Table.Briefing: China

Interview Jens Hildebrandt + Kein IPO für Sensetime + 20 Jahre WTO-Beitritt

  • Jens Hildebrandt (AHK Peking) zum Lieferkettengesetz 
  • KI-Star Sensetime zieht Börsengang zurück
  • Enttäuschte Hoffnungen 20 Jahre nach Chinas WTO-Beitritt
  • EU uneins zu Olympischen Winterspielen in Peking
  • China und Russland kündigen Gipfeltreffen an
  • BAIC hält mehr Anteile an Daimler als bisher bekannt
  • Peking liefert Nicaragua Sinopharm-Impfstoff
  • Chiphersteller TSMC erwägt Deutschland für Fabrikstandort
  • Unternehmen müssen Emissionsdaten offenlegen
  • Im Portrait: Alice Schmatzberger – Gründerin von ChinaCultureDesk
Liebe Leserin, lieber Leser,

Die neue Bundesregierung legt einen stärkeren Schwerpunkt beim Schutz von Menschenrechten und freiheitlichen Werten als ihre Vorgängerin. Die alte Regierung hat ihr hier jedoch eine Steilvorlage hinterlassen: Das deutsche Lieferkettengesetz. Es soll Firmen dazu verpflichten, auf die Umstände zu achten, unter denen ihre Waren hergestellt werden. Was in der Theorie nobel klingt, dürfte in der Praxis auf Schwierigkeiten stoßen. Wer soll Menschenrechtsverletzungen feststellen und bewerten? China.Table sprach darüber mit Jens Hildebrandt von der Deutschen Handelskammer in China.

Den chinesischen Staatszeitungen wie der Global Times war der Rückzieher des KI-Unternehmens Sensetime von einem Börsendebüt keine Nachricht wert. Die amerikanische Regierung hatte das Unternehmen unmissverständlich mit der Totalüberwachung des Volks der Uiguren in Verbindung gebracht. Finn Mayer-Kuckuk analysiert die Hintergründe der Verstrickung von Geopolitik, Finanzen und KI. Das einstige Star-Unternehmen hat nicht nur seinen Glanz verloren, sondern auch seine Unschuld.

“Wandel durch Handel” lautete ein beliebter Glaubenssatz der Optimisten Anfang der 2000er-Jahre. Wenn “der Westen” China in die internationale Handelsordnung einbeziehe und die Im- und Exporte stiegen, werde China schon bald die internationalen Spielregeln einhalten und sich zu einer Marktwirtschaft entwickeln. So der Gedanke. In der Rückschau wirkt das reichlich naiv. Zum 20. Jubiläum des Beitritts Chinas zur Welthandelsorganisation (WTO) ist die Bilanz durchwachsen, berichtet Felix Lee. Zwar wuchs der globale Handel, doch im Westen gingen viele Industriearbeitsplätze verloren – in den USA verödeten ganze Landstriche. Von dem erhofften “Wandel” in Richtung parlamentarischer Demokratie war derweil nichts zu sehen.

Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre!

Ihre
Amelie Richter
Bild von Amelie  Richter

Interview

Jens Hildebrandt: “Wer soll in einem System wie China Zwangsarbeit feststellen?”

Jens Hildebrandt von der Deutschen Handelskammer in China
Jens Hildebrandt von der Deutschen Handelskammer in China

Das deutsche Lieferkettengesetz wird in gut einem Jahr in Kraft treten. Wie sind Unternehmen in China darauf vorbereitet?

Das Lieferkettengesetz hat natürlich für viel Diskussionsstoff gesorgt und viele Fragen aufgeworfen. Nicht nur bei Unternehmen in China, sondern weltweit bei deutschen Unternehmen. Sie fragen sich, wie sie diese Prüfung und Kontrolle ihrer unmittelbaren Lieferkette bis in die tiefste Ebene, also bis zum Rohstofflieferanten, hinbekommen sollen. 

Wie sich die Unternehmen bisher vorbereiten? Sie klären erstmal intern ab, wer zuständig ist. Bei Großunternehmen kümmern sich Compliance-Abteilungen. In kleinen Unternehmen stellt sich die Frage, ob das Thema beim Management, beim Einkauf oder bei Compliance liegt. Das ist schon mal die erste Herausforderung. Was die Unternehmen außerdem machen müssen: Risikomanagement aufsetzen, in dem sie eruieren und herauskriegen, wer in ihrer Lieferkette präsent ist. Wo sind die? Was machen die? Dieses Assessment läuft im Moment.

Sollte ich aber nicht eigentlich von Haus aus wissen, wen ich in meiner Lieferkette habe? 

In der Textil- und Automobilindustrie ist das der Fall. Das ist ein ganzes System, was hier aufeinander abgestimmt ist und ineinander passen muss. Viele Unternehmen kennen ihre Lieferketten in der Tiefe. Der klassische Mittelständler im Maschinenbau oder in anderen Bereichen, also die meisten kleinen und mittelständischen Unternehmen, kennen ihre Lieferkette in ihrem Bereich, also die Geschäftspartner, mit denen sie Verträge haben. Darüber hinaus kennen sie die Lieferketten noch bei wichtigen Komponenten, aber nicht in der Tiefe, vor allem kennen sie nicht alle Rohstofflieferanten.

Für die meisten war es in der Vergangenheit nicht aktuell, zu wissen, wo der Rohstoff XY herkommt. Wir als AHK in China haben schon relativ zeitig, als das Lieferkettengesetz verabschiedet wurde, ein Muster für einen Code of Conduct entwickelt. An diesem können sich die Unternehmen orientieren und ihn an ihre Lieferanten weitergeben. Bei einigen Großunternehmen ist sowas überwiegend sowieso schon vorhanden. Bei kleinen und mittelständischen Unternehmen ist das nicht immer der Fall. Das hängt davon ab, wie komplex die Produkte sind.

Gibt es denn noch viel Unsicherheit?

Das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) muss noch die Durchführungsbestimmungen erlassen. Die gibt es aktuell noch nicht und darauf warten auch die Unternehmen. Im Moment sind wir tatsächlich in der Phase des Assessments, in der alle wissen: Okay, da kommt was, 2023 wird es eingeführt. Aber wir müssen erst mal Klarheit bekommen. Wie das dann mit der Umsetzung aussieht, wird sich zeigen. Es ist auch geplant, dass das BAFA Kontrollreisen macht. Und da muss man sehen, wie das funktionieren soll. Wie sollen sie denn zu Lieferanten in den Ländern kommen? Wir sprechen da nicht nur über China, sondern auch über andere Länder. Zudem stellt sich die Frage, wie sich das in den Joint Ventures umsetzen lässt. Die Durchführungsbestimmungen werden aber sicherlich eine Richtlinie geben.

Reicht ein Jahr aus, alle Anforderungen umzusetzen, bis das Gesetz Anfang 2023 in Kraft tritt?

Aus Sicht vieler Unternehmen ist die Zeit angesichts der Komplexität sehr, sehr eng. Im Moment kämpfen wir ja auch noch mit einer Pandemie, mit Rohstoffkrise und Logistikproblemen. Das ist eine extrem schwierige Lage. Aber: Es ist so, wie es ist. Wir erleben sehr große Anstrengungen und sind ja ein Teil davon. Es wird jedenfalls knapp werden, da wir noch nicht wissen, wann es nähere Hinweise zur Implementierung geben wird. 

Wie wird die Kontrolle aussehen? Wird es Zertifikate geben?

Es gibt ja bereits Zertifikate. Die Unternehmen machen Audits und Social Audits, gerade in der Automobilindustrie. Es stellt sich die große Frage, wer den Vorwurf der Zwangsarbeit in einem System wie China oder auch in anderen Ländern feststellen und dokumentieren soll. Mein Eindruck ist, dass es schwierig werden wird, Zertifizierungs-Institutionen zu finden, die das tun werden.

Wer könnte das übernehmen?

Das sind beispielsweise die großen zugelassenen Zertifizierungs-Unternehmen wie die TÜVs oder Bureau Veritas. Es gibt auch chinesische Firmen. Was aber auch ganz klar ist: Laut chinesischem Recht darf es keine Zwangsarbeit geben. Im Umkehrschluss kann man dann auch keine Zwangsarbeit feststellen. Deswegen ist es für mich schwierig, mir vorzustellen, wie ausländische oder chinesische Zertifizierer einen Vorwurf der Zwangsarbeit bestätigen oder dokumentieren wollen.

Sie glauben also nicht, dass der TÜV in Xinjiang in irgendwelche Werkshallen darf, um dort zu überprüfen, wie es läuft?

Das kann ich nicht beurteilen. Es war ja aber bereits in der Presse zu lesen, dass ausländische Zertifizierer nicht nach Xinjiang gehen.

Gibt es denn Unternehmen, die in Xinjiang tätig sind und sagen “Mir wird es hier zu heikel, dann gehe ich lieber”? 

Die deutsche Wirtschaft ist ja in der großen Masse an der Ostküste Chinas aktiv. Wir wissen von wahrscheinlich nicht mehr als zwei Handvoll deutscher Unternehmen, die in Xinjiang aktiv sind. Xinjiang hat auch keine ausreichende Industriestruktur, um in relevanten Bereichen als Zulieferer-Standort für die deutsche Wirtschaft infrage zu kommen. Wie dem auch sei, das Lieferkettengesetz verpflichtet die Unternehmen, in ihre Lieferketten reinzuschauen bis in die Tiefe. Und falls das in der Region der Fall ist, dann muss das Unternehmen für sich entscheiden, was es damit tut. Wir haben bisher von keinem Unternehmen gehört, dass ein Wegzug thematisiert wurde.

Das EU-Lieferkettengesetz könnte schärfer ausfallen als das deutsche. Welche Herausforderungen würde das für Unternehmen in China bringen? 

Hier stellt sich wieder die Frage der Umsetzung. er soll das verifizieren? Für die deutschen Unternehmen steht unternehmerische Verantwortung ganz oben auf der Agenda. Sie sind sich der Herausforderungen bewusst und deswegen laufen im Moment auch die Assessments zum Risikomanagement und im Compliance Management. Die Unternehmen werden sich ihre Lieferkette komplett anschauen. Klar wird das auch große Unternehmen noch mal eine ganz andere Herausforderung sein.

Was erwarten Sie von chinesischer Seite?

Das ist ein deutsches und europäisches Lieferkettengesetz, insofern hat das erstmal nichts mit der Involvierung der chinesischen Regierung zu tun. Was für die chinesische Regierung klar sein muss: Das Gesetz richtet sich nicht gegen China, ist also kein Lex Sinica. Das Lieferkettengesetz ist aus der Historie der unternehmerischen Verantwortung entstanden, die auf die weltweiten Aktivitäten deutscher Unternehmen abzielt.  

Befürchten Sie, dass es Blockaden von chinesischen Behörden geben könnte?

Es gibt einzelne Instrumente wie beispielsweise das Anti-Sanktionsgesetz der chinesischen Seite. Nach diesem Gesetz können ausländische Unternehmen theoretisch dafür belangt werden, wenn sie sich im Rahmen von Sanktionen von Geschäften mit chinesischen Unternehmen zurückziehen. Ich glaube aber, was den Unternehmen eher klar sein muss: Im B2C-Bereich, in Social Media, könnte es Shitstorms geben. Das haben wir schon gesehen. Unternehmen müssen sich darauf vorbereiten, wie sie damit umgehen wollen und wie man das gegebenenfalls managt.

Shitstorms hat es in diesem Jahr schon gegen H&M oder Nike gesehen, primär wegen Xinjiang. Wie können sich Firmen darauf vorbereiten, dass Lieferketten zunehmend politisiert werden?

Die Unternehmen sind sensibilisiert, dass sie im Prinzip in einer Situation sind, in der sie in beide Richtungen eine Verantwortung gegenüber dem europäischen Verbraucher, aber auch dem chinesischen Verbraucher haben. Das muss jeder in der Industrie für sich selbst austarieren. Dazu wird die Kommunikation mit europäischen, mit deutschen Stakeholdern und Regierungen notwendig sein, genauso aber auch auf chinesischer Seite. Da gibt es keine einfache Lösung für die Unternehmen. 

Ist das Lieferkettengesetz ein Frosch, der von Unternehmen geschluckt werden muss? Oder ist man vielleicht nicht auch froh darüber, dass dieses Thema jetzt geregelt wird? 

Deutsche Wirtschaftsverbände haben im Vorfeld ihre Einschätzungen zur Umsetzung eingebracht. Die Anforderungen, die in manchen Märkten gestellt werden, können extrem schwierig werden. Das wird die Kosten und die administrativen Anforderungen bei den Unternehmen erhöhen. Das ist schon etwas, was gerade vor allem kleine und mittelständische Unternehmen benachteiligt. Nichtsdestotrotz ist es für Unternehmen grundsätzlich klar, dass unternehmerische Verantwortung gilt. Da sind deutsche Unternehmen in China beispielhaft unterwegs. Wir fahren als Deutsche Handelskammer hier seit sechs Jahren eine CSR-Kampagne, an der sich deutsche Unternehmen beteiligen und zeigen, dass sie nicht nur zum Wirtschaften hier sind, sondern auch, um etwas in die Gesellschaft zurückzugeben. Dazu gehört, sich an Umweltstandards zu halten sowie sozial- und arbeitsrechtlich sauber zu sein.

Jens Hildebrandt ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Deutschen Handelskammer in China für Nordchina (AHK).

    • Jens Hildebrandt
    • Lieferketten
    • Lieferkettengesetz
    • Xinjiang
    • Zwangsarbeit

    Analyse

    Sensetime verschiebt Börsengang

    Sensetime ist eine der KI-Firmen, die ihre Anwendungen bereits in der Praxis einsetzt. Die Software des Unternehmens leistet Personenerkennung mit vorher unbekannter Genauigkeit. Doch trotz Interesse der Investoren hat das Unternehmen einen geplanten Börsengang in Hongkong vorläufig verschoben. Grund ist eine Entscheidung der US-Regierung. Diese hat neue Sanktionen gegen Sensetime verhängt (China.Table berichtete), die auch die künftige Finanzposition der Firma betreffen. Grund für die Sanktionen ist der großflächige Einsatz der Sensetime-Produkte zur Überwachung der Minderheit der Uiguren.

    Sensetime ist damit ein weiteres prominentes Unternehmen, das Teil der politischen Gemengelage geworden ist. Es gibt jedoch Unterschiede zu anderen Firmen, die von US-Sanktionen betroffen sind. Der Telekom-Ausrüster Huawei, der Halbleiterhersteller SMIC oder der Mobilfunker China Mobile weisen darauf hin, nur oberflächliche Beziehungen zu Chinas Sicherheitsbehörden zu haben. Sensetime dagegen liefert Kernkomponenten für den totalen digitalen Überwachungsstaat.

    Der vergangene Freitag war der verhängnisvolle Tag für die Börsenpläne von Sensetime. Der 10. Dezember ist einerseits der Tag der Menschenrechte. Für US-Präsident Joe Biden ging zudem ein nur mäßig produktiver Demokratiegipfel zu Ende, zu dem China ausdrücklich nicht eingeladen war. Die US-Regierung hat dann anlässlich von Menschenrechtstag und Demokratiegipfel noch mit Sanktionen nachgelegt. Sensetime als berüchtigter Hersteller von Überwachungssoftware war ein logisches Ziel. Anders als bei früheren US-Sanktionen ging es diesmal ausdrücklich um eine Reaktion auf die Unterdrückung der Uiguren. Ebenfalls betroffen waren an diesem Tag Myanmar und Nordkorea. Rechtliche Grundlage war die Einstufung von Sensetime als Teil des “militärischen-industriellen Komplexes der Volksrepublik China”.

    “Haben uns nur an die Gesetze gehalten”

    Am Donnerstag kamen dann bereits Gerüchte auf, dass Sensetime auf die Schwarze Liste kommen könnte (China.Table berichtete). Am Freitag wollte Sensetime eigentlich Details zum Börsengang bekannt geben. Stattdessen nahm das Management mit der Börse Hongkong Kontakt auf und verständigte sich darauf, die Börsenpläne vorerst auf Eis zu legen.

    Die Art der US-Sanktionen betreffen durchaus die künftige finanzielle Lage des Unternehmens und sind damit börsenrelevant. Die Unternehmen auf der betreffenden Liste können sich in den USA nicht mehr mit Kapital versorgen. Dazu kommt der entsprechende Imageschaden. Am Samstag wehrte sich Sensetime gegen die Begründung des US-Finanzministeriums für die Sanktionen. Die Anschuldigungen “entbehren jeder Grundlage”, teilte das Unternehmen mit. “Wir halten uns in jedem Markt, auf dem wir tätig sind, an die geltenden Gesetze der dortigen Jurisdiktion.”

    Das ist vermutlich richtig. In China ist es der Einparteienstaat, der auf Basis selbstgemachter Gesetze ein Kontrollregime durchsetzt. Vermutlich könnte China es Sensetime eher umgekehrt als Gesetzesverstoß auslegen, wenn es sich der Teilnahme an staatlichen Operationen verweigerte. Letztlich kann sich kein Unternehmen den Wünschen des Staates verweigern. Aus internationaler Sicht – und zumal aus der Warte einer wertegeleiteten Außenpolitik, wie sie derzeit wieder mehr im Gespräch ist – ist die Rolle des Technikunternehmens aus Shenzhen aber zumindest vielschichtig zu sehen.

    Die Software pickt Uiguren anhand ihres Aussehens heraus

    Im Laufe der Jahre 2018 und 2019 wurde nach und nach bekannt, wie engmaschig die Überwachung der Wohnbevölkerung von Xinjiang und insbesondere der Uiguren geworden ist. Die New York Times veröffentlichte damals eine Reihe von einflussreichen Artikeln mit Details zum Einsatz moderner Technik in der Region. Die Software kann demnach anhand des Aussehens zwischen Uiguren und Han-Chinesen unterscheiden. Die Polizei verwendet diese Funktion möglicherweise auch außerhalb Xinjiangs. So soll sie auch in den Küstenstädten die Bewegungen und Handlungen von Uiguren mit Softwarehilfe gezielt und lückenlos verfolgen. “Minderheitenidentifikation” heißt das Ausstattungsmerkmal der Software den Berichten zufolge.

    Sensetime gehörte damit fast sicher zu den Firmen, die technische Infrastruktur für die Errichtung eines digitalen Polizeistaats in der Region Xinjiang geliefert haben. Zusammen mit anderen Unternehmen wurde Sensetime damit in der westlichen Öffentlichkeit zum Synonym für lückenlose Überwachung. Mitte Oktober gab das Unternehmen dann bekannt, einen Börsengang in Hongkong anzustreben. Sofort nach Ankündigung war jedoch die Verstrickung in den Aufbau des Überwachungsstaates wieder ein Thema (China.Table berichtete).

    Der größte Vorteil von Sensetime ist auf der internationalen Bühne also auch sein größtes Problem: Der chinesische Staat ist der weltweit größtmögliche Kunde für Überwachungstechnik. In anderen Ländern gibt es ebenfalls kompetente Anbieter von Software zur Erkennung biometrischer Merkmale, auch wenn viele von ihnen nicht in der gleichen Liga wie Sensetime spielen. So sitzt in Dresden die Firma Cognitec, deren Gesichtserkennung ebenfalls präzise funktioniert. Sie arbeitet auch durchaus mit dem Bundeskriminalamt zusammen. Doch das auffälligste Projekt, an dem Cognitec mitgewirkt hat, war lediglich ein Testlauf für Gesichtserkennung im öffentlichen Raum am Berliner Bahnhof Südkreuz.

    Die einzelne Kamera über einer Rolltreppe hat jedoch bereits eine landesweite Debatte über die Gefahren der Gesichtserkennung ausgelöst. Es sind in Deutschland in absehbarer Zeit also keine Aufträge für großflächige Personenerkennung im öffentlichen Raum zu erwarten. Eine Initiative zur Überwachung von 100 Knotenpunkten von Ex-Innenminister Horst Seehofer ist krachend gescheitert. Die Software von Cognitec kommt beim BKA also nur intern zur “Lichtbildrecherche” in Datenbanken zum Einsatz.

    Perfektes Werkzeug für Totalüberwachung

    Die chinesischen Anbieter wie Sensetime und Megvii können ihre Anwendungen dagegen im Masseneinsatz weiterentwickeln. Die Staatsaufträge spülen ihnen Geld in die Kasse, das wiederum in die Produkte fließt. Der Börsengang in Hongkong hätte für Sensetime einen weiteren Geldsegen gebracht: 680 Millionen Euro wollte das Unternehmen durch die Ausgabe der Anteilsscheine einnehmen.

    Das ursprüngliche Interesse der Investoren hatte nicht nur mit dem chinesischen Staat als Hauptkunden zu tun, sondern auch mit dem erreichten technischen Niveau. Wie viele KI-Anbieter verwendet Sensetime neuronale Netze für die Mustererkennung im Kern des Systems. Es verwendet dabei eine ähnliche Struktur wie ein Nervensystem und lernt die entscheidenden Fähigkeiten anhand von Beispielen. Sensetime bettet die reine Musterkennung aber auch besonders geschickt in einen Rahmen aus konventioneller Software ein.

    Die Software verfolgt Personen in der realen Welt von Kamera zu Kamera durch die Stadt. Außerdem erkennt sie Personen nicht nur am Gesicht, sondern auch am Gang, der Armhaltung und anderen Eigenschaften. Um diese Muster aufzunehmen, müssen sie nur einmal zusammen mit dem Gesicht auf den Kamerabildern zu sehen gewesen sein. All das macht die Fähigkeiten der Software so wertvoll für die allgegenwärtige Überwachung beispielsweise in Xinjiang.

    Kooperationen mit internationalen Unternehmen

    Im Jahr 2018 war Sensetime mit einer Bewertung von sechs Milliarden US-Dollar bereits das wertvollste KI-Startup der Welt. Da war das Unternehmen bereits profitabel. Sensetime arbeitet weltweit bereits mit Hunderten von Kunden zusammen, darunter der US-Chiphersteller Qualcomm oder der japanische Autohersteller Honda im Bereich des autonomen Fahrens. Hier erkennt und bewertet das System, was vor dem Auto auf der Straße passiert. Dennoch musste das Unternehmen seinen Börsengang wegen der Menschenrechtsdebatte bereits kleiner fahren als ursprünglich erhofft.

    Sensetime wurde 2014 von Tang Xiao’ou gegründet, einem Informatiker von der Chinese University of Hongkong. Der Fokus lag von Anfang an darauf, eigene Algorithmen zu entwickeln. Viele Wettbewerber verwenden Techniken, die frei zur Verfügung stehen oder ganz einfach dem Stand dessen, was an den Unis gelehrt wird. In den ersten Jahren der Unternehmensgeschichte hat die besonders gut funktionierende Gesichtserkennung von Sensetime noch Begeisterung ausgelöst. Das Start-up galt als Beispiel dafür, wie fortschrittlich Chinas Technikfirmen sind.

    Der Blick auf Sensetime hat sich durch die Ereignisse der vergangenen Jahre dann stark verändert. Die klare Sprache des US-Finanzministeriums, die das Unternehmen mit den Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang in Verbindung bringt, verstärkt nun den Eindruck: Sensetime hat seine Unschuld als Technikunternehmen endgültig verloren. Das wichtige Segment ethischer oder nachhaltiger Investoren steht dem Unternehmen bei seinen Börsenplänen nicht mehr als Kapitalgeber zur Verfügung. Zugleich zeigt das Beispiel Sensetime, dass es in kritischen Sektoren fast unmöglich wird, sich einfach nur an die regionalen Gesetze zu halten und es damit allen recht zu machen.

    Mehr zum Thema:

      • Autonomes Fahren
      • Börse
      • China-Sanktionen
      • Finanzen
      • Geopolitik
      • Menschenrechte
      • Sensetime
      • Unschuldsvermutung
      • Xinjiang

      20 Jahre WTO-Beitritt: Clintons großer Irrtum

      An diese Rede wird Bill Clinton sicherlich nicht gern erinnert. Es war im März 1999. Vor beiden Häusern des US-Kongresses warb der damalige US-Präsident für den Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation (WTO). Die Welt werde nicht mehr die gleiche sein, versprach er. Das bevölkerungsreichste Land der Welt würde seine Märkte öffnen. Und die US-Amerikaner mit ihrem Weizen und Mais, den Hollywood-Filmen, Fords und GMs sind ganz vorne dabei. Mit mehr Freihandel würde es zudem ein freieres China geben, gab sich Clinton zuversichtlich. Doch es kam anders. 

      In diesen Tagen jährt sich Chinas Beitritt zur WTO zum 20. Mal. Das kommunistische Regime regiert weiter mit harter Hand. Für die USA und auch andere Industrieländer hat sich das Versprechen eines neuen Absatzmarktes zwar erfüllt. Aber China hat weit mehr profitiert. Heute werden mehr als 80 Prozent der weltweit verkauften Kühlschränke in der Volksrepublik hergestellt, 70 Prozent aller Mobiltelefone und jedes zweite Paar Schuhe. War die Handelsbilanz zwischen China und den USA 2003 noch weitgehend ausgeglichen, verzeichnen vor allem die USA im Handel mit China Jahr für Jahr neue Rekorddefizite. Und es sind längst nicht nur Billigprodukte, mit denen China die Welt überschwemmt. Laptops, Flachbildschirme, Drohnen, Elektroautos – allein 2020 hat China weltweit mehr als eine halbe Billion US-Dollar mehr aus- als eingeführt. 

      China hatte zwei entscheidende Vorteile

      “Ja, Chinas WTO-Beitritt war erwartungsgemäß ein Erfolg”, sagt Pascal Lamy. Er war zwischen 1999 und 2004 EU-Handelskommissar und ab 2005 als WTO-Generaldirektor auch nach Chinas Beitritt an den Verhandlungen mit der chinesischen Führung maßgeblich beteiligt. “Die Weltwirtschaft wurde von der Leine gelassen, sagte er am Freitag auf einem Webinar des Berliner China-Thinktanks Merics zum Thema: “Chinas 20. WTO-Jubiläum – Anlass zum Feiern?” China importierte kräftig und modernisierte seine Wirtschaft, schildert Lamy. Verbraucher anderswo profitierten von niedrigeren Preisen, weil China mit einem riesigen Arbeitsheer günstig und in großen Mengen zu produzieren wusste. Für Lamy ist klar: “Ein Gewinn.”

      Tatsächlich hatte China zur Jahrtausendwende vor allem zwei Vorteile: Geringe Arbeits- und Umweltschutzbestimmungen und ein riesiges Heer an Arbeitskräften, das bereit war, zu Löhnen zu schuften, die im Westen undenkbar waren. Zugleich schrumpfte die Erde, weil der Transport der Waren kaum noch etwas kostete und das Internet die entferntesten Standorte miteinander verband. Chinas Exporte schossen in die Höhe, ebenso der Lebensstandard. Lebte vor dem WTO-Beitritt noch jeder vierte Chinese unter der Armutsgrenze, sind es heute weniger als zehn Prozent. Ein Drittel der Bevölkerung kann sich ein eigenes Auto leisten, Eigentumswohnung und Weltreisen. Von diesem neuen Wohlstand profitierten auch ausländische Unternehmen. Doch in den Industrieländern selbst schaffte Chinas Beitritt auch viele Verlierer. Insbesondere in den USA, gingen genau jene Industriearbeitsplätze verloren, die sich in China entwickelten. 

      Durchwachsene Bilanz

      Aus deutscher Sicht fällt die Bilanz durchwachsen aus. Deutschland selbst ist Exportnation und hat von Chinas Einbindung in den Weltmarkt unter den OECD-Ländern mit am meisten profitiert. EU-Handelskammer-Chef Jörg Wuttke, der für den Chemieriesen BASF seit 2017 Geschäftsführender Generalbevollmächtigter in China ist, schildert beim Merics-Webinar aus Peking zugeschaltet: “Als ich kam, machte BASF in China etwa weniger als zwei Milliarden US-Dollar Umsatz. Jetzt sind wir bei über elf Milliarden. Und wir haben ein 10-Milliarden-Dollar-Projekt im Bau.” Ohne Chinas Beitritt zur WTO wäre all das nicht möglich gewesen. 

      Dennoch haben sich gewisse Erwartungen auch aus Sicht der deutschen Wirtschaft nicht erfüllt: Als “Katalysator für weitreichende Strukturreformen” sollte die Einbindung wirken und “freies unternehmerisches Handeln in China fördern”, schreibt der Industrieverband BDI in einem jüngst erschienenem Papier. “Diese Hoffnungen wurden weitestgehend enttäuscht.” Worüber sich der BDI vor allem ärgert: Spätestens seit 2016 sollte China als Marktwirtschaft behandelt werden und nicht mehr die Vorteile genießen, die Entwicklungsländern im internationalen Handel zugestanden werden. Das sahen die Beitrittsregelungen explizit vor.

      BDI: Peking nutzt WTO-Regeln für sich

      So sehr die WTO-Aufnahme Chinas Wirtschaft beflügelte – frei ist sie bis heute nicht. Vielmehr versteht es China, seine Märkte nur so weit zu öffnen, wie es dem Land Vorteile bringt. Auch die EU-Handelskammer beklagt regelmäßig, dass ausländische Unternehmen in China konsequent benachteiligt werden. “Die weitverbreitete Erwartung, dass sich das Land tatsächlich in eine offene und hauptsächlich marktbasierte Volkswirtschaft entwickelt, wurde nicht erfüllt”, schreibt denn auch der BDI in seinem Papier.

      “Die chinesische Regierung versteht es, die Spielräume der WTO-Regeln für sich zu nutzen und tut oft nur das Minimum, um Verpflichtungen nachzukommen.” Außerdem nehme die chinesische Regierung ebenfalls anders als zugesagt, “übermäßig Einfluss auf die Wirtschaftsaktivitäten” etwa durch Preiskontrollen, Beihilfen und Justizbeeinflussung. 99 der 100 größten börsennotierten Unternehmen in China seien weiter mehrheitlich in Staatshand. Auch das sei anders vereinbart gewesen, beschwert sich der BDI.

      Die auf dem Merics-Webinar ebenfalls zugeschaltete ehemalige stellvertretende US-Handelsbeauftragte für China, Audrey Winter, versucht aus den gemachten Erfahrungen dennoch Positives zu ziehen. “Wir haben in dieser Zeit viel über China und sein System und seine Schnittstellen zu unseren Systemen gelernt.” Das sei wichtig zu wissen, denn bei Handelsverhandlungen stecke der Teufel immer im Detail. Und weitere Verhandlungen stünden ja an. Eine aus ihrer Sicht wichtige Lektion: “Wir haben gelernt, dass China gar nicht beabsichtigt, eine echte Marktwirtschaft zu werden.”

      Lesen Sie jetzt auch:

        • Deutschland
        • Handel
        • Merics
        • USA
        • WTO

        News

        EU sucht nach gemeinsamer Linie zu Winterspielen

        Die EU sucht weiterhin nach einem gemeinsamen Ansatz bezüglich der Olympischen Winterspiele in Peking. Das Thema sollte eigentlich am Montag auf der Tagesordnung des EU-Außenministertreffens in Brüssel stehen. Letztendlich ging es jedoch nur am Rande um Olympia. “Wir versuchen, hier eine gemeinsame Linie zu finden“, sagte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock nach dem Treffen. Es gebe unterschiedliche Positionen. “Uns eint die große Leidenschaft für den Sport. Uns eint aber auch unser konsequentes Einstehen für Menschenrechte”, so Baerbock. Es sei wichtig, zu einer gemeinsamen Linie zu kommen.

        Deutschland hat einen diplomatischen Boykott zuletzt nicht ausgeschlossen. Die USA, Australien, Kanada und Großbritannien hatten öffentlich erklärt, keine diplomatischen Vertreter nach China zu schicken. Von den EU-Staaten hat sich bisher Litauen offen gegen die Spiele geäußert. Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis sagte vor dem Treffen, er werde “sicher” nicht nach Peking fahren. Das baltische Land befindet sich in einem bisher nicht dagewesenen Handelsstreit mit der Volksrepublik. Dieser wurde nicht beim Treffen der EU-Außenminister besprochen.

        Landsbergis traf sich aber zumindest mit EU-Handelskommissar Valdis Dombrovskis, um über die anhaltenden Probleme mit dem chinesischen Zoll zu sprechen. Laut Brüssel gab es bisher keine Verbesserung der Situation. Die EU-Vertretung in China bemühe sich weiterhin um eine Lösung. Landsbergis und Dombrovskis wollen dazu weiterhin in Kontakt bleiben. Litauen ist seit mehr als einer Woche für den chinesischen Zoll geblockt, Waren aus dem EU-Staat können nicht mehr eingeführt werden (China.Table berichtete). ari

        Mehr zum Thema:

          • Annalena Baerbock
          • Gabrielius Landsbergis
          • Geopolitik
          • Litauen
          • Olympia
          • Sport

          Gipfeltreffen zwischen Xi und Putin geplant

          Kaum eine Woche nach US-Präsident Joe Bidens Demokratiegipfel sucht die chinesische Regierung den demonstrativen Schulterschluss mit Russland. Der chinesische Staatschef Xi Jinping und sein russischer Kollege Wladimir Putin wollen am Mittwoch ein virtuelles Gipfeltreffen abhalten. “Die beiden Staatsoberhäupter werden einen umfassenden Überblick über die chinesisch-russischen Beziehungen und die Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen in diesem Jahr geben”, sagte ein Sprecher des Außenministeriums am Montag. Xi und Putin würden zudem “Pläne auf höchster Ebene für die Entwicklung der bilateralen Beziehungen im nächsten Jahr” besprechen. Konkrete Themen nannte der Sprecher nicht. Einzelheiten gebe es erst nach dem Treffen.

          Beide Länder waren nicht zum Demokratiegipfel in Washington eingeladen und sind von den USA mit Sanktionen belegt worden. Gegen die Volksrepublik wurden Strafen wegen Menschenrechtsverletzungen verhängt. Die Beziehungen zwischen Moskau und dem Westen sind derzeit ebenso stark belastet, unter anderem wegen der Lage an der russisch-ukrainischen Grenze. niw

          Mehr zum Thema:

            • China-Sanktionen
            • Geopolitik
            • Russland
            • USA
            • Wladimir Putin
            • Xi Jinping

            China hält ein knappes Fünftel an Daimler

            Chinesische Investoren besitzen einen größeren Teil der Daimler-Aktien als bisher bekannt. Daimlers chinesisches Partnerunternehmen BAIC hat rund zwei Jahre nach dem Erwerb die genaue Höhe seiner Beteiligung an dem Stuttgarter Autobauer offengelegt. BAIC besitze demnach einen Stimmrechtsanteil von 9,98 Prozent, wie am Montag im Zusammenhang mit dem Börsengang der Lastwagensparte von Daimler bekannt wurde. Bisher war von einem Anteil in der Größenordnung von fünf Prozent die Rede. Da auch der Geely-Gründer Li Shufu einen Anteil von gut neun Prozent hält, befinden sich knapp 20 Prozent des Premiumherstellers in chinesischer Hand.

            Die Beziehung beruht durchaus auf Gegenseitigkeit. Daimler hält umgekehrt 9,55 Prozent an der in Hongkong notierten BAIC-Tochter BAIC Motor. Der Dax-Konzern erklärte, er begrüße das Bekenntnis des langjährigen Partners, mit dem Mercedes-Benz in einem Joint Venture Autos für den weltweit größten Markt baut und verkauft. “Die Beteiligung von BAIC an Daimler spiegelt das Bekenntnis zu unserer gemeinsamen erfolgreichen Allianz bei Produktion und Entwicklung im weltweit größten Pkw-Markt wider”, erklärte Daimler-Chef Ola Källenius. BAIC und Daimler seien übereingekommen, dass BAIC seinen Anteil an Daimler nicht weiter erhöhen wird, so das Unternehmen. rtr/fin

            Mehr zum Thema:

              • Autoindustrie

              Nicaragua erhält Sinopharm-Dosen

              Nur wenige Tage nach der Aufgabe der diplomatischen Beziehungen zu Taiwan hat Nicaragua 200.000 Dosen Sinopharm-Impfstoff erhalten. Das nicaraguanische Volk schätze “diese Geste der Solidarität, Zusammenarbeit, Freundschaft und Brüderlichkeit”, schrieb Regierungsberater und Präsidenten-Sohn Laureano Ortega Murillo auf Twitter. Ein dazu veröffentlichtes Foto zeigte eine Air-China-Maschine auf einer Landebahn mit Vertretern beider Seiten. Insgesamt hat die Volksrepublik dem zentralamerikanischen Staat eine Million Einheiten des chinesischen Sinopharm-Impfstoffes zugesagt. Managua hatte vergangene Woche die diplomatischen Beziehungen zu Taipeh zugunsten Pekings aufgelöst (China.Table berichtete).

              Peking nutzt die Impfstoff-Diplomatie, um auch weitere Staaten zur Abkehr von Taiwan zu bewegen, wie Guatemalas Präsident Alejandro Giammattei in einem Interview bestätigte. “Die Chinesen setzen uns sehr unter Druck, sie bieten uns viel an. Sie haben [Impfstoffe] angeboten, aber wir haben sie nicht angenommen”, sagte Giammattei der Financial Times. Die Loyalität Guatemalas gegenüber Taiwan sei eine “Prinzipienfrage”, fügte der Präsident hinzu. Taipeh sei der “einzig wahre Verbündete” seines Landes. Zu Beginn der Corona-Pandemie habe das Land die erste Lieferung von Schutzkleidung und Schutzmasken aus Taiwan erhalten, so Giammattei.

              Peking hat in Lateinamerika in den vergangenen Jahren massiv Lobbyarbeit betrieben. So ist es in den vergangenen Jahre gelungen, El Salvador, Panama und die Dominikanische Republik davon zu überzeugen, sich von Taiwan abzuwenden. Die designierte Präsidentin von Honduras, Xiomara Castro, versprach in ihrem Wahlprogramm, die Beziehungen zu Taipeh zugunsten einer Partnerschaft mit Peking aufzugeben. ari

              Mehr zum Thema:

                • Corona-Impfstoffe
                • Geopolitik
                • Honduras
                • Impfstoff-Diplomatie
                • Nicaragua
                • Taiwan

                TSMC erwägt Fabrik in Deutschland

                Der weltweit führende Chiphersteller Taiwan Semiconductor Manufacturing (TSMC) soll laut Medienberichten den Bau eines Werks in Deutschland erwägen. Erstmals hatte sich TSMC-Konzernchef Mark Liu im Juli bei einer Hauptversammlung in Taipeh offiziell dazu geäußert, dass TSMC über einen Produktionsstandort in Deutschland nachdenkt (China.Table berichtete).

                Faktoren wie Subventionen, Kundennachfrage sowie das nötige Personal beeinflussen die endgültige Entscheidung für einen Standort in Deutschland, so Lora Ho, Senior Vice President of Europe und Asia Sales bei TSMC am Rande eines Technologieforums in Taipeh. TSMC befinde sich in frühen Gesprächen mit der deutschen Regierung über die mögliche Errichtung eines Werks in Deutschland, erfuhr die Nachrichtenagentur Bloomberg. Der weltweit größte Auftragschiphersteller produziert bisher vor allem in Taiwan, hat aber im vergangenen Jahr erste Schritte unternommen, um im Ausland zu expandieren und dadurch seine Kapazitäten zu erhöhen. Vor dem Hintergrund der weltweiten Lieferkettenprobleme und des damit verbundenen Mangels an Computerchips will TSMC damit die Nachfrage aus Ländern decken, die daran arbeiten, die heimische Halbleiterproduktion auszubauen.

                So will die EU in der ersten Hälfte des kommenden Jahres schon ein europäisches Chipgesetz vorstellen. Das Papier soll auch eine Strategie umreißen, um die Halbleiterproduktion in der EU anzukurbeln. So ist eines der Ziele bis 2030, etwa 20 Prozent der weltweiten Halbleiterproduktion auszumachen. In den USA baut TSMC derzeit eine zwölf Milliarden US-Dollar teure Anlage in Arizona. In Japan will es sieben Milliarden US-Dollar investieren. niw

                Mehr zum Thema:

                  • Chips
                  • Halbleiter
                  • Handel
                  • Technologie
                  • TSMC

                  Unternehmen müssen Emissionsdaten offenlegen

                  Einige in China tätige Unternehmen müssen demnächst die von ihnen verursachten CO2-Emissionen offenlegen. Das chinesische Umweltministerium hat jüngst eine “Verwaltungsmaßnahme” genehmigt, die Unternehmen zur Offenlegung von Umweltinformationen verpflichtet. Einige Unternehmen müssen demnach die gesamten CO2-Emissionen für das laufende und das vorangegangene Jahr sowie die jährlichen Emissionen aller Treibhausgase öffentlich bekannt geben, wie die Beratungsagentur Trivium China bestätigt.

                  Die Maßnahme zielt jedoch nur auf Unternehmen, die:

                  • vom Umweltministerium als “große Emittenten” von Treibhausgasen definiert werden. Bisher wurden Unternehmen unter diese Kategorie gefasst, die einen hohen Ausstoß von Schwefeldioxid, Stickoxiden, Ruß (Partikel/Staub) und flüchtigen organischen Verbindungen verursachen. Es ist davon auszugehen, dass demnächst auch Firmen als “große Emittenten” erfasst werden, die viel CO2 verursachen,
                  • obligatorischen Audits für saubere Produktion unterliegen,
                  • börsennotierte oder schuldenemittierende Unternehmen, die in der Vergangenheit für Umweltverstöße strafrechtlich verantwortlich gemacht oder mit erheblichen Verwaltungsstrafen belegt wurden,
                  • andere Unternehmen und Einrichtungen gemäß anderen Gesetzen und Vorschriften.

                  Es müssen also nicht alle Unternehmen und auch nicht alle börsennotierten Unternehmen Informationen über ihre Emissionen offenlegen. Ursprünglich hatte die chinesische Wertpapieraufsichtsbehörde geplant, dass alle in China börsennotierten Unternehmen bis 2020 Umweltinformationen offenlegen müssen (China.Table berichtete). Es wird spekuliert, dass der Corona-Ausbruch die Verschiebung verursacht hat.

                  Trotz dieser Einschränkungen ist die Maßnahme ein wichtiger Schritt, so Trivium China. In der Vergangenheit haben nur wenige chinesische Unternehmen freiwillig Daten zu den von ihnen verursachten CO2-Emissionen offengelegt. Die Gesetze sahen das bisher nicht vor. Die chinesischen Transparenz-Standards lagen bisher weit hinter internationalen Standards zurück. “Obligatorische Offenlegungspflichten für Kohlenstoffemissionen werden es sowohl den Regulierungsbehörden als auch den Anlegern erleichtern, festzustellen, wie Unternehmen zu Kohlenstoffemissionen beitragen“, so die Einschätzung der Experten von Trivium China. Diese Transparenz ist eine wichtige Grundbedingung, damit Investoren mit “Klima-Gewissen” die Bemühungen zum Klimaschutz von Unternehmen einschätzen können. nib

                  Mehr zum Thema:

                    • Emissionen
                    • Energie
                    • Klima

                    Portrait

                    Alice Schmatzberger – Gründerin von ChinaCultureDesk

                    Alice Schmatzberger von ChinaCultureDesk wünscht sich eine differenziertere Auseinandersetzung mit China.
                    Alice Schmatzberger von ChinaCultureDesk wünscht sich eine differenziertere Auseinandersetzung mit China

                    “China – Chance oder Gefahr?”, “Der gelbe Riese” oder “Der rote Drache” – bei solchen Schlagzeilen kann Alice Schmatzberger nur die Augen verdrehen. China sei mehr als Gut oder Böse. Das Zwischendrin und die Tiefe des Landes vermisse sie in der Auseinandersetzung oft. Aus diesem Grund hat die Österreicherin 2013 den ChinaCultureDesk mitgegründet – eine Plattform, die sich für die interkulturelle Kommunikation zwischen China und Österreich einsetzt. Gemeinsam mit ihren Kolleg:innen möchte Schmatzberger vielfältigere China-Bilder zeigen. Dafür halten sie Vorträge, moderieren Podiumsdiskussion, recherchieren zu neuen Entwicklungen im Land und schreiben Bücher. Gerade erst erschien Schmatzbergers Buch “Mehr als Mozart & Mao! Alltagsgeschichten aus Österreich und China”. Darin blickt sie mit ihren Gesprächspartner:innen auf 50 Jahre diplomatische Beziehung zwischen Österreich und der Volksrepublik zurück.

                    Zu ihrer China-Leidenschaft fand Schmatzberger über Umwege. “Mein erstes berufliches Leben war in den Naturwissenschaften”, sagt die 56-Jährige. Anfang der 1990er-Jahre beendete sie ihr erstes Studium in Biochemie an der Universität Wien und arbeitete danach viele Jahre als Expertin in der Politikberatung und Wissenschaftskommunikation. Im Jahr 2003 begann sie – inspiriert von der italienischen Renaissance – ein zweites Studium in Kunstgeschichte. “Durch ein Modul zu außereuropäischer Kunst bin ich dann über China gestolpert”, erzählt sie und so auch in ihr zweites berufliches Leben. Jetzt seien es noch drei Schwerpunkte, zu denen sie arbeite: Kunst, Essen und China. Wobei sie bei letzterem vor allem Umweltthemen, zeitgenössische Kunst und Wissenschaftsphilosophie interessieren.

                    Das Land zieht sich auf sich selbst zurück

                    Im Olympiajahr 2008 reiste sie das erste Mal in das Land – das sie zum Staunen brachte. “Man liest so viel über das alte China, dann landet man im modernen Shanghai.” Schon am zweiten Tag sei ihr klar gewesen, dass sie wiederkommen werde. Mittlerweile sammeln sich auf ihrem Computer zwölf Ordner mit mehr als 2.000 Fotos von sämtlichen Besuchen.

                    Fragt man Schmatzberger, wie sich China in den vergangenen Jahren verändert habe, kommt ihr sofort eine Beobachtung in den Sinn: Bei jedem Besuch habe sie massenweise Bücher über chinesische Kunst gekauft. Dann sei ihr aufgefallen, dass einige Buchhandlungen plötzlich nicht mehr da waren, oder dass das Angebot sich stark verändert hatte. Das erste Mal bewusst geworden sei ihr das vor etwa sechs Jahren. Ein Blick auf die Geschichte des Landes erkläre möglicherweise, warum: “Es gibt immer eine Wellenbewegung zwischen engen und freien Zeiten. Unter Xi Jinping ist alles definitiv enger.”

                    Dass China sich mehr auf sich fokussiere, wirke sich auch auf die Beziehungen zu Österreich aus. Diese seien komplizierter geworden. Auf beiden Seiten gebe es weniger Offenheit als vor 50 Jahren, als die diplomatischen Beziehungen aufgenommen wurden. Das zeige sich auch in ihrem neuen Buch. Mit Menschen beider Länder aus Kunst, Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien sprach Schmatzberger über die Erfahrungen im jeweils anderen Land. Was sie dabei lernte? Die meisten Geschichten seien heute so nicht mehr möglich. Es habe sie berührt, mit welchem Mut die Menschen die jeweils andere Kultur erkundeten, so Schmatzberger. Reisende und Studierende, die nach ein paar Monaten Aufenthalt unverhofft hängen blieben, bei den heutigen Visabestimmungen sei das fast unvorstellbar – und zwar auf beiden Seiten. Lisa Winter

                    Lesen Sie jetzt auch:

                      • Gesellschaft
                      • Kunst
                      • Österreich
                      • Wissenschaft

                      China.Table Redaktion

                      CHINA.TABLE REDAKTION

                      Licenses:
                        • Jens Hildebrandt (AHK Peking) zum Lieferkettengesetz 
                        • KI-Star Sensetime zieht Börsengang zurück
                        • Enttäuschte Hoffnungen 20 Jahre nach Chinas WTO-Beitritt
                        • EU uneins zu Olympischen Winterspielen in Peking
                        • China und Russland kündigen Gipfeltreffen an
                        • BAIC hält mehr Anteile an Daimler als bisher bekannt
                        • Peking liefert Nicaragua Sinopharm-Impfstoff
                        • Chiphersteller TSMC erwägt Deutschland für Fabrikstandort
                        • Unternehmen müssen Emissionsdaten offenlegen
                        • Im Portrait: Alice Schmatzberger – Gründerin von ChinaCultureDesk
                        Liebe Leserin, lieber Leser,

                        Die neue Bundesregierung legt einen stärkeren Schwerpunkt beim Schutz von Menschenrechten und freiheitlichen Werten als ihre Vorgängerin. Die alte Regierung hat ihr hier jedoch eine Steilvorlage hinterlassen: Das deutsche Lieferkettengesetz. Es soll Firmen dazu verpflichten, auf die Umstände zu achten, unter denen ihre Waren hergestellt werden. Was in der Theorie nobel klingt, dürfte in der Praxis auf Schwierigkeiten stoßen. Wer soll Menschenrechtsverletzungen feststellen und bewerten? China.Table sprach darüber mit Jens Hildebrandt von der Deutschen Handelskammer in China.

                        Den chinesischen Staatszeitungen wie der Global Times war der Rückzieher des KI-Unternehmens Sensetime von einem Börsendebüt keine Nachricht wert. Die amerikanische Regierung hatte das Unternehmen unmissverständlich mit der Totalüberwachung des Volks der Uiguren in Verbindung gebracht. Finn Mayer-Kuckuk analysiert die Hintergründe der Verstrickung von Geopolitik, Finanzen und KI. Das einstige Star-Unternehmen hat nicht nur seinen Glanz verloren, sondern auch seine Unschuld.

                        “Wandel durch Handel” lautete ein beliebter Glaubenssatz der Optimisten Anfang der 2000er-Jahre. Wenn “der Westen” China in die internationale Handelsordnung einbeziehe und die Im- und Exporte stiegen, werde China schon bald die internationalen Spielregeln einhalten und sich zu einer Marktwirtschaft entwickeln. So der Gedanke. In der Rückschau wirkt das reichlich naiv. Zum 20. Jubiläum des Beitritts Chinas zur Welthandelsorganisation (WTO) ist die Bilanz durchwachsen, berichtet Felix Lee. Zwar wuchs der globale Handel, doch im Westen gingen viele Industriearbeitsplätze verloren – in den USA verödeten ganze Landstriche. Von dem erhofften “Wandel” in Richtung parlamentarischer Demokratie war derweil nichts zu sehen.

                        Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre!

                        Ihre
                        Amelie Richter
                        Bild von Amelie  Richter

                        Interview

                        Jens Hildebrandt: “Wer soll in einem System wie China Zwangsarbeit feststellen?”

                        Jens Hildebrandt von der Deutschen Handelskammer in China
                        Jens Hildebrandt von der Deutschen Handelskammer in China

                        Das deutsche Lieferkettengesetz wird in gut einem Jahr in Kraft treten. Wie sind Unternehmen in China darauf vorbereitet?

                        Das Lieferkettengesetz hat natürlich für viel Diskussionsstoff gesorgt und viele Fragen aufgeworfen. Nicht nur bei Unternehmen in China, sondern weltweit bei deutschen Unternehmen. Sie fragen sich, wie sie diese Prüfung und Kontrolle ihrer unmittelbaren Lieferkette bis in die tiefste Ebene, also bis zum Rohstofflieferanten, hinbekommen sollen. 

                        Wie sich die Unternehmen bisher vorbereiten? Sie klären erstmal intern ab, wer zuständig ist. Bei Großunternehmen kümmern sich Compliance-Abteilungen. In kleinen Unternehmen stellt sich die Frage, ob das Thema beim Management, beim Einkauf oder bei Compliance liegt. Das ist schon mal die erste Herausforderung. Was die Unternehmen außerdem machen müssen: Risikomanagement aufsetzen, in dem sie eruieren und herauskriegen, wer in ihrer Lieferkette präsent ist. Wo sind die? Was machen die? Dieses Assessment läuft im Moment.

                        Sollte ich aber nicht eigentlich von Haus aus wissen, wen ich in meiner Lieferkette habe? 

                        In der Textil- und Automobilindustrie ist das der Fall. Das ist ein ganzes System, was hier aufeinander abgestimmt ist und ineinander passen muss. Viele Unternehmen kennen ihre Lieferketten in der Tiefe. Der klassische Mittelständler im Maschinenbau oder in anderen Bereichen, also die meisten kleinen und mittelständischen Unternehmen, kennen ihre Lieferkette in ihrem Bereich, also die Geschäftspartner, mit denen sie Verträge haben. Darüber hinaus kennen sie die Lieferketten noch bei wichtigen Komponenten, aber nicht in der Tiefe, vor allem kennen sie nicht alle Rohstofflieferanten.

                        Für die meisten war es in der Vergangenheit nicht aktuell, zu wissen, wo der Rohstoff XY herkommt. Wir als AHK in China haben schon relativ zeitig, als das Lieferkettengesetz verabschiedet wurde, ein Muster für einen Code of Conduct entwickelt. An diesem können sich die Unternehmen orientieren und ihn an ihre Lieferanten weitergeben. Bei einigen Großunternehmen ist sowas überwiegend sowieso schon vorhanden. Bei kleinen und mittelständischen Unternehmen ist das nicht immer der Fall. Das hängt davon ab, wie komplex die Produkte sind.

                        Gibt es denn noch viel Unsicherheit?

                        Das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) muss noch die Durchführungsbestimmungen erlassen. Die gibt es aktuell noch nicht und darauf warten auch die Unternehmen. Im Moment sind wir tatsächlich in der Phase des Assessments, in der alle wissen: Okay, da kommt was, 2023 wird es eingeführt. Aber wir müssen erst mal Klarheit bekommen. Wie das dann mit der Umsetzung aussieht, wird sich zeigen. Es ist auch geplant, dass das BAFA Kontrollreisen macht. Und da muss man sehen, wie das funktionieren soll. Wie sollen sie denn zu Lieferanten in den Ländern kommen? Wir sprechen da nicht nur über China, sondern auch über andere Länder. Zudem stellt sich die Frage, wie sich das in den Joint Ventures umsetzen lässt. Die Durchführungsbestimmungen werden aber sicherlich eine Richtlinie geben.

                        Reicht ein Jahr aus, alle Anforderungen umzusetzen, bis das Gesetz Anfang 2023 in Kraft tritt?

                        Aus Sicht vieler Unternehmen ist die Zeit angesichts der Komplexität sehr, sehr eng. Im Moment kämpfen wir ja auch noch mit einer Pandemie, mit Rohstoffkrise und Logistikproblemen. Das ist eine extrem schwierige Lage. Aber: Es ist so, wie es ist. Wir erleben sehr große Anstrengungen und sind ja ein Teil davon. Es wird jedenfalls knapp werden, da wir noch nicht wissen, wann es nähere Hinweise zur Implementierung geben wird. 

                        Wie wird die Kontrolle aussehen? Wird es Zertifikate geben?

                        Es gibt ja bereits Zertifikate. Die Unternehmen machen Audits und Social Audits, gerade in der Automobilindustrie. Es stellt sich die große Frage, wer den Vorwurf der Zwangsarbeit in einem System wie China oder auch in anderen Ländern feststellen und dokumentieren soll. Mein Eindruck ist, dass es schwierig werden wird, Zertifizierungs-Institutionen zu finden, die das tun werden.

                        Wer könnte das übernehmen?

                        Das sind beispielsweise die großen zugelassenen Zertifizierungs-Unternehmen wie die TÜVs oder Bureau Veritas. Es gibt auch chinesische Firmen. Was aber auch ganz klar ist: Laut chinesischem Recht darf es keine Zwangsarbeit geben. Im Umkehrschluss kann man dann auch keine Zwangsarbeit feststellen. Deswegen ist es für mich schwierig, mir vorzustellen, wie ausländische oder chinesische Zertifizierer einen Vorwurf der Zwangsarbeit bestätigen oder dokumentieren wollen.

                        Sie glauben also nicht, dass der TÜV in Xinjiang in irgendwelche Werkshallen darf, um dort zu überprüfen, wie es läuft?

                        Das kann ich nicht beurteilen. Es war ja aber bereits in der Presse zu lesen, dass ausländische Zertifizierer nicht nach Xinjiang gehen.

                        Gibt es denn Unternehmen, die in Xinjiang tätig sind und sagen “Mir wird es hier zu heikel, dann gehe ich lieber”? 

                        Die deutsche Wirtschaft ist ja in der großen Masse an der Ostküste Chinas aktiv. Wir wissen von wahrscheinlich nicht mehr als zwei Handvoll deutscher Unternehmen, die in Xinjiang aktiv sind. Xinjiang hat auch keine ausreichende Industriestruktur, um in relevanten Bereichen als Zulieferer-Standort für die deutsche Wirtschaft infrage zu kommen. Wie dem auch sei, das Lieferkettengesetz verpflichtet die Unternehmen, in ihre Lieferketten reinzuschauen bis in die Tiefe. Und falls das in der Region der Fall ist, dann muss das Unternehmen für sich entscheiden, was es damit tut. Wir haben bisher von keinem Unternehmen gehört, dass ein Wegzug thematisiert wurde.

                        Das EU-Lieferkettengesetz könnte schärfer ausfallen als das deutsche. Welche Herausforderungen würde das für Unternehmen in China bringen? 

                        Hier stellt sich wieder die Frage der Umsetzung. er soll das verifizieren? Für die deutschen Unternehmen steht unternehmerische Verantwortung ganz oben auf der Agenda. Sie sind sich der Herausforderungen bewusst und deswegen laufen im Moment auch die Assessments zum Risikomanagement und im Compliance Management. Die Unternehmen werden sich ihre Lieferkette komplett anschauen. Klar wird das auch große Unternehmen noch mal eine ganz andere Herausforderung sein.

                        Was erwarten Sie von chinesischer Seite?

                        Das ist ein deutsches und europäisches Lieferkettengesetz, insofern hat das erstmal nichts mit der Involvierung der chinesischen Regierung zu tun. Was für die chinesische Regierung klar sein muss: Das Gesetz richtet sich nicht gegen China, ist also kein Lex Sinica. Das Lieferkettengesetz ist aus der Historie der unternehmerischen Verantwortung entstanden, die auf die weltweiten Aktivitäten deutscher Unternehmen abzielt.  

                        Befürchten Sie, dass es Blockaden von chinesischen Behörden geben könnte?

                        Es gibt einzelne Instrumente wie beispielsweise das Anti-Sanktionsgesetz der chinesischen Seite. Nach diesem Gesetz können ausländische Unternehmen theoretisch dafür belangt werden, wenn sie sich im Rahmen von Sanktionen von Geschäften mit chinesischen Unternehmen zurückziehen. Ich glaube aber, was den Unternehmen eher klar sein muss: Im B2C-Bereich, in Social Media, könnte es Shitstorms geben. Das haben wir schon gesehen. Unternehmen müssen sich darauf vorbereiten, wie sie damit umgehen wollen und wie man das gegebenenfalls managt.

                        Shitstorms hat es in diesem Jahr schon gegen H&M oder Nike gesehen, primär wegen Xinjiang. Wie können sich Firmen darauf vorbereiten, dass Lieferketten zunehmend politisiert werden?

                        Die Unternehmen sind sensibilisiert, dass sie im Prinzip in einer Situation sind, in der sie in beide Richtungen eine Verantwortung gegenüber dem europäischen Verbraucher, aber auch dem chinesischen Verbraucher haben. Das muss jeder in der Industrie für sich selbst austarieren. Dazu wird die Kommunikation mit europäischen, mit deutschen Stakeholdern und Regierungen notwendig sein, genauso aber auch auf chinesischer Seite. Da gibt es keine einfache Lösung für die Unternehmen. 

                        Ist das Lieferkettengesetz ein Frosch, der von Unternehmen geschluckt werden muss? Oder ist man vielleicht nicht auch froh darüber, dass dieses Thema jetzt geregelt wird? 

                        Deutsche Wirtschaftsverbände haben im Vorfeld ihre Einschätzungen zur Umsetzung eingebracht. Die Anforderungen, die in manchen Märkten gestellt werden, können extrem schwierig werden. Das wird die Kosten und die administrativen Anforderungen bei den Unternehmen erhöhen. Das ist schon etwas, was gerade vor allem kleine und mittelständische Unternehmen benachteiligt. Nichtsdestotrotz ist es für Unternehmen grundsätzlich klar, dass unternehmerische Verantwortung gilt. Da sind deutsche Unternehmen in China beispielhaft unterwegs. Wir fahren als Deutsche Handelskammer hier seit sechs Jahren eine CSR-Kampagne, an der sich deutsche Unternehmen beteiligen und zeigen, dass sie nicht nur zum Wirtschaften hier sind, sondern auch, um etwas in die Gesellschaft zurückzugeben. Dazu gehört, sich an Umweltstandards zu halten sowie sozial- und arbeitsrechtlich sauber zu sein.

                        Jens Hildebrandt ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Deutschen Handelskammer in China für Nordchina (AHK).

                          • Jens Hildebrandt
                          • Lieferketten
                          • Lieferkettengesetz
                          • Xinjiang
                          • Zwangsarbeit

                          Analyse

                          Sensetime verschiebt Börsengang

                          Sensetime ist eine der KI-Firmen, die ihre Anwendungen bereits in der Praxis einsetzt. Die Software des Unternehmens leistet Personenerkennung mit vorher unbekannter Genauigkeit. Doch trotz Interesse der Investoren hat das Unternehmen einen geplanten Börsengang in Hongkong vorläufig verschoben. Grund ist eine Entscheidung der US-Regierung. Diese hat neue Sanktionen gegen Sensetime verhängt (China.Table berichtete), die auch die künftige Finanzposition der Firma betreffen. Grund für die Sanktionen ist der großflächige Einsatz der Sensetime-Produkte zur Überwachung der Minderheit der Uiguren.

                          Sensetime ist damit ein weiteres prominentes Unternehmen, das Teil der politischen Gemengelage geworden ist. Es gibt jedoch Unterschiede zu anderen Firmen, die von US-Sanktionen betroffen sind. Der Telekom-Ausrüster Huawei, der Halbleiterhersteller SMIC oder der Mobilfunker China Mobile weisen darauf hin, nur oberflächliche Beziehungen zu Chinas Sicherheitsbehörden zu haben. Sensetime dagegen liefert Kernkomponenten für den totalen digitalen Überwachungsstaat.

                          Der vergangene Freitag war der verhängnisvolle Tag für die Börsenpläne von Sensetime. Der 10. Dezember ist einerseits der Tag der Menschenrechte. Für US-Präsident Joe Biden ging zudem ein nur mäßig produktiver Demokratiegipfel zu Ende, zu dem China ausdrücklich nicht eingeladen war. Die US-Regierung hat dann anlässlich von Menschenrechtstag und Demokratiegipfel noch mit Sanktionen nachgelegt. Sensetime als berüchtigter Hersteller von Überwachungssoftware war ein logisches Ziel. Anders als bei früheren US-Sanktionen ging es diesmal ausdrücklich um eine Reaktion auf die Unterdrückung der Uiguren. Ebenfalls betroffen waren an diesem Tag Myanmar und Nordkorea. Rechtliche Grundlage war die Einstufung von Sensetime als Teil des “militärischen-industriellen Komplexes der Volksrepublik China”.

                          “Haben uns nur an die Gesetze gehalten”

                          Am Donnerstag kamen dann bereits Gerüchte auf, dass Sensetime auf die Schwarze Liste kommen könnte (China.Table berichtete). Am Freitag wollte Sensetime eigentlich Details zum Börsengang bekannt geben. Stattdessen nahm das Management mit der Börse Hongkong Kontakt auf und verständigte sich darauf, die Börsenpläne vorerst auf Eis zu legen.

                          Die Art der US-Sanktionen betreffen durchaus die künftige finanzielle Lage des Unternehmens und sind damit börsenrelevant. Die Unternehmen auf der betreffenden Liste können sich in den USA nicht mehr mit Kapital versorgen. Dazu kommt der entsprechende Imageschaden. Am Samstag wehrte sich Sensetime gegen die Begründung des US-Finanzministeriums für die Sanktionen. Die Anschuldigungen “entbehren jeder Grundlage”, teilte das Unternehmen mit. “Wir halten uns in jedem Markt, auf dem wir tätig sind, an die geltenden Gesetze der dortigen Jurisdiktion.”

                          Das ist vermutlich richtig. In China ist es der Einparteienstaat, der auf Basis selbstgemachter Gesetze ein Kontrollregime durchsetzt. Vermutlich könnte China es Sensetime eher umgekehrt als Gesetzesverstoß auslegen, wenn es sich der Teilnahme an staatlichen Operationen verweigerte. Letztlich kann sich kein Unternehmen den Wünschen des Staates verweigern. Aus internationaler Sicht – und zumal aus der Warte einer wertegeleiteten Außenpolitik, wie sie derzeit wieder mehr im Gespräch ist – ist die Rolle des Technikunternehmens aus Shenzhen aber zumindest vielschichtig zu sehen.

                          Die Software pickt Uiguren anhand ihres Aussehens heraus

                          Im Laufe der Jahre 2018 und 2019 wurde nach und nach bekannt, wie engmaschig die Überwachung der Wohnbevölkerung von Xinjiang und insbesondere der Uiguren geworden ist. Die New York Times veröffentlichte damals eine Reihe von einflussreichen Artikeln mit Details zum Einsatz moderner Technik in der Region. Die Software kann demnach anhand des Aussehens zwischen Uiguren und Han-Chinesen unterscheiden. Die Polizei verwendet diese Funktion möglicherweise auch außerhalb Xinjiangs. So soll sie auch in den Küstenstädten die Bewegungen und Handlungen von Uiguren mit Softwarehilfe gezielt und lückenlos verfolgen. “Minderheitenidentifikation” heißt das Ausstattungsmerkmal der Software den Berichten zufolge.

                          Sensetime gehörte damit fast sicher zu den Firmen, die technische Infrastruktur für die Errichtung eines digitalen Polizeistaats in der Region Xinjiang geliefert haben. Zusammen mit anderen Unternehmen wurde Sensetime damit in der westlichen Öffentlichkeit zum Synonym für lückenlose Überwachung. Mitte Oktober gab das Unternehmen dann bekannt, einen Börsengang in Hongkong anzustreben. Sofort nach Ankündigung war jedoch die Verstrickung in den Aufbau des Überwachungsstaates wieder ein Thema (China.Table berichtete).

                          Der größte Vorteil von Sensetime ist auf der internationalen Bühne also auch sein größtes Problem: Der chinesische Staat ist der weltweit größtmögliche Kunde für Überwachungstechnik. In anderen Ländern gibt es ebenfalls kompetente Anbieter von Software zur Erkennung biometrischer Merkmale, auch wenn viele von ihnen nicht in der gleichen Liga wie Sensetime spielen. So sitzt in Dresden die Firma Cognitec, deren Gesichtserkennung ebenfalls präzise funktioniert. Sie arbeitet auch durchaus mit dem Bundeskriminalamt zusammen. Doch das auffälligste Projekt, an dem Cognitec mitgewirkt hat, war lediglich ein Testlauf für Gesichtserkennung im öffentlichen Raum am Berliner Bahnhof Südkreuz.

                          Die einzelne Kamera über einer Rolltreppe hat jedoch bereits eine landesweite Debatte über die Gefahren der Gesichtserkennung ausgelöst. Es sind in Deutschland in absehbarer Zeit also keine Aufträge für großflächige Personenerkennung im öffentlichen Raum zu erwarten. Eine Initiative zur Überwachung von 100 Knotenpunkten von Ex-Innenminister Horst Seehofer ist krachend gescheitert. Die Software von Cognitec kommt beim BKA also nur intern zur “Lichtbildrecherche” in Datenbanken zum Einsatz.

                          Perfektes Werkzeug für Totalüberwachung

                          Die chinesischen Anbieter wie Sensetime und Megvii können ihre Anwendungen dagegen im Masseneinsatz weiterentwickeln. Die Staatsaufträge spülen ihnen Geld in die Kasse, das wiederum in die Produkte fließt. Der Börsengang in Hongkong hätte für Sensetime einen weiteren Geldsegen gebracht: 680 Millionen Euro wollte das Unternehmen durch die Ausgabe der Anteilsscheine einnehmen.

                          Das ursprüngliche Interesse der Investoren hatte nicht nur mit dem chinesischen Staat als Hauptkunden zu tun, sondern auch mit dem erreichten technischen Niveau. Wie viele KI-Anbieter verwendet Sensetime neuronale Netze für die Mustererkennung im Kern des Systems. Es verwendet dabei eine ähnliche Struktur wie ein Nervensystem und lernt die entscheidenden Fähigkeiten anhand von Beispielen. Sensetime bettet die reine Musterkennung aber auch besonders geschickt in einen Rahmen aus konventioneller Software ein.

                          Die Software verfolgt Personen in der realen Welt von Kamera zu Kamera durch die Stadt. Außerdem erkennt sie Personen nicht nur am Gesicht, sondern auch am Gang, der Armhaltung und anderen Eigenschaften. Um diese Muster aufzunehmen, müssen sie nur einmal zusammen mit dem Gesicht auf den Kamerabildern zu sehen gewesen sein. All das macht die Fähigkeiten der Software so wertvoll für die allgegenwärtige Überwachung beispielsweise in Xinjiang.

                          Kooperationen mit internationalen Unternehmen

                          Im Jahr 2018 war Sensetime mit einer Bewertung von sechs Milliarden US-Dollar bereits das wertvollste KI-Startup der Welt. Da war das Unternehmen bereits profitabel. Sensetime arbeitet weltweit bereits mit Hunderten von Kunden zusammen, darunter der US-Chiphersteller Qualcomm oder der japanische Autohersteller Honda im Bereich des autonomen Fahrens. Hier erkennt und bewertet das System, was vor dem Auto auf der Straße passiert. Dennoch musste das Unternehmen seinen Börsengang wegen der Menschenrechtsdebatte bereits kleiner fahren als ursprünglich erhofft.

                          Sensetime wurde 2014 von Tang Xiao’ou gegründet, einem Informatiker von der Chinese University of Hongkong. Der Fokus lag von Anfang an darauf, eigene Algorithmen zu entwickeln. Viele Wettbewerber verwenden Techniken, die frei zur Verfügung stehen oder ganz einfach dem Stand dessen, was an den Unis gelehrt wird. In den ersten Jahren der Unternehmensgeschichte hat die besonders gut funktionierende Gesichtserkennung von Sensetime noch Begeisterung ausgelöst. Das Start-up galt als Beispiel dafür, wie fortschrittlich Chinas Technikfirmen sind.

                          Der Blick auf Sensetime hat sich durch die Ereignisse der vergangenen Jahre dann stark verändert. Die klare Sprache des US-Finanzministeriums, die das Unternehmen mit den Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang in Verbindung bringt, verstärkt nun den Eindruck: Sensetime hat seine Unschuld als Technikunternehmen endgültig verloren. Das wichtige Segment ethischer oder nachhaltiger Investoren steht dem Unternehmen bei seinen Börsenplänen nicht mehr als Kapitalgeber zur Verfügung. Zugleich zeigt das Beispiel Sensetime, dass es in kritischen Sektoren fast unmöglich wird, sich einfach nur an die regionalen Gesetze zu halten und es damit allen recht zu machen.

                          Mehr zum Thema:

                            • Autonomes Fahren
                            • Börse
                            • China-Sanktionen
                            • Finanzen
                            • Geopolitik
                            • Menschenrechte
                            • Sensetime
                            • Unschuldsvermutung
                            • Xinjiang

                            20 Jahre WTO-Beitritt: Clintons großer Irrtum

                            An diese Rede wird Bill Clinton sicherlich nicht gern erinnert. Es war im März 1999. Vor beiden Häusern des US-Kongresses warb der damalige US-Präsident für den Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation (WTO). Die Welt werde nicht mehr die gleiche sein, versprach er. Das bevölkerungsreichste Land der Welt würde seine Märkte öffnen. Und die US-Amerikaner mit ihrem Weizen und Mais, den Hollywood-Filmen, Fords und GMs sind ganz vorne dabei. Mit mehr Freihandel würde es zudem ein freieres China geben, gab sich Clinton zuversichtlich. Doch es kam anders. 

                            In diesen Tagen jährt sich Chinas Beitritt zur WTO zum 20. Mal. Das kommunistische Regime regiert weiter mit harter Hand. Für die USA und auch andere Industrieländer hat sich das Versprechen eines neuen Absatzmarktes zwar erfüllt. Aber China hat weit mehr profitiert. Heute werden mehr als 80 Prozent der weltweit verkauften Kühlschränke in der Volksrepublik hergestellt, 70 Prozent aller Mobiltelefone und jedes zweite Paar Schuhe. War die Handelsbilanz zwischen China und den USA 2003 noch weitgehend ausgeglichen, verzeichnen vor allem die USA im Handel mit China Jahr für Jahr neue Rekorddefizite. Und es sind längst nicht nur Billigprodukte, mit denen China die Welt überschwemmt. Laptops, Flachbildschirme, Drohnen, Elektroautos – allein 2020 hat China weltweit mehr als eine halbe Billion US-Dollar mehr aus- als eingeführt. 

                            China hatte zwei entscheidende Vorteile

                            “Ja, Chinas WTO-Beitritt war erwartungsgemäß ein Erfolg”, sagt Pascal Lamy. Er war zwischen 1999 und 2004 EU-Handelskommissar und ab 2005 als WTO-Generaldirektor auch nach Chinas Beitritt an den Verhandlungen mit der chinesischen Führung maßgeblich beteiligt. “Die Weltwirtschaft wurde von der Leine gelassen, sagte er am Freitag auf einem Webinar des Berliner China-Thinktanks Merics zum Thema: “Chinas 20. WTO-Jubiläum – Anlass zum Feiern?” China importierte kräftig und modernisierte seine Wirtschaft, schildert Lamy. Verbraucher anderswo profitierten von niedrigeren Preisen, weil China mit einem riesigen Arbeitsheer günstig und in großen Mengen zu produzieren wusste. Für Lamy ist klar: “Ein Gewinn.”

                            Tatsächlich hatte China zur Jahrtausendwende vor allem zwei Vorteile: Geringe Arbeits- und Umweltschutzbestimmungen und ein riesiges Heer an Arbeitskräften, das bereit war, zu Löhnen zu schuften, die im Westen undenkbar waren. Zugleich schrumpfte die Erde, weil der Transport der Waren kaum noch etwas kostete und das Internet die entferntesten Standorte miteinander verband. Chinas Exporte schossen in die Höhe, ebenso der Lebensstandard. Lebte vor dem WTO-Beitritt noch jeder vierte Chinese unter der Armutsgrenze, sind es heute weniger als zehn Prozent. Ein Drittel der Bevölkerung kann sich ein eigenes Auto leisten, Eigentumswohnung und Weltreisen. Von diesem neuen Wohlstand profitierten auch ausländische Unternehmen. Doch in den Industrieländern selbst schaffte Chinas Beitritt auch viele Verlierer. Insbesondere in den USA, gingen genau jene Industriearbeitsplätze verloren, die sich in China entwickelten. 

                            Durchwachsene Bilanz

                            Aus deutscher Sicht fällt die Bilanz durchwachsen aus. Deutschland selbst ist Exportnation und hat von Chinas Einbindung in den Weltmarkt unter den OECD-Ländern mit am meisten profitiert. EU-Handelskammer-Chef Jörg Wuttke, der für den Chemieriesen BASF seit 2017 Geschäftsführender Generalbevollmächtigter in China ist, schildert beim Merics-Webinar aus Peking zugeschaltet: “Als ich kam, machte BASF in China etwa weniger als zwei Milliarden US-Dollar Umsatz. Jetzt sind wir bei über elf Milliarden. Und wir haben ein 10-Milliarden-Dollar-Projekt im Bau.” Ohne Chinas Beitritt zur WTO wäre all das nicht möglich gewesen. 

                            Dennoch haben sich gewisse Erwartungen auch aus Sicht der deutschen Wirtschaft nicht erfüllt: Als “Katalysator für weitreichende Strukturreformen” sollte die Einbindung wirken und “freies unternehmerisches Handeln in China fördern”, schreibt der Industrieverband BDI in einem jüngst erschienenem Papier. “Diese Hoffnungen wurden weitestgehend enttäuscht.” Worüber sich der BDI vor allem ärgert: Spätestens seit 2016 sollte China als Marktwirtschaft behandelt werden und nicht mehr die Vorteile genießen, die Entwicklungsländern im internationalen Handel zugestanden werden. Das sahen die Beitrittsregelungen explizit vor.

                            BDI: Peking nutzt WTO-Regeln für sich

                            So sehr die WTO-Aufnahme Chinas Wirtschaft beflügelte – frei ist sie bis heute nicht. Vielmehr versteht es China, seine Märkte nur so weit zu öffnen, wie es dem Land Vorteile bringt. Auch die EU-Handelskammer beklagt regelmäßig, dass ausländische Unternehmen in China konsequent benachteiligt werden. “Die weitverbreitete Erwartung, dass sich das Land tatsächlich in eine offene und hauptsächlich marktbasierte Volkswirtschaft entwickelt, wurde nicht erfüllt”, schreibt denn auch der BDI in seinem Papier.

                            “Die chinesische Regierung versteht es, die Spielräume der WTO-Regeln für sich zu nutzen und tut oft nur das Minimum, um Verpflichtungen nachzukommen.” Außerdem nehme die chinesische Regierung ebenfalls anders als zugesagt, “übermäßig Einfluss auf die Wirtschaftsaktivitäten” etwa durch Preiskontrollen, Beihilfen und Justizbeeinflussung. 99 der 100 größten börsennotierten Unternehmen in China seien weiter mehrheitlich in Staatshand. Auch das sei anders vereinbart gewesen, beschwert sich der BDI.

                            Die auf dem Merics-Webinar ebenfalls zugeschaltete ehemalige stellvertretende US-Handelsbeauftragte für China, Audrey Winter, versucht aus den gemachten Erfahrungen dennoch Positives zu ziehen. “Wir haben in dieser Zeit viel über China und sein System und seine Schnittstellen zu unseren Systemen gelernt.” Das sei wichtig zu wissen, denn bei Handelsverhandlungen stecke der Teufel immer im Detail. Und weitere Verhandlungen stünden ja an. Eine aus ihrer Sicht wichtige Lektion: “Wir haben gelernt, dass China gar nicht beabsichtigt, eine echte Marktwirtschaft zu werden.”

                            Lesen Sie jetzt auch:

                              • Deutschland
                              • Handel
                              • Merics
                              • USA
                              • WTO

                              News

                              EU sucht nach gemeinsamer Linie zu Winterspielen

                              Die EU sucht weiterhin nach einem gemeinsamen Ansatz bezüglich der Olympischen Winterspiele in Peking. Das Thema sollte eigentlich am Montag auf der Tagesordnung des EU-Außenministertreffens in Brüssel stehen. Letztendlich ging es jedoch nur am Rande um Olympia. “Wir versuchen, hier eine gemeinsame Linie zu finden“, sagte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock nach dem Treffen. Es gebe unterschiedliche Positionen. “Uns eint die große Leidenschaft für den Sport. Uns eint aber auch unser konsequentes Einstehen für Menschenrechte”, so Baerbock. Es sei wichtig, zu einer gemeinsamen Linie zu kommen.

                              Deutschland hat einen diplomatischen Boykott zuletzt nicht ausgeschlossen. Die USA, Australien, Kanada und Großbritannien hatten öffentlich erklärt, keine diplomatischen Vertreter nach China zu schicken. Von den EU-Staaten hat sich bisher Litauen offen gegen die Spiele geäußert. Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis sagte vor dem Treffen, er werde “sicher” nicht nach Peking fahren. Das baltische Land befindet sich in einem bisher nicht dagewesenen Handelsstreit mit der Volksrepublik. Dieser wurde nicht beim Treffen der EU-Außenminister besprochen.

                              Landsbergis traf sich aber zumindest mit EU-Handelskommissar Valdis Dombrovskis, um über die anhaltenden Probleme mit dem chinesischen Zoll zu sprechen. Laut Brüssel gab es bisher keine Verbesserung der Situation. Die EU-Vertretung in China bemühe sich weiterhin um eine Lösung. Landsbergis und Dombrovskis wollen dazu weiterhin in Kontakt bleiben. Litauen ist seit mehr als einer Woche für den chinesischen Zoll geblockt, Waren aus dem EU-Staat können nicht mehr eingeführt werden (China.Table berichtete). ari

                              Mehr zum Thema:

                                • Annalena Baerbock
                                • Gabrielius Landsbergis
                                • Geopolitik
                                • Litauen
                                • Olympia
                                • Sport

                                Gipfeltreffen zwischen Xi und Putin geplant

                                Kaum eine Woche nach US-Präsident Joe Bidens Demokratiegipfel sucht die chinesische Regierung den demonstrativen Schulterschluss mit Russland. Der chinesische Staatschef Xi Jinping und sein russischer Kollege Wladimir Putin wollen am Mittwoch ein virtuelles Gipfeltreffen abhalten. “Die beiden Staatsoberhäupter werden einen umfassenden Überblick über die chinesisch-russischen Beziehungen und die Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen in diesem Jahr geben”, sagte ein Sprecher des Außenministeriums am Montag. Xi und Putin würden zudem “Pläne auf höchster Ebene für die Entwicklung der bilateralen Beziehungen im nächsten Jahr” besprechen. Konkrete Themen nannte der Sprecher nicht. Einzelheiten gebe es erst nach dem Treffen.

                                Beide Länder waren nicht zum Demokratiegipfel in Washington eingeladen und sind von den USA mit Sanktionen belegt worden. Gegen die Volksrepublik wurden Strafen wegen Menschenrechtsverletzungen verhängt. Die Beziehungen zwischen Moskau und dem Westen sind derzeit ebenso stark belastet, unter anderem wegen der Lage an der russisch-ukrainischen Grenze. niw

                                Mehr zum Thema:

                                  • China-Sanktionen
                                  • Geopolitik
                                  • Russland
                                  • USA
                                  • Wladimir Putin
                                  • Xi Jinping

                                  China hält ein knappes Fünftel an Daimler

                                  Chinesische Investoren besitzen einen größeren Teil der Daimler-Aktien als bisher bekannt. Daimlers chinesisches Partnerunternehmen BAIC hat rund zwei Jahre nach dem Erwerb die genaue Höhe seiner Beteiligung an dem Stuttgarter Autobauer offengelegt. BAIC besitze demnach einen Stimmrechtsanteil von 9,98 Prozent, wie am Montag im Zusammenhang mit dem Börsengang der Lastwagensparte von Daimler bekannt wurde. Bisher war von einem Anteil in der Größenordnung von fünf Prozent die Rede. Da auch der Geely-Gründer Li Shufu einen Anteil von gut neun Prozent hält, befinden sich knapp 20 Prozent des Premiumherstellers in chinesischer Hand.

                                  Die Beziehung beruht durchaus auf Gegenseitigkeit. Daimler hält umgekehrt 9,55 Prozent an der in Hongkong notierten BAIC-Tochter BAIC Motor. Der Dax-Konzern erklärte, er begrüße das Bekenntnis des langjährigen Partners, mit dem Mercedes-Benz in einem Joint Venture Autos für den weltweit größten Markt baut und verkauft. “Die Beteiligung von BAIC an Daimler spiegelt das Bekenntnis zu unserer gemeinsamen erfolgreichen Allianz bei Produktion und Entwicklung im weltweit größten Pkw-Markt wider”, erklärte Daimler-Chef Ola Källenius. BAIC und Daimler seien übereingekommen, dass BAIC seinen Anteil an Daimler nicht weiter erhöhen wird, so das Unternehmen. rtr/fin

                                  Mehr zum Thema:

                                    • Autoindustrie

                                    Nicaragua erhält Sinopharm-Dosen

                                    Nur wenige Tage nach der Aufgabe der diplomatischen Beziehungen zu Taiwan hat Nicaragua 200.000 Dosen Sinopharm-Impfstoff erhalten. Das nicaraguanische Volk schätze “diese Geste der Solidarität, Zusammenarbeit, Freundschaft und Brüderlichkeit”, schrieb Regierungsberater und Präsidenten-Sohn Laureano Ortega Murillo auf Twitter. Ein dazu veröffentlichtes Foto zeigte eine Air-China-Maschine auf einer Landebahn mit Vertretern beider Seiten. Insgesamt hat die Volksrepublik dem zentralamerikanischen Staat eine Million Einheiten des chinesischen Sinopharm-Impfstoffes zugesagt. Managua hatte vergangene Woche die diplomatischen Beziehungen zu Taipeh zugunsten Pekings aufgelöst (China.Table berichtete).

                                    Peking nutzt die Impfstoff-Diplomatie, um auch weitere Staaten zur Abkehr von Taiwan zu bewegen, wie Guatemalas Präsident Alejandro Giammattei in einem Interview bestätigte. “Die Chinesen setzen uns sehr unter Druck, sie bieten uns viel an. Sie haben [Impfstoffe] angeboten, aber wir haben sie nicht angenommen”, sagte Giammattei der Financial Times. Die Loyalität Guatemalas gegenüber Taiwan sei eine “Prinzipienfrage”, fügte der Präsident hinzu. Taipeh sei der “einzig wahre Verbündete” seines Landes. Zu Beginn der Corona-Pandemie habe das Land die erste Lieferung von Schutzkleidung und Schutzmasken aus Taiwan erhalten, so Giammattei.

                                    Peking hat in Lateinamerika in den vergangenen Jahren massiv Lobbyarbeit betrieben. So ist es in den vergangenen Jahre gelungen, El Salvador, Panama und die Dominikanische Republik davon zu überzeugen, sich von Taiwan abzuwenden. Die designierte Präsidentin von Honduras, Xiomara Castro, versprach in ihrem Wahlprogramm, die Beziehungen zu Taipeh zugunsten einer Partnerschaft mit Peking aufzugeben. ari

                                    Mehr zum Thema:

                                      • Corona-Impfstoffe
                                      • Geopolitik
                                      • Honduras
                                      • Impfstoff-Diplomatie
                                      • Nicaragua
                                      • Taiwan

                                      TSMC erwägt Fabrik in Deutschland

                                      Der weltweit führende Chiphersteller Taiwan Semiconductor Manufacturing (TSMC) soll laut Medienberichten den Bau eines Werks in Deutschland erwägen. Erstmals hatte sich TSMC-Konzernchef Mark Liu im Juli bei einer Hauptversammlung in Taipeh offiziell dazu geäußert, dass TSMC über einen Produktionsstandort in Deutschland nachdenkt (China.Table berichtete).

                                      Faktoren wie Subventionen, Kundennachfrage sowie das nötige Personal beeinflussen die endgültige Entscheidung für einen Standort in Deutschland, so Lora Ho, Senior Vice President of Europe und Asia Sales bei TSMC am Rande eines Technologieforums in Taipeh. TSMC befinde sich in frühen Gesprächen mit der deutschen Regierung über die mögliche Errichtung eines Werks in Deutschland, erfuhr die Nachrichtenagentur Bloomberg. Der weltweit größte Auftragschiphersteller produziert bisher vor allem in Taiwan, hat aber im vergangenen Jahr erste Schritte unternommen, um im Ausland zu expandieren und dadurch seine Kapazitäten zu erhöhen. Vor dem Hintergrund der weltweiten Lieferkettenprobleme und des damit verbundenen Mangels an Computerchips will TSMC damit die Nachfrage aus Ländern decken, die daran arbeiten, die heimische Halbleiterproduktion auszubauen.

                                      So will die EU in der ersten Hälfte des kommenden Jahres schon ein europäisches Chipgesetz vorstellen. Das Papier soll auch eine Strategie umreißen, um die Halbleiterproduktion in der EU anzukurbeln. So ist eines der Ziele bis 2030, etwa 20 Prozent der weltweiten Halbleiterproduktion auszumachen. In den USA baut TSMC derzeit eine zwölf Milliarden US-Dollar teure Anlage in Arizona. In Japan will es sieben Milliarden US-Dollar investieren. niw

                                      Mehr zum Thema:

                                        • Chips
                                        • Halbleiter
                                        • Handel
                                        • Technologie
                                        • TSMC

                                        Unternehmen müssen Emissionsdaten offenlegen

                                        Einige in China tätige Unternehmen müssen demnächst die von ihnen verursachten CO2-Emissionen offenlegen. Das chinesische Umweltministerium hat jüngst eine “Verwaltungsmaßnahme” genehmigt, die Unternehmen zur Offenlegung von Umweltinformationen verpflichtet. Einige Unternehmen müssen demnach die gesamten CO2-Emissionen für das laufende und das vorangegangene Jahr sowie die jährlichen Emissionen aller Treibhausgase öffentlich bekannt geben, wie die Beratungsagentur Trivium China bestätigt.

                                        Die Maßnahme zielt jedoch nur auf Unternehmen, die:

                                        • vom Umweltministerium als “große Emittenten” von Treibhausgasen definiert werden. Bisher wurden Unternehmen unter diese Kategorie gefasst, die einen hohen Ausstoß von Schwefeldioxid, Stickoxiden, Ruß (Partikel/Staub) und flüchtigen organischen Verbindungen verursachen. Es ist davon auszugehen, dass demnächst auch Firmen als “große Emittenten” erfasst werden, die viel CO2 verursachen,
                                        • obligatorischen Audits für saubere Produktion unterliegen,
                                        • börsennotierte oder schuldenemittierende Unternehmen, die in der Vergangenheit für Umweltverstöße strafrechtlich verantwortlich gemacht oder mit erheblichen Verwaltungsstrafen belegt wurden,
                                        • andere Unternehmen und Einrichtungen gemäß anderen Gesetzen und Vorschriften.

                                        Es müssen also nicht alle Unternehmen und auch nicht alle börsennotierten Unternehmen Informationen über ihre Emissionen offenlegen. Ursprünglich hatte die chinesische Wertpapieraufsichtsbehörde geplant, dass alle in China börsennotierten Unternehmen bis 2020 Umweltinformationen offenlegen müssen (China.Table berichtete). Es wird spekuliert, dass der Corona-Ausbruch die Verschiebung verursacht hat.

                                        Trotz dieser Einschränkungen ist die Maßnahme ein wichtiger Schritt, so Trivium China. In der Vergangenheit haben nur wenige chinesische Unternehmen freiwillig Daten zu den von ihnen verursachten CO2-Emissionen offengelegt. Die Gesetze sahen das bisher nicht vor. Die chinesischen Transparenz-Standards lagen bisher weit hinter internationalen Standards zurück. “Obligatorische Offenlegungspflichten für Kohlenstoffemissionen werden es sowohl den Regulierungsbehörden als auch den Anlegern erleichtern, festzustellen, wie Unternehmen zu Kohlenstoffemissionen beitragen“, so die Einschätzung der Experten von Trivium China. Diese Transparenz ist eine wichtige Grundbedingung, damit Investoren mit “Klima-Gewissen” die Bemühungen zum Klimaschutz von Unternehmen einschätzen können. nib

                                        Mehr zum Thema:

                                          • Emissionen
                                          • Energie
                                          • Klima

                                          Portrait

                                          Alice Schmatzberger – Gründerin von ChinaCultureDesk

                                          Alice Schmatzberger von ChinaCultureDesk wünscht sich eine differenziertere Auseinandersetzung mit China.
                                          Alice Schmatzberger von ChinaCultureDesk wünscht sich eine differenziertere Auseinandersetzung mit China

                                          “China – Chance oder Gefahr?”, “Der gelbe Riese” oder “Der rote Drache” – bei solchen Schlagzeilen kann Alice Schmatzberger nur die Augen verdrehen. China sei mehr als Gut oder Böse. Das Zwischendrin und die Tiefe des Landes vermisse sie in der Auseinandersetzung oft. Aus diesem Grund hat die Österreicherin 2013 den ChinaCultureDesk mitgegründet – eine Plattform, die sich für die interkulturelle Kommunikation zwischen China und Österreich einsetzt. Gemeinsam mit ihren Kolleg:innen möchte Schmatzberger vielfältigere China-Bilder zeigen. Dafür halten sie Vorträge, moderieren Podiumsdiskussion, recherchieren zu neuen Entwicklungen im Land und schreiben Bücher. Gerade erst erschien Schmatzbergers Buch “Mehr als Mozart & Mao! Alltagsgeschichten aus Österreich und China”. Darin blickt sie mit ihren Gesprächspartner:innen auf 50 Jahre diplomatische Beziehung zwischen Österreich und der Volksrepublik zurück.

                                          Zu ihrer China-Leidenschaft fand Schmatzberger über Umwege. “Mein erstes berufliches Leben war in den Naturwissenschaften”, sagt die 56-Jährige. Anfang der 1990er-Jahre beendete sie ihr erstes Studium in Biochemie an der Universität Wien und arbeitete danach viele Jahre als Expertin in der Politikberatung und Wissenschaftskommunikation. Im Jahr 2003 begann sie – inspiriert von der italienischen Renaissance – ein zweites Studium in Kunstgeschichte. “Durch ein Modul zu außereuropäischer Kunst bin ich dann über China gestolpert”, erzählt sie und so auch in ihr zweites berufliches Leben. Jetzt seien es noch drei Schwerpunkte, zu denen sie arbeite: Kunst, Essen und China. Wobei sie bei letzterem vor allem Umweltthemen, zeitgenössische Kunst und Wissenschaftsphilosophie interessieren.

                                          Das Land zieht sich auf sich selbst zurück

                                          Im Olympiajahr 2008 reiste sie das erste Mal in das Land – das sie zum Staunen brachte. “Man liest so viel über das alte China, dann landet man im modernen Shanghai.” Schon am zweiten Tag sei ihr klar gewesen, dass sie wiederkommen werde. Mittlerweile sammeln sich auf ihrem Computer zwölf Ordner mit mehr als 2.000 Fotos von sämtlichen Besuchen.

                                          Fragt man Schmatzberger, wie sich China in den vergangenen Jahren verändert habe, kommt ihr sofort eine Beobachtung in den Sinn: Bei jedem Besuch habe sie massenweise Bücher über chinesische Kunst gekauft. Dann sei ihr aufgefallen, dass einige Buchhandlungen plötzlich nicht mehr da waren, oder dass das Angebot sich stark verändert hatte. Das erste Mal bewusst geworden sei ihr das vor etwa sechs Jahren. Ein Blick auf die Geschichte des Landes erkläre möglicherweise, warum: “Es gibt immer eine Wellenbewegung zwischen engen und freien Zeiten. Unter Xi Jinping ist alles definitiv enger.”

                                          Dass China sich mehr auf sich fokussiere, wirke sich auch auf die Beziehungen zu Österreich aus. Diese seien komplizierter geworden. Auf beiden Seiten gebe es weniger Offenheit als vor 50 Jahren, als die diplomatischen Beziehungen aufgenommen wurden. Das zeige sich auch in ihrem neuen Buch. Mit Menschen beider Länder aus Kunst, Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien sprach Schmatzberger über die Erfahrungen im jeweils anderen Land. Was sie dabei lernte? Die meisten Geschichten seien heute so nicht mehr möglich. Es habe sie berührt, mit welchem Mut die Menschen die jeweils andere Kultur erkundeten, so Schmatzberger. Reisende und Studierende, die nach ein paar Monaten Aufenthalt unverhofft hängen blieben, bei den heutigen Visabestimmungen sei das fast unvorstellbar – und zwar auf beiden Seiten. Lisa Winter

                                          Lesen Sie jetzt auch:

                                            • Gesellschaft
                                            • Kunst
                                            • Österreich
                                            • Wissenschaft

                                            China.Table Redaktion

                                            CHINA.TABLE REDAKTION

                                            Licenses:

                                              Jetzt kostenlos anmelden und sofort weiterlesen

                                              Keine Bankdaten. Keine automatische Verlängerung.

                                              Sie haben bereits das Table.Briefing Abonnement?

                                              Anmelden und weiterlesen