Europa erwacht aus dem Sommerschlaf: In Brüssel nehmen die EU-Institutionen diese Woche wieder ihre Arbeit auf und auch in anderen europäischen Hauptstädten stehen wichtige Termine an.
In Prag hält Bundeskanzler Olaf Scholz heute eine europapolitische Grundsatzrede. Eine Stunde lang wird er im Karolinum, dem historischen Hauptgebäude der Karls-Universität, über die Bedeutung der aus dem russischen Angriffskrieg resultierenden “Zeitenwende” für Europa sprechen. Anschließend trifft er den tschechischen Ministerpräsidenten Petr Fiala, dessen Regierung seit dem 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft innehat.
Am Dienstag und Mittwoch reisen auch die EU-Außenministerinnen nach Prag – für das informelle Gymnich-Treffen, das zweimal im Jahr stattfindet. Es zeichnet sich eine emotionsgeladene Debatte ab, wie Eric Bonse in seiner Analyse schreibt: Die Mitgliedstaaten sind über die Frage eines Visa-Banns gegen russische Staatsbürger gespalten. Ein Kompromiss könnte das Aussetzen des Visa-Abkommens mit Russland sein.
Morgen beginnt zudem die Klausurtagung der Bundesregierung auf Schloss Meseberg. Zu Gast ist der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez. Es dürfte vor allem um die Energieversorgung gehen: Sánchez und Scholz unterstützen den Plan für den Bau der MidCat-Gaspipeline, die Spanien und Portugal mit Mitteleuropa verbinden soll. Frankreich stellt sich bislang jedoch quer.
In Bulgarien will die Anfang August eingesetzte Übergangsregierung wieder mit Russland über Gaslieferungen verhandeln. Inwiefern sich das Land spätestens nach der Parlamentswahl Anfang Oktober Russland wieder annähern könnte, erklärt Hans-Peter Siebenhaar in seiner Analyse.
Ich wünsche Ihnen eine gute Woche!
Die Sommerpause der EU-Außenminister endet, wie sie begonnen hatte: Mit einem Tauziehen um die Ukraine-Politik. Zum Dauerstreit über Waffenlieferungen und Sanktionen gesellt sich nun auch noch ein Konflikt über Einreisebeschränkungen für russische Staatsbürger. Die emotionsgeladene Debatte dürfte das informelle Gymnich-Treffen am Dienstag und Mittwoch in Prag beherrschen.
Estland, Lettland und Finnland sind schon vorgeprescht – sie haben Einreiseverbote angekündigt oder bereits umgesetzt. “Europa zu besuchen ist ein Privileg, kein Menschenrecht”, sagt die estnische Regierungschefin Kaja Kallas. Die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin nennt es “ungerecht”, dass Russen in Europa Urlaub machen können, “während Russland Menschen in der Ukraine tötet”.
Demgegenüber stehen Deutschland, Österreich, Griechenland und Zypern auf der Bremse. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) warnt davor, Russen kollektiv haftbar zu machen. Der Krieg in der Ukraine sei vor allem “Putins Krieg”, so Scholz. Ein genereller Visa-Bann würde auch “ganz Unschuldige” treffen und nicht nur Kriegsbefürworter. Zudem werfe ein solcher Bann rechtliche Probleme auf.
Österreich sorgt sich um Kontakte zur russischen Zivilgesellschaft, die durch einen Einreisestopp erschwert würden. In Griechenland und Zypern überwiegt dagegen die Sorge wirtschaftlicher Nachteile – Russen machten vor dem Krieg rund ein Viertel der Touristen auf Zypern aus. Aktuell ziehen die Urlauber allerdings die Türkei vor, die sich den EU-Sanktionen nicht angeschlossen hat.
Russland hat vor einem generellen Visa-Bann gewarnt. Das sei “Nazi-Politik”, sagte Verteidigungsminister Sergej Schoigu. “Wir beobachten heute noch ein klares Hervortreten einer Nazi-Politik, wenn von den höchsten europäischen Tribünen aktiv die russophobe Idee vorangetrieben wird, allen russischen Bürgern die Einreise in die Länder der EU zu verbieten.”
Nach Angaben des Sprechers der Staatsduma, Wjatscheslaw Wolodin, werde ein Verbot die EU mindestens 21 Milliarden Euro kosten. Allerdings ist unklar, worauf diese Schätzung beruht. Generell fehlt es in der Debatte an belastbaren Daten. So ist nicht einmal klar, wie viele russische Touristen seit Beginn der russischen Invasion in die EU gereist sind.
Nach Angaben der EU-Grenzschutzagentur Frontex waren es vom Tag des Einmarschs am 24. Februar bis zum 22. August genau 998.085 russische Staatsbürger. Allerdings zählt Frontex nicht nur Touristen. Zudem muss man zwischen Visa für den Schengen-Raum und nationalen Einreise-Genehmigungen unterscheiden. Schengen-Visa gelten nur in 22 der 27 EU-Ländern, zudem sind sie auf 90 Tage befristet.
In Deutschland wurde Anträge bisher nur in seltenen Ausnahmefällen abgelehnt. Nach Angaben des Auswärtigen Amts müssen dafür gewichtige Gründe vorliegen – gefälschte Dokumente oder “eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit (…) oder die internationalen Beziehungen eines oder mehrerer Mitgliedstaaten.” Eine pauschale Ablehnung ist bisher nicht vorgesehen.
Ein umfassender Einreisestopp wäre unverhältnismäßig, heißt es in einer aktuellen Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Der EU-Visakodex biete jedoch genügend Ansatzpunkte, um touristische Reisen erheblich einzuschränken. So könnte die EU das bestehende Abkommen zur Visa-Erleichterung mit Russland vollständig suspendieren, meint SWP-Forscher Raphael Bossong.
Zudem könnte ein konvergentes Vorgehen vereinbart werden, was die Vergabe individueller Kurzzeitvisa betrifft. Auch eine enge Auslegung der Reise-Bedingungen gemäß EU-Verordnung 810/2009 könnte zu starken Einschränkungen führen. So ließe sich argumentieren, dass russische Touristen aufgrund geltender Sanktionen keinen Zugang zu hei-mischen Konten oder internationalen Kreditkarten haben.
Damit würde allerdings der bisher vereinbarte Hauptzweck der Sanktionen – die Bestrafung der für den Krieg Verantwortlichen – aufgegeben und der Kreis der Betroffenen massiv ausgeweitet. Bisher gelten Einreisesperren für 1200 russische Entscheidungsträger, vorneweg Putin. Will sich die EU nun mit allen Russen anlegen und eine Kollektivschuld postulieren? Dies ist der heikle Kern der Debatte.
In Prag wird noch keine Entscheidung erwartet, schließlich handelt es sich um ein informelles Treffen. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell erklärte, es sei “keine gute Idee”, Russen unterschiedslos die Einreise zu verwehren. Man müsse “selektiver” vorgehen und auch an die 300.000 Russen denken, die aus Russland geflohen sind, sagte er bei einer Konferenz in der Universität Santander.
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) signalisierte Kompromissbereitschaft. Kanzleramt und Auswärtiges Amt seien sich einig, “dass wir gemeinsam in Europa eine Lösung finden, die die berechtigten Sorgen und Anliegen von allen zueinander bringt”, sagte Baerbock am Freitag. Allerdings dürfte man “nicht 140 Millionen Menschen in Russland für immer aufgeben” und in “Sippenhaft” nehmen.
Bulgarien kämpft um seine politische Stabilität. Das EU-Land wird Anfang Oktober ein neues Parlament wählen – zum vierten Mal seit dem Frühjahr 2021. Im Juni 2022 war die liberal-sozialdemokratische Koalition des Ministerpräsidenten Kiril Petkow nach nur einem halben Jahr zerbrochen. Staatspräsident Rumen Radew setzte daraufhin Anfang August eine Übergangsregierung aus Experten ein (Europe.Table berichtete).
Die prowestliche Regierung unter Petkow stand fest an der Seite der anderen Mitgliedstaaten, die weitreichende Sanktionen gegen Russland wegen des Angriffs auf die Ukraine befürworten. Sie verwies rund siebzig russische Diplomaten des Landes. Sofia weigerte sich auch, der Forderung von Wladimir Putin nachzukommen, russische Gaslieferungen in Rubel zu bezahlen. Gazprom drehte Bulgarien daraufhin im April als einem der ersten EU-Länder den Gashahn ab.
Dieser Moskau-kritische Kurs steht nun infrage. Traditionell besitzt Russland großen Einfluss in dem Land am Schwarzen Meer. Moskau galt als verlässlicher Freund, Bulgarien war überdies von den Lieferungen Gazproms abhängig. Der russische Staatskonzern deckte mehr als 90 Prozent des Gasbedarfs. Ende 2022 läuft der langfristige Vertrag mit Gazprom aus.
Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine änderte sich das Verhältnis radikal. Inzwischen aber haben die prorussischen Kräfte in der bulgarischen Gesellschaft Auftrieb, nicht zuletzt aufgrund der stark gestiegenen Preise für Energie und Lebensmittel. Beobachter rechnen mit einem Stimmenzuwachs für prorussische Parteien bei den Parlamentswahlen im Herbst. Umfragen lassen derzeit ein Kopf-an-Kopf-Rennen erwarten zwischen dem Harvard-Absolventen Petkow mit seiner Partei “Wir setzen den Wandel fort” und seinem Vorgänger Bojko Borissow, dem Chef der rechtskonservativen Partei GERB.
Die Anfang August vom russlandfreundlichen Präsidenten Radew eingesetzte Interimsregierung unter dem früheren Arbeits- und Sozialminister Galeb Donew leitet bereits eine Abkehr vom bisherigen Kurs ein. Sie ist bemüht, die Versorgungssicherheit mit Energie und Lebensmitteln sicherzustellen.
Energieminister Rossen Hristow verkündete jüngst, dazu auch mit Gazprom über die Wiederaufnahme von Gaslieferungen verhandeln zu wollen. “Wenn nötig, werden die Verhandlungen mit Gazprom wieder aufgenommen”, sagte er nach einer Sitzung der bulgarischen Taskforce zur Energiekrise. Der russische Lieferant sei eine “absolut valide Option”.
Hristow reagiert damit auf Ängste in der bulgarischen Gesellschaft vor dem nächsten Winter und erhält dabei auch Unterstützung aus der Wirtschaft: Bulgarische Verbände und Gewerkschaften fordern, mit Moskau mögliche Gaslieferungen zu sondieren, um Schaden von der heimischen Industrie abzuwenden. Der Energieminister beschuldigt die Regierung Petkows, die Beziehungen zu Russland beschädigt zu haben.
Wie lange die Gasreserven in Bulgarien reichen werden, ist umstritten. Derzeit spricht das Land auch mit Aserbaidschan über zusätzliche Gaslieferungen. Derzeit erhält Bulgarien rund eine Milliarde Kubikmeter Gas aus Aserbaidschan. Der Jahresbedarf liegt bei rund drei Milliarden Kubikmeter.
Moskau kündigte bereits an: Aus russischer Sicht brauche es für die Wiederaufnahme der Gaslieferungen keinen neuen Vertrag. Bedingung sei hingegen, dass das Gas in Rubel bezahlt werde, sagte die russische Botschafterin Eleonora Walentinowna Mitrofanowa. Energieminister Hristow erwartet aber keine einfachen und schnellen Ergebnisse: “Die Gespräche werden sehr hart und sehr schwierig sein.”
Auf europäischer Bühne droht Sofia ein Gesichtsverlust, sollte sich Bulgarien auf dieses Zugeständnis gegenüber Moskau einlassen. Das Land würde aus der Solidarität innerhalb der EU ausscheren. Der außenpolitische Schaden wäre eine schwere Belastungsprobe für die neue Regierung.
Zudem droht dem Land eine innenpolitische Zerreißprobe. Seit der Amtsübernahme durch die Experten-Regierung gab es immer wieder Proteste. Am Mittwoch demonstrierten Anhänger der konservativ-liberalen Partei “Demokratisches Bulgarien” vor dem Amtssitz von Präsident Radew gegen Verhandlungen mit Gazprom. Die Demonstranten befürchten, dass Moskau wieder an Einfluss gewinnt und über seine Patronagenetzwerke die Korruption in Bulgarien befeuert.
Die beiden Balkan-Nachbarn Serbien und Kosovo haben ihren Streit um Einreiseregelungen nach Angaben des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell kurz vor Ende einer neuen Frist beigelegt. “Wir haben einen Deal”, berichtete Borrell am Samstag im Kurznachrichtendienst Twitter und sprach lobend von einer “europäischen Lösung”. Serbien habe zugestimmt, Inhaber von Ausweispapieren des Kosovos künftig ohne weitere Dokumente einreisen zu lassen. Im Gegenzug habe das Kosovo den Plan fallengelassen, die Einreise von serbischen Staatsbürgern zu erschweren. Offen bleibe allerdings immer noch der Streit um die gegenseitige Anerkennung von KFZ-Kennzeichen, fügte Borrell hinzu.
Die EU versucht schon seit Jahren, zur Klärung des spannungsgeladenen Verhältnisses beider Länder beizutragen. Das heute fast ausschließlich von Albanern bewohnte Kosovo hatte sich 1999 mit Nato-Hilfe von Serbien abgespalten und 2008 für unabhängig erklärt. Mehr als 100 Länder, darunter Deutschland, erkannten die Unabhängigkeit des Kosovos an. Andere – darunter auch Russland, China und fünf EU-Länder – haben das bis heute nicht getan.
Regierungspolitiker aus Serbien und Kosovo reagierten auf die nun getroffene Einigung zurückhaltend. Kosovos Ministerpräsident Albin Kurti würdigte bei Facebook die Arbeit der Vermittler der EU und der USA und betonte die Notwendigkeit der Gleichberechtigung und Gegenseitigkeit zwischen Nachbarstaaten.
Serbiens Ministerpräsidentin Ana Brnabić betonte, dass aus dem Kosovo weiterhin Gewalt drohe, zumal es keine Einigung über den Umgang mit KFZ-Kennzeichen gebe. Serbien müsse seine Polizeikapazitäten bereithalten. Deswegen müsse man auch die für den 17. September in Belgrad geplante Europride absagen. Auf Serbien komme eine “höllische Zeit” zu, sagte Brnabić. Serbiens Regierungsbeauftragter für das Kosovo, Petar Petković, betonte, dass die Reiseerleichterungen für Kosovaren nicht als Anerkennung der Unabhängigkeit Kosovos durch Serbien ausgelegt werden dürften. Keine Reaktion kam zunächst von Serbiens Präsident Aleksandar Vučić.
Borrell dankte insbesondere Vučić für sein Einlenken. Serbiens Staatschef habe “Verantwortungsbewusstsein und Führungskraft gezeigt”, sagte Borrell in einer Video-Ansprache, die auf Twitter veröffentlicht wurde. Zudem würdigte der EU-Politiker auch den Beitrag der Vermittler aus den USA. Beteiligt an den wochenlangen Gesprächen war der US-Balkanbeauftragte und Vize-Außenminister Gabriel Escobar. Hinsichtlich der weiterhin fehlenden gegenseitigen Anerkennung von KFZ-Kennzeichen rief Borrell beide Seiten zu “Pragmatismus und Konstruktivität” auf.
Die umstrittenen Einreiseregeln für Serben ins Kosovo sollten am Donnerstag in Kraft treten, dem 1. September. Ursprünglich hätten sie bereits seit dem 1. August gelten sollen. Ziel der kosovarischen Regierung war es, Serben beim Grenzübertritt ebenso zu behandeln, wie Serbien seit Jahren mit Kosovaren verfuhr. Serbien weigert sich seit fast anderthalb Jahrzehnten, die Unabhängigkeitserklärung seiner einstigen Provinz Kosovo anzuerkennen.
Auf Druck der USA und der EU wurden die kosovarischen Pläne aber um einen Monat verschoben, nachdem serbische Nationalisten an den Grenzübergängen Barrikaden errichtet hatten. Dabei waren auch Schüsse auf kosovarische Polizisten gefallen. Verletzt wurde dabei niemand. Wegen befürchteter neuer Unruhen hat die im Kosovo stationierte internationale Friedenstruppe KFOR zuletzt ihre Präsenz an der Grenze zu Serbien verstärkt.
Bereits am Vortag hatte Vučić die Europride abgesagt und dies mit dem Streit mit Kosovo begründet. Zuvor hatten rechtsradikale Organisationen sowie Vertreter der Serbisch-Orthodoxen Kirche Stimmung gegen die Veranstaltung gemacht. Die Europride wird seit 1992 abwechselnd in verschiedenen europäischen Hauptstädten organisiert, Serbien hätte nun die erste Station in Südosteuropa sein sollen. Von Seiten der Organisatoren hieß es, dass der Umzug dennoch stattfinden werde, da die Regierung kein Recht dazu habe, diesen zu verbieten. dpa
Die Füllstände der Gasspeicher in Deutschland steigen schneller als erwartet, sodass das 85-Prozent-Ziel für Oktober laut Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck voraussichtlich bereits Anfang September erreicht werden kann. Am vergangenen Donnerstagmorgen lag der Füllstand laut Daten der europäischen Gasspeicher-Betreiber bei 81,78 Prozent, für Freitag war ein weiterer Anstieg auf 82,2 Prozent erwartet worden.
Laut der Ministerverordnung vom 29. Juli, welche die Mindestfüllstände des Gasspeichergesetzes nochmals angehoben hat, müssen die Speicher bis zum 1. Oktober zu 85 Prozent und zum 1. November zu 95 Prozent gefüllt sein. Die Verordnung gibt auch ein Zwischenziel von 75 Prozent vor, das bis zum 1. September erreicht werden soll. Trotz erheblich gedrosselter Liefermengen aus Russland nähert sich der Füllstand nun bereits dem Oktober-Ziel, wie Habeck dem “Spiegel” sagte. Dieses dürfte schon Anfang September erreicht werden, bestätigte eine Sprecherin.
Der Bezug von russischem Gas ist laut Wirtschaftsministerium deutlich gesunken. Im August seien nur neuneinhalb Prozent des Gasverbrauchs über die russischen Pipelines angekommen, bestätigte die Sprecherin. Russland hatte zuletzt angekündigt, Gaslieferungen über die Ostseepipeline Nord Stream 1 Ende August für drei Tage zu unterbrechen. Vom 31. August bis zum 2. September werde wegen Wartungsarbeiten kein Gas nach Deutschland fließen. Danach sollten täglich wieder 33 Millionen Kubikmeter Erdgas geliefert werden. Das entspricht den 20 Prozent der täglichen Maximalleistung, auf die Russland die Lieferung schon vor einigen Wochen verringert hat.
Neue Bezugsquelle solle nun Frankreich werden. Bislang hat Frankreich auch russisches Gas über Deutschland bezogen. Zudem importiert das Land wegen zahlreicher heruntergefahrener Atomkraftwerke große Mengen von Strom aus Deutschland. Dieser stammt überwiegend aus Gaskraftwerken, die extra für den Frankreich-Export laufen. Doch ab Herbst soll dem Ministerium zumindest der Gasstrom nun umkehren. Auch Flüssiggasterminals in Frankreich könnten für den deutschen Einkauf von Gas genutzt werden und die Versorgungslage deutlich entspannen. leo/dpa
Die Europäische Zentralbank (EZB) muss aus Sicht von Notenbank-Direktorin Isabel Schnabel gegen die stark steigende Inflation in der Euro-Zone kraftvoll vorgehen. Sowohl die Wahrscheinlichkeit als auch die Kosten dafür, dass sich die derzeit hohe Teuerungsrate in den Erwartungen festsetzt, seien unangenehm hoch, sagte sie am Samstag auf einem Symposium der US-Notenbank in Jackson Hole in Wyoming. “In diesem Umfeld müssen die Zentralbanken kraftvoll handeln”, sagte die deutsche Ökonomin. Sie müssten entschlossen gegen die Gefahr angehen, dass Menschen beginnen, an der langfristigen Stabilität ihrer Währungen zu zweifeln.
“Je länger die Inflation hoch bleibt, desto größer ist das Risiko, dass die Öffentlichkeit das Vertrauen in unsere Entschlossenheit und Fähigkeit verliert, Kaufkraft zu bewahren”, sagte Schnabel. Wenn eine Zentralbank die Hartnäckigkeit der Inflation unterschätze – dies haben Schnabel zufolge die meisten Notenbanken in den vergangenen anderthalb Jahren getan – und ihre Geldpolitik nur langsam verändere, seien die Folgekosten womöglich beträchtlich, warnte sie.
Die EZB hatte auf ihrer Zinssitzung im Juli die Zinswende eingeleitet und dabei die Schlüsselsätze anders als vorher in Aussicht gestellt um kräftige 0,50 Prozentpunkte angehoben. Es war die erste Zinserhöhung seit elf Jahren. Der Leitzins liegt damit inzwischen bei 0,50 Prozent.
Der österreichische Ökonom Robert Holzmann, Ratsmitglied der EZB, forderte bei dem Treffen in Jackson Hole eine weitere deutliche Straffung der Geldpolitik. Ein Zinsschritt um 0,5 Prozentpunkte sei aus seiner Sicht das Minimum, sagte er der Nachrichtenagentur Bloomberg. Doch auch eine Anhebung um 0,75 Prozentpunkte solle bei der nächsten EZB-Ratssitzung im September diskutiert werden, erklärte er.
EZB-Direktorin Isabel Schnabel warnte auch vor der Gefahr, dass sich die Wahrnehmung festsetzt, bei der Notenbank hätte inzwischen eine größere Toleranz gegenüber hohen Inflationsraten Einzug gehalten. In diesem Fall wäre ein vorsichtiger Ansatz in der Geldpolitik nicht länger angemessen, erklärte sie. “Um Vertrauen zurückzugewinnen und zu bewahren, müssen wir die Inflation schnell wieder zum Zielwert bringen.”
Die Inflation im Euro-Raum war im Juli auf einen neuen Rekordwert von 8,9 Prozent gestiegen. Damit liegt die Teuerung inzwischen mehr als vier Mal so hoch wie das Ziel der Euro-Notenbank, die mittelfristig eine Rate von zwei Prozent anstrebt. Verbraucher waren zuletzt hinsichtlich der weiteren Inflationsentwicklung eher pessimistisch. In einer Umfrage der EZB vom Juni waren Konsumenten davon ausgegangen, dass die Inflation auch in zwölf Monaten immer noch bei 5,0 Prozent liegen wird. leo/rtr/dpa
Die Verbraucherzentralen haben vor einer möglichen Verteuerung von Streamingdiensten und anderen Online-Inhalten gewarnt. Hintergrund sind Pläne der EU-Kommission für eine Beteiligung der Marktteilnehmer an den Kosten für die digitale Infrastruktur.
“Uns hat überrascht, dass die EU-Kommission angekündigt hat, das Thema aufgreifen zu wollen”, sagte die Chefin des Bundesverbands (vzbv), Ramona Pop, der Deutschen Presse-Agentur. Sie erinnerte daran, dass es schon ein älterer Vorschlag der Telekommunikationsanbieter sei, eine Art Internet-Maut zu verlangen. “Zusätzlich zu den Kosten, die man ja hat als Endverbraucher und -verbraucherin hat, sollen jetzt auch die Inhalte-Anbieter, wie etwa Netflix und Amazon, zahlen”, sagte Pop. “Das stellt die Netzneutralität komplett in Frage und es würde auch Angebote sicherlich teurer machen.” Manche Angebote würden ihrer Einschätzung nach ganz vom Markt verschwinden, weil sie sich nicht mehr halten könnten.
Die EU-Kommission hatte konkrete Pläne für eine Beteiligung sämtlicher Marktteilnehmer an den Infrastrukturkosten für Netze angekündigt. Pop sagte: “Wir erwarten, dass die EU-Kommission zügig auch eine öffentliche Anhörung macht, damit man vorab in die Diskussion mit allen Beteiligten gehen kann.” Vorliegende Vorschläge lehnte Pop als womöglich wettbewerbsschädigend ab. dpa
Laut einem Vorabbericht der Zeitung “Welt am Sonntag” hat die Bundesregierung eine Holding gegründet, um die Verstaatlichung der deutschen Tochtergesellschaft des russischen Staatskonzerns Gazprom kurzfristig durchführen zu können. Die ehemalige Gazprom Germania, die inzwischen in Securing Energy for Europe GmbH (SEFE) umbenannt wurde, steht bislang unter Treuhänderschaft der Bundesnetzagentur.
Dem Vorabbericht zufolge sei im Juni eine bestehende Vorratsgesellschaft in “Securing Energy for Europe Holding GmbH SEEHG” umbenannt worden. Sie sei für Investitionen zuständig und solle die Versorgungssicherheit im Bereich Energie sichern, zitiert das Blatt aus dem ihm vorliegenden Gesellschaftervertrag. Weiter heißt es in dem Vorabbericht, zwei Anwälte der Kanzlei CMS Hasche Sigle seien die Geschäftsführer. CMS Hasche Sigle lehnte eine Stellungnahme zu dem Bericht unter Verweis auf Vertraulichkeitsverpflichtungen ab. Das deutsche Wirtschaftsministerium erklärte, dass ihm die Holding bekannt sei und dass ihre Gründung eine Vorsichtsmaßnahme für etwaige Umstrukturierungsmaßnahmen sei. rtr
2020 war ein bedeutendes Jahr für Katherina Reiche. Sie trat nicht nur ihren Posten als Vorstandsvorsitzende bei dem Essener Energiedienstleister und Infrastrukturanbieter Westenergie an. Auch die 25 Mitglieder des von der Bundesregierung neu einberufenen Nationalen Wasserstoffrates wählten sie an erste Stelle.
Ein hohes Arbeitspensum für Reiche (49), aber die Diplomchemikerin bringt viel Erfahrung mit Netzen, dem Vernetzen und Führen mit. Von 1998 bis 2015 war Reiche für die CDU in der Bundespolitik tätig, unter anderem als Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, anschließend im Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur.
Nicht unumstritten war 2015 dann ihr nahtloser Wechsel aus der Politik in die Wirtschaft, genauer: in den Vorstand des Verbands kommunaler Unternehmen, nur kurz bevor die Karenzzeit für Politiker beschlossen wurde. Bei Westenergie ist Reiche nun zuständig für ein lückenlos funktionierendes Strom-, Gas-, Wasser- und Breitbandnetz bis in den hintersten Winkel von Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Niedersachsen.
Vor allem die 174.000 Kilometer Stromnetz stehen unter besonderer Beobachtung, denn an ihm hängen nicht nur die Abnehmer, sondern auch Solar-, Windkraft- und Biomasseanlagen, die Strom einspeisen. Und nicht nur Energienetze webt Reiche. In der von ihr gegründeten Fempower Akademie bereitet Reiche, selbst Mutter von drei Kindern, Frauen im Unternehmen auf Führungspositionen vor und bietet ihnen Möglichkeiten der Vernetzung.
Reiche hat in ihrer Arbeit allerhand Krisenerfahrung: die Corona-Pandemie, die Flut im Ahrtal, der Ukraine-Krieg und die daraus resultierende Gaskrise. Dazu die unterbrochenen oder eingeschränkten Lieferketten und die Spannungen zwischen dem Westen und China. All das erschwert den dringend notwendigen Auf- und Ausbau resilienter Netze. Denn um Netze widerstandsfähiger zu machen, müssen sie digitale Komponenten erhalten.
“Wenn, wie im Ahrtal, die komplette Infrastruktur ausfällt – Strom, Wasser, Gas, Telekommunikation, Internet, Kühlketten, Tankstellen, einfach alles – dann muss ich an einem irgendeinem Punkt anfangen, alles wieder aufzubauen”, erklärt Reiche. “Dazu verbauen wir etwa die 450-Megahertz-Funktechnik, mit der wir maschinelle Daten schnell und über lange Distanzen hinweg übertragen können. So können wir beispielsweise ein Kraftwerk von außen wieder hochfahren.”
Bereits die vergangene Bundesregierung hat dazu in ihrer Strategie festgelegt, dass Deutschland sich dabei unabhängig von China machen muss, erklärt Reiche. Die eingesetzte Technologie werde nun nicht mehr nur unter dem preislichen Aspekt beleuchtet, sondern auch unter den Aspekten der Cybersicherheit, Spionage und Resilienz gegen potenzielle Angriffe, und, wo es geht, werden Komponenten aus Europa gewählt.
Um aber überhaupt erst einmal ein Bild der Lage zu erhalten, braucht es mehr digitale Netzkomponenten, sogenannte digitale Ortsnetzstationen, um per Leitwarte das Netz überwachen zu können. Besser noch: Smart Meter in jedem Haushalt, um präzise feststellen zu können, wo genau die Infrastruktur beschädigt oder ganz verschwunden ist. Hier wünscht sich Reiche mehr Tempo und Konsequenz von der Bundesregierung.
Tempo macht die Regierung aber beim Thema Wasserstoff. Der Nationale Wasserstoffrat, dem Reiche vorsteht, beschäftigt sich seit 2020 intensiv damit, wie Wasserstoff in ausreichenden Mengen beschafft und an die notwendigen Stellen verteilt werden kann. Die Eon-Tochter Westenergie testet hier in mehreren Projekten, wie zukünftig ganze Städte mit Wasserstoff statt Erdgas klimaneutral versorgt werden können, um die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus dem Ausland zu reduzieren. Lisa-Martina Klein
Europa erwacht aus dem Sommerschlaf: In Brüssel nehmen die EU-Institutionen diese Woche wieder ihre Arbeit auf und auch in anderen europäischen Hauptstädten stehen wichtige Termine an.
In Prag hält Bundeskanzler Olaf Scholz heute eine europapolitische Grundsatzrede. Eine Stunde lang wird er im Karolinum, dem historischen Hauptgebäude der Karls-Universität, über die Bedeutung der aus dem russischen Angriffskrieg resultierenden “Zeitenwende” für Europa sprechen. Anschließend trifft er den tschechischen Ministerpräsidenten Petr Fiala, dessen Regierung seit dem 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft innehat.
Am Dienstag und Mittwoch reisen auch die EU-Außenministerinnen nach Prag – für das informelle Gymnich-Treffen, das zweimal im Jahr stattfindet. Es zeichnet sich eine emotionsgeladene Debatte ab, wie Eric Bonse in seiner Analyse schreibt: Die Mitgliedstaaten sind über die Frage eines Visa-Banns gegen russische Staatsbürger gespalten. Ein Kompromiss könnte das Aussetzen des Visa-Abkommens mit Russland sein.
Morgen beginnt zudem die Klausurtagung der Bundesregierung auf Schloss Meseberg. Zu Gast ist der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez. Es dürfte vor allem um die Energieversorgung gehen: Sánchez und Scholz unterstützen den Plan für den Bau der MidCat-Gaspipeline, die Spanien und Portugal mit Mitteleuropa verbinden soll. Frankreich stellt sich bislang jedoch quer.
In Bulgarien will die Anfang August eingesetzte Übergangsregierung wieder mit Russland über Gaslieferungen verhandeln. Inwiefern sich das Land spätestens nach der Parlamentswahl Anfang Oktober Russland wieder annähern könnte, erklärt Hans-Peter Siebenhaar in seiner Analyse.
Ich wünsche Ihnen eine gute Woche!
Die Sommerpause der EU-Außenminister endet, wie sie begonnen hatte: Mit einem Tauziehen um die Ukraine-Politik. Zum Dauerstreit über Waffenlieferungen und Sanktionen gesellt sich nun auch noch ein Konflikt über Einreisebeschränkungen für russische Staatsbürger. Die emotionsgeladene Debatte dürfte das informelle Gymnich-Treffen am Dienstag und Mittwoch in Prag beherrschen.
Estland, Lettland und Finnland sind schon vorgeprescht – sie haben Einreiseverbote angekündigt oder bereits umgesetzt. “Europa zu besuchen ist ein Privileg, kein Menschenrecht”, sagt die estnische Regierungschefin Kaja Kallas. Die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin nennt es “ungerecht”, dass Russen in Europa Urlaub machen können, “während Russland Menschen in der Ukraine tötet”.
Demgegenüber stehen Deutschland, Österreich, Griechenland und Zypern auf der Bremse. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) warnt davor, Russen kollektiv haftbar zu machen. Der Krieg in der Ukraine sei vor allem “Putins Krieg”, so Scholz. Ein genereller Visa-Bann würde auch “ganz Unschuldige” treffen und nicht nur Kriegsbefürworter. Zudem werfe ein solcher Bann rechtliche Probleme auf.
Österreich sorgt sich um Kontakte zur russischen Zivilgesellschaft, die durch einen Einreisestopp erschwert würden. In Griechenland und Zypern überwiegt dagegen die Sorge wirtschaftlicher Nachteile – Russen machten vor dem Krieg rund ein Viertel der Touristen auf Zypern aus. Aktuell ziehen die Urlauber allerdings die Türkei vor, die sich den EU-Sanktionen nicht angeschlossen hat.
Russland hat vor einem generellen Visa-Bann gewarnt. Das sei “Nazi-Politik”, sagte Verteidigungsminister Sergej Schoigu. “Wir beobachten heute noch ein klares Hervortreten einer Nazi-Politik, wenn von den höchsten europäischen Tribünen aktiv die russophobe Idee vorangetrieben wird, allen russischen Bürgern die Einreise in die Länder der EU zu verbieten.”
Nach Angaben des Sprechers der Staatsduma, Wjatscheslaw Wolodin, werde ein Verbot die EU mindestens 21 Milliarden Euro kosten. Allerdings ist unklar, worauf diese Schätzung beruht. Generell fehlt es in der Debatte an belastbaren Daten. So ist nicht einmal klar, wie viele russische Touristen seit Beginn der russischen Invasion in die EU gereist sind.
Nach Angaben der EU-Grenzschutzagentur Frontex waren es vom Tag des Einmarschs am 24. Februar bis zum 22. August genau 998.085 russische Staatsbürger. Allerdings zählt Frontex nicht nur Touristen. Zudem muss man zwischen Visa für den Schengen-Raum und nationalen Einreise-Genehmigungen unterscheiden. Schengen-Visa gelten nur in 22 der 27 EU-Ländern, zudem sind sie auf 90 Tage befristet.
In Deutschland wurde Anträge bisher nur in seltenen Ausnahmefällen abgelehnt. Nach Angaben des Auswärtigen Amts müssen dafür gewichtige Gründe vorliegen – gefälschte Dokumente oder “eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit (…) oder die internationalen Beziehungen eines oder mehrerer Mitgliedstaaten.” Eine pauschale Ablehnung ist bisher nicht vorgesehen.
Ein umfassender Einreisestopp wäre unverhältnismäßig, heißt es in einer aktuellen Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Der EU-Visakodex biete jedoch genügend Ansatzpunkte, um touristische Reisen erheblich einzuschränken. So könnte die EU das bestehende Abkommen zur Visa-Erleichterung mit Russland vollständig suspendieren, meint SWP-Forscher Raphael Bossong.
Zudem könnte ein konvergentes Vorgehen vereinbart werden, was die Vergabe individueller Kurzzeitvisa betrifft. Auch eine enge Auslegung der Reise-Bedingungen gemäß EU-Verordnung 810/2009 könnte zu starken Einschränkungen führen. So ließe sich argumentieren, dass russische Touristen aufgrund geltender Sanktionen keinen Zugang zu hei-mischen Konten oder internationalen Kreditkarten haben.
Damit würde allerdings der bisher vereinbarte Hauptzweck der Sanktionen – die Bestrafung der für den Krieg Verantwortlichen – aufgegeben und der Kreis der Betroffenen massiv ausgeweitet. Bisher gelten Einreisesperren für 1200 russische Entscheidungsträger, vorneweg Putin. Will sich die EU nun mit allen Russen anlegen und eine Kollektivschuld postulieren? Dies ist der heikle Kern der Debatte.
In Prag wird noch keine Entscheidung erwartet, schließlich handelt es sich um ein informelles Treffen. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell erklärte, es sei “keine gute Idee”, Russen unterschiedslos die Einreise zu verwehren. Man müsse “selektiver” vorgehen und auch an die 300.000 Russen denken, die aus Russland geflohen sind, sagte er bei einer Konferenz in der Universität Santander.
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) signalisierte Kompromissbereitschaft. Kanzleramt und Auswärtiges Amt seien sich einig, “dass wir gemeinsam in Europa eine Lösung finden, die die berechtigten Sorgen und Anliegen von allen zueinander bringt”, sagte Baerbock am Freitag. Allerdings dürfte man “nicht 140 Millionen Menschen in Russland für immer aufgeben” und in “Sippenhaft” nehmen.
Bulgarien kämpft um seine politische Stabilität. Das EU-Land wird Anfang Oktober ein neues Parlament wählen – zum vierten Mal seit dem Frühjahr 2021. Im Juni 2022 war die liberal-sozialdemokratische Koalition des Ministerpräsidenten Kiril Petkow nach nur einem halben Jahr zerbrochen. Staatspräsident Rumen Radew setzte daraufhin Anfang August eine Übergangsregierung aus Experten ein (Europe.Table berichtete).
Die prowestliche Regierung unter Petkow stand fest an der Seite der anderen Mitgliedstaaten, die weitreichende Sanktionen gegen Russland wegen des Angriffs auf die Ukraine befürworten. Sie verwies rund siebzig russische Diplomaten des Landes. Sofia weigerte sich auch, der Forderung von Wladimir Putin nachzukommen, russische Gaslieferungen in Rubel zu bezahlen. Gazprom drehte Bulgarien daraufhin im April als einem der ersten EU-Länder den Gashahn ab.
Dieser Moskau-kritische Kurs steht nun infrage. Traditionell besitzt Russland großen Einfluss in dem Land am Schwarzen Meer. Moskau galt als verlässlicher Freund, Bulgarien war überdies von den Lieferungen Gazproms abhängig. Der russische Staatskonzern deckte mehr als 90 Prozent des Gasbedarfs. Ende 2022 läuft der langfristige Vertrag mit Gazprom aus.
Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine änderte sich das Verhältnis radikal. Inzwischen aber haben die prorussischen Kräfte in der bulgarischen Gesellschaft Auftrieb, nicht zuletzt aufgrund der stark gestiegenen Preise für Energie und Lebensmittel. Beobachter rechnen mit einem Stimmenzuwachs für prorussische Parteien bei den Parlamentswahlen im Herbst. Umfragen lassen derzeit ein Kopf-an-Kopf-Rennen erwarten zwischen dem Harvard-Absolventen Petkow mit seiner Partei “Wir setzen den Wandel fort” und seinem Vorgänger Bojko Borissow, dem Chef der rechtskonservativen Partei GERB.
Die Anfang August vom russlandfreundlichen Präsidenten Radew eingesetzte Interimsregierung unter dem früheren Arbeits- und Sozialminister Galeb Donew leitet bereits eine Abkehr vom bisherigen Kurs ein. Sie ist bemüht, die Versorgungssicherheit mit Energie und Lebensmitteln sicherzustellen.
Energieminister Rossen Hristow verkündete jüngst, dazu auch mit Gazprom über die Wiederaufnahme von Gaslieferungen verhandeln zu wollen. “Wenn nötig, werden die Verhandlungen mit Gazprom wieder aufgenommen”, sagte er nach einer Sitzung der bulgarischen Taskforce zur Energiekrise. Der russische Lieferant sei eine “absolut valide Option”.
Hristow reagiert damit auf Ängste in der bulgarischen Gesellschaft vor dem nächsten Winter und erhält dabei auch Unterstützung aus der Wirtschaft: Bulgarische Verbände und Gewerkschaften fordern, mit Moskau mögliche Gaslieferungen zu sondieren, um Schaden von der heimischen Industrie abzuwenden. Der Energieminister beschuldigt die Regierung Petkows, die Beziehungen zu Russland beschädigt zu haben.
Wie lange die Gasreserven in Bulgarien reichen werden, ist umstritten. Derzeit spricht das Land auch mit Aserbaidschan über zusätzliche Gaslieferungen. Derzeit erhält Bulgarien rund eine Milliarde Kubikmeter Gas aus Aserbaidschan. Der Jahresbedarf liegt bei rund drei Milliarden Kubikmeter.
Moskau kündigte bereits an: Aus russischer Sicht brauche es für die Wiederaufnahme der Gaslieferungen keinen neuen Vertrag. Bedingung sei hingegen, dass das Gas in Rubel bezahlt werde, sagte die russische Botschafterin Eleonora Walentinowna Mitrofanowa. Energieminister Hristow erwartet aber keine einfachen und schnellen Ergebnisse: “Die Gespräche werden sehr hart und sehr schwierig sein.”
Auf europäischer Bühne droht Sofia ein Gesichtsverlust, sollte sich Bulgarien auf dieses Zugeständnis gegenüber Moskau einlassen. Das Land würde aus der Solidarität innerhalb der EU ausscheren. Der außenpolitische Schaden wäre eine schwere Belastungsprobe für die neue Regierung.
Zudem droht dem Land eine innenpolitische Zerreißprobe. Seit der Amtsübernahme durch die Experten-Regierung gab es immer wieder Proteste. Am Mittwoch demonstrierten Anhänger der konservativ-liberalen Partei “Demokratisches Bulgarien” vor dem Amtssitz von Präsident Radew gegen Verhandlungen mit Gazprom. Die Demonstranten befürchten, dass Moskau wieder an Einfluss gewinnt und über seine Patronagenetzwerke die Korruption in Bulgarien befeuert.
Die beiden Balkan-Nachbarn Serbien und Kosovo haben ihren Streit um Einreiseregelungen nach Angaben des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell kurz vor Ende einer neuen Frist beigelegt. “Wir haben einen Deal”, berichtete Borrell am Samstag im Kurznachrichtendienst Twitter und sprach lobend von einer “europäischen Lösung”. Serbien habe zugestimmt, Inhaber von Ausweispapieren des Kosovos künftig ohne weitere Dokumente einreisen zu lassen. Im Gegenzug habe das Kosovo den Plan fallengelassen, die Einreise von serbischen Staatsbürgern zu erschweren. Offen bleibe allerdings immer noch der Streit um die gegenseitige Anerkennung von KFZ-Kennzeichen, fügte Borrell hinzu.
Die EU versucht schon seit Jahren, zur Klärung des spannungsgeladenen Verhältnisses beider Länder beizutragen. Das heute fast ausschließlich von Albanern bewohnte Kosovo hatte sich 1999 mit Nato-Hilfe von Serbien abgespalten und 2008 für unabhängig erklärt. Mehr als 100 Länder, darunter Deutschland, erkannten die Unabhängigkeit des Kosovos an. Andere – darunter auch Russland, China und fünf EU-Länder – haben das bis heute nicht getan.
Regierungspolitiker aus Serbien und Kosovo reagierten auf die nun getroffene Einigung zurückhaltend. Kosovos Ministerpräsident Albin Kurti würdigte bei Facebook die Arbeit der Vermittler der EU und der USA und betonte die Notwendigkeit der Gleichberechtigung und Gegenseitigkeit zwischen Nachbarstaaten.
Serbiens Ministerpräsidentin Ana Brnabić betonte, dass aus dem Kosovo weiterhin Gewalt drohe, zumal es keine Einigung über den Umgang mit KFZ-Kennzeichen gebe. Serbien müsse seine Polizeikapazitäten bereithalten. Deswegen müsse man auch die für den 17. September in Belgrad geplante Europride absagen. Auf Serbien komme eine “höllische Zeit” zu, sagte Brnabić. Serbiens Regierungsbeauftragter für das Kosovo, Petar Petković, betonte, dass die Reiseerleichterungen für Kosovaren nicht als Anerkennung der Unabhängigkeit Kosovos durch Serbien ausgelegt werden dürften. Keine Reaktion kam zunächst von Serbiens Präsident Aleksandar Vučić.
Borrell dankte insbesondere Vučić für sein Einlenken. Serbiens Staatschef habe “Verantwortungsbewusstsein und Führungskraft gezeigt”, sagte Borrell in einer Video-Ansprache, die auf Twitter veröffentlicht wurde. Zudem würdigte der EU-Politiker auch den Beitrag der Vermittler aus den USA. Beteiligt an den wochenlangen Gesprächen war der US-Balkanbeauftragte und Vize-Außenminister Gabriel Escobar. Hinsichtlich der weiterhin fehlenden gegenseitigen Anerkennung von KFZ-Kennzeichen rief Borrell beide Seiten zu “Pragmatismus und Konstruktivität” auf.
Die umstrittenen Einreiseregeln für Serben ins Kosovo sollten am Donnerstag in Kraft treten, dem 1. September. Ursprünglich hätten sie bereits seit dem 1. August gelten sollen. Ziel der kosovarischen Regierung war es, Serben beim Grenzübertritt ebenso zu behandeln, wie Serbien seit Jahren mit Kosovaren verfuhr. Serbien weigert sich seit fast anderthalb Jahrzehnten, die Unabhängigkeitserklärung seiner einstigen Provinz Kosovo anzuerkennen.
Auf Druck der USA und der EU wurden die kosovarischen Pläne aber um einen Monat verschoben, nachdem serbische Nationalisten an den Grenzübergängen Barrikaden errichtet hatten. Dabei waren auch Schüsse auf kosovarische Polizisten gefallen. Verletzt wurde dabei niemand. Wegen befürchteter neuer Unruhen hat die im Kosovo stationierte internationale Friedenstruppe KFOR zuletzt ihre Präsenz an der Grenze zu Serbien verstärkt.
Bereits am Vortag hatte Vučić die Europride abgesagt und dies mit dem Streit mit Kosovo begründet. Zuvor hatten rechtsradikale Organisationen sowie Vertreter der Serbisch-Orthodoxen Kirche Stimmung gegen die Veranstaltung gemacht. Die Europride wird seit 1992 abwechselnd in verschiedenen europäischen Hauptstädten organisiert, Serbien hätte nun die erste Station in Südosteuropa sein sollen. Von Seiten der Organisatoren hieß es, dass der Umzug dennoch stattfinden werde, da die Regierung kein Recht dazu habe, diesen zu verbieten. dpa
Die Füllstände der Gasspeicher in Deutschland steigen schneller als erwartet, sodass das 85-Prozent-Ziel für Oktober laut Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck voraussichtlich bereits Anfang September erreicht werden kann. Am vergangenen Donnerstagmorgen lag der Füllstand laut Daten der europäischen Gasspeicher-Betreiber bei 81,78 Prozent, für Freitag war ein weiterer Anstieg auf 82,2 Prozent erwartet worden.
Laut der Ministerverordnung vom 29. Juli, welche die Mindestfüllstände des Gasspeichergesetzes nochmals angehoben hat, müssen die Speicher bis zum 1. Oktober zu 85 Prozent und zum 1. November zu 95 Prozent gefüllt sein. Die Verordnung gibt auch ein Zwischenziel von 75 Prozent vor, das bis zum 1. September erreicht werden soll. Trotz erheblich gedrosselter Liefermengen aus Russland nähert sich der Füllstand nun bereits dem Oktober-Ziel, wie Habeck dem “Spiegel” sagte. Dieses dürfte schon Anfang September erreicht werden, bestätigte eine Sprecherin.
Der Bezug von russischem Gas ist laut Wirtschaftsministerium deutlich gesunken. Im August seien nur neuneinhalb Prozent des Gasverbrauchs über die russischen Pipelines angekommen, bestätigte die Sprecherin. Russland hatte zuletzt angekündigt, Gaslieferungen über die Ostseepipeline Nord Stream 1 Ende August für drei Tage zu unterbrechen. Vom 31. August bis zum 2. September werde wegen Wartungsarbeiten kein Gas nach Deutschland fließen. Danach sollten täglich wieder 33 Millionen Kubikmeter Erdgas geliefert werden. Das entspricht den 20 Prozent der täglichen Maximalleistung, auf die Russland die Lieferung schon vor einigen Wochen verringert hat.
Neue Bezugsquelle solle nun Frankreich werden. Bislang hat Frankreich auch russisches Gas über Deutschland bezogen. Zudem importiert das Land wegen zahlreicher heruntergefahrener Atomkraftwerke große Mengen von Strom aus Deutschland. Dieser stammt überwiegend aus Gaskraftwerken, die extra für den Frankreich-Export laufen. Doch ab Herbst soll dem Ministerium zumindest der Gasstrom nun umkehren. Auch Flüssiggasterminals in Frankreich könnten für den deutschen Einkauf von Gas genutzt werden und die Versorgungslage deutlich entspannen. leo/dpa
Die Europäische Zentralbank (EZB) muss aus Sicht von Notenbank-Direktorin Isabel Schnabel gegen die stark steigende Inflation in der Euro-Zone kraftvoll vorgehen. Sowohl die Wahrscheinlichkeit als auch die Kosten dafür, dass sich die derzeit hohe Teuerungsrate in den Erwartungen festsetzt, seien unangenehm hoch, sagte sie am Samstag auf einem Symposium der US-Notenbank in Jackson Hole in Wyoming. “In diesem Umfeld müssen die Zentralbanken kraftvoll handeln”, sagte die deutsche Ökonomin. Sie müssten entschlossen gegen die Gefahr angehen, dass Menschen beginnen, an der langfristigen Stabilität ihrer Währungen zu zweifeln.
“Je länger die Inflation hoch bleibt, desto größer ist das Risiko, dass die Öffentlichkeit das Vertrauen in unsere Entschlossenheit und Fähigkeit verliert, Kaufkraft zu bewahren”, sagte Schnabel. Wenn eine Zentralbank die Hartnäckigkeit der Inflation unterschätze – dies haben Schnabel zufolge die meisten Notenbanken in den vergangenen anderthalb Jahren getan – und ihre Geldpolitik nur langsam verändere, seien die Folgekosten womöglich beträchtlich, warnte sie.
Die EZB hatte auf ihrer Zinssitzung im Juli die Zinswende eingeleitet und dabei die Schlüsselsätze anders als vorher in Aussicht gestellt um kräftige 0,50 Prozentpunkte angehoben. Es war die erste Zinserhöhung seit elf Jahren. Der Leitzins liegt damit inzwischen bei 0,50 Prozent.
Der österreichische Ökonom Robert Holzmann, Ratsmitglied der EZB, forderte bei dem Treffen in Jackson Hole eine weitere deutliche Straffung der Geldpolitik. Ein Zinsschritt um 0,5 Prozentpunkte sei aus seiner Sicht das Minimum, sagte er der Nachrichtenagentur Bloomberg. Doch auch eine Anhebung um 0,75 Prozentpunkte solle bei der nächsten EZB-Ratssitzung im September diskutiert werden, erklärte er.
EZB-Direktorin Isabel Schnabel warnte auch vor der Gefahr, dass sich die Wahrnehmung festsetzt, bei der Notenbank hätte inzwischen eine größere Toleranz gegenüber hohen Inflationsraten Einzug gehalten. In diesem Fall wäre ein vorsichtiger Ansatz in der Geldpolitik nicht länger angemessen, erklärte sie. “Um Vertrauen zurückzugewinnen und zu bewahren, müssen wir die Inflation schnell wieder zum Zielwert bringen.”
Die Inflation im Euro-Raum war im Juli auf einen neuen Rekordwert von 8,9 Prozent gestiegen. Damit liegt die Teuerung inzwischen mehr als vier Mal so hoch wie das Ziel der Euro-Notenbank, die mittelfristig eine Rate von zwei Prozent anstrebt. Verbraucher waren zuletzt hinsichtlich der weiteren Inflationsentwicklung eher pessimistisch. In einer Umfrage der EZB vom Juni waren Konsumenten davon ausgegangen, dass die Inflation auch in zwölf Monaten immer noch bei 5,0 Prozent liegen wird. leo/rtr/dpa
Die Verbraucherzentralen haben vor einer möglichen Verteuerung von Streamingdiensten und anderen Online-Inhalten gewarnt. Hintergrund sind Pläne der EU-Kommission für eine Beteiligung der Marktteilnehmer an den Kosten für die digitale Infrastruktur.
“Uns hat überrascht, dass die EU-Kommission angekündigt hat, das Thema aufgreifen zu wollen”, sagte die Chefin des Bundesverbands (vzbv), Ramona Pop, der Deutschen Presse-Agentur. Sie erinnerte daran, dass es schon ein älterer Vorschlag der Telekommunikationsanbieter sei, eine Art Internet-Maut zu verlangen. “Zusätzlich zu den Kosten, die man ja hat als Endverbraucher und -verbraucherin hat, sollen jetzt auch die Inhalte-Anbieter, wie etwa Netflix und Amazon, zahlen”, sagte Pop. “Das stellt die Netzneutralität komplett in Frage und es würde auch Angebote sicherlich teurer machen.” Manche Angebote würden ihrer Einschätzung nach ganz vom Markt verschwinden, weil sie sich nicht mehr halten könnten.
Die EU-Kommission hatte konkrete Pläne für eine Beteiligung sämtlicher Marktteilnehmer an den Infrastrukturkosten für Netze angekündigt. Pop sagte: “Wir erwarten, dass die EU-Kommission zügig auch eine öffentliche Anhörung macht, damit man vorab in die Diskussion mit allen Beteiligten gehen kann.” Vorliegende Vorschläge lehnte Pop als womöglich wettbewerbsschädigend ab. dpa
Laut einem Vorabbericht der Zeitung “Welt am Sonntag” hat die Bundesregierung eine Holding gegründet, um die Verstaatlichung der deutschen Tochtergesellschaft des russischen Staatskonzerns Gazprom kurzfristig durchführen zu können. Die ehemalige Gazprom Germania, die inzwischen in Securing Energy for Europe GmbH (SEFE) umbenannt wurde, steht bislang unter Treuhänderschaft der Bundesnetzagentur.
Dem Vorabbericht zufolge sei im Juni eine bestehende Vorratsgesellschaft in “Securing Energy for Europe Holding GmbH SEEHG” umbenannt worden. Sie sei für Investitionen zuständig und solle die Versorgungssicherheit im Bereich Energie sichern, zitiert das Blatt aus dem ihm vorliegenden Gesellschaftervertrag. Weiter heißt es in dem Vorabbericht, zwei Anwälte der Kanzlei CMS Hasche Sigle seien die Geschäftsführer. CMS Hasche Sigle lehnte eine Stellungnahme zu dem Bericht unter Verweis auf Vertraulichkeitsverpflichtungen ab. Das deutsche Wirtschaftsministerium erklärte, dass ihm die Holding bekannt sei und dass ihre Gründung eine Vorsichtsmaßnahme für etwaige Umstrukturierungsmaßnahmen sei. rtr
2020 war ein bedeutendes Jahr für Katherina Reiche. Sie trat nicht nur ihren Posten als Vorstandsvorsitzende bei dem Essener Energiedienstleister und Infrastrukturanbieter Westenergie an. Auch die 25 Mitglieder des von der Bundesregierung neu einberufenen Nationalen Wasserstoffrates wählten sie an erste Stelle.
Ein hohes Arbeitspensum für Reiche (49), aber die Diplomchemikerin bringt viel Erfahrung mit Netzen, dem Vernetzen und Führen mit. Von 1998 bis 2015 war Reiche für die CDU in der Bundespolitik tätig, unter anderem als Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, anschließend im Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur.
Nicht unumstritten war 2015 dann ihr nahtloser Wechsel aus der Politik in die Wirtschaft, genauer: in den Vorstand des Verbands kommunaler Unternehmen, nur kurz bevor die Karenzzeit für Politiker beschlossen wurde. Bei Westenergie ist Reiche nun zuständig für ein lückenlos funktionierendes Strom-, Gas-, Wasser- und Breitbandnetz bis in den hintersten Winkel von Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Niedersachsen.
Vor allem die 174.000 Kilometer Stromnetz stehen unter besonderer Beobachtung, denn an ihm hängen nicht nur die Abnehmer, sondern auch Solar-, Windkraft- und Biomasseanlagen, die Strom einspeisen. Und nicht nur Energienetze webt Reiche. In der von ihr gegründeten Fempower Akademie bereitet Reiche, selbst Mutter von drei Kindern, Frauen im Unternehmen auf Führungspositionen vor und bietet ihnen Möglichkeiten der Vernetzung.
Reiche hat in ihrer Arbeit allerhand Krisenerfahrung: die Corona-Pandemie, die Flut im Ahrtal, der Ukraine-Krieg und die daraus resultierende Gaskrise. Dazu die unterbrochenen oder eingeschränkten Lieferketten und die Spannungen zwischen dem Westen und China. All das erschwert den dringend notwendigen Auf- und Ausbau resilienter Netze. Denn um Netze widerstandsfähiger zu machen, müssen sie digitale Komponenten erhalten.
“Wenn, wie im Ahrtal, die komplette Infrastruktur ausfällt – Strom, Wasser, Gas, Telekommunikation, Internet, Kühlketten, Tankstellen, einfach alles – dann muss ich an einem irgendeinem Punkt anfangen, alles wieder aufzubauen”, erklärt Reiche. “Dazu verbauen wir etwa die 450-Megahertz-Funktechnik, mit der wir maschinelle Daten schnell und über lange Distanzen hinweg übertragen können. So können wir beispielsweise ein Kraftwerk von außen wieder hochfahren.”
Bereits die vergangene Bundesregierung hat dazu in ihrer Strategie festgelegt, dass Deutschland sich dabei unabhängig von China machen muss, erklärt Reiche. Die eingesetzte Technologie werde nun nicht mehr nur unter dem preislichen Aspekt beleuchtet, sondern auch unter den Aspekten der Cybersicherheit, Spionage und Resilienz gegen potenzielle Angriffe, und, wo es geht, werden Komponenten aus Europa gewählt.
Um aber überhaupt erst einmal ein Bild der Lage zu erhalten, braucht es mehr digitale Netzkomponenten, sogenannte digitale Ortsnetzstationen, um per Leitwarte das Netz überwachen zu können. Besser noch: Smart Meter in jedem Haushalt, um präzise feststellen zu können, wo genau die Infrastruktur beschädigt oder ganz verschwunden ist. Hier wünscht sich Reiche mehr Tempo und Konsequenz von der Bundesregierung.
Tempo macht die Regierung aber beim Thema Wasserstoff. Der Nationale Wasserstoffrat, dem Reiche vorsteht, beschäftigt sich seit 2020 intensiv damit, wie Wasserstoff in ausreichenden Mengen beschafft und an die notwendigen Stellen verteilt werden kann. Die Eon-Tochter Westenergie testet hier in mehreren Projekten, wie zukünftig ganze Städte mit Wasserstoff statt Erdgas klimaneutral versorgt werden können, um die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus dem Ausland zu reduzieren. Lisa-Martina Klein