Von Oliver Günther
Als der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Herbst letzten Jahres die Notwendigkeit in Zweifel zog, dass Schülerinnen und Schüler fürs Abitur künftig noch eine zweite Fremdsprache lernen müssen, regte sich umgehend Widerstand. Lehrerverbände und Bildungsgewerkschaften, Gymnasiallehrer und Hochschullehreinnen – alle waren sich ausnahmsweise einmal ganz schnell einig.
Die allgemeine Befürchtung: Mit dem Wegfall der zweiten Fremdsprache würden die Grundfesten unserer humanistischen Bildung erschüttert. Und nebenbei wurden auch Ängste laut, dass womöglich Kürzungen bei den einschlägigen Professuren und den Stellen für Lehrerinnen und Lehrer drohen. Darum geht es aber doch gar nicht. Worum es geht, hat in der Tat mit humanistischer Bildung zu tun: Nämlich darum, wie diese sinnvollerweise ausgestaltet werden soll – und was wir den jungen Menschen in Schule und Hochschule mitgeben – wenn es mit der KI weiterhin so rasant weitergeht.
Die bemerkenswerten Fortschritte der KI sind uns allen bekannt. Es kann kein ernsthafter Zweifel daran bestehen, dass die Stimme-zu-Stimme-Übersetzung in Echtzeit und in sehr hoher Qualität in höchstens zehn Jahren flächendeckend und kostengünstig im Sinne einer „Commodity“ zur Verfügung stehen wird. Das ist der von Ministerpräsident Kretschmann und auch von mir kürzlich im Deutschlandfunk beschriebene „Knopf im Ohr“ (oder im Brillengestell).
Wegfall der Plattformsprachen. Dies wird mit großer Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass viele Gespräche zwischen Personen mit unterschiedlichen Muttersprachen nicht mehr wie bisher in einer nur von einem oder keinem der Gesprächspartner muttersprachlich beherrschten Plattformsprache (zum Beispiel in Englisch) geführt wird, sondern indem jede ihre Muttersprache spricht und die KI die Äußerungen in die Zielsprache – also im Regelfall die Muttersprache des Gesprächspartners – übersetzen wird.
Unter Maßgabe dieses Szenarios sinkt die Motivation für das Erlernen einer fremden Sprache signifikant. Denn warum sollte man selbst in einer fremden Sprache sprechen, wenn die KI-Übersetzung der eigenen muttersprachlichen Äußerungen viel besser, viel stilsicherer und für den Gesprächspartner viel besser verständlich ausfällt? Diese Entwicklungen werden wahrscheinlich auch dazu führen, dass das Englische seine Funktion als Universalsprache langfristig einbüßen wird. Als Kommunikationswerkzeug wird die Fremdsprache ja nicht mehr gebraucht, es sei denn, man möchte durch die Verwendung der Fremdsprache seinen Respekt und seine Verbundenheit mit dem Sprach- und Kulturkreis des Gesprächspartners zum Ausdruck bringen.
Ebenso wird dies dazu führen, dass sich der Arbeitsmarkt stark internationalisieren wird. Man kann am Arbeitsplatz einfach seine eigene Sprache sprechen, was zum Beispiel heißt, dass unsere Hochschulabsolventen nicht unbedingt sehr gut Deutsch sprechen müssen, um eine Stelle zu finden. Umso wichtiger ist freilich die Frage der kulturellen Kompetenz.
Vor diesem Hintergrund muss jetzt über die Zukunft des Fremdsprachenunterrichts an unseren Schulen diskutiert werden. Denn das Ziel des Sprachunterrichts ist dann ein anderes. Es geht weniger denn je um ein mechanistisches Sprachverständnis, das den Überbringern der KI-Nachricht gelegentlich unterstellt wird. Vielmehr geht es um das Erlernen einer anderen Kultur mit anderen Begrifflichkeiten, Empfindlichkeiten und Wertesystemen. Dieses Erlernen zumindest eines anderen Kultur- und Sprachraumes gehört nach meinem Verständnis zum absolut notwendigen Bildungskanon eines jeden Menschen. Dies erfordert aber nicht unbedingt den Fremdsprachenunterricht, wie er heute an Schulen weltweit gepflegt wird. Passender wäre hier vielleicht ein Unterricht, der eben gerade auf die kulturellen Aspekte des „fremden“ Raumes abhebt.
So wie der Lateinunterricht seit vielen Jahren praktiziert wird: Auch da geht es ja nicht um Echtzeitkommunikation, sondern es geht um ein Verständnis der lateinischen Grammatik und der Kultur der „alten Römer“. Nun würde ich nicht so weit gehen wollen, die komplette Substitution des Unterrichts in Englisch, Französisch, Spanisch und weiteren Sprachen durch ein großes Latinum zu fordern. Aber ein „weiter so“ kann doch auch nicht die Antwort auf die beschriebenen Herausforderungen sein.
Ich selbst bin einsprachig aufgewachsen. In der Schule habe ich das große Latinum erworben, ganz passabel Englisch gelernt und in einer Französisch-AG Grundzüge dieser Sprache erworben. Später hatte ich das Glück, in drei fremde Kulturkreise vertieft eintauchen zu dürfen. Ich habe in den USA studiert und insgesamt über sechs Jahre dort gelebt, und ich pflege sehr enge persönliche Beziehungen nach Indien und nach Frankreich. Diese interkulturellen Erfahrungen haben mein Leben ganz wesentlich und positiv geprägt. Aber dafür braucht es nicht den schulischen Fremdsprachenunterricht in der bisherigen Form. Was man stattdessen anbietet, ist eine andere Frage. Um nicht mehr und nicht weniger geht es.
Oliver Günther studierte Wirtschaftsingenieurwesen, Mathematik und Informatik in Karlsruhe und Berkeley, wo er 1987 in Computer Science promovierte. Nach Stationen in den USA und Deutschland war er von 1993 bis 2011 Professor für Wirtschaftsinformatik an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist seit 2012 Präsident der Universität Potsdam.