Table.Briefing: China

Schlagabtausch in Singapur + Vergleich der Lockdowns Peking-Shanghai

  • China droht USA mit Krieg um Taiwan
  • Warum läuft die Covid-Bekämpfung in Peking besser als in Shanghai?
  • Entsetzen über Gewalt gegen Frauen
  • Arbeitsorganisation sendet Mission nach Xinjiang
  • Absatz von E-Autos erholt sich
  • Hongkong: Weitere Nachrichtenseite gibt auf
  • Behörden wollen Wert der Wälder erfassen
  • Im Portrait: Justin Yifu Lin – Optimistischer China-Ökonom
  • Zur Sprache: Das Kerngesicht
Liebe Leserin, lieber Leser,

Hungersnöte wegen der gestiegenen Preise, Hitzewellen in Italien und Indien, Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine – als hätten wir nicht schon genug Krisen, kommt eine neue, ganz große Sorge dazu: die weiter zunehmenden Spannungen zwischen China und den USA

Die für die Region so wichtige Sicherheitskonferenz am Wochenende in Singapur förderte nicht die erhoffte Verständigung. Sie stand ganz im Zeichen des köchelnden Konflikts zwischen den beiden Großmächten. Es war ein heftiger Schlagabtausch, den sich die Verteidigungsminister beider Staaten um Taiwan und um Chinas aggressives Verhalten im Südchinesischen Meer lieferten. Doch bei aller Härte – es sei ein gutes Zeichen, dass beide Seiten immerhin für die Zukunft Gespräche in Aussicht stellen, analysiert Michael Radunski.

Omikron ist ebenfalls eine der großen Sorgen dieser Monate. Das Virus bleibt unberechenbar. Daher ist es mehr fragwürdig, dass die KP-Führung geradezu fanatisch an ihrer Zero-Covid-Strategie festhält. Interessant ist dabei aber: Während zwei Millionen Shanghaier nach nur wenigen Tagen der Öffnung schon wieder in den Lockdown müssen, läuft im eigentlich strengeren Peking das Leben weitgehend normal. Was macht Peking anders als Shanghai? Dieser Frage geht Frank Sieren nach. Seine Antwort: Shanghai ergriff zu spät Maßnahmen – auf Pekings Geheiß.

Viele neue Erkenntnisse!

Ihr
Felix Lee
Bild von Felix  Lee

Analyse

Offener Schlagabtausch in Singapur

Chinas Verteidigungsminister Wei Fenghe geht die USA in seiner Shangri-La-Rede am Sonntag frontal an

Chinas Verteidigungsminister Wei Fenghe hat am Wochenende erstmals seinen amerikanischen Amtskollegen Lloyd Austin persönlich getroffen. Anlass für die ranghohe Zusammenkunft war der Shangri-La-Dialog in Singapur. Es ist die wichtigste Sicherheitskonferenz in der Region Asien-Pazifik. Doch es wird kein freundliches Kennenlernen der beiden. Zu angespannt sind die Beziehungen zwischen China und den USA. Die Konflikte reichen von der Lage der Uiguren in Xinjiang über das Südchinesische Meer und Taiwan bis hin zu Chinas Haltung im Ukraine-Krieg.

Und so vergeudet Wei Fenghe in Singapur denn auch keine Zeit mit Höflichkeiten. Gleich am Freitag – noch vor dem offiziellen Beginn der Konferenz – gibt Chinas oberster Militär den Ton vor: Im direkten Gespräch mit Austin warnt Wei eindringlich vor einem möglichen Krieg. “Falls es irgendjemand wagt, Taiwan von China zu trennen, wird die chinesische Armee definitiv nicht zögern, einen Krieg zu beginnen. Koste es, was es wolle.” Jedes Komplott zur Unabhängigkeit Taiwans werde zerschmettert und die Vereinigung des Mutterlandes entschlossen aufrechterhalten. Wei stellt unmissverständlich klar: “Taiwan ist Chinas Taiwan.”

Als Chinas Verteidigungsminister dann am Sonntag seine offizielle Rede auf dem Shangri-La-Forum hält, legt er nach – ebenso entschlossen und ebenso unmissverständlich: “Wenn es jemand wagt, Taiwan von China abzuspalten, werden wir nicht zögern, zu kämpfen”, warnt Wei. “Wir werden um jeden Preis kämpfen. Wir werden bis zum Ende kämpfen.” Niemand solle die Entschlossenheit und Fähigkeit der chinesischen Streitkräfte unterschätzen, um die territoriale Integrität der Volksrepublik zu wahren. Gemeint sind damit vor allem die USA.

USA: China wird immer aggressiver

Denn am Tag zuvor hatte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin die amerikanische Sichtweise auf Taiwan und die Region dargelegt. In seiner knapp einstündigen Rede zog er immer wieder Vergleiche zwischen Russlands Vorgehen in der Ukraine und Chinas “stärkerer und aggressiverer Herangehensweise” im Indopazifik. “Russlands Invasion in der Ukraine ist das, was passiert, wenn Unterdrücker die Regeln, die uns alle schützen, mit Füßen treten”, sagte Austin in Singapur. “Das passiert, wenn Großmächte entscheiden, dass ihr imperialer Appetit wichtiger ist als die Rechte ihrer friedlichen Nachbarn. Und es ist eine Vorschau auf eine mögliche Welt des Chaos und Aufruhrs, in der keiner von uns leben möchte.”

Und so versprach Austin, dass die USA den Ländern in Asien helfen werde, sich gegen chinesisches “Mobbing” zu wehren. Das sei notwendig, damit sich eine Ukraine-Krise nicht im Pazifik wiederhole. Mit Blick auf Russland und China sagte Austin: “Wir spüren den Gegenwind – von Drohungen und Einschüchterungen – und den überholten Glauben an eine Welt, die in Einflusssphären unterteilt ist.”

Mit großer Sorge stelle Amerikas Verteidigungsminister fest, dass China immer aggressiver versuche, seine territorialen Ansprüche durchzusetzen. Austin nannte unter anderen Pekings offensive Aktivitäten rund um Taiwan, wie etwa die regelmäßigen Militärflüge und warnte seinerseits vor einer Destabilisierung in der Region. Erst vor wenigen Tagen waren 30 chinesische Flugzeuge in den sogenannten Verteidigungsluftraum Taiwans eingedrungen; Angaben des taiwanischen Verteidigungsministeriums zufolge hätten sich darunter mehr als 20 Kampfjets befunden (China.Table berichtete).

Erstes Treffen des US-Verteidigungsministers Lloyd Austin mit seinem chinesischen Amtskollegen Wei Fenghe auf dem Shangri-La Forum in Singapur. Es kam zu einem offenen Schlagabtausch zwischen China und den USA.
Erstes Treffen des US-Verteidigungsministers Lloyd Austin mit seinem chinesischen Amtskollegen Wei Fenghe

Beobachter konnten schon vor einigen Wochen eine Verschärfung der amerikanischen Politik bezüglich Taiwan feststellen. Als US-Präsident Joe Biden Ende Mai in Japan gefragt wurde, ob die USA Taiwan auch durch einen Einsatz der US-Armee verteidigen würde, sagte Biden: “Ja, wir haben diese Verpflichtung.” (China.Table berichtete). Kurz zuvor hatte das US-Außenministerium die Beschreibung Taiwans auf seiner Internetseite geändert: Der Hinweis auf “ein China” fiel weg – eine vermeintlich kleine, aber überaus symbolträchtige Änderung (China.Table berichtete). Bisher bestand die US-Strategie darin, absichtlich vage zu bleiben. So soll China im Unklaren bleiben über die Handlungsbereitschaft der USA; und gleichzeitig soll Taiwan keinen Anreiz erhalten, mit einer vermeintlich amerikanischen Rückendeckung die Unabhängigkeit auszurufen.

China: USA verursacht weltweit Konflikte

US-Verteidigungsminister Austin beteuerte am Samstag jedoch: “Unsere Politik hat sich nicht geändert. Aber leider scheint das für China nicht zu gelten.” Frieden und Stabilität in der Taiwanstraße aufrechtzuerhalten sei nicht nur ein US-Interesse, sondern eine Angelegenheit von internationaler Bedeutung. “Wir suchen keine Konfrontation oder Konflikte. Und wir suchen keinen neuen Kalten Krieg, keine asiatische Nato und auch keine in feindliche Blöcke gespaltene Region.” Die Worte des US-Verteidigungsministers sollten allen auf der Konferenz wie auch den Menschen in der Region zeigen, wer die Guten und wer die Bösen sind.

Das konnte China so nicht stehen lassen. Und nur wenige Momente nach der Rede des US-Verteidigungsministers folgte denn auch die erste wütende Reaktion. Generalleutnant Zhang Zhenzhong bezeichnete Austins Ausführungen als eine Reihe von Unwahrheiten und bösartigen Unterstellungen, die allesamt auf eine Konfrontation abzielten. “Die USA verstärken ihre Militärpräsenz in der Region, sie schmieden Militärallianzen wie Aukus, Quad oder die Five-Eyes-Allianz und wollen offen, Chinas strategisches Umfeld verändern. Wie sollten wir das anders nennen als Konfrontation!?” Es seien die USA, die Chaos im Nahen Osten angerichtet und Instabilität nach Europa gebracht hätten. Und nun würden sie versuchen, den asiatisch-pazifischen Raum zu destabilisieren, sagte der stellvertretende Leiter der gemeinsamen Stabsabteilung der Zentralen Militärkommission Chinas.

Auch Chinas Verteidigungsminister Wei präsentierte den Delegierten am Sonntag nochmals diese Argumentationskette: Amerikas Verhalten sei die Hauptursache für Spannungen – und zwar auf der gesamten Welt, von der Ukraine bis hin zum Südchinesischen Meer.

Wei: China leistet Russland “keine materielle Unterstützung”

In der Ukraine-Frage positionierte sich China derweil etwas überraschend neu, wenn auch indirekt. Zunächst kam allerdings die Retourkutsche für Austins Angriffe auf sein Land: Wer der Ukraine Waffen liefere, schütte Benzin ins Feuer, sagte Wei. Er übte heftige Kritik an der EU und den Nato-Staaten, die seit Wochen die Ukraine zur Verteidigung gegen Russland mit Kriegsgerät unterstützen.

Zugleich betonte Wei, dass sein Land keinerlei materielle Unterstützung an Russland leiste. Die enge Verbindung zwischen der Volksrepublik und Russland sei eine Partnerschaft, aber kein Bündnis. Damit wollte er offenbar Vermutungen entgegentreten, China werde sich die Seite Russlands schlagen, um gemeinsame Sache gegen den Westen zu machen.

China hoffe, dass die USA und die Nato mit Russland ins Gespräch kommen, um die Voraussetzungen für einen Waffenstillstand zu schaffen, sagte Wei. Sein Land stünde jedenfalls bereit, eine konstruktive Rolle zu spielen und zu helfen, die Lage zu entschärfen, um eine politische Lösung zu erreichen. Konkrete Vorschläge machte Wei in Singapur allerdings nicht. Peking hat nach offizieller Lesart die russische Invasion in der Ukraine bislang weder offen kritisiert, noch seine Unterstützung für die Militäroffensive Russlands erklärt.

Die Botschaft des chinesischen Verteidigungsministers stieß im Publikum allerdings auf Skepsis, wie die kritischen Nachfragen zeigten. Und auch hier konnten aufmerksame Zuhörer in Singapur kleine Veränderungen feststellen: Hatte er in seiner Rede noch an Chinas offizielle Sprachregelung eines “Konflikts” gehalten, sprach Wei anschließend immerhin von einem “Krieg” in der Ukraine.

Doch auch selbst die Ausführungen zur Ukraine waren in erster Linie gegen Washington gerichtet. Insgesamt stand die asiatische Sicherheitskonferenz ganz im Zeichen der Spannungen zwischen China und den USA. Beide Seiten versuchten, für ihre konkurrierenden Visionen von regionaler Ordnung und Stabilität zu werben. Es war ein offener und harter Schlagabtausch, den sich Wei Fenghe und Llyod Austin in Singapur lieferten. Nun gilt es, Lösungen zu finden. Zu viel steht auf dem Spiel. Doch das wird nur im Dialog gelingen. Und so ist es ein gutes Zeichen, dass bei aller Härte die beiden Verteidigungsminister vereinbarten, sich bald wieder zu treffen. Mitarbeit: Felix Lee

  • Geopolitik
  • Militär
  • Sicherheit
  • USA

Eine Geschichte aus zwei Städten

Aus dem Lockdown in den Lockdown: In Shanghai hat am Wochenende eine neue Runde von Massentests auf Covid-19 begonnen. Peking bleibt derweil locker.
Aus dem Lockdown in den Lockdown: In Shanghai hat am Wochenende eine neue Runde von Massentests auf Covid-19 begonnen. Peking bleibt derweil locker.

Shanghai leidet unter einem Rückfall: Gut zehn Prozent der Bevölkerung von 25 Millionen Menschen sind wieder im Lockdown, der gesamte Distrikt Minhang. Gleichzeitig wurden 15 Millionen Menschen am Wochenende abermals getestet. Im Laufe der kommenden Woche folgen noch weitere Test-Runden. Nachdem die lange ersehnte Öffnung erst eine Woche her ist, kommt das Wiederaufflammen von Covid-19 nun als kleiner Schock. Am Sonntag meldete die Stadt fünf aufgefundene Infektionen. Am Samstag waren es 29.

Shanghais Schrecken ohne Ende wirft die Frage auf, warum die Lockdowns in Peking und Shanghai so unterschiedlich verliefen. Dies sei die Rache Pekings für das zu liberale Shanghai, vermuteten einige. Ein Weg, um auch noch die letzten Ausländer zu vertreiben, meinten andere. Wieder andere glauben, Staats- und Parteichef Xi Jinping wolle eine neue Kulturrevolution. Manche verstiegen sich sogar in der Annahme, es werde eine Kriegslage getestet vor einem Angriff auf Taiwan.

Die wahrscheinlichste Erklärung ist einfacher. In Shanghai kamen immer noch die meisten Flüge aus der durchseuchten Omikron-Welt da draußen an. Zugleich sollten die Shanghaier Behörden auf Geheiß von Peking stillhalten. In der Hauptstadt selbst fanden dicht nacheinander die Olympischen Spiele und der Nationale Volkskongress statt. Schlechte Nachrichten von steigenden Infektionszahlen konnte die Führung da nicht brauchen. Zugleich achtete die Stadt Peking selbst penibel auf die Einhaltung der verschiedenen Systeme und Blasen, die eine Einschleppung verhinderten.

Der Stillhalte-Kurs verschleierte in Shanghai die Realität: Schon in der zweiten Januar-Woche gab es erste Omikron-Träger aus dem Ausland, die nach Shanghai reisten. Manche wurden erst nach mehr als 21 Tagen und dem Ende ihrer Quarantäne positiv. Doch die politische Devise lautete: Den Ball flach halten. Mehr als kleine Lockdowns gab es nicht. Immerhin: Am 18. Januar wurde die Einreise-Quarantäne von 14 auf 21 Tage verlängert.

Zu stolz auf die Zero-Covid-Politik

Ansonsten sollte ganz China vor den wichtigsten Feiertagen rund um das chinesische Neujahrsfest im Februar und vor allem vor den Olympischen Spielen ruhig und stabil erscheinen, die tatsächlich fast reibungslos verliefen. Doch so vergingen Wochen politisch verordneter Untätigkeit. Erst nach dem 11. März, dem Ende des Nationalen Volkskongresses, wurden in Shanghai wegen der steigenden Inzidenzen Maßnahmen ergriffen.

Der große Lockdown kam am 17. März – zu spät für Omikron. Nun überreagierten die lokalen Kader in Shanghai ins andere Extrem, mit Methoden, die an die Zeiten der Kulturrevolution erinnern. Eine Spirale der Härte: Zehntausende Menschen, die zwar positiv getestet, aber keine Symptome zeigten, wurden in Messehallen gesperrt, Mütter von ihren Kindern getrennt, Tiere erschlagen. Teile der Bevölkerung hatten zeitweise nicht genug zu Essen. Trotz der drakonischen Maßnahmen dauerte es zweieinhalb Monate, bis Shanghai Anfang Juni wieder geöffnet war.

Ein wichtiger Grund für die späte Reaktion in Shanghai: China war insgesamt zu stolz auf seine Zero-Covid-Politik. Die Führung fühlte sich zu sicher. Denn in den zwei Jahren zuvor hatte diese Strategie rund 90 Prozent der 1,4 Milliarden Chinesen ein normales Leben ermöglicht, während die Welt auf dem Kopf stand. Die Zero-Covid Politik war dabei ursprünglich aus der Not geboren. Chinas Gesundheitssystem ist noch unterentwickelt. Während es in China rund 3 Intensivbetten auf 100.000 Einwohner gibt, sind es zum Beispiel in Deutschland über 30. Die Zero-Covid Politik war dann aber so erfolgreich, dass man es auch mit dem Impfen nicht so genau nahm. Vor allem die Alten, die Impfungen skeptisch gegenüberstehen, wurden in Ruhe gelassen. Denn die sagten sich: Warum impfen, wenn es in China gar kein Corona gibt?

Omikron war zu ansteckend für Shanghais Strategie

Die Führung hatte jedoch die Rechnung ohne Omikron gemacht. Für die hoch ansteckende Variante passt die Zero-Covid Strategie nicht. Die Omikron-Entwicklung in Hongkong zeigte erstmals eine neue Gefährdungslage. Da Infektionen es fast unmöglich wurde, die Ansteckungen zu verhindern, ging es nun darum, schwere Verläufe vor allem bei Alten zu unterbinden. Hier stand die Regierung jedoch politisch blank da, mit bis heute rund 100 Millionen unzureichend oder gar nicht geimpften Alten. Und das nur wenige Monate vor dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei, auf dem Xi Jinping erstmals seit Jahrzehnten das dritte Mal zum Staats- und Parteichef ernannt werden soll.

Shanghai wurde also erst zur Untätigkeit verurteilt, doch dann, nach dem sichtbaren Aufflammen der Infektionen, umso härter angefasst. Die Härte beruhigte zwar die Mehrheit der chinesischen Bevölkerung, in Shanghai jedoch, der neben Peking und Guangzhou wirtschaftlich und politisch wichtigsten Stadt, hat das Vertrauen in die Politik tiefe Risse bekommen.

Für die Gegner von Präsident Xi ist diese Entwicklung ein Hoffnungsschimmer. Sie werden nicht müde, auf die Risse hinzuweisen und wenn möglich sie zu vergrößern. Der Streit in der Partei ist sichtbar wie selten. Damit ist Xi in eine Zwickmühle geraten. Er kann nun nicht einräumen, dass seine Zero-Covid Politik überholt ist. Das würde so aussehen, als ob er gezwungen wird, seinen politischen Gegnern nachzugeben.

Die Stadt Peking setzt auf die Shenzhen-Methode

Xi musste wenigstens beweisen, dass Shanghai nicht die Regel seiner Politik, sondern eine Ausnahme ist. In Peking ließ er das Virus deshalb nach der Shenzhen-Methode bekämpfen, wie in den meisten Städten Chinas. Sie funktioniert, wenn man anders als in Shanghai früh reagiert: Tägliches intensives Testen im Semi-Lockdown, um die Infektionswege zu finden, und dem Isolieren einzelner Wohnblocks oder Straßenzüge – im Fall positiv getesteter Personen.

Für die meisten Menschen in Peking hieß das in den letzten Wochen: Man konnte sich frei in der Stadt bewegen, sich aber nicht versammeln. Sportstätten und große Parks waren zu. Gearbeitet wurde im Homeoffice. Mal ins Büro – kein Problem. Die Schulen wurden auf Online umgestellt. Die Shopping-Malls waren zu. In den Restaurants konnte man alles bestellen, aber nicht dort essen. Überall musste man sich mit seiner Coronavirus-App einklinken. Und jeden Tag zum Testen, wobei die Schlangen selten so lang waren wie in Shanghai mit schon mal vier Stunden Wartezeiten. Zwischen zwei und 20 Minuten war die Pekinger Regel.

Die Pekinger machten das Beste draus. Man traf sich zum Picknick am Stadtrand, fuhr Fahrrad in den leeren Straßen bei klarer Luft und Kaiserwetter, ging viel spazieren und joggen. Auf Pekings Flüssen tauchten viele Stand-up-Boards auf – fast eine Entschlackungskur für die rastlosen Stadtbewohner.

Die Stimmung war mulmig-gelassen, jeden Tag draußen genießend als sei es der Letzte. Ist morgen Shanghai? Nur einmal kam es für einige Stunden zu Panikkäufen, wegen falscher Gerüchte in den sozialen Medien. Ansonsten waren die Läden normal gefüllt und stets offen.

Zurück zur wirtschaftlichen Normalität

Neue Geschäftsideen sind entstanden, wie Bierwagen, die gezapftes Bier on-the-go verkauften, oder Essen, das man im Laufen verzehren kann. Denn versammeln sollte man sich ja nicht. Nicht einmal Fußball spielen. Manche Fußballplätze wurden mit Stacheldraht umzäunt. Doch kaum war dunkel, haben die Jugendlichen Löcher in den Zaun geschnitten und gespielt, bis sie vom lokalen Ordnungsamt vertrieben wurden. Die Jungen feierten derweil spontane Partys in Kleingruppen unter hallenden Autobahnbrücken, mit großen Boxen auf Omas altem Einkaufstrolley, den sie hinter ihrem E-Roller herzogen, bis die Polizei sie vertrieb. Auf zur nächsten Brücke, weiter vom Zentrum weg. 3. Ring. 4. Ring. 5. Ring.

Eine wechselnde Minderheit hatte allerdings auch in Peking Pech: Ein Fall in der Nachbarschaft bedeutete eine Woche Hausarrest. Dort gab es dann schon Ärger, auch hier kam es zu Übertreibungen und Schikanen. Insgesamt war der Peking Lockdown aber ausgewogen. Und die Pekinger sagten: Shanghai, schau auf uns! So geht Lockdown. Nun lautet die Devise: Zurück zur wirtschaftlichen Normalität. Noch kann China für das Gesamtjahr die Kurve kriegen. Die Exportzahlen von Mai machen Hoffnung:  16,9 Prozent Wachstum. Nach nur 3,9 Prozent im April.

Die an Shanghai angrenzende Provinz Jiangsu hat derweil am Wochenende die Einreise Quarantäne verkürzt: 3 Tage Hotelquarantäne nach der Landung in Shanghai, 4 Tage Hotelquarantäne in Jiangsu, 7 Tage Quarantäne zu Hause. Nur zwei Wochen – damit kann man leben.

Aber es war zugleich auch ein Wochenende der Rückschläge. Allein 46 neue Fälle gab es am Samstag in Peking. 61 am Freitag. Immerhin lassen sich alle Fälle auf eine Bar am Arbeiterstadion zurückverfolgen und sind bereits in Isolation. Dennoch wurden Bars und Clubs in mindestens zwei Distrikten, darunter dem Ausländerviertel Chaoyang, wieder geschlossen. Restaurants bleiben offen. Doch anders als geplant haben die Schulen am heutigen Montag ihre Türen nicht wieder geöffnet.

  • Coronavirus
  • Gesundheit
  • Peking

News

Brutaler Angriff auf Frauen sorgt für Entsetzen

Gewalt gegen Frauen ist auch in China allgegenwärtig, häufig aber mit starker Tabuisierung verbunden. Das scheint sich nun zu ändern. Ein brutaler Angriff auf eine Gruppe von Frauen in einem Restaurant in der Stadt Tangshan nordöstlich von Peking sorgt landesweit für Entsetzen und Empörung

Videoaufnahmen des Vorfalls zeigen, wie ein Mann in dem Restaurant seine Hand auf den Rücken einer Frau legt, die von zwei Freundinnen begleitet wird. Als die Frau den Mann versucht wegzustoßen, schlägt er sie. Weitere Männer zerren die Frau gewaltsam aus dem Restaurant und schlagen auf sie ein, während sie auf dem Boden liegt. Die Männer prügeln auch auf die Freundinnen ein.

Zwei der drei Frauen wurden bei der Attacke schwer verletzt. Sie müssen im Krankenhaus behandelt werden. Die Polizei hat nach eigenen Angaben neun Menschen im Zusammenhang mit dem Vorfall festgenommen. Ihnen wird Körperverletzung und die “Provokation von Unruhe” vorgeworfen, berichten Nachrichtenagenturen. 

Die Videoaufnahmen gingen am Wochenende im chinesischen Internet viral und lösten eine Debatte über sexuelle Belästigung und Gewalt gegen Frauen aus. “All dies ist Alltag in China und kann uns jederzeit allen passieren”, schrieb eine Nutzerin, dem mehrere Hunderttausend beipflichteten. Von “Barbarei in einer völlig verrohten Gesellschaft, schrieb eine zweite. Ihr Beitrag wurde nach einigen Stunden von den Zensurbehörden aber wieder gelöscht. flee

  • Frauen
  • Gesellschaft

IAO will Xinjiang inspizieren

Die Internationale Arbeitsorganisation IAO will eine Mission in die Autonome Region Xinjiang entsenden. Das berichtet der Spiegel. Eine Vollversammlung der ILO-Mitgliedsstaaten nahm mit Mehrheit einen entsprechenden Antrag an. Als Begründung nennt er ausdrücklich “die Anwendung repressiver Maßnahmen gegen die Uiguren“. Vom 27. Mai bis Ende vergangener Woche tagte der Internationale Arbeitskongress mit 4.000 Delegierten.

Die IAO gilt gemeinhin als “zahnlose Tigerin“, die ihre Prinzipien nicht durchsetzen kann (China.Table berichtete). Am Freitag hat die IAO auch beschlossen, dass alle ihre 187 Mitgliedstaaten “das Grundrecht auf ein sicheres und gesundes Arbeitsumfeld” gewährleisten. Doch auch darunter versteht jedes Land etwas anderes. So hat auch China ein IAO-Abkommen gegen Zwangsarbeit unterzeichnet (China.Table berichtete) – sieht darin aber keine Widersprüche zur eigenen Praxis, weil es Zwangsarbeit auch in Xinjiang offiziell nicht gibt. fin

  • ILO
  • Menschenrechte
  • Xinjiang
  • Zivilgesellschaft

E-Auto-Absatz schießt in die Höhe

Im Mai hat sich der Verkauf von Autos mit neuen Antriebsformen erholt. Im Vergleich zum Jahresmonat stieg er um 91 Prozent auf 360.000 Stück. Das teilte die China Passenger Car Association mit. Auch im Vergleich zum Vormonat, dem April, ging der Absatz um ein gutes Viertel hoch. In den ersten fünf Monaten des Jahres hat sich die verkaufte Stückzahl mehr als verdoppelt. Zu den New Energy Vehicles (NEV) gehören Batterieautos, aber auch Steckdosenhybride.

Auch insgesamt verzeichnet der Automarkt eine Erholung. Die Steigerung der Verkäufe erreichte über alle Antriebsformen 30 Prozent. Als Grund nennt der Verband den Rückgang der Covid-Infektionszahlen und die Aufhebung der Lockdowns. fin

  • Autoindustrie

Nachrichten-Plattform Factwire schließt in Hongkong

Die investigative Nachrichtenseite Factwire aus Hongkong hat am Freitag ihre sofortige Auflösung angekündigt. “In den letzten Jahren hatten die Medien mit großen Veränderungen zu kämpfen. Obwohl wir viele Male mit der schwierigen Entscheidung gerungen haben, ob wir unsere journalistische Arbeit fortsetzen, sind wir immer zu dem gleichen bejahenden Schluss gekommen: fest zu unseren Grundwerten und Überzeugungen zu stehen und immer über die Fakten zu berichten”, teilte Factwire mit.

Zu den Gründen für das Aus nannte das Team zunächst keine weiteren Details. Es ist die vierte große unabhängige Nachrichten-Plattform, die sich in weniger als einem Jahr in Hongkong auflöst. Apple Daily, Stand News und Citizen News wurden unter massivem Druck der Hongkonger Regierung geschlossen (China.Table berichtete). ari

  • Hongkong
  • Zivilgesellschaft

Was kostet der Wald?

Chinas Behörden haben Pilotprogramme gestartet, um den Wert der Wälder des Landes zu erfassen. Hintergrund ist das Bestreben, neben dem Bruttoinlandsprodukt auch eine Maßeinheit für “Ökologische Dienstleistungen und Produkte” zu erstellen. Die “Dienstleistungen” der Natur – beispielsweise sauberes Trinkwasser oder die Speicherung von CO2 – sollen in ökonomischen Kennzahlen erfasst werden. Die Logik dahinter: Indem China der Natur einen finanziellen Wert zuschreibt, wird sie eher geschützt (China.Table berichtete).

Das Nationale Statistikbüro und die Staatliche Forst- und Grünlandverwaltung haben fünf Provinzen ausgewählt, in denen Methoden zur Erfassung des Werts der Wälder getestet werden sollen. Mittelfristig könnte das Vorhaben weitreichende Auswirkungen haben: Unternehmen, die Wälder roden wollen, könnten zu Ausgleichszahlungen verpflichtet werden. Auch gibt es Debatten, ob die Erhaltung der “Ökologischen Dienstleistungen und Produkte” in der Bewertung und Beförderung lokaler Kader einfließen soll. Derzeit gibt es noch keine überzeugende Methode, um den Wert der Natur zu erfassen. Viele Faktoren spielen dabei eine Rolle: Bäume speichern nicht nur CO2, sondern wirken sich auch auf den Wasserhaushalt ihrer Umwelt aus und bieten Lebensraum für andere Tiere. All dies zu erfassen, ist äußerst komplex. nib

  • Klima
  • Nachhaltigkeit
  • Umwelt

Presseschau

China will “um jeden Preis” um Taiwan kämpfen ZEIT
Warum die Bedrohung für Taiwan zunimmt FAZ
USA tadeln China für Destabilisierung Taiwans NTV
China accuses the U.S. of trying to hijack support in Asia NPR
Situation der Uiguren in China: ILO will Mission nach Xinjiang entsenden SPIEGEL
Uigurin im Exil: “Die ganze Welt finanziert diese Verbrechen mit” KURIER
Russlands Bildungsminister in Ukraine, China kritisiert Waffenexporte ZEIT
Wie Xi Jinping seinem Land und seinem Image schadet SUEDDEUTSCHE
Messegipfel in Hamburg ohne China und Russland WELT
Reifenhersteller Michelin will Abhängigkeit von China begrenzen WELT
CO2-neutrale Grills? “Wir dachten erst, die Chinesen zeigen uns einen Vogel” WIWO
Brutaler Angriff auf Frauen sorgt in China für Entsetzen SPIEGEL
Peking lockert strikte Corona-Regeln NTV

Portrait

Justin Yifu Lin – China-optimistischer Ökonom

Justin Yifu Lin - Ökonom, Universitätsprofessor, Regierungsberater und Autor von über 20 Büchern
Justin Yifu Lin – Ökonom, Universitätsprofessor, Regierungsberater und Autor von über 20 Büchern

Justin Yifu Lin gibt sich zuversichtlicher als die chinesische Regierung selbst. Sechs Prozent Wachstum traute der Ökonom der Wirtschaft des Landes Anfang des Jahres für 2022 zu. Die Regierung plante mit nur 5,5 Prozent. Ohne Corona sei bis 2035 sogar ein jährliches Wachstum von acht Prozent möglich, schätzt der 69 Jahre alte Ehrendekan der Universität Peking. Analystinnen und Analysten europäischer Ratingagenturen reiben sich verwundert die Augen angesichts von so viel Optimismus. Sie sehen China in diesem Jahr bei gerade einmal gut vier Prozent Wachstum.

Doch Zuversicht ist ein wesentlicher Baustein für die Karriere von Justin Yifu Lin. So war es auch 1979, als der gebürtige Taiwaner und studierte Ökonom vom Ufer der Insel Kinmen Richtung Volksrepublik blickt und mutig in Wasser steigt. Der Legende nach dienen dem desertierenden Soldaten zwei Basketbälle als Schwimmhilfe für die Flucht auf die zwei Kilometer entfernte Insel Xiamen. Lin flüchtet also quasi umgekehrt vom demokratischen Taiwan in die autoritär regierte Volksrepublik.

Seine Motivation? Innere Überzeugung: Er sei aufgrund seines kulturellen, historischen, politischen und ökonomischen Verständnisses zu der Ansicht gelangt, dass die Rückkehr zum Mutterland historisch zwangsläufig ist, schreibt er kurz nach seiner Flucht. Seine Familie lässt er dabei zurück.

In Peking studiert er anschließend marxistische Wirtschaftslehre. Dort lernt er Theodore Schultz kennen. Der amerikanische Nobelpreisträger verschafft ihm ein Stipendium für eine Promotion in Chicago, wo er unter anderem Chinas Öffnung zur Marktwirtschaft erforscht.

Einen wesentlichen Grund für den Aufstieg des Landes erkennt Justin Yifu Lin in der Nutzung der komparativen Vorteile des Faktors Arbeit im Land. Arbeit ist in China günstig, das wurde lange verkannt. Denn die Schwerindustrie aus der Zeit vor den Reformen durch Deng Xiaoping im Jahr 1979 war vor allem kapitalintensiv. Fortan aber setzt China auf die Massenfertigung, auf flinke Hände, die wenig kosten.

Schneller Aufstieg zu Regierungsberater

Ein Angebot, nach seiner Promotion in den USA zu lehren, lehnt Justin Yifu Lin ab. Stattdessen zieht es ihn wieder nach China. “Das Land wandelte sich von der Plan- zur Marktwirtschaft. Das war faszinierend”, sagte er rückblickend dem Magazin Brand eins. Im Jahr 1986 kehrt er nach Peking zurück und gründet dort 1993 an der Universität Peking einen wirtschaftspolitischen Thinktank, das “China Centre for Economic Research” (CCER). Schnell steigt er zu einem der wichtigsten Regierungsberater auf.

Im Jahr 2008 wird er zum Chefökonom der Weltbank ernannt. In seiner vierjährigen Amtszeit wirbt er für seine New Structural Economics. Diese Theorie soll Schwellen- und Entwicklungsländern zu mehr Wohlstand verhelfen. Nach Justin Yifu Lin verlangt eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung immer das Zusammenspiel von Staat und Markt.

In Branchen, wo günstigere Arbeitsbedingungen als im Ausland herrschen, müsse der Staat intelligente Strategien und Investitionen einsetzen, um Innovationen im Land zu fördern. So hat es China gemacht – aus seiner Sicht erfolgreich: “Die Welt”, sagte Lin einmal in seiner Zeit bei der Weltbank, “kann viel von China lernen. Und ich möchte dabei helfen.”

Einfluss auf die Regierung wohl gesunken

Heute ist der Universitätsprofessor und Autor von mehr als 20 Büchern auch ein Berater der chinesischen Regierung. Doch zuletzt dürfte sein Einfluss auf die Politik gesunken sein. Das vermutet zumindest die China-Beobachterin Angela Stanzel. An ihm selbst liegt das nicht: “Der Xi-Jinping-Führung geht es offensichtlich immer weniger um wirtschaftliche Entwicklung, sondern immer mehr um parteipolitische Kontrolle”, sagt die China-Expertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. 

Außenwirtschaftlich geht Justin Yifu Lin mit der Haltung der Regierung konform. Peking wirft den USA vor, seinen Aufstieg zu behindern. Auch Lin klagt, die US-Amerikaner würden die chinesische Wirtschaft durch Sanktionen wie etwa gegen den IT-Konzern Huawei abwürgen.

Doch wie so oft ist er zuversichtlich, dass sich diese Situation bald ändert – zugunsten Chinas. Das enorme Wachstum des Landes wird es schon richten. “Eines Tages wird unsere Wirtschaft doppelt so stark sein wie die der USA.” Er rechnet dann mit den Vereinigten Staaten im Fahrwasser Chinas. “Nur im Handel mit China können die USA profitieren”, sagte er im Mai auf einem Wirtschaftsforum in Peking. Andreas Schulte

Prof. Justin Yifu Lin spricht am Donnerstag (16. Juni) zum Thema “Kann China sein BIP-Wachstumsziel von 5,5 % für 2022 erreichen?” auf einer Veranstaltung des IfW Kiel im Rahmen der Reihe Global China Conversations. Das Gespräch findet auf Englisch statt. China.Table ist Medienpartner der Veranstaltungsreihe.

  • Europäischer Rat
  • Geopolitik
  • Handel
  • Taiwan

Personalie

Zhang Tao wird neuer Leiter des Asien-Pazifik-Büros der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIS). Zhang hat als ehemaliger stellvertretender Leiter des Internationalen Währungsfonds (IWF) Erfahrungen in internationalen Organisationen gesammelt. Der 58-Jährige ist der erste Chinese im höheren Management der als “Bank der Zentralbanken” bezeichneten BIS.

Zur Sprache

Kerngesicht

瓜子脸 - guāzǐliǎn - Kerngesicht
瓜子脸 – guāzǐliǎn – Kerngesicht

Für die einen ist es der Gipfel allen Knabbergenusses, für die anderen ein akustischer Alptraum. Wer eher zartbesaitete Gehörgänge hat und sich schon einmal im Knusperradius eines passionierten Kerneknackers befunden hat, der weiß: jetzt heißt es entweder Mitknabbern oder Reißaus nehmen. Die Kerne, von denen hier die Rede ist, nennt man in China “guazi” (瓜子 guāzǐ) – der chinesische Sammelbegriff für alle Samen, die sich als Snack knabbern lassen. Meist sind damit Sonnenblumenkerne gemeint, gelegentlich aber auch Kürbis-, Pinien-, Wassermelonen- oder andere Kerne. 

Von Knusperprofis werden die Knabberkerne mit Karacho mit den Vorderzähnen aufgespalten und dann im Mund mit viel Zungenspitzengefühl aus der Schale gefischt. 嗑瓜子 kè guāzǐ (“Kerne knacken”) heißt diese Operation auf Chinesisch. Ob zum Frühlingsfest, Filmabend oder Feierabendbier – für viele Chinesen gehören “guazi” zur Grundausstattung geselliger Gruppenereignisse. Auch sind sie ein gern gesehener Gaumenzeitvertreib für Wartezeiten in Restaurantfoyers oder Bahnhofshallen. 

Sogar ein Schönheitsmakel ist nach den kleinen Kernen benannt, nämlich der Guazi-Zahn (瓜子牙 guāzǐyá). Er ist die Bürde, die eingefleischte Knusperfanatiker brandmarkt, wenn sie es über die Jahre mit dem ekstatischen Aufknacken harter Schalen übertrieben haben. Als “Strafe” hat sich beim einen oder anderen mit der Zeit nämlich eine kleine Kerbe in den vorderen Schneidezähnen eingefurcht. Seither kann man sie schon beim ersten Lächeln als Guazi-Jünger entlarven.

Wer dem frühzeitig Einhalt gebieten will, der schafft sich am besten flugs eine automatische Guazi-Knackmaschine an. Die gibt es wirklich. Auf Taobao hat man die Wahl zwischen unterschiedlichsten Fabrikaten. Unter genuinen Guazi-Genießern sind solche Gerätschaften allerdings als Spaß- und Geschmacksbremse verschrien. Schließlich werden die Kerne in speziellen Aromamischungen geröstet, sodass sich ein Großteil dessen, was die Geschmacksknospen zum Tanzen bringt, auf der äußeren Knusperschale befindet. Ein Kern ohne Schale – das ist für echte Knusperfans wie ein Liebesakt ohne Vorspiel. Zu den beliebtesten Guazi-Geschmacksrichtungen im Reich der Mitte zählen übrigens Karamell (焦糖 jiāotáng), Fünf-Gewürze-Mischung (五香 wǔxiāng – aus Fenchel, chinesischem Pfeffer, Sternanis, Zimt und Gewürznelke), Sahne (奶油 nǎiyóu) und Grüntee (绿茶 lǜchá). 

Wie tief sich das mentale Konzept der “guazi” in die Köpfe der Chinesen eingebrannt hat, zeigt der Begriff des Guazi-Gesichts (瓜子脸 guāzǐliǎn). Dieses gilt als Inbegriff einer harmonischen Gesichtsform und damit als Schönheitsideal. Ein klassisches “Kerngesicht” zeichnet sich durch weiche, fließende Linien aus, ist oben eher rundlich, läuft aber zum Kinn hin schmal zu. Natürlich hat so ein Idealgesicht nicht jeder. Aber keine Bange, Taobao schafft Abhilfe.

Wer auf dem Onlineshoppingportal nämlich den Suchbegriff “Guazi-Gesicht” eintippt, dem werden zahlreiche “Guazi-Gesicht-Wunderwaffen” (瓜子脸神器 guāzǐliǎn shénqì) angepriesen, die für eine schmal zulaufende Gesichtsform sorgen sollen. Die wilden Wahloptionen reichen von manuellen bis elektrischen Gesichtsmassagegeräten über Bissbälle zum Gesichtsmuskeltraining und Kosmetikmasken mit spezieller Schmalmachformel bis hin zu formenden Gummimasken und Spanngurten. Wer, bis sich erste Erfolge einstellen, das vermeintlich nicht-normschöne Gesicht erst einmal kaschieren möchte, kann zudem aus einer breiten Palette an speziellen Brillengestellen, Sonnenbrillen und Kopfbedeckungen wählen, die das Gesicht “kerniger” erscheinen lassen sollen. Oder vielleicht hilft ja auch ganz einfach kontinuierliches Guazi-Knabbern? Probieren Sie es aus!

Verena Menzel betreibt in Peking die Online-Sprachschule New Chinese.

  • Gesellschaft
  • Kultur

China.Table Redaktion

CHINA.TABLE REDAKTION

Licenses:
    • China droht USA mit Krieg um Taiwan
    • Warum läuft die Covid-Bekämpfung in Peking besser als in Shanghai?
    • Entsetzen über Gewalt gegen Frauen
    • Arbeitsorganisation sendet Mission nach Xinjiang
    • Absatz von E-Autos erholt sich
    • Hongkong: Weitere Nachrichtenseite gibt auf
    • Behörden wollen Wert der Wälder erfassen
    • Im Portrait: Justin Yifu Lin – Optimistischer China-Ökonom
    • Zur Sprache: Das Kerngesicht
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    Hungersnöte wegen der gestiegenen Preise, Hitzewellen in Italien und Indien, Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine – als hätten wir nicht schon genug Krisen, kommt eine neue, ganz große Sorge dazu: die weiter zunehmenden Spannungen zwischen China und den USA

    Die für die Region so wichtige Sicherheitskonferenz am Wochenende in Singapur förderte nicht die erhoffte Verständigung. Sie stand ganz im Zeichen des köchelnden Konflikts zwischen den beiden Großmächten. Es war ein heftiger Schlagabtausch, den sich die Verteidigungsminister beider Staaten um Taiwan und um Chinas aggressives Verhalten im Südchinesischen Meer lieferten. Doch bei aller Härte – es sei ein gutes Zeichen, dass beide Seiten immerhin für die Zukunft Gespräche in Aussicht stellen, analysiert Michael Radunski.

    Omikron ist ebenfalls eine der großen Sorgen dieser Monate. Das Virus bleibt unberechenbar. Daher ist es mehr fragwürdig, dass die KP-Führung geradezu fanatisch an ihrer Zero-Covid-Strategie festhält. Interessant ist dabei aber: Während zwei Millionen Shanghaier nach nur wenigen Tagen der Öffnung schon wieder in den Lockdown müssen, läuft im eigentlich strengeren Peking das Leben weitgehend normal. Was macht Peking anders als Shanghai? Dieser Frage geht Frank Sieren nach. Seine Antwort: Shanghai ergriff zu spät Maßnahmen – auf Pekings Geheiß.

    Viele neue Erkenntnisse!

    Ihr
    Felix Lee
    Bild von Felix  Lee

    Analyse

    Offener Schlagabtausch in Singapur

    Chinas Verteidigungsminister Wei Fenghe geht die USA in seiner Shangri-La-Rede am Sonntag frontal an

    Chinas Verteidigungsminister Wei Fenghe hat am Wochenende erstmals seinen amerikanischen Amtskollegen Lloyd Austin persönlich getroffen. Anlass für die ranghohe Zusammenkunft war der Shangri-La-Dialog in Singapur. Es ist die wichtigste Sicherheitskonferenz in der Region Asien-Pazifik. Doch es wird kein freundliches Kennenlernen der beiden. Zu angespannt sind die Beziehungen zwischen China und den USA. Die Konflikte reichen von der Lage der Uiguren in Xinjiang über das Südchinesische Meer und Taiwan bis hin zu Chinas Haltung im Ukraine-Krieg.

    Und so vergeudet Wei Fenghe in Singapur denn auch keine Zeit mit Höflichkeiten. Gleich am Freitag – noch vor dem offiziellen Beginn der Konferenz – gibt Chinas oberster Militär den Ton vor: Im direkten Gespräch mit Austin warnt Wei eindringlich vor einem möglichen Krieg. “Falls es irgendjemand wagt, Taiwan von China zu trennen, wird die chinesische Armee definitiv nicht zögern, einen Krieg zu beginnen. Koste es, was es wolle.” Jedes Komplott zur Unabhängigkeit Taiwans werde zerschmettert und die Vereinigung des Mutterlandes entschlossen aufrechterhalten. Wei stellt unmissverständlich klar: “Taiwan ist Chinas Taiwan.”

    Als Chinas Verteidigungsminister dann am Sonntag seine offizielle Rede auf dem Shangri-La-Forum hält, legt er nach – ebenso entschlossen und ebenso unmissverständlich: “Wenn es jemand wagt, Taiwan von China abzuspalten, werden wir nicht zögern, zu kämpfen”, warnt Wei. “Wir werden um jeden Preis kämpfen. Wir werden bis zum Ende kämpfen.” Niemand solle die Entschlossenheit und Fähigkeit der chinesischen Streitkräfte unterschätzen, um die territoriale Integrität der Volksrepublik zu wahren. Gemeint sind damit vor allem die USA.

    USA: China wird immer aggressiver

    Denn am Tag zuvor hatte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin die amerikanische Sichtweise auf Taiwan und die Region dargelegt. In seiner knapp einstündigen Rede zog er immer wieder Vergleiche zwischen Russlands Vorgehen in der Ukraine und Chinas “stärkerer und aggressiverer Herangehensweise” im Indopazifik. “Russlands Invasion in der Ukraine ist das, was passiert, wenn Unterdrücker die Regeln, die uns alle schützen, mit Füßen treten”, sagte Austin in Singapur. “Das passiert, wenn Großmächte entscheiden, dass ihr imperialer Appetit wichtiger ist als die Rechte ihrer friedlichen Nachbarn. Und es ist eine Vorschau auf eine mögliche Welt des Chaos und Aufruhrs, in der keiner von uns leben möchte.”

    Und so versprach Austin, dass die USA den Ländern in Asien helfen werde, sich gegen chinesisches “Mobbing” zu wehren. Das sei notwendig, damit sich eine Ukraine-Krise nicht im Pazifik wiederhole. Mit Blick auf Russland und China sagte Austin: “Wir spüren den Gegenwind – von Drohungen und Einschüchterungen – und den überholten Glauben an eine Welt, die in Einflusssphären unterteilt ist.”

    Mit großer Sorge stelle Amerikas Verteidigungsminister fest, dass China immer aggressiver versuche, seine territorialen Ansprüche durchzusetzen. Austin nannte unter anderen Pekings offensive Aktivitäten rund um Taiwan, wie etwa die regelmäßigen Militärflüge und warnte seinerseits vor einer Destabilisierung in der Region. Erst vor wenigen Tagen waren 30 chinesische Flugzeuge in den sogenannten Verteidigungsluftraum Taiwans eingedrungen; Angaben des taiwanischen Verteidigungsministeriums zufolge hätten sich darunter mehr als 20 Kampfjets befunden (China.Table berichtete).

    Erstes Treffen des US-Verteidigungsministers Lloyd Austin mit seinem chinesischen Amtskollegen Wei Fenghe auf dem Shangri-La Forum in Singapur. Es kam zu einem offenen Schlagabtausch zwischen China und den USA.
    Erstes Treffen des US-Verteidigungsministers Lloyd Austin mit seinem chinesischen Amtskollegen Wei Fenghe

    Beobachter konnten schon vor einigen Wochen eine Verschärfung der amerikanischen Politik bezüglich Taiwan feststellen. Als US-Präsident Joe Biden Ende Mai in Japan gefragt wurde, ob die USA Taiwan auch durch einen Einsatz der US-Armee verteidigen würde, sagte Biden: “Ja, wir haben diese Verpflichtung.” (China.Table berichtete). Kurz zuvor hatte das US-Außenministerium die Beschreibung Taiwans auf seiner Internetseite geändert: Der Hinweis auf “ein China” fiel weg – eine vermeintlich kleine, aber überaus symbolträchtige Änderung (China.Table berichtete). Bisher bestand die US-Strategie darin, absichtlich vage zu bleiben. So soll China im Unklaren bleiben über die Handlungsbereitschaft der USA; und gleichzeitig soll Taiwan keinen Anreiz erhalten, mit einer vermeintlich amerikanischen Rückendeckung die Unabhängigkeit auszurufen.

    China: USA verursacht weltweit Konflikte

    US-Verteidigungsminister Austin beteuerte am Samstag jedoch: “Unsere Politik hat sich nicht geändert. Aber leider scheint das für China nicht zu gelten.” Frieden und Stabilität in der Taiwanstraße aufrechtzuerhalten sei nicht nur ein US-Interesse, sondern eine Angelegenheit von internationaler Bedeutung. “Wir suchen keine Konfrontation oder Konflikte. Und wir suchen keinen neuen Kalten Krieg, keine asiatische Nato und auch keine in feindliche Blöcke gespaltene Region.” Die Worte des US-Verteidigungsministers sollten allen auf der Konferenz wie auch den Menschen in der Region zeigen, wer die Guten und wer die Bösen sind.

    Das konnte China so nicht stehen lassen. Und nur wenige Momente nach der Rede des US-Verteidigungsministers folgte denn auch die erste wütende Reaktion. Generalleutnant Zhang Zhenzhong bezeichnete Austins Ausführungen als eine Reihe von Unwahrheiten und bösartigen Unterstellungen, die allesamt auf eine Konfrontation abzielten. “Die USA verstärken ihre Militärpräsenz in der Region, sie schmieden Militärallianzen wie Aukus, Quad oder die Five-Eyes-Allianz und wollen offen, Chinas strategisches Umfeld verändern. Wie sollten wir das anders nennen als Konfrontation!?” Es seien die USA, die Chaos im Nahen Osten angerichtet und Instabilität nach Europa gebracht hätten. Und nun würden sie versuchen, den asiatisch-pazifischen Raum zu destabilisieren, sagte der stellvertretende Leiter der gemeinsamen Stabsabteilung der Zentralen Militärkommission Chinas.

    Auch Chinas Verteidigungsminister Wei präsentierte den Delegierten am Sonntag nochmals diese Argumentationskette: Amerikas Verhalten sei die Hauptursache für Spannungen – und zwar auf der gesamten Welt, von der Ukraine bis hin zum Südchinesischen Meer.

    Wei: China leistet Russland “keine materielle Unterstützung”

    In der Ukraine-Frage positionierte sich China derweil etwas überraschend neu, wenn auch indirekt. Zunächst kam allerdings die Retourkutsche für Austins Angriffe auf sein Land: Wer der Ukraine Waffen liefere, schütte Benzin ins Feuer, sagte Wei. Er übte heftige Kritik an der EU und den Nato-Staaten, die seit Wochen die Ukraine zur Verteidigung gegen Russland mit Kriegsgerät unterstützen.

    Zugleich betonte Wei, dass sein Land keinerlei materielle Unterstützung an Russland leiste. Die enge Verbindung zwischen der Volksrepublik und Russland sei eine Partnerschaft, aber kein Bündnis. Damit wollte er offenbar Vermutungen entgegentreten, China werde sich die Seite Russlands schlagen, um gemeinsame Sache gegen den Westen zu machen.

    China hoffe, dass die USA und die Nato mit Russland ins Gespräch kommen, um die Voraussetzungen für einen Waffenstillstand zu schaffen, sagte Wei. Sein Land stünde jedenfalls bereit, eine konstruktive Rolle zu spielen und zu helfen, die Lage zu entschärfen, um eine politische Lösung zu erreichen. Konkrete Vorschläge machte Wei in Singapur allerdings nicht. Peking hat nach offizieller Lesart die russische Invasion in der Ukraine bislang weder offen kritisiert, noch seine Unterstützung für die Militäroffensive Russlands erklärt.

    Die Botschaft des chinesischen Verteidigungsministers stieß im Publikum allerdings auf Skepsis, wie die kritischen Nachfragen zeigten. Und auch hier konnten aufmerksame Zuhörer in Singapur kleine Veränderungen feststellen: Hatte er in seiner Rede noch an Chinas offizielle Sprachregelung eines “Konflikts” gehalten, sprach Wei anschließend immerhin von einem “Krieg” in der Ukraine.

    Doch auch selbst die Ausführungen zur Ukraine waren in erster Linie gegen Washington gerichtet. Insgesamt stand die asiatische Sicherheitskonferenz ganz im Zeichen der Spannungen zwischen China und den USA. Beide Seiten versuchten, für ihre konkurrierenden Visionen von regionaler Ordnung und Stabilität zu werben. Es war ein offener und harter Schlagabtausch, den sich Wei Fenghe und Llyod Austin in Singapur lieferten. Nun gilt es, Lösungen zu finden. Zu viel steht auf dem Spiel. Doch das wird nur im Dialog gelingen. Und so ist es ein gutes Zeichen, dass bei aller Härte die beiden Verteidigungsminister vereinbarten, sich bald wieder zu treffen. Mitarbeit: Felix Lee

    • Geopolitik
    • Militär
    • Sicherheit
    • USA

    Eine Geschichte aus zwei Städten

    Aus dem Lockdown in den Lockdown: In Shanghai hat am Wochenende eine neue Runde von Massentests auf Covid-19 begonnen. Peking bleibt derweil locker.
    Aus dem Lockdown in den Lockdown: In Shanghai hat am Wochenende eine neue Runde von Massentests auf Covid-19 begonnen. Peking bleibt derweil locker.

    Shanghai leidet unter einem Rückfall: Gut zehn Prozent der Bevölkerung von 25 Millionen Menschen sind wieder im Lockdown, der gesamte Distrikt Minhang. Gleichzeitig wurden 15 Millionen Menschen am Wochenende abermals getestet. Im Laufe der kommenden Woche folgen noch weitere Test-Runden. Nachdem die lange ersehnte Öffnung erst eine Woche her ist, kommt das Wiederaufflammen von Covid-19 nun als kleiner Schock. Am Sonntag meldete die Stadt fünf aufgefundene Infektionen. Am Samstag waren es 29.

    Shanghais Schrecken ohne Ende wirft die Frage auf, warum die Lockdowns in Peking und Shanghai so unterschiedlich verliefen. Dies sei die Rache Pekings für das zu liberale Shanghai, vermuteten einige. Ein Weg, um auch noch die letzten Ausländer zu vertreiben, meinten andere. Wieder andere glauben, Staats- und Parteichef Xi Jinping wolle eine neue Kulturrevolution. Manche verstiegen sich sogar in der Annahme, es werde eine Kriegslage getestet vor einem Angriff auf Taiwan.

    Die wahrscheinlichste Erklärung ist einfacher. In Shanghai kamen immer noch die meisten Flüge aus der durchseuchten Omikron-Welt da draußen an. Zugleich sollten die Shanghaier Behörden auf Geheiß von Peking stillhalten. In der Hauptstadt selbst fanden dicht nacheinander die Olympischen Spiele und der Nationale Volkskongress statt. Schlechte Nachrichten von steigenden Infektionszahlen konnte die Führung da nicht brauchen. Zugleich achtete die Stadt Peking selbst penibel auf die Einhaltung der verschiedenen Systeme und Blasen, die eine Einschleppung verhinderten.

    Der Stillhalte-Kurs verschleierte in Shanghai die Realität: Schon in der zweiten Januar-Woche gab es erste Omikron-Träger aus dem Ausland, die nach Shanghai reisten. Manche wurden erst nach mehr als 21 Tagen und dem Ende ihrer Quarantäne positiv. Doch die politische Devise lautete: Den Ball flach halten. Mehr als kleine Lockdowns gab es nicht. Immerhin: Am 18. Januar wurde die Einreise-Quarantäne von 14 auf 21 Tage verlängert.

    Zu stolz auf die Zero-Covid-Politik

    Ansonsten sollte ganz China vor den wichtigsten Feiertagen rund um das chinesische Neujahrsfest im Februar und vor allem vor den Olympischen Spielen ruhig und stabil erscheinen, die tatsächlich fast reibungslos verliefen. Doch so vergingen Wochen politisch verordneter Untätigkeit. Erst nach dem 11. März, dem Ende des Nationalen Volkskongresses, wurden in Shanghai wegen der steigenden Inzidenzen Maßnahmen ergriffen.

    Der große Lockdown kam am 17. März – zu spät für Omikron. Nun überreagierten die lokalen Kader in Shanghai ins andere Extrem, mit Methoden, die an die Zeiten der Kulturrevolution erinnern. Eine Spirale der Härte: Zehntausende Menschen, die zwar positiv getestet, aber keine Symptome zeigten, wurden in Messehallen gesperrt, Mütter von ihren Kindern getrennt, Tiere erschlagen. Teile der Bevölkerung hatten zeitweise nicht genug zu Essen. Trotz der drakonischen Maßnahmen dauerte es zweieinhalb Monate, bis Shanghai Anfang Juni wieder geöffnet war.

    Ein wichtiger Grund für die späte Reaktion in Shanghai: China war insgesamt zu stolz auf seine Zero-Covid-Politik. Die Führung fühlte sich zu sicher. Denn in den zwei Jahren zuvor hatte diese Strategie rund 90 Prozent der 1,4 Milliarden Chinesen ein normales Leben ermöglicht, während die Welt auf dem Kopf stand. Die Zero-Covid Politik war dabei ursprünglich aus der Not geboren. Chinas Gesundheitssystem ist noch unterentwickelt. Während es in China rund 3 Intensivbetten auf 100.000 Einwohner gibt, sind es zum Beispiel in Deutschland über 30. Die Zero-Covid Politik war dann aber so erfolgreich, dass man es auch mit dem Impfen nicht so genau nahm. Vor allem die Alten, die Impfungen skeptisch gegenüberstehen, wurden in Ruhe gelassen. Denn die sagten sich: Warum impfen, wenn es in China gar kein Corona gibt?

    Omikron war zu ansteckend für Shanghais Strategie

    Die Führung hatte jedoch die Rechnung ohne Omikron gemacht. Für die hoch ansteckende Variante passt die Zero-Covid Strategie nicht. Die Omikron-Entwicklung in Hongkong zeigte erstmals eine neue Gefährdungslage. Da Infektionen es fast unmöglich wurde, die Ansteckungen zu verhindern, ging es nun darum, schwere Verläufe vor allem bei Alten zu unterbinden. Hier stand die Regierung jedoch politisch blank da, mit bis heute rund 100 Millionen unzureichend oder gar nicht geimpften Alten. Und das nur wenige Monate vor dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei, auf dem Xi Jinping erstmals seit Jahrzehnten das dritte Mal zum Staats- und Parteichef ernannt werden soll.

    Shanghai wurde also erst zur Untätigkeit verurteilt, doch dann, nach dem sichtbaren Aufflammen der Infektionen, umso härter angefasst. Die Härte beruhigte zwar die Mehrheit der chinesischen Bevölkerung, in Shanghai jedoch, der neben Peking und Guangzhou wirtschaftlich und politisch wichtigsten Stadt, hat das Vertrauen in die Politik tiefe Risse bekommen.

    Für die Gegner von Präsident Xi ist diese Entwicklung ein Hoffnungsschimmer. Sie werden nicht müde, auf die Risse hinzuweisen und wenn möglich sie zu vergrößern. Der Streit in der Partei ist sichtbar wie selten. Damit ist Xi in eine Zwickmühle geraten. Er kann nun nicht einräumen, dass seine Zero-Covid Politik überholt ist. Das würde so aussehen, als ob er gezwungen wird, seinen politischen Gegnern nachzugeben.

    Die Stadt Peking setzt auf die Shenzhen-Methode

    Xi musste wenigstens beweisen, dass Shanghai nicht die Regel seiner Politik, sondern eine Ausnahme ist. In Peking ließ er das Virus deshalb nach der Shenzhen-Methode bekämpfen, wie in den meisten Städten Chinas. Sie funktioniert, wenn man anders als in Shanghai früh reagiert: Tägliches intensives Testen im Semi-Lockdown, um die Infektionswege zu finden, und dem Isolieren einzelner Wohnblocks oder Straßenzüge – im Fall positiv getesteter Personen.

    Für die meisten Menschen in Peking hieß das in den letzten Wochen: Man konnte sich frei in der Stadt bewegen, sich aber nicht versammeln. Sportstätten und große Parks waren zu. Gearbeitet wurde im Homeoffice. Mal ins Büro – kein Problem. Die Schulen wurden auf Online umgestellt. Die Shopping-Malls waren zu. In den Restaurants konnte man alles bestellen, aber nicht dort essen. Überall musste man sich mit seiner Coronavirus-App einklinken. Und jeden Tag zum Testen, wobei die Schlangen selten so lang waren wie in Shanghai mit schon mal vier Stunden Wartezeiten. Zwischen zwei und 20 Minuten war die Pekinger Regel.

    Die Pekinger machten das Beste draus. Man traf sich zum Picknick am Stadtrand, fuhr Fahrrad in den leeren Straßen bei klarer Luft und Kaiserwetter, ging viel spazieren und joggen. Auf Pekings Flüssen tauchten viele Stand-up-Boards auf – fast eine Entschlackungskur für die rastlosen Stadtbewohner.

    Die Stimmung war mulmig-gelassen, jeden Tag draußen genießend als sei es der Letzte. Ist morgen Shanghai? Nur einmal kam es für einige Stunden zu Panikkäufen, wegen falscher Gerüchte in den sozialen Medien. Ansonsten waren die Läden normal gefüllt und stets offen.

    Zurück zur wirtschaftlichen Normalität

    Neue Geschäftsideen sind entstanden, wie Bierwagen, die gezapftes Bier on-the-go verkauften, oder Essen, das man im Laufen verzehren kann. Denn versammeln sollte man sich ja nicht. Nicht einmal Fußball spielen. Manche Fußballplätze wurden mit Stacheldraht umzäunt. Doch kaum war dunkel, haben die Jugendlichen Löcher in den Zaun geschnitten und gespielt, bis sie vom lokalen Ordnungsamt vertrieben wurden. Die Jungen feierten derweil spontane Partys in Kleingruppen unter hallenden Autobahnbrücken, mit großen Boxen auf Omas altem Einkaufstrolley, den sie hinter ihrem E-Roller herzogen, bis die Polizei sie vertrieb. Auf zur nächsten Brücke, weiter vom Zentrum weg. 3. Ring. 4. Ring. 5. Ring.

    Eine wechselnde Minderheit hatte allerdings auch in Peking Pech: Ein Fall in der Nachbarschaft bedeutete eine Woche Hausarrest. Dort gab es dann schon Ärger, auch hier kam es zu Übertreibungen und Schikanen. Insgesamt war der Peking Lockdown aber ausgewogen. Und die Pekinger sagten: Shanghai, schau auf uns! So geht Lockdown. Nun lautet die Devise: Zurück zur wirtschaftlichen Normalität. Noch kann China für das Gesamtjahr die Kurve kriegen. Die Exportzahlen von Mai machen Hoffnung:  16,9 Prozent Wachstum. Nach nur 3,9 Prozent im April.

    Die an Shanghai angrenzende Provinz Jiangsu hat derweil am Wochenende die Einreise Quarantäne verkürzt: 3 Tage Hotelquarantäne nach der Landung in Shanghai, 4 Tage Hotelquarantäne in Jiangsu, 7 Tage Quarantäne zu Hause. Nur zwei Wochen – damit kann man leben.

    Aber es war zugleich auch ein Wochenende der Rückschläge. Allein 46 neue Fälle gab es am Samstag in Peking. 61 am Freitag. Immerhin lassen sich alle Fälle auf eine Bar am Arbeiterstadion zurückverfolgen und sind bereits in Isolation. Dennoch wurden Bars und Clubs in mindestens zwei Distrikten, darunter dem Ausländerviertel Chaoyang, wieder geschlossen. Restaurants bleiben offen. Doch anders als geplant haben die Schulen am heutigen Montag ihre Türen nicht wieder geöffnet.

    • Coronavirus
    • Gesundheit
    • Peking

    News

    Brutaler Angriff auf Frauen sorgt für Entsetzen

    Gewalt gegen Frauen ist auch in China allgegenwärtig, häufig aber mit starker Tabuisierung verbunden. Das scheint sich nun zu ändern. Ein brutaler Angriff auf eine Gruppe von Frauen in einem Restaurant in der Stadt Tangshan nordöstlich von Peking sorgt landesweit für Entsetzen und Empörung

    Videoaufnahmen des Vorfalls zeigen, wie ein Mann in dem Restaurant seine Hand auf den Rücken einer Frau legt, die von zwei Freundinnen begleitet wird. Als die Frau den Mann versucht wegzustoßen, schlägt er sie. Weitere Männer zerren die Frau gewaltsam aus dem Restaurant und schlagen auf sie ein, während sie auf dem Boden liegt. Die Männer prügeln auch auf die Freundinnen ein.

    Zwei der drei Frauen wurden bei der Attacke schwer verletzt. Sie müssen im Krankenhaus behandelt werden. Die Polizei hat nach eigenen Angaben neun Menschen im Zusammenhang mit dem Vorfall festgenommen. Ihnen wird Körperverletzung und die “Provokation von Unruhe” vorgeworfen, berichten Nachrichtenagenturen. 

    Die Videoaufnahmen gingen am Wochenende im chinesischen Internet viral und lösten eine Debatte über sexuelle Belästigung und Gewalt gegen Frauen aus. “All dies ist Alltag in China und kann uns jederzeit allen passieren”, schrieb eine Nutzerin, dem mehrere Hunderttausend beipflichteten. Von “Barbarei in einer völlig verrohten Gesellschaft, schrieb eine zweite. Ihr Beitrag wurde nach einigen Stunden von den Zensurbehörden aber wieder gelöscht. flee

    • Frauen
    • Gesellschaft

    IAO will Xinjiang inspizieren

    Die Internationale Arbeitsorganisation IAO will eine Mission in die Autonome Region Xinjiang entsenden. Das berichtet der Spiegel. Eine Vollversammlung der ILO-Mitgliedsstaaten nahm mit Mehrheit einen entsprechenden Antrag an. Als Begründung nennt er ausdrücklich “die Anwendung repressiver Maßnahmen gegen die Uiguren“. Vom 27. Mai bis Ende vergangener Woche tagte der Internationale Arbeitskongress mit 4.000 Delegierten.

    Die IAO gilt gemeinhin als “zahnlose Tigerin“, die ihre Prinzipien nicht durchsetzen kann (China.Table berichtete). Am Freitag hat die IAO auch beschlossen, dass alle ihre 187 Mitgliedstaaten “das Grundrecht auf ein sicheres und gesundes Arbeitsumfeld” gewährleisten. Doch auch darunter versteht jedes Land etwas anderes. So hat auch China ein IAO-Abkommen gegen Zwangsarbeit unterzeichnet (China.Table berichtete) – sieht darin aber keine Widersprüche zur eigenen Praxis, weil es Zwangsarbeit auch in Xinjiang offiziell nicht gibt. fin

    • ILO
    • Menschenrechte
    • Xinjiang
    • Zivilgesellschaft

    E-Auto-Absatz schießt in die Höhe

    Im Mai hat sich der Verkauf von Autos mit neuen Antriebsformen erholt. Im Vergleich zum Jahresmonat stieg er um 91 Prozent auf 360.000 Stück. Das teilte die China Passenger Car Association mit. Auch im Vergleich zum Vormonat, dem April, ging der Absatz um ein gutes Viertel hoch. In den ersten fünf Monaten des Jahres hat sich die verkaufte Stückzahl mehr als verdoppelt. Zu den New Energy Vehicles (NEV) gehören Batterieautos, aber auch Steckdosenhybride.

    Auch insgesamt verzeichnet der Automarkt eine Erholung. Die Steigerung der Verkäufe erreichte über alle Antriebsformen 30 Prozent. Als Grund nennt der Verband den Rückgang der Covid-Infektionszahlen und die Aufhebung der Lockdowns. fin

    • Autoindustrie

    Nachrichten-Plattform Factwire schließt in Hongkong

    Die investigative Nachrichtenseite Factwire aus Hongkong hat am Freitag ihre sofortige Auflösung angekündigt. “In den letzten Jahren hatten die Medien mit großen Veränderungen zu kämpfen. Obwohl wir viele Male mit der schwierigen Entscheidung gerungen haben, ob wir unsere journalistische Arbeit fortsetzen, sind wir immer zu dem gleichen bejahenden Schluss gekommen: fest zu unseren Grundwerten und Überzeugungen zu stehen und immer über die Fakten zu berichten”, teilte Factwire mit.

    Zu den Gründen für das Aus nannte das Team zunächst keine weiteren Details. Es ist die vierte große unabhängige Nachrichten-Plattform, die sich in weniger als einem Jahr in Hongkong auflöst. Apple Daily, Stand News und Citizen News wurden unter massivem Druck der Hongkonger Regierung geschlossen (China.Table berichtete). ari

    • Hongkong
    • Zivilgesellschaft

    Was kostet der Wald?

    Chinas Behörden haben Pilotprogramme gestartet, um den Wert der Wälder des Landes zu erfassen. Hintergrund ist das Bestreben, neben dem Bruttoinlandsprodukt auch eine Maßeinheit für “Ökologische Dienstleistungen und Produkte” zu erstellen. Die “Dienstleistungen” der Natur – beispielsweise sauberes Trinkwasser oder die Speicherung von CO2 – sollen in ökonomischen Kennzahlen erfasst werden. Die Logik dahinter: Indem China der Natur einen finanziellen Wert zuschreibt, wird sie eher geschützt (China.Table berichtete).

    Das Nationale Statistikbüro und die Staatliche Forst- und Grünlandverwaltung haben fünf Provinzen ausgewählt, in denen Methoden zur Erfassung des Werts der Wälder getestet werden sollen. Mittelfristig könnte das Vorhaben weitreichende Auswirkungen haben: Unternehmen, die Wälder roden wollen, könnten zu Ausgleichszahlungen verpflichtet werden. Auch gibt es Debatten, ob die Erhaltung der “Ökologischen Dienstleistungen und Produkte” in der Bewertung und Beförderung lokaler Kader einfließen soll. Derzeit gibt es noch keine überzeugende Methode, um den Wert der Natur zu erfassen. Viele Faktoren spielen dabei eine Rolle: Bäume speichern nicht nur CO2, sondern wirken sich auch auf den Wasserhaushalt ihrer Umwelt aus und bieten Lebensraum für andere Tiere. All dies zu erfassen, ist äußerst komplex. nib

    • Klima
    • Nachhaltigkeit
    • Umwelt

    Presseschau

    China will “um jeden Preis” um Taiwan kämpfen ZEIT
    Warum die Bedrohung für Taiwan zunimmt FAZ
    USA tadeln China für Destabilisierung Taiwans NTV
    China accuses the U.S. of trying to hijack support in Asia NPR
    Situation der Uiguren in China: ILO will Mission nach Xinjiang entsenden SPIEGEL
    Uigurin im Exil: “Die ganze Welt finanziert diese Verbrechen mit” KURIER
    Russlands Bildungsminister in Ukraine, China kritisiert Waffenexporte ZEIT
    Wie Xi Jinping seinem Land und seinem Image schadet SUEDDEUTSCHE
    Messegipfel in Hamburg ohne China und Russland WELT
    Reifenhersteller Michelin will Abhängigkeit von China begrenzen WELT
    CO2-neutrale Grills? “Wir dachten erst, die Chinesen zeigen uns einen Vogel” WIWO
    Brutaler Angriff auf Frauen sorgt in China für Entsetzen SPIEGEL
    Peking lockert strikte Corona-Regeln NTV

    Portrait

    Justin Yifu Lin – China-optimistischer Ökonom

    Justin Yifu Lin - Ökonom, Universitätsprofessor, Regierungsberater und Autor von über 20 Büchern
    Justin Yifu Lin – Ökonom, Universitätsprofessor, Regierungsberater und Autor von über 20 Büchern

    Justin Yifu Lin gibt sich zuversichtlicher als die chinesische Regierung selbst. Sechs Prozent Wachstum traute der Ökonom der Wirtschaft des Landes Anfang des Jahres für 2022 zu. Die Regierung plante mit nur 5,5 Prozent. Ohne Corona sei bis 2035 sogar ein jährliches Wachstum von acht Prozent möglich, schätzt der 69 Jahre alte Ehrendekan der Universität Peking. Analystinnen und Analysten europäischer Ratingagenturen reiben sich verwundert die Augen angesichts von so viel Optimismus. Sie sehen China in diesem Jahr bei gerade einmal gut vier Prozent Wachstum.

    Doch Zuversicht ist ein wesentlicher Baustein für die Karriere von Justin Yifu Lin. So war es auch 1979, als der gebürtige Taiwaner und studierte Ökonom vom Ufer der Insel Kinmen Richtung Volksrepublik blickt und mutig in Wasser steigt. Der Legende nach dienen dem desertierenden Soldaten zwei Basketbälle als Schwimmhilfe für die Flucht auf die zwei Kilometer entfernte Insel Xiamen. Lin flüchtet also quasi umgekehrt vom demokratischen Taiwan in die autoritär regierte Volksrepublik.

    Seine Motivation? Innere Überzeugung: Er sei aufgrund seines kulturellen, historischen, politischen und ökonomischen Verständnisses zu der Ansicht gelangt, dass die Rückkehr zum Mutterland historisch zwangsläufig ist, schreibt er kurz nach seiner Flucht. Seine Familie lässt er dabei zurück.

    In Peking studiert er anschließend marxistische Wirtschaftslehre. Dort lernt er Theodore Schultz kennen. Der amerikanische Nobelpreisträger verschafft ihm ein Stipendium für eine Promotion in Chicago, wo er unter anderem Chinas Öffnung zur Marktwirtschaft erforscht.

    Einen wesentlichen Grund für den Aufstieg des Landes erkennt Justin Yifu Lin in der Nutzung der komparativen Vorteile des Faktors Arbeit im Land. Arbeit ist in China günstig, das wurde lange verkannt. Denn die Schwerindustrie aus der Zeit vor den Reformen durch Deng Xiaoping im Jahr 1979 war vor allem kapitalintensiv. Fortan aber setzt China auf die Massenfertigung, auf flinke Hände, die wenig kosten.

    Schneller Aufstieg zu Regierungsberater

    Ein Angebot, nach seiner Promotion in den USA zu lehren, lehnt Justin Yifu Lin ab. Stattdessen zieht es ihn wieder nach China. “Das Land wandelte sich von der Plan- zur Marktwirtschaft. Das war faszinierend”, sagte er rückblickend dem Magazin Brand eins. Im Jahr 1986 kehrt er nach Peking zurück und gründet dort 1993 an der Universität Peking einen wirtschaftspolitischen Thinktank, das “China Centre for Economic Research” (CCER). Schnell steigt er zu einem der wichtigsten Regierungsberater auf.

    Im Jahr 2008 wird er zum Chefökonom der Weltbank ernannt. In seiner vierjährigen Amtszeit wirbt er für seine New Structural Economics. Diese Theorie soll Schwellen- und Entwicklungsländern zu mehr Wohlstand verhelfen. Nach Justin Yifu Lin verlangt eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung immer das Zusammenspiel von Staat und Markt.

    In Branchen, wo günstigere Arbeitsbedingungen als im Ausland herrschen, müsse der Staat intelligente Strategien und Investitionen einsetzen, um Innovationen im Land zu fördern. So hat es China gemacht – aus seiner Sicht erfolgreich: “Die Welt”, sagte Lin einmal in seiner Zeit bei der Weltbank, “kann viel von China lernen. Und ich möchte dabei helfen.”

    Einfluss auf die Regierung wohl gesunken

    Heute ist der Universitätsprofessor und Autor von mehr als 20 Büchern auch ein Berater der chinesischen Regierung. Doch zuletzt dürfte sein Einfluss auf die Politik gesunken sein. Das vermutet zumindest die China-Beobachterin Angela Stanzel. An ihm selbst liegt das nicht: “Der Xi-Jinping-Führung geht es offensichtlich immer weniger um wirtschaftliche Entwicklung, sondern immer mehr um parteipolitische Kontrolle”, sagt die China-Expertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. 

    Außenwirtschaftlich geht Justin Yifu Lin mit der Haltung der Regierung konform. Peking wirft den USA vor, seinen Aufstieg zu behindern. Auch Lin klagt, die US-Amerikaner würden die chinesische Wirtschaft durch Sanktionen wie etwa gegen den IT-Konzern Huawei abwürgen.

    Doch wie so oft ist er zuversichtlich, dass sich diese Situation bald ändert – zugunsten Chinas. Das enorme Wachstum des Landes wird es schon richten. “Eines Tages wird unsere Wirtschaft doppelt so stark sein wie die der USA.” Er rechnet dann mit den Vereinigten Staaten im Fahrwasser Chinas. “Nur im Handel mit China können die USA profitieren”, sagte er im Mai auf einem Wirtschaftsforum in Peking. Andreas Schulte

    Prof. Justin Yifu Lin spricht am Donnerstag (16. Juni) zum Thema “Kann China sein BIP-Wachstumsziel von 5,5 % für 2022 erreichen?” auf einer Veranstaltung des IfW Kiel im Rahmen der Reihe Global China Conversations. Das Gespräch findet auf Englisch statt. China.Table ist Medienpartner der Veranstaltungsreihe.

    • Europäischer Rat
    • Geopolitik
    • Handel
    • Taiwan

    Personalie

    Zhang Tao wird neuer Leiter des Asien-Pazifik-Büros der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIS). Zhang hat als ehemaliger stellvertretender Leiter des Internationalen Währungsfonds (IWF) Erfahrungen in internationalen Organisationen gesammelt. Der 58-Jährige ist der erste Chinese im höheren Management der als “Bank der Zentralbanken” bezeichneten BIS.

    Zur Sprache

    Kerngesicht

    瓜子脸 - guāzǐliǎn - Kerngesicht
    瓜子脸 – guāzǐliǎn – Kerngesicht

    Für die einen ist es der Gipfel allen Knabbergenusses, für die anderen ein akustischer Alptraum. Wer eher zartbesaitete Gehörgänge hat und sich schon einmal im Knusperradius eines passionierten Kerneknackers befunden hat, der weiß: jetzt heißt es entweder Mitknabbern oder Reißaus nehmen. Die Kerne, von denen hier die Rede ist, nennt man in China “guazi” (瓜子 guāzǐ) – der chinesische Sammelbegriff für alle Samen, die sich als Snack knabbern lassen. Meist sind damit Sonnenblumenkerne gemeint, gelegentlich aber auch Kürbis-, Pinien-, Wassermelonen- oder andere Kerne. 

    Von Knusperprofis werden die Knabberkerne mit Karacho mit den Vorderzähnen aufgespalten und dann im Mund mit viel Zungenspitzengefühl aus der Schale gefischt. 嗑瓜子 kè guāzǐ (“Kerne knacken”) heißt diese Operation auf Chinesisch. Ob zum Frühlingsfest, Filmabend oder Feierabendbier – für viele Chinesen gehören “guazi” zur Grundausstattung geselliger Gruppenereignisse. Auch sind sie ein gern gesehener Gaumenzeitvertreib für Wartezeiten in Restaurantfoyers oder Bahnhofshallen. 

    Sogar ein Schönheitsmakel ist nach den kleinen Kernen benannt, nämlich der Guazi-Zahn (瓜子牙 guāzǐyá). Er ist die Bürde, die eingefleischte Knusperfanatiker brandmarkt, wenn sie es über die Jahre mit dem ekstatischen Aufknacken harter Schalen übertrieben haben. Als “Strafe” hat sich beim einen oder anderen mit der Zeit nämlich eine kleine Kerbe in den vorderen Schneidezähnen eingefurcht. Seither kann man sie schon beim ersten Lächeln als Guazi-Jünger entlarven.

    Wer dem frühzeitig Einhalt gebieten will, der schafft sich am besten flugs eine automatische Guazi-Knackmaschine an. Die gibt es wirklich. Auf Taobao hat man die Wahl zwischen unterschiedlichsten Fabrikaten. Unter genuinen Guazi-Genießern sind solche Gerätschaften allerdings als Spaß- und Geschmacksbremse verschrien. Schließlich werden die Kerne in speziellen Aromamischungen geröstet, sodass sich ein Großteil dessen, was die Geschmacksknospen zum Tanzen bringt, auf der äußeren Knusperschale befindet. Ein Kern ohne Schale – das ist für echte Knusperfans wie ein Liebesakt ohne Vorspiel. Zu den beliebtesten Guazi-Geschmacksrichtungen im Reich der Mitte zählen übrigens Karamell (焦糖 jiāotáng), Fünf-Gewürze-Mischung (五香 wǔxiāng – aus Fenchel, chinesischem Pfeffer, Sternanis, Zimt und Gewürznelke), Sahne (奶油 nǎiyóu) und Grüntee (绿茶 lǜchá). 

    Wie tief sich das mentale Konzept der “guazi” in die Köpfe der Chinesen eingebrannt hat, zeigt der Begriff des Guazi-Gesichts (瓜子脸 guāzǐliǎn). Dieses gilt als Inbegriff einer harmonischen Gesichtsform und damit als Schönheitsideal. Ein klassisches “Kerngesicht” zeichnet sich durch weiche, fließende Linien aus, ist oben eher rundlich, läuft aber zum Kinn hin schmal zu. Natürlich hat so ein Idealgesicht nicht jeder. Aber keine Bange, Taobao schafft Abhilfe.

    Wer auf dem Onlineshoppingportal nämlich den Suchbegriff “Guazi-Gesicht” eintippt, dem werden zahlreiche “Guazi-Gesicht-Wunderwaffen” (瓜子脸神器 guāzǐliǎn shénqì) angepriesen, die für eine schmal zulaufende Gesichtsform sorgen sollen. Die wilden Wahloptionen reichen von manuellen bis elektrischen Gesichtsmassagegeräten über Bissbälle zum Gesichtsmuskeltraining und Kosmetikmasken mit spezieller Schmalmachformel bis hin zu formenden Gummimasken und Spanngurten. Wer, bis sich erste Erfolge einstellen, das vermeintlich nicht-normschöne Gesicht erst einmal kaschieren möchte, kann zudem aus einer breiten Palette an speziellen Brillengestellen, Sonnenbrillen und Kopfbedeckungen wählen, die das Gesicht “kerniger” erscheinen lassen sollen. Oder vielleicht hilft ja auch ganz einfach kontinuierliches Guazi-Knabbern? Probieren Sie es aus!

    Verena Menzel betreibt in Peking die Online-Sprachschule New Chinese.

    • Gesellschaft
    • Kultur

    China.Table Redaktion

    CHINA.TABLE REDAKTION

    Licenses:

      Jetzt kostenlos anmelden und sofort weiterlesen

      Keine Bankdaten. Keine automatische Verlängerung.

      Sie haben bereits das Table.Briefing Abonnement?

      Anmelden und weiterlesen