolle ist fast unmöglich durchzusetzen”, sagt Minsch.

    Als richtigen Ansatz sieht der Ökonom indes den Menschenrechtsdialog zwischen der Schweiz und China. “Über den Dialog hat die Schweiz ihre Forderungen eingebracht, das ist die richtige Stoßrichtung.” Von der Corona-Pandemie sei der Austausch aber jäh unterbrochen worden. Minsch zeigt jedoch Zweifel daran, welchen Einfluss der Dialog wirklich haben kann: “Es wäre aber auch vermessen, dass die Schweiz als kleiner Staat China Vorschriften macht.”

    Mattli: Gegenvorschlag zu Konzernverantwortung ist “zahnlos”

    Da die Initiative zur Konzernverantwortung abgelehnt wurde, könnte der vom Parlament beschlossene Gegenvorschlag noch in diesem Jahr in Kraft treten – sofern es kein Referendum darüber geben sollte. Die Referendumsfrist läuft im Juli ab. Der Gegenvorschlag verlangt von größeren Firmen nach dem Muster des EU-Lieferkettengesetzes Berichterstattungspflichten zu Themen wie Umwelt, Menschenrechten und Korruption. Betroffen wären börsennotierte Firmen und nicht notierte Finanzdienstleister ab 500 Mitarbeiter:innen. Hinzu kommen spezifische Sorgfaltspflichten in Sachen Kinderarbeit und Konfliktmaterialien. Diese Pflichten würden dann jeweils die ganze Lieferkette umfassen.

    Der Gegenvorschlag zur Konzernverantwortung sei “zahnlos”, sagt Angela Mattli von der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in der Schweiz. “Das ist nicht mehr als ein freiwilliges Reporting für Unternehmen in einer willkürlichen Auswahl von Risikobranchen.” Auch dem Menschenrechtsdialog kann Mattli nur wenig abgewinnen: Denn was dieser wirklich bringe, sei fraglich. Eigentlich hätte das Gesprächsformat jedes Jahr stattfinden sollen. Zuletzt habe es den Dialog aber 2018 gegeben – also lange vor Beginn der Corona-Pandemie.

    “In der Beziehung zu China hat sich die Schweiz bisher zu stark auf die Wirtschaft konzentriert, die Menschenrechte haben bisher eine eher kleinere Rolle gespielt”, so Mattli. Was der Dialog zwischen Bern und Peking bringt, soll nun überprüft werden. Dass der Dialog evaluiert werde, sei gut und dringend nötig gewesen, findet Mattli. Sie fordert, dass sich die Schweiz den EU-Sanktionen gegen Beamte in Xinjiang anschließt. Generell bedarf es ihrer Ansicht nach mehr Kooperation mit Brüssel. 

    Die EU könnte dabei auch von der Schweiz lernen. Denn diese hat durch das Freihandelsabkommen bereits Erfahrung mit chinesischen Zusagen, beispielsweise was die Umsetzung zugesagter Vorgaben und Kernnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) angeht. Im CAI sagte die chinesische Seite zu, sich um die Implementierung und Anerkennung mancher ILO-Vorgaben “zu bemühen”. Kann sich die EU darauf verlassen, dass Zugeständnisse vonseiten China auch in die Tat umgesetzt werden? Mattli hat darauf mit Hinblick auf die Schweizer Erfahrungen eine deutliche Antwort: “Im Moment denke ich nicht, nein.” Was dazu aus der Volksrepublik gesagt werde, seien “schöne Worte” – mehr aber auch nicht.

    Außenpolitische Kommission für Neuverhandlung des Abkommens

    Einen kleinen Schritt in Richtung Neuaufstellung der chinesisch-schweizerischen Beziehungen ging das Parlament am Freitag. Mit 13 zu 12 Stimmen sprach sich die Außenpolitische Kommission des Nationalrates knapp dafür aus, das Freihandelsabkommen mit China neu zu verhandeln, wie die GfbV mitteilte. Mit der Annahme der entsprechenden Resolution solle nun der Bundesrat beauftragt werden, mit der chinesischen Regierung ein zusätzliches Kapitel zur Einhaltung der internationalen Standards im Bereich Menschen- und Arbeitsrechte auszuhandeln.

    Ob es dazu kommen wird, ist jedoch fraglich, die Kommission hat primär beratende Funktion. Sie ähnelt damit einem Ausschuss des Deutschen Bundestags. Der entscheidende Schritt, raus aus einer vermeintlichen Neutralität der Schweiz, muss von der Regierung kommen. Doch dort herrscht weiterhin Stillstand – diesmal vielleicht aber fremdbestimmt: Eigentlich wollte Wirtschaftsminister und Bundespräsident Guy Parmelin als einer der ersten politischen Besucher aus Europa nach dem Corona-Ausbruch im Juli nach Peking reisen. Die Pläne scheiterten allerdings an Chinas Einreisebestimmungen: Die Wirtschaftsdelegation hätte sich nach der Ankunft in Quarantäne begeben müssen. 

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    Unruhiger Autopilot macht “Rückruf” von 285.000 Teslas nötig

    Tesla muss offenbar die Software von Tausenden seiner Fahrzeuge in China aktualisieren. In über 285.000 bereits verkauften Tesla-Modellen gibt es nach Berichten von AFP, Bloomberg und Reuters Probleme mit dem Autopiloten. Das System könne sich während der Fahrt versehentlich selbst aktivieren. Nach dem Anspringen beschleunigt es dann zuweilen unkontrolliert, was Unfälle verursachen könne. Die Nachbesserunge erfolgt per Update, die Fahrzeuge müssen nicht in die Garage. Formal handelt es sich sich jedoch um einen Rückruf, den die Behörden angeordnet haben.

    Elon Musk musste sich in den vergangenen Monaten immer wieder mit Rückschlägen auf dem für Tesla wichtigsten Markt in China auseinandersetzen. Die Kritik einer Tesla-Kundin bei der Automesse in Shanghai im Mai zeigte öffentlichkeitswirksam die Wut von Teslabesitzern hinsichtlich mangelnder Sicherheitsstandards (China.Table berichtete). Peking hat seinen Beamten und Institutionen auf lokaler Ebene zuletzt den Besitz von Tesla-Autos mit der Begründung auf die Sicherheitsrisiken untersagt. Die Volksrepublik ist der größte Absatzmarkt für Neufahrzeuge und ein Drittel der weltweit neu zugelassenen Teslas entfallen auf China. Im vergangenen Jahr verdoppelte Tesla seinen Umsatz in China auf 6,6 Milliarden US-Dollar. niw

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    Großfusion von CETC und Potevio erhält grünes Licht

    Die chinesische Regierung hat die Verschmelzung zweier großer staatlicher Technikkonzerne zu einem neuen Marktführer genehmigt. China Electronics Technology Group Corporation (CETC) darf wie geplant die China Putian Information Industry Group (Potevio) übernehmen. Das meldet die japanische Wirtschaftszeitung “Nikkei”. Durch den Zusammenschluss der beiden Unternehmen entsteht einer der größten Technikkonzerne der Welt (China.Table berichtete). Die Planer haben die Fusion aus strategischen Gründen eingefädelt. Sie sollen dabei helfen, das eigene Land von Technik aus den USA unabhängiger zu machen.

    CETC und Potevio sind wichtige Militärzulieferer. Sie sind trotz ihrer Größe bisher auf die Bestellung zahlreicher Komponenten in den USA angewiesen – beispielsweise bei Chips für drahtlose Datenübertragung. Die Regierung hofft, dass sie gemeinsam groß genug sind, um alle nötigen Bauteile künftig selber zu entwickeln. Gemeinsamen kommen die beiden Staatsbetriebe auf einen Umsatz von rund 50 Milliarden Dollar. fin

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    Merics: FDP hat im Wahlkampf die meisten China-Inhalte

    Das Berliner Forschungsinstitut Merics hat die Wahlprogramme der Parteien im Detail auf ihre China-Positionen hin durchleuchtet. Das Ergebnis des systematischen Vergleichs: Die FDP geht in ihrem Programm am umfangreichsten auf China ein und schlägt insgesamt einen kritischen Ton an. Die wenigsten Erwähnungen des Landes finden sich im Programm der Linken. Doch auch die CDU formuliert nur zu wenigen offenen Fragen eine Position. Die Grünen und SPD liegen im Mittelfeld. “Während die CDU/CSU vor allem die außen- und sicherheitspolitische Herausforderung betont, die China darstellt, legen die Grünen ihren Schwerpunkt auf die Menschenrechtslage einerseits und die Notwendigkeit eines Klimadialogs andererseits”, schreibt Studienautorin Ariane Reimers.

    Dennoch finden sich zahlreiche Gemeinsamkeiten der beiden Spitzenreiter in diesem Wahlkampf. So sind sich die Unionsparteien und die Grünen bei der “grundsätzlichen Einordnung” Chinas erstaunlich einig: beide bezeichnen es als “Wettbewerber, Partner, systemischer Rivale”. Beide sind zudem dafür, China gemeinsam mit den USA entgegenzutreten, um gemeinsame Interessen wie den Datenschutz durchzusetzen. fin

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    Peking setzt Ukraine unter Druck

    China hat der Ukraine gedroht, die für das Land bestimmten Corona-Impfstoffe zurückzuhalten, sollten die Ukraine ihre Unterstützung für einen Aufruf für mehr Kontrolle zur Einhaltung von Menschenrechten in der Region Xinjiang nicht zurückziehen. Die Ukraine hatte sich vergangene Woche zunächst einer Erklärung von über 40 Ländern angeschlossen (China.Table berichtete), in der China aufgefordert wurde, unabhängigen Beobachtern den Zugang zu Xinjiang zu gewähren. Menschenrechtsorganisationen werfen China vor, die Minderheit der muslimischen Uiguren dort zu misshandeln. Chinas weltweite Impfdiplomatie hatte zuletzt auch Europa gespalten (China.Table berichtete).

    Unter dem Druck Chinas soll die Ukraine ihre Interstützung für die Erklärung vor Veröffentlichung zurückgezogen haben, so AP, die sich auf zwei Diplomatenaussagen stützt. Laut Gesundheitsminister Maxim Stepanov hatte die Ukraine bis Anfang Mai 1,2 der 1,9 Millionen angekündigten Impfdosen von dem chinesischen Impfstoffhersteller Sinovac erhalten. Einer der beiden westlichen Diplomaten nannte es ein Zeichen der “nackten” Diplomatie Chinas. niw

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    Presseschau

    Senior Nato officer warns of China’s ‘shocking’ military advances FT (PAY)
    France and U.S. Agree on the Perils of a Rising China, Blinken Says NYTIMES
    Scholars on LinkedIn Are Being Blocked in China ‘Without Telling Them Why’ WSJ (PAY)
    China releases new visuals captured by Tianwen-1 Mars probe GLOBALTIMES (STAATSMEDIUM)
    Apple Daily’s death leaves a shadow over free press in Hong Kong FT (PAY)
    China eyes new generation of tech-driven helicopters GLOBALTIMES (STAATSMEDIUM)
    President Xi to grant July 1 Medal to outstanding Party members on Tuesday CTGN (STAATSMEDIUM)
    Chinas RRaumfahrt: Die neue Supermacht im All WELT (PAY)
    Tesla ruft in China offenbar 285.000 Fahrzeuge zurück SPIEGEL
    100 Jahre Kommunistische Partei Chinas FAZ

    Portrait

    Dong Jingwei – Topspion auf Abwegen?

    Dong Jingwei, ehemaliger Chef der Spionageabwehr Chinas

    Ein Gerücht, das klingt, als hätten es Donald Trump und seine Anhängerschaft in die Welt gesetzt: Das Coronvirus sei womöglich nicht auf natürlichem Weg entstanden, sondern im Institut für Virologie in Wuhan. Doch dieses Mal ist es nicht Trump, der diesen Verdacht äußert, sondern sein Nachfolger Joe Biden. Biden wird eigentlich nachgesagt, erst die Faktenlage zu checken, bevor er sich mit einem Thema an die Öffentlichkeit wagt. Doch nun hat er seinen Geheimdiensten befohlen, mit “aller Anstrengung dem Ursprung der Corona-Pandemie” nachzugehen. Und die Labor-Theorie schließt auch er nicht mehr aus.  

    Die Quelle hat die US-Regierung offiziell nicht genannt. Aber die Gerüchte verdichten sich, dass es sich bei dem Hauptinformanten um niemand geringeres handelt als um Dong Jingwei (董经纬), den ehemaligen Chef der Spionageabwehr und – sollte er noch im Amt sein – Vizeminister des mächtigen Ministeriums für Staatssicherheit (MSS), in China selbst auch bekannt und gefürchtet als Guoanbu. Dem US-Nachrichtenportal Daily Beast zufolge soll der Topspion bereits Mitte Februar mit seiner Tochter über Hongkong in die USA geflohen sein und die Behörden mit entsprechenden Informationen versorgt haben, darunter auch über Chinas Biowaffenprogramm. Es wäre der ranghöchste chinesische Überläufer in die Vereinigten Staaten. Bisher handelt es sich nur um Gerüchte. Wenn sie sich aber bewahrheiteten, dann schlüge das ein wie eine Bombe. Offiziell bestreitet die US-Regierung einen solchen Übertritt (China.Table berichtete).

    Geboren im Kreis Zhao in der Provinz Hebei in der Nähe von Peking leitete Dong Jingwei bis 2017 die Abteilung für Staatssicherheit der Provinz Hebei. Er hätte es wahrscheinlich nicht zu nationaler Bedeutung gebracht, wäre er nicht 2010 einer der Drahtzieher der Verhaftung von vier japanischen Geschäftsleuten gewesen, die angeblich Aufnahmen einer Militäreinrichtung gemacht hatten. Die Verhaftung wandte sich explizit gegen den damaligen Staats- und Parteichef Hu Jintao, dem die Hardliner innerhalb der KP Chinas einen zu laxen Umgang mit ausländischen Geschäftsleuten vorwarfen. Zu Hus schärfsten internen Kritikern gehörte auch Xi Jinping, damals noch Vize-Parteichef. 

    Nachdem Xi zum Staats- und Parteichef aufgestiegen war, gab es auch für Dong Jingweis Aufstieg im Sicherheitsapparat keinen Halt mehr. 2018 wurde Dong Jingwei zum Vize-Chef der Staatssicherheit ernannt. Er wurde auch persönlich zu einem der engsten Berater von Xi Jinping. Die Informationen, die er den USA möglicherweise zukommen ließ, könnten es entsprechend in sich haben. Neben frühen Studien des Coronavirus und unterschiedlichen Szenarien seiner Ausbreitung soll er auch verraten haben, welche Regierungseinrichtungen und Organisationen involviert waren. Auch die Identitäten chinesischer Agenten soll er den USA mitgeteilt haben. 

    Dong Jingwei angeblich auch Thema beim Spitzentreffen

    Dass Dong Jingwei und seine Tochter in die USA geflohen sei, bestätigt auch Han Lianchao, ein früherer Mitarbeiter des chinesischen Außenministeriums, der sich nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Tiananmen-Platz im Jahre 1989 in die USA abgesetzt hatte. Han zufolge soll Dong Jingweis Flucht auch beim Treffen zwischen US-Außenminister Antony Blinken und seinem chinesischen Amtskollegen Wang Yi im März in Alaska Thema gewesen sein und zusätzlich zur miesen Stimmung beigetragen haben. Wang hatte gefordert, Dong nach China zurückzuführen – was Blinken ablehnte.

    Was die Glaubwürdigkeit an diesen Berichten allerdings trübt: Es sind in den USA vor allem konservative und Trump-freundliche Medien, die die Gerüchte aufgreifen und sie zum Anlass nehmen, die Biden-Regierung zu kritisieren. Denn Biden hatte lange nichts von der Labor-Theorie wissen wollen. 

    In China selbst wird Dong Jingwei in den chinesischen Staatsmedien lediglich im Zusammenhang mit einem Seminar erwähnt, auf dem er andere Geheimdienstoffiziere dazu aufforderte, “alle Bemühungen zu verstärken, ausländische Agenten und Insider zu jagen, die mit ‘antichinesischen’ Kräften zusammenarbeiten”. Wenn Zweifel am Aufenthaltsort oder dem Gesundheitszustand eines Kaders aufkommen, reagiert China zuweilen damit, aktuelle Bilder der Person in den Staatsmedien zu veröffentlichen – ein Dementi mit chinesischen Charakteristiken.

    Aus dem Bericht geht aber weder Ort noch genaue Zeit des Seminars hervor. Außerdem hat die Regierung am 23. Juni ein Bild veröffentlicht, auf dem Dong Jingwei bei einer Sitzung der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) zu sehen ist. Ob er das auf dem Bild aber wirklich ist, lässt sich nicht eindeutig sagen. Zumindest sitzt er exakt in der gleichen Pose wie auf einem anderen Bild aus der Vergangenheit. Felix Lee

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    Personalien

    Derek Chang is the new CEO at content protection provider Friend MTS. Chang was most recently CEO of NBA China until early June and has held leadership positions at several recognized sports, media, and entertainment providers in his career. He will be based for Friend MTS out of London. Chang was named one of the “50 Most Influential People in Sports Business” by Sports Business Journal and one of the “Top 100 Leaders in Cable” by Cablefax Magazine. He holds an MBA from Stanford University and a bachelor’s degree in history from Yale University.

    Extensive management changes were announced at Bosch: Stefan Hartung will be the new chairman of the management board. The 55-year-old previously headed the dominant mobility division at Bosch and is set to take over leadership at the automotive supplier in 2022. In the first quarter, Bosch benefited most from China. Sales there were up 54.4 percent compared to the same quarter a year prior, but also up 26.7 percent compared to the first quarter of 2019.

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    Zur Sprache

    tangpíng 躺平 – flachliegen

    躺平 – tǎngpíng – flachliegen

    Wann hat man das stabilste Gleichgewicht? Genau, im Liegen. Mag das vielleicht auch für die Work-Life-Balance zutreffen? In China jedenfalls trended derzeit das sogenannte Flachliegen (躺平tǎngpíng, aus 躺tǎng = “liegen” und 平píng “flach”) als Social-Media-Schlagwort. Es ist als eine Art stilles Auflehnen der jungen Generation gegen ein zunehmend durch Konkurrenzdruck und schwindende Aufstiegschancen geprägtes Bildungs- und Arbeitsumfeld in den großen Metropolen des Landes zu verstehen. Viele junge Chines:innen sind mit dem, was nach jahrelangem Büffeln (auf Schul- und Unibänken) und Burnen (am Arbeitsplatz) unterm Strich herauskommt, unzufrieden. Ausklinken aus dem Wettbewerb erscheint da als attraktiver Ausweg. Flachliegen statt Querstellen also. Mögen sich die anderen aufreiben.

    Generell wächst sich im chinesischen Sprachgebrauch seit einiger Zeit ein stattliches neues Wortfeld rund um die Work-Life-Balance (工作与生活的平衡 gōngzuò yǔ shēnghuó de pínghéng) aus. Zahlreiche Neologismen spiegeln das Spannungsfeld, das der rasante Wirtschaftsausstieg und die Tech-Revolution im Alltag hinterlassen haben. Schon vor einigen Jahren traten die sogenannten Buddhist-Youngsters auf den Plan, eine Art Vorgänger der “Tangpinger”. Schon damals deutete sich an, dass viele junge Chinesen genug davon hatten, sich wegen Schulstress, Karrieresorgen, Wohnungskauf und Partnersuche verrückt zu machen. Mehr Gelassenheit – weniger Muss, so lautete ihr Credo. In der chinesischen Internetsprache wurde diese Lebenseinstellung damals unter dem Hashtag 佛系 fóxì subsumiert, die Dinge “buddhistisch angehen” oder es “buddhistisch nehmen”, so könnte man sagen. Die Follower taufte man entsprechend 佛系青年 fóxì qīngnián “buddhistisch eingestellte Jugend”.

    Zu den neuesten Wortkreationen gehört außerdem die Zahlenkombi 996 (jiǔ jiǔ liù), die ausufernde Arbeitszeiten und die neue Überstundenkultur beschreibt (von 9 bis 9 Uhr schuften – und das 6 Tage die Woche). Und unter dem Schlagwort 内卷 nèijuǎn (“Involution”) werden alle Arten von übertriebenem, ja teils ins Absurde ausuferndem Wettbewerb zusammengefasst, die sich manchmal regelrecht verselbstständigen (ein Beispiel ist der Nachhilfe-Wahn, mit dem sich chinesische Mittelschichteltern übertrumpfen). “Neijuan” ist im wahrsten Wortsinne “eine Rolle inwärts”, die allen Beteiligten das Leben schwer macht.

    So verführerisch und Meme-reich die Flachliegen-Philosophie auch daherkommen mag, bleibt es tatsächlich natürlich schwierig, sich aus den gesellschaftlichen und familiären Verpflichtungen völlig “freizuliegen”. Schließlich muss man sich die Liegelogik auch leisten können. Da werden Erinnerungen an schon fast vergessene Klassenunterschiede im chinesischen Schienenverkehr wach, wo man traditionell zwischen Soft- und Hard-Sleeper-Abteilen (软卧 ruǎnwò “weich liegen” und 硬卧 yìngwò “hart liegen”) unterscheidet. Analog gibt es auch unter Tangpingern durchaus unterschiedliche Liegeklassen. Denn nur wer ein entsprechendes Finanz- oder Beziehungspolster mitbringt, wird weich und komfortabel liegen und sich die eine oder andere Verweigerungshaltung leisten können. Für andere liegt es sich auf der Tangping-Matratze auf lange Sicht dagegen leider eher hart.

    Verena Menzel betreibt in Peking die Online-Sprachschule www.new-chinese.org 

    China.Table Redaktion

    CHINA.TABLE REDAKTION

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