Table.Briefing: Europe

Sanktionsdebatte nach Gräueltaten + Viktor Orbán + Marine Le Pen holt auf

  • Präsidentschaftswahl: Marine Le Pen holt auf
  • China und EU bleiben auf Distanz
  • Ukraine: Gräueltaten heizen Sanktionsdebatte an
  • Ungarn: Orbán winkt weitere Amtszeit
  • EU-Kommission stellt Fragen zu Microsofts Cloud-Geschäft
  • Imec-Chef Van den hove – Weltklasse in der Chipforschung
Liebe Leserin, lieber Leser,

Olaf Scholz ist nicht bekannt dafür, Emotionen zu zeigen. Die grauenhaften Bilder aus Butscha aber scheinen den Bundeskanzler mitgenommen zu haben. Bei einem eigens angesetzten Auftritt sprach er gestern Abend von “Straßen übersät mit Leichen”, von “notdürftig verscharrten Körpern”. Und kündigte an, in den nächsten Tagen im Kreis der Verbündeten weitere Sanktionen gegen Russland zu beschließen.

Ob Scholz damit mehr meint als die bereits verabredeten Nachschärfungen der beschlossenen Sanktionen? Am Mittwoch sollen die EU-Botschafter über das fünfte Paket beraten. Zur Erinnerung: Deutschland gehört zu jenen Staaten, die weitergehende Maßnahmen wie ein Ölembargo oder ein Sperren europäischer Häfen für russische Schiffe bislang abgelehnt haben.

Wirtschaftsminister Robert Habeck macht deutlich, wo er den russischen Energiesektor stattdessen treffen will: Die von Gazprom und Rosneft in Deutschland betriebenen Gasspeicher und Ölraffinerien sollen der Kontrolle der beiden Kreml-Konzerne entzogen werden. Die baltischen Staaten melden derweil Vollzug – man importiere ab sofort kein russisches Erdgas mehr, verkündete Litauens Regierungschefin Ingrida Šimonytė. Mehr zu alldem finden Sie in den News.

Für Viktor Orbán war Wladimir Putin stets Vorbild beim Aufbau eines autoritären Systems, das politische Loyalität auch finanziell belohnt. Der letzte verbliebene Kreml-Versteher im Europäischen Rat wurde gestern erneut wiedergewählt. Die Opposition kam auch mit vereinten Kräften nicht gegen Orbáns Meinungsmacht an.

In Frankreich schien die Wiederwahl von Staatspräsident Emmanuel Macron bereits ausgemachte Sache. Doch seine Rechtsaußen-Rivalin Marine Le Pen pirscht sich in den Umfragen wieder heran, eine Woche vor dem ersten Wahlgang. Tanja Kuchenbecker analysiert, warum auch Macron in ihr eine ernsthafte Bedrohung sieht.

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche.

Ihr
Till Hoppe
Bild von Till  Hoppe

Analyse

Präsidentschaftswahl: Marine Le Pen holt auf

Marine Le Pen kennt die Welt der Politik von klein auf, mit 53 Jahren ist die Chefin des rechtsextremen Rassemblement National ihrem Ziel so nahe wie nie: in Frankreich an die Macht zu gelangen. Im laufenden Präsidentschaftswahlkampf ist sie die gefährlichste Rivalin von Präsident Emmanuel Macron.

Macron selbst warnte bei einer Wahlkampfveranstaltung am Samstag: “Die extremistische Gefahr ist heute größer als vor einigen Monaten oder einigen Jahren”. Die Bürger sollten den Kommentatoren und Umfragen keinen Glauben schenken, wonach seine Wiederwahl bereits ausgemacht sei, sagte er vor 35.000 Anhängern in La Défense bei Paris.  

Ipsos-Umfrage in Frankreich: 21 Prozent für Le Pen

Der Präsident hatte nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine in der Wählergunst stark zugelegt (Europe.Table berichtete), doch der Vorsprung auf Le Pen schmilzt. Laut der jüngsten Ipsos-Umfrage vom Samstag kann Le Pen im ersten Wahlgang in Frankreich am 10. April mit 21 Prozent der Stimmen rechnen, Macron mit 26 Prozent. Auf Platz drei liegt der Linksaußen Jean-Luc Mélenchon mit 15,5 Prozent.

In der Stichwahl am 24. April zwischen Macron und Le Pen würde es demnach viel enger werden als noch vor fünf Jahren. Laut Ipsos liegt Macron mit 53 zu 47 Prozent zwar vorne. Le Pen würde damit aber 13 Prozentpunkte mehr erhalten als 2017. In der Stichwahl könnte sie auf viele Wähler des rechtsextremen Kandidaten Éric Zemmour zählen, auf Anti-Macron-Wähler und auch auf einen Teil der Stimmen für Mélenchon. Macron hingegen könnte auf Unterstützer der Konservativen Valérie Pécresse (Europe.Table berichtete) und der gemäßigten Linken hoffen, die nicht sehr stark ist.

Kandidatin der Kaufkraft

Le Pen vermeidet in diesem Wahlkampf, ihrem dritten bereits, frühere Fehler. Sie hält sich von Polemik fern und hat die extremen Punkte aus ihrem Programm gestrichen. Sie präsentiert sich als die Kandidatin der Kaufkraft, eines der wichtigsten Themen im Wahlkampf angesichts steigender Preise, und als Vertreterin der unteren Bevölkerungsschichten.

Sie unterbreitet konkrete Vorschläge, etwa eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Energie. Sie fordert die Rente mit 60 Jahren für die Franzosen, die früh angefangen haben zu arbeiten, während das offizielle Rentenalter derzeit bei 62 Jahren liegt. Dazu kommen ihre Fernsehauftritte, in denen sie überzeugend wirkt und ihre Bürgernähe, die sie im ganzen Land zur Schau stellt.

Le Pen hat in den vergangenen Jahren ihr rechtsextremes Image immer weiter abgestreift. Sie benannte ihre Partei von Front National in Rassemblement National (RN) um und trat weit weniger aggressiv auf. Mit Angriffen gegen Migranten und den Islam hielt sie sich zurück. Die faschistischen Thesen ihres Vaters Jean-Marie Le Pen sind Tabu. Sie verfolgte eine Strategie der Entdiabolisierung und gewann dadurch neue Wählerschichten im bürgerlichen Lager, insbesondere unter Frauen. Sie bezeichnet sich als Patriotin, ein Austritt aus EU und Euro nennt sie aber nicht mehr als Ziel.

In diesem Wahlkampf musste sie einige Rückschläge wegstecken. Zum Auftakt im vergangenen September zeigte sie sich siegesbewusst wie nie: “Die Zeit ist gekommen”, sagte sie im südfranzösischen Fréjus. Doch dann tauchte unerwartet ein Konkurrent von Rechtsaußen auf. Der TV-Moderator Éric Zemmour, der mehrfach wegen “Anstiftung zum Rassenhass” verurteilt wurde. Ihm gelang es anfangs, ihr den zweiten Platz und damit die Stichwahl streitig zu machen. Doch mittlerweile ist er zurückgefallen (Europe.Table berichtete), in Umfragen liegt Zemmour nur noch bei rund zehn Prozent.

Dabei hatten sich einige Anhänger Le Pens und vor allem ihre Nichte Marion Maréchal Zemmour angeschlossen. Doch Polit-Veteranin Le Pen kommentierte nur sarkastisch: “Die arme Marion wird in einen Rettungsring einer Kampagne verwandelt, die in sich zusammenfällt. Das ist schade, denn sie hat mehr verdient”.

Distanzierung von Putin

Mit dem Ukraine-Krieg wendete sich das Blatt. Zemmour wurde für seine Bewunderung Russlands kritisiert. “Ich träume von einem französischen Putin”, sagte er 2018. Nach dem Angriff Russlands Russen auf die Ukraine musste er zurückrudern, bezeichnete diesen als “ungerechtfertigt”. Zu spät, von politischen Gegnern wird er Wladimir Zemmour genannt.

Auch Le Pen ist für ihre Nähe zu Wladimir Putin bekannt, 2017 traf sie den russischen Präsidenten in Moskau und lobte seine “neue Vision” der Welt. Nach dem Einmarsch urteilte sie dann: “Wladimir Putin hat Unrecht, er hat eine rote Linie überschritten.”

Ihre Partei hat auch Kredite für frühere Wahlen von russischen Banken bekommen, weil niemand in Europa ihr Geld leihen wollte. Doch ihre Nähe zum Kreml stand weniger im Rampenlicht als Zemmours eindeutige Bewunderung für Putin. Das nützte Le Pen, zumal sie diesmal Kredite aus Ungarn bekommen haben soll und nicht aus Russland. Inzwischen sei nicht mehr Le Pen, sondern Zemmour das Schreckgespenst für viele Wähler, urteilt der Politikexperte Matthieu Croissandeau. Das nütze Le Pen. 

Auch ihre Taktik im Wahlkampf brachte Le Pen Punkte ein. Während Zemmour und die konservative Konkurrentin Valérie Pécresse große Meetings abhielten, die in Zeiten des Ukrainekrieges deplatziert wirkten, arbeitete Marine Le Pen emsig wie eine Biene. Sie setzte zunächst einmal auf möglichst viele Interviews und reiste durchs Land, sprach mit Landwirten, ging auf Märkte oder in Altenheime. So blieb sie im Gespräch.

Und sie geht auf Ganze: Sollte sie nicht gewählt werden, werde sie nicht noch einmal als Präsidentschaftskandidatin antreten, erklärte sie.

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China und EU bleiben auf Distanz

Das Treffen von Chinas Staats- und Regierungschef Xi Jinping mit den EU-Vertretern war kaum zu Ende gegangen, da hatte die chinesische Seite bereits die erste Mitteilung veröffentlicht: Die Volksrepublik hoffe, dass Europa ein eigenständiges China-Verständnis formuliert, eine eigenständige China-Politik aufrechterhalte und gemeinsam stabile China-EU-Beziehungen vorantreibe, hieß es darin. Xi sprach über die Corona-Pandemie und globale wirtschaftliche Herausforderungen. Die “Ukraine-Krise” wurde erst am Ende der Mitteilung erwähnt.

Die frühe Veröffentlichung des Statements überraschte kaum. Sie zeigte, was eigentlich schon vor dem 23. EU-China-Gipfel am Freitag klar war: Die chinesische Führung wird sich nicht groß in ihrer Position bewegen. Das gilt vor allem bei dem für Brüssel mit brennender Priorität besprochenem Thema des Ukraine-Kriegs. Die Europäische Union wollte bei dem virtuellen Gipfeltreffen erneut Druck auf Peking wegen Chinas umstrittener Rückendeckung für Russland aufbauen – mit mäßigem Erfolg.

Das Gespräch sei “freimütig” gewesen, hieß es von der EU-Seite nach dem Video-Telefonat mit Xi. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und EU-Ratschef Charles Michel fanden nach eigenen Angaben deutliche Worte und warnten China vor der Unterstützung Moskaus. “Kein europäischer Bürger würde es verstehen, wenn es irgendeine Unterstützung für Russlands Fähigkeit geben würde, Krieg zu führen”, sagte die Kommissionspräsidentin nach den Gesprächen. “Das würde China hier in Europa einen großen Reputationsschaden zufügen.” Das Land trage auch als ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat eine besondere Verantwortung, betonte von der Leyen.

China soll EU-Sanktionen nicht unterlaufen

Indirekt drohte die EU-Kommissionschefin Peking auch Konsequenzen: “Es ist klar, dass der russische Einmarsch in die Ukraine nicht nur ein entscheidender Moment für unseren Kontinent, sondern auch für unser Verhältnis zum Rest der Welt ist.” EU-Ratspräsident Michel ergänzte: “Wir haben China aufgefordert, einen Beitrag zum Ende des Krieges in der Ukraine zu leisten.” China könne den Völkerrechtsverstoß Russlands nicht ignorieren.

Öffentlich äußerte sich die EU-Führung klarer zu den Erwartungen an China wegen der Sanktionen gegen Russland: “Wir erwarten nicht, dass China unsere Sanktionen gegen Russland unterstützt, aber wir erwarten, dass es sie nicht behindert!”, betonten von der Leyen und Michel wortgleich. EU-Beamten zufolge wurde Xi auch ans Herzen gelegt, mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu sprechen.

Nach der schnellen ersten Mitteilung der chinesischen Seite dauerte es am Freitag einige Zeit, bis ein zweites Statement veröffentlicht wurde. In diesem ging Xi näher auf die Ukraine ein – und schob erneut dem Westen die Schuld an dem Konflikt zu: Er warnte davor, “Öl ins Feuer zu gießen und die Spannungen anzuheizen”. Die Grundursache der Ukraine-Krise seien “regionale Sicherheitsspannungen in Europa, die sich über Jahre aufgebaut haben”, so Xi. “In diesem Zeitalter sollten globale Sicherheitsrahmen nicht mehr auf einer Mentalität des Kalten Krieges aufgebaut sein.”

Washington reagiert enttäuscht

Vor allem mit der zweiten Mitteilung wurde klar: Den Gipfelteilnehmern ist es nicht gelungen, sich bei der Reaktion auf die Ukraine-Invasion anzunähern. “Systemische Rivalität ist eine neue Realität”, schlussfolgert die Direktorin des Asia-Programms am Thinktank ECFR, Janka Oertel. “Es gab wenig Einigkeit zwischen den beiden Seiten und das Gespräch war weit davon entfernt, ‘business as usual’ zu sein.” Stattdessen gab es einen “Austausch gegensätzlicher Ansichten”. Beim Standpunkt zu den Strafmaßnahmen gegen Moskau habe Brüssel aber deutliche Worte gefunden, so Oertel. “Wenn China das verhängte Sanktionsregime offen untergräbt, wird das Konsequenzen haben. Das könnte jetzt nicht klarer sein.”

Diese Botschaft hatten die G7-, Nato- und EU-Staaten bereits unisono beim Gipfelmarathon vor eineinhalb Wochen in Richtung Peking entsandt (China.Table berichtete). Washington hatte ein genaues Auge auf das Treffen am Freitag. “In Washington hat man das Gefühl, dass die USA und die EU sich in ihrer Einschätzung der Herausforderung China derzeit so nahe kommen wie nie zuvor”, sagt Außenpolitik-Experte Noah Barkin vom Berliner Büro des German Marshall Fund (GMF).

Der Gipfel am Freitag habe dieses Gefühl noch bestärkt, so Barkin. Auf beiden Seiten des Atlantiks nehme man die Annäherung Chinas und Russlands als Bedrohung war. Als sich Putin und Xi im Februar der unbegrenzten Kooperation versichert haben, habe das die Wahrnehmung nachhaltig verschoben. “Das war auch die Botschaft des Gipfels”, so Barkin. “Unklar ist aber noch, ob die Zeitenwende, die Olaf Scholz ausgerufen hat, einen geopolitischen Wendepunkt markiert oder ob sie nur für Russland gilt.” Die USA hoffen nun auf Signale aus Berlin, dass die Neubewertung in Berlin auch China betrifft.

Keine Fortschritte bei Handelsthemen

Von der Leyen und Michel sprachen am Freitagvormittag auch mit Premier Li Keqiang. China sei grundsätzlich gegen “die Teilung in Blöcke und Parteinahmen”, so Li. Die Volksrepublik wolle mit der EU und der Welt zusammenarbeiten, sagte der Premier. Allerdings werde sich sein Land “auf seine eigene Art” für den Frieden einsetzen.

Im Gespräch mit Li habe man deutlich gemacht, dass eine Reihe von Differenzen angegangen werden müssten, betonte die EU-Seite. Als Beispiele nannte von der Leyen bei der anschließenden Pressekonferenz die von Peking verhängten Sanktionen gegen Mitglieder des EU-Parlaments, den eingeschränkten Zugang europäischer Unternehmen zum chinesischen Markt, Menschenrechtsfragen und die Handelsblockade Chinas gegen Litauen. Konkrete Fortschritte bei der Beilegung dieser Differenzen gab es nicht.

Dabei habe China gerade im Dreieck EU-China-USA ein Interesse daran, Brüssel positiv zu stimmen und damit eine engere Bindung an die USA zu vermeiden, sagt Thomas des Garets Geddes, Research Fellow beim deutschen Thinktank Merics: “Die USA sind seit langem Chinas am meisten gefürchteter und verachteter Gegner, nicht die EU.”

Deshalb würden viele Analysten Chinas einräumen, dass die EU innerhalb des Dreiecks derzeit in einer relativ günstigen Position sei, so der Experte. “Es würde mich nicht überraschen, wenn China bereit wäre, einiges für die EU zu tun, damit sie nicht zu sehr in Richtung USA abdriftet.” Die Volksrepublik sei interessiert an der Neutralität oder strategischen Autonomie der EU, so des Garets Geddes. “Das wäre für China extrem wichtig.” Mitarbeit: Christiane Kühl

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News

Gräueltaten heizen Sanktionsdebatte an

Europäische Spitzenpolitiker haben die russischen Streitkräfte für Gräueltaten gegen Zivilisten in der Umgebung von Kiew verantwortlich gemacht. EU-Ratspräsident Charles Michel warf den russischen Truppen vor, in der Vorortgemeinde Butscha ein Massaker angerichtet zu haben. Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte: “Diese Verbrechen des russischen Militärs müssen wir schonungslos aufklären”. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schrieb auf Twitter, “die russischen Behörden müssen sich für diese Verbrechen verantworten.”

In Butscha waren nach dem Rückzug der russischen Armee zahlreiche Tote gefunden worden. Auf den Straßen lagen Leichen. Der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak teilte auf Twitter ein Foto, auf dem erschossene Männer zu sehen waren. Einem waren die Hände auf dem Rücken gefesselt. Die Echtheit konnte nicht unabhängig geprüft werden.

Massaker in Butscha: Scholz will Täter zur Rechenschaft ziehen

Kiews Bürgermeister Witali Klitschko sprach von “Völkermord”. Laut Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa wurden die Leichen von 410 Zivilisten aus den zurückeroberten Gebieten in der Region um die Hauptstadt gefunden. Das russische Verteidigungsministerium wies die Vorwürfe zurück und sprach von einer Inszenierung der ukrainischen Regierung für die westlichen Medien.

Scholz forderte, dass Organisationen wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz Zugang zu diesen Gebieten erhielten, um die Gräueltaten unabhängig zu dokumentieren. “Die Täter und ihre Auftraggeber müssen konsequent zur Rechenschaft gezogen werden”, so der SPD-Politiker. Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen forderte eine unabhängige Untersuchung.

Auch Energielieferungen Thema

Die Gräueltaten heizen die Diskussion über weitere Sanktionen gegen Russland an. “Dieses furchtbare Kriegsverbrechen kann nicht unbeantwortet bleiben”, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Das in neue Sanktionspaket könne Maßnahmen umfassen “in der ganzen Bandbreite von persönlichen Sanktionen gegen weitere Menschen aus dem Putin-Regime über technische Güter; den Finanzmarkt werden wir uns auch noch einmal anschauen”. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) sagte in der ARD, “es gelte, sich jetzt auf EU-Ebene schnellstmöglich darüber auszutauschen, was noch möglich ist”. Dabei werde sicherlich auch über Energielieferungen gesprochen.

Die EU-Kommission erarbeitet derzeit im Auftrag der EU-Staats- und Regierungschefs Vorschläge für neue Strafmaßnahmen (Europe.Table berichtete). Diese sollen insbesondere Schlupflöcher schließen in den bisher beschlossenen Sanktionen, die sich gegen das russische Finanzsystem, Industriebranchen und individuelle Unterstützer des Kremls richten. Das neue Paket ziele aber nicht auf den russischen Energiesektor, sagte EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni.

Deutschland und andere Mitgliedstaaten scheuen bislang wegen der ökonomischen Folgen davor zurück (Europe.Table berichtete), die Importe von Erdgas, Öl und Kohle aus Russland zu stoppen. Habeck argumentierte aber, Deutschland sei bei Abkoppelung von Russland in den vergangenen vier Wochen ein gutes Stück vorangekommen. “Die nächsten Schritte werden sein, das russische Eigentum an der (deutschen Energie-)Infrastruktur – Gazprom oder Rosneft – nicht der russischen Willkür auszusetzen”, sagte er.

Gazprom und Rosneft im Visier Berlins

In der Bundesregierung wird die starke Präsenz der beiden Kreml-nahen Konzerne in Deutschland inzwischen sehr kritisch gesehen, und eine Verstaatlichung oder Enteignung durchgespielt (Europe.Table berichtete). Gazprom ist über die Tochter Wingas ein wichtiger Gasversorger in Deutschland und betreibt mehrere Gasspeicher, darunter in Rehden den größten Porenspeicher Europas. Am Freitag teilte der Gasriese mit, seine deutsche Tochter Gazprom Germania GmbH und deren Beteiligungen, darunter die Firma Gazprom Marketing & Trading, aufzugeben. Nähere Angaben machte er nicht.

Der Ölkonzern Rosneft kontrolliert seit der mehrheitlichen Übernahme der PCK Raffinerie in Schwedt im vergangenen Jahr ein Viertel des deutschen Raffineriegeschäfts. Hier hat das BMWK ein Investitionsprüfverfahren eingeleitet. Diese Schritte schadeten dem russischen Regime, wie es gefordert werde, sagte Habeck. “Nur gehen wir so vor, dass erst die abgewogenen Schritte erfolgen und dann, dass weniger Gas, dass weniger Öl kommt.”

Litauen verkündete hingegen, den Import von Erdgas aus Russland bereits eingestellt zu haben. “Wir sind das erste EU-Land unter den Lieferländern von Gazprom, das unabhängig von russischen Gaslieferungen ist”, sagte Energieminister Dainius Kreivys. Demnach werde der gesamte litauische Gasbedarf nun über das Flüssiggas-Terminal in der Ostsee-Hafenstadt Klaipeda gedeckt. dpa/rtr/tho

  • Energie
  • Europapolitik

Ungarn: Orbán vor weiterer Amtszeit

In Ungarn hat Ministerpräsident Viktor Orbán die Parlamentswahlen gewonnen. Seine Fidesz-Partei kam nach Auszählung von 96 Prozent der Stimmen auf 53 Prozent der Stimmen. Das zuletzt in Umfrage bereits zurückliegende Sechs-Parteien-Bündnis um Peter Marki-Zay kommt demnach auf 35 Prozent.

Orbán zum Einmarsch in der Ukraine

Orbán kann damit voraussichtlich zum vierten Mal in Folge mit einer verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit regieren. Er regiert Ungarn seit 2010. Erstmals muss er sich einem Gegenkandidaten einer geeinten Opposition stellen. An der Spitze dieses Sechs-Parteien-Bündnisses stand der 49-jährige Marki-Zay, Bürgermeister der südungarischen Stadt Hodmezövasarhely.

Bestimmt wurde der Wahlkampf zuletzt durch den Krieg in der Ukraine, der frühere Themen wie Korruption und das Verhältnis Ungarns zur EU verdrängte. Orbán hat den russischen Einmarsch in der Ukraine zwar verurteilt, vermeidet aber persönliche Kritik an Russlands Präsident. Darauf angesprochen, sagte er am Sonntag: “Wladimir Putin stellt sich in Ungarn nicht zur Wahl, deshalb muss ich mich glücklicherweise heute mit dieser Frage nicht beschäftigen.”

Ungleicher Kampf

In einem letzten Fernsehinterview am Samstag unterstellte Orbán der Opposition, sich in den Krieg in der benachbarten Ukraine einmischen zu wollen. “Die Linke hat mit den Ukrainern einen Pakt geschlossen, und wenn sie gewinnt, zieht sie Ungarn in den Krieg hinein”, sagte er. Tatsächlich gibt es einen solchen Pakt nicht, und Orbán legte dafür auch keine Beweise vor.

Linke Parteien bilden wiederum nur einen Teil des Oppositionsbündnisses. Spitzenkandidat Marki-Zay ist ein bekennender Katholik mit wirtschaftsliberalen Auffassungen. Auf der Abschlusskundgebung der Opposition am Samstag in Budapest warf er dem Regierungschef wegen seiner Haltung zu Moskau “Landesverrat” vor. “Wir alle schämen uns für Viktor Orbán”, sagte er.

Orbán, der 2014 die “illiberale Demokratie” nach russischem Vorbild ausgerufen hatte, änderte auch die Wahlgesetze derart, dass es immer schwieriger wird, ihn abzuwählen. Der Zuschnitt der Wahlkreise sowie das Wahlrecht für ethnische Ungarn in den Nachbarländern begünstigen seine Fidesz-Partei.

Außerdem stellte Orbán die Ressourcen der Regierung und des Staates ungeniert in den Dienst der Fidesz-Wahlkampagne. Wahlforschern zufolge gab das Fidesz-Lager acht bis zehn Mal so viel Geld für den Wahlkampf aus wie die Opposition. dpa/rtr

  • Ungarn

EU-Kommission stellt Fragen zu Microsofts Cloud-Geschäft

Die EU-Wettbewerbshüter befragen Microsofts Konkurrenten und Kunden zu seinem Cloud-Geschäft und seinen Lizenzverträgen. Dies geht aus einem Fragebogen hervor, den Reuters einsehen konnte und der zu einer förmlichen Untersuchung gegen das US-Softwareunternehmen führen könnte.

Microsoft geriet ins Visier der EU-Kommission, nachdem der deutsche Softwareanbieter Nextcloud, die französische OVH Cloud und zwei weitere Unternehmen Beschwerden gegen Microsofts Praktiken eingereicht hatten. “Der Kommission liegen Informationen vor, dass Microsoft seine potenziell marktbeherrschende Stellung auf bestimmten Softwaremärkten ausnutzt, um den Wettbewerb bei bestimmten Cloud-Computing-Diensten auszuschließen”, heißt es in dem Fragebogen.

Die Regulierungsbehörden wollen wissen, ob die Bedingungen in Microsofts Lizenzvereinbarungen mit Cloud-Service-Anbietern es den Konkurrenten erlauben, wirksam zu konkurrieren. Sie wollten auch wissen, ob Unternehmen Microsofts Betriebssysteme und Produktivitätsanwendungen benötigten, um ihr eigenes Cloud-Infrastrukturangebot zu ergänzen, damit sie effektiv konkurrieren könnten.

Ein weiterer Schwerpunkt waren mögliche technische Beschränkungen für Cloud-Speicherdienste, die in der Cloud-Infrastruktur der Unternehmen verfügbar sind. “Wir prüfen laufend, wie wir unsere Partner am besten unterstützen und unseren Kunden Microsoft-Software in allen Umgebungen zur Verfügung stellen können, auch in denen anderer Cloud-Anbieter”, teilte Microsoft in einer Erklärung mit.

Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager hatte Anfang der Woche gesagt, sie habe noch keine Bedenken gegen Cloud Computing und verwies auf den Wettbewerb durch die europäische Gaia-X-Initiative. rtr

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Presseschau

Kriegsgräuel in der Ukraine: Scholz wirft Russland “Kriegsverbrechen” vor und kündigt weitere Sanktionen an WELT
Baltikum beendet Gas-Import aus Russland NTV
EU will gegen Einsatz von Spionagesoftware Pegasus vorgehen FAZ
Störung am Verkehrsleitsystem: Bahnverkehr in den Niederlanden weitgehend zusammengebrochen SPIEGEL
CO₂-Preis soll künftig zwischen Mieter und Vermieter aufgeteilt werden ZEIT
Robert Habeck kündigt “großes Paket für Erneuerbaren-Ausbau” an ZEIT
Enteignung nicht ausgeschlossen: Gazprom und Rosneft unter Beobachtung HANDELSBLATT

Portrait

Luc Van den hove – Weltklasse in der Chipforschung

Luc Van den hove, CEO des Halbleiter-Forschungszentrums Imec, zum European Chips Act.
Luc Van den hove ist CEO des Halbleiter-Forschungszentrums Imec.

Das Hochhaus ist von der Autobahn nach Leuven aus nicht zu übersehen. In der obersten Etage des 15-stöckigen Towers hat Luc Van den hove einen guten Blick über das flache Land. Der 61-Jährige ist CEO von Imec (Interuniversity Microeletronics Centre), Europas größtem Forschungszentrum für Nano- und Mikroelektronik. Margrethe Vestager, Vizepräsidentin der EU-Kommission, erwähnte Imec bei der Präsentation des European Chips Act als wichtigen Trumpf (Europe.Table berichtete), den Europa im globalen Wettbewerb hat.

Luc Van den hove begrüßt den Gesetzesvorschlag. Der Chips Act werde Europas Stellung in der globalen Wertschöpfungskette verbessern, sagt er. Der Ansatz sei “ausgewogenen”: Auf der einen Seite würde in Europa existierende Player gestärkt. Und auf der anderen Seite internationale Firmen wie Intel (Europe.Table berichtete), Taiwans TSMC oder Samsung dazu bewegt, in Europa zu investieren.

Europa könne bei der Produktion von Halbleitern ein wichtiges Wort mitreden, sagt Luc Van den hove. Ohne die Maschinen des niederländischen Werkzeugherstellers ASML könne kaum jemand Chips herstellen. Auch auf die Lithographie-Optiken von Zeiss seien Hersteller weltweit angewiesen, um Wafer mit Nano-Präzision zu belichten. Der niederländische Halbleiterproduzent NXP oder Infineon und Bosch aus Deutschland seien ebenfalls wichtige Akteure.

Bei der Forschung sei Imec weltweit führend, sagt der CEO selbstbewusst. Imec ist eine Non-Profitorganisation mit Büros in Taiwan, Japan, China und USA. Alle großen Namen der Branche aus Asien, den USA und Europa arbeiten im Anbau des Hochhauses zusammen an den Halbleitern der Zukunft, die immer kleiner, leistungsfähiger und sparsamer sein werden sollen.

Entwicklungskosten von zehn Milliarden Euro

Frauen und Männer in weißen Schutzanzügen sind hinter großen Schaufensterscheiben in Reinräumen zwischen busgroßen Maschinen am Werk, alles Unikate im Wert von insgesamt drei Milliarden Euro. Hier wird an neuer Technologie und an Verfahren geforscht, die in einigen Jahren in selbstfahrenden Autos, im Lebensmittel- oder Gesundheitssektor zum Einsatz kommen sollen. Die Bedeutung der Chips habe sich gerade auch in der Coronakrise gezeigt, sagt Van den hove. Während die Sequenzierung von Viren vor nicht langer Zeit noch ein Jahr gedauert habe, sei dies heute in 24 bis 28 Stunden möglich.

Ein Unternehmen könne die Technologie nicht alleine entwickeln, das sei zu komplex und zu teuer geworden, sagt der CEO. 5000 Ingenieure und Doktoranden von Hochschulen testen und entwickeln im Auftrag von Intel, ASML und Co diese Werkzeugmaschinen, den Chipaufbau und die Prozesse der Zukunft. Die Maschine der nächsten Generation soll bei Entwicklungskosten von zehn Milliarden Euro bis 2026 fertig sein. Indem Imec alle Partner vom Start-up bis zum Weltkonzern im Ökosystem zusammenbringe, könnten auch die Verluste minimiert werden, sagt Luc Van den hove. Nach der Entwicklungsphase gehe aber jede Firma wieder eigene Wege und stehe dann mit ihren Produkten im Wettbewerb.

Mit dem Fraunhofer-Institut in Deutschland oder dem CEA-Leti in Frankreich gebe es auch in anderen EU-Staaten Spitzenforscher, sagt Van den hove. Der Chips Act von Margrethe Vestager und Thierry Breton werde helfen, die verschiedenen Zentren in einem “paneuropäischen Netzwerk” zu verknüpfen.

In der Vergangenheit habe Deutschland in nationalen Dimensionen gedacht und Frankreich seinen eigenen Plan für die Forschung in der Halbleitertechnologie verfolgt. Imec sei mit seinem Standort in einem kleineren Land schon immer gezwungen gewesen, sich international aufzustellen. Der Chips Act sei die Chance, die verschiedenen Stärken auf europäischer Ebene zusammenzuführen. Es sei gut, dass die Brüssel jetzt handle.

Keine Konkurrenz für die Kunden

Auch in Asien und den USA schütten die Regierungen Milliarden aus. Wenn Europa da nicht mitziehen, werde der Kontinent zurückbleiben, sagt Van den hove. Dass öffentliche Unterstützung wichtig ist, zeigt das Beispiel von Imec. Eine visionäre flämische Regierung trug 1984 und in den Jahren danach bis zu 60 Prozent der Kosten, als Ingenieure von der nahen Universität Leuven das Forschungszentrum gründeten. Heute kommt der Großteil von der Industrie. Die flämische Regierung steuert noch 16 Prozent und EU-Programme sechs Prozent des Budgets von knapp 700 Millionen Euro bei.

Weshalb stellt neben dem Imec-Hochhaus eigentlich keine Halbleiterfabrik? Das Forschungszentrum könne nicht mit den Partnern in Konkurrenz treten, das Modell der Zusammenarbeit auf der neutralen Plattform würde kollabieren, sagt Luc Van den hove. Anfänglich gab es in Brüssel wohl auch die Idee, einen europäischen Champion aufzubauen, der Mikrochips der neuesten Generation herstellt. Die Hürde, einen neuen Player zu schaffen, sei extrem hoch, sagt CEO Luc Van den hove.

Die protektionistische Logik, alles in Europa zu machen, sei aber ohnehin nicht realistisch. Viel interessanter sei es, Hersteller wie Intel, TSMC oder Samsung dazu zu bewegen, in Europa zu investieren (Europe.Table berichtete). Dadurch werde Europas Position in der Lieferkette gestärkt und gleichzeitig auch Abhängigkeiten von Europa geschaffen. ASML oder Imec seien gute Beispiele dafür, dass Europa durchaus eine Chance habe, bei der Technologie der Zukunft mitzuspielen. Von Stephan Israel

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Europe.Table Redaktion

EUROPE.TABLE REDAKTION

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    Ob Scholz damit mehr meint als die bereits verabredeten Nachschärfungen der beschlossenen Sanktionen? Am Mittwoch sollen die EU-Botschafter über das fünfte Paket beraten. Zur Erinnerung: Deutschland gehört zu jenen Staaten, die weitergehende Maßnahmen wie ein Ölembargo oder ein Sperren europäischer Häfen für russische Schiffe bislang abgelehnt haben.

    Wirtschaftsminister Robert Habeck macht deutlich, wo er den russischen Energiesektor stattdessen treffen will: Die von Gazprom und Rosneft in Deutschland betriebenen Gasspeicher und Ölraffinerien sollen der Kontrolle der beiden Kreml-Konzerne entzogen werden. Die baltischen Staaten melden derweil Vollzug – man importiere ab sofort kein russisches Erdgas mehr, verkündete Litauens Regierungschefin Ingrida Šimonytė. Mehr zu alldem finden Sie in den News.

    Für Viktor Orbán war Wladimir Putin stets Vorbild beim Aufbau eines autoritären Systems, das politische Loyalität auch finanziell belohnt. Der letzte verbliebene Kreml-Versteher im Europäischen Rat wurde gestern erneut wiedergewählt. Die Opposition kam auch mit vereinten Kräften nicht gegen Orbáns Meinungsmacht an.

    In Frankreich schien die Wiederwahl von Staatspräsident Emmanuel Macron bereits ausgemachte Sache. Doch seine Rechtsaußen-Rivalin Marine Le Pen pirscht sich in den Umfragen wieder heran, eine Woche vor dem ersten Wahlgang. Tanja Kuchenbecker analysiert, warum auch Macron in ihr eine ernsthafte Bedrohung sieht.

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    Präsidentschaftswahl: Marine Le Pen holt auf

    Marine Le Pen kennt die Welt der Politik von klein auf, mit 53 Jahren ist die Chefin des rechtsextremen Rassemblement National ihrem Ziel so nahe wie nie: in Frankreich an die Macht zu gelangen. Im laufenden Präsidentschaftswahlkampf ist sie die gefährlichste Rivalin von Präsident Emmanuel Macron.

    Macron selbst warnte bei einer Wahlkampfveranstaltung am Samstag: “Die extremistische Gefahr ist heute größer als vor einigen Monaten oder einigen Jahren”. Die Bürger sollten den Kommentatoren und Umfragen keinen Glauben schenken, wonach seine Wiederwahl bereits ausgemacht sei, sagte er vor 35.000 Anhängern in La Défense bei Paris.  

    Ipsos-Umfrage in Frankreich: 21 Prozent für Le Pen

    Der Präsident hatte nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine in der Wählergunst stark zugelegt (Europe.Table berichtete), doch der Vorsprung auf Le Pen schmilzt. Laut der jüngsten Ipsos-Umfrage vom Samstag kann Le Pen im ersten Wahlgang in Frankreich am 10. April mit 21 Prozent der Stimmen rechnen, Macron mit 26 Prozent. Auf Platz drei liegt der Linksaußen Jean-Luc Mélenchon mit 15,5 Prozent.

    In der Stichwahl am 24. April zwischen Macron und Le Pen würde es demnach viel enger werden als noch vor fünf Jahren. Laut Ipsos liegt Macron mit 53 zu 47 Prozent zwar vorne. Le Pen würde damit aber 13 Prozentpunkte mehr erhalten als 2017. In der Stichwahl könnte sie auf viele Wähler des rechtsextremen Kandidaten Éric Zemmour zählen, auf Anti-Macron-Wähler und auch auf einen Teil der Stimmen für Mélenchon. Macron hingegen könnte auf Unterstützer der Konservativen Valérie Pécresse (Europe.Table berichtete) und der gemäßigten Linken hoffen, die nicht sehr stark ist.

    Kandidatin der Kaufkraft

    Le Pen vermeidet in diesem Wahlkampf, ihrem dritten bereits, frühere Fehler. Sie hält sich von Polemik fern und hat die extremen Punkte aus ihrem Programm gestrichen. Sie präsentiert sich als die Kandidatin der Kaufkraft, eines der wichtigsten Themen im Wahlkampf angesichts steigender Preise, und als Vertreterin der unteren Bevölkerungsschichten.

    Sie unterbreitet konkrete Vorschläge, etwa eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Energie. Sie fordert die Rente mit 60 Jahren für die Franzosen, die früh angefangen haben zu arbeiten, während das offizielle Rentenalter derzeit bei 62 Jahren liegt. Dazu kommen ihre Fernsehauftritte, in denen sie überzeugend wirkt und ihre Bürgernähe, die sie im ganzen Land zur Schau stellt.

    Le Pen hat in den vergangenen Jahren ihr rechtsextremes Image immer weiter abgestreift. Sie benannte ihre Partei von Front National in Rassemblement National (RN) um und trat weit weniger aggressiv auf. Mit Angriffen gegen Migranten und den Islam hielt sie sich zurück. Die faschistischen Thesen ihres Vaters Jean-Marie Le Pen sind Tabu. Sie verfolgte eine Strategie der Entdiabolisierung und gewann dadurch neue Wählerschichten im bürgerlichen Lager, insbesondere unter Frauen. Sie bezeichnet sich als Patriotin, ein Austritt aus EU und Euro nennt sie aber nicht mehr als Ziel.

    In diesem Wahlkampf musste sie einige Rückschläge wegstecken. Zum Auftakt im vergangenen September zeigte sie sich siegesbewusst wie nie: “Die Zeit ist gekommen”, sagte sie im südfranzösischen Fréjus. Doch dann tauchte unerwartet ein Konkurrent von Rechtsaußen auf. Der TV-Moderator Éric Zemmour, der mehrfach wegen “Anstiftung zum Rassenhass” verurteilt wurde. Ihm gelang es anfangs, ihr den zweiten Platz und damit die Stichwahl streitig zu machen. Doch mittlerweile ist er zurückgefallen (Europe.Table berichtete), in Umfragen liegt Zemmour nur noch bei rund zehn Prozent.

    Dabei hatten sich einige Anhänger Le Pens und vor allem ihre Nichte Marion Maréchal Zemmour angeschlossen. Doch Polit-Veteranin Le Pen kommentierte nur sarkastisch: “Die arme Marion wird in einen Rettungsring einer Kampagne verwandelt, die in sich zusammenfällt. Das ist schade, denn sie hat mehr verdient”.

    Distanzierung von Putin

    Mit dem Ukraine-Krieg wendete sich das Blatt. Zemmour wurde für seine Bewunderung Russlands kritisiert. “Ich träume von einem französischen Putin”, sagte er 2018. Nach dem Angriff Russlands Russen auf die Ukraine musste er zurückrudern, bezeichnete diesen als “ungerechtfertigt”. Zu spät, von politischen Gegnern wird er Wladimir Zemmour genannt.

    Auch Le Pen ist für ihre Nähe zu Wladimir Putin bekannt, 2017 traf sie den russischen Präsidenten in Moskau und lobte seine “neue Vision” der Welt. Nach dem Einmarsch urteilte sie dann: “Wladimir Putin hat Unrecht, er hat eine rote Linie überschritten.”

    Ihre Partei hat auch Kredite für frühere Wahlen von russischen Banken bekommen, weil niemand in Europa ihr Geld leihen wollte. Doch ihre Nähe zum Kreml stand weniger im Rampenlicht als Zemmours eindeutige Bewunderung für Putin. Das nützte Le Pen, zumal sie diesmal Kredite aus Ungarn bekommen haben soll und nicht aus Russland. Inzwischen sei nicht mehr Le Pen, sondern Zemmour das Schreckgespenst für viele Wähler, urteilt der Politikexperte Matthieu Croissandeau. Das nütze Le Pen. 

    Auch ihre Taktik im Wahlkampf brachte Le Pen Punkte ein. Während Zemmour und die konservative Konkurrentin Valérie Pécresse große Meetings abhielten, die in Zeiten des Ukrainekrieges deplatziert wirkten, arbeitete Marine Le Pen emsig wie eine Biene. Sie setzte zunächst einmal auf möglichst viele Interviews und reiste durchs Land, sprach mit Landwirten, ging auf Märkte oder in Altenheime. So blieb sie im Gespräch.

    Und sie geht auf Ganze: Sollte sie nicht gewählt werden, werde sie nicht noch einmal als Präsidentschaftskandidatin antreten, erklärte sie.

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    China und EU bleiben auf Distanz

    Das Treffen von Chinas Staats- und Regierungschef Xi Jinping mit den EU-Vertretern war kaum zu Ende gegangen, da hatte die chinesische Seite bereits die erste Mitteilung veröffentlicht: Die Volksrepublik hoffe, dass Europa ein eigenständiges China-Verständnis formuliert, eine eigenständige China-Politik aufrechterhalte und gemeinsam stabile China-EU-Beziehungen vorantreibe, hieß es darin. Xi sprach über die Corona-Pandemie und globale wirtschaftliche Herausforderungen. Die “Ukraine-Krise” wurde erst am Ende der Mitteilung erwähnt.

    Die frühe Veröffentlichung des Statements überraschte kaum. Sie zeigte, was eigentlich schon vor dem 23. EU-China-Gipfel am Freitag klar war: Die chinesische Führung wird sich nicht groß in ihrer Position bewegen. Das gilt vor allem bei dem für Brüssel mit brennender Priorität besprochenem Thema des Ukraine-Kriegs. Die Europäische Union wollte bei dem virtuellen Gipfeltreffen erneut Druck auf Peking wegen Chinas umstrittener Rückendeckung für Russland aufbauen – mit mäßigem Erfolg.

    Das Gespräch sei “freimütig” gewesen, hieß es von der EU-Seite nach dem Video-Telefonat mit Xi. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und EU-Ratschef Charles Michel fanden nach eigenen Angaben deutliche Worte und warnten China vor der Unterstützung Moskaus. “Kein europäischer Bürger würde es verstehen, wenn es irgendeine Unterstützung für Russlands Fähigkeit geben würde, Krieg zu führen”, sagte die Kommissionspräsidentin nach den Gesprächen. “Das würde China hier in Europa einen großen Reputationsschaden zufügen.” Das Land trage auch als ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat eine besondere Verantwortung, betonte von der Leyen.

    China soll EU-Sanktionen nicht unterlaufen

    Indirekt drohte die EU-Kommissionschefin Peking auch Konsequenzen: “Es ist klar, dass der russische Einmarsch in die Ukraine nicht nur ein entscheidender Moment für unseren Kontinent, sondern auch für unser Verhältnis zum Rest der Welt ist.” EU-Ratspräsident Michel ergänzte: “Wir haben China aufgefordert, einen Beitrag zum Ende des Krieges in der Ukraine zu leisten.” China könne den Völkerrechtsverstoß Russlands nicht ignorieren.

    Öffentlich äußerte sich die EU-Führung klarer zu den Erwartungen an China wegen der Sanktionen gegen Russland: “Wir erwarten nicht, dass China unsere Sanktionen gegen Russland unterstützt, aber wir erwarten, dass es sie nicht behindert!”, betonten von der Leyen und Michel wortgleich. EU-Beamten zufolge wurde Xi auch ans Herzen gelegt, mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu sprechen.

    Nach der schnellen ersten Mitteilung der chinesischen Seite dauerte es am Freitag einige Zeit, bis ein zweites Statement veröffentlicht wurde. In diesem ging Xi näher auf die Ukraine ein – und schob erneut dem Westen die Schuld an dem Konflikt zu: Er warnte davor, “Öl ins Feuer zu gießen und die Spannungen anzuheizen”. Die Grundursache der Ukraine-Krise seien “regionale Sicherheitsspannungen in Europa, die sich über Jahre aufgebaut haben”, so Xi. “In diesem Zeitalter sollten globale Sicherheitsrahmen nicht mehr auf einer Mentalität des Kalten Krieges aufgebaut sein.”

    Washington reagiert enttäuscht

    Vor allem mit der zweiten Mitteilung wurde klar: Den Gipfelteilnehmern ist es nicht gelungen, sich bei der Reaktion auf die Ukraine-Invasion anzunähern. “Systemische Rivalität ist eine neue Realität”, schlussfolgert die Direktorin des Asia-Programms am Thinktank ECFR, Janka Oertel. “Es gab wenig Einigkeit zwischen den beiden Seiten und das Gespräch war weit davon entfernt, ‘business as usual’ zu sein.” Stattdessen gab es einen “Austausch gegensätzlicher Ansichten”. Beim Standpunkt zu den Strafmaßnahmen gegen Moskau habe Brüssel aber deutliche Worte gefunden, so Oertel. “Wenn China das verhängte Sanktionsregime offen untergräbt, wird das Konsequenzen haben. Das könnte jetzt nicht klarer sein.”

    Diese Botschaft hatten die G7-, Nato- und EU-Staaten bereits unisono beim Gipfelmarathon vor eineinhalb Wochen in Richtung Peking entsandt (China.Table berichtete). Washington hatte ein genaues Auge auf das Treffen am Freitag. “In Washington hat man das Gefühl, dass die USA und die EU sich in ihrer Einschätzung der Herausforderung China derzeit so nahe kommen wie nie zuvor”, sagt Außenpolitik-Experte Noah Barkin vom Berliner Büro des German Marshall Fund (GMF).

    Der Gipfel am Freitag habe dieses Gefühl noch bestärkt, so Barkin. Auf beiden Seiten des Atlantiks nehme man die Annäherung Chinas und Russlands als Bedrohung war. Als sich Putin und Xi im Februar der unbegrenzten Kooperation versichert haben, habe das die Wahrnehmung nachhaltig verschoben. “Das war auch die Botschaft des Gipfels”, so Barkin. “Unklar ist aber noch, ob die Zeitenwende, die Olaf Scholz ausgerufen hat, einen geopolitischen Wendepunkt markiert oder ob sie nur für Russland gilt.” Die USA hoffen nun auf Signale aus Berlin, dass die Neubewertung in Berlin auch China betrifft.

    Keine Fortschritte bei Handelsthemen

    Von der Leyen und Michel sprachen am Freitagvormittag auch mit Premier Li Keqiang. China sei grundsätzlich gegen “die Teilung in Blöcke und Parteinahmen”, so Li. Die Volksrepublik wolle mit der EU und der Welt zusammenarbeiten, sagte der Premier. Allerdings werde sich sein Land “auf seine eigene Art” für den Frieden einsetzen.

    Im Gespräch mit Li habe man deutlich gemacht, dass eine Reihe von Differenzen angegangen werden müssten, betonte die EU-Seite. Als Beispiele nannte von der Leyen bei der anschließenden Pressekonferenz die von Peking verhängten Sanktionen gegen Mitglieder des EU-Parlaments, den eingeschränkten Zugang europäischer Unternehmen zum chinesischen Markt, Menschenrechtsfragen und die Handelsblockade Chinas gegen Litauen. Konkrete Fortschritte bei der Beilegung dieser Differenzen gab es nicht.

    Dabei habe China gerade im Dreieck EU-China-USA ein Interesse daran, Brüssel positiv zu stimmen und damit eine engere Bindung an die USA zu vermeiden, sagt Thomas des Garets Geddes, Research Fellow beim deutschen Thinktank Merics: “Die USA sind seit langem Chinas am meisten gefürchteter und verachteter Gegner, nicht die EU.”

    Deshalb würden viele Analysten Chinas einräumen, dass die EU innerhalb des Dreiecks derzeit in einer relativ günstigen Position sei, so der Experte. “Es würde mich nicht überraschen, wenn China bereit wäre, einiges für die EU zu tun, damit sie nicht zu sehr in Richtung USA abdriftet.” Die Volksrepublik sei interessiert an der Neutralität oder strategischen Autonomie der EU, so des Garets Geddes. “Das wäre für China extrem wichtig.” Mitarbeit: Christiane Kühl

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    Gräueltaten heizen Sanktionsdebatte an

    Europäische Spitzenpolitiker haben die russischen Streitkräfte für Gräueltaten gegen Zivilisten in der Umgebung von Kiew verantwortlich gemacht. EU-Ratspräsident Charles Michel warf den russischen Truppen vor, in der Vorortgemeinde Butscha ein Massaker angerichtet zu haben. Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte: “Diese Verbrechen des russischen Militärs müssen wir schonungslos aufklären”. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schrieb auf Twitter, “die russischen Behörden müssen sich für diese Verbrechen verantworten.”

    In Butscha waren nach dem Rückzug der russischen Armee zahlreiche Tote gefunden worden. Auf den Straßen lagen Leichen. Der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak teilte auf Twitter ein Foto, auf dem erschossene Männer zu sehen waren. Einem waren die Hände auf dem Rücken gefesselt. Die Echtheit konnte nicht unabhängig geprüft werden.

    Massaker in Butscha: Scholz will Täter zur Rechenschaft ziehen

    Kiews Bürgermeister Witali Klitschko sprach von “Völkermord”. Laut Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa wurden die Leichen von 410 Zivilisten aus den zurückeroberten Gebieten in der Region um die Hauptstadt gefunden. Das russische Verteidigungsministerium wies die Vorwürfe zurück und sprach von einer Inszenierung der ukrainischen Regierung für die westlichen Medien.

    Scholz forderte, dass Organisationen wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz Zugang zu diesen Gebieten erhielten, um die Gräueltaten unabhängig zu dokumentieren. “Die Täter und ihre Auftraggeber müssen konsequent zur Rechenschaft gezogen werden”, so der SPD-Politiker. Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen forderte eine unabhängige Untersuchung.

    Auch Energielieferungen Thema

    Die Gräueltaten heizen die Diskussion über weitere Sanktionen gegen Russland an. “Dieses furchtbare Kriegsverbrechen kann nicht unbeantwortet bleiben”, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Das in neue Sanktionspaket könne Maßnahmen umfassen “in der ganzen Bandbreite von persönlichen Sanktionen gegen weitere Menschen aus dem Putin-Regime über technische Güter; den Finanzmarkt werden wir uns auch noch einmal anschauen”. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) sagte in der ARD, “es gelte, sich jetzt auf EU-Ebene schnellstmöglich darüber auszutauschen, was noch möglich ist”. Dabei werde sicherlich auch über Energielieferungen gesprochen.

    Die EU-Kommission erarbeitet derzeit im Auftrag der EU-Staats- und Regierungschefs Vorschläge für neue Strafmaßnahmen (Europe.Table berichtete). Diese sollen insbesondere Schlupflöcher schließen in den bisher beschlossenen Sanktionen, die sich gegen das russische Finanzsystem, Industriebranchen und individuelle Unterstützer des Kremls richten. Das neue Paket ziele aber nicht auf den russischen Energiesektor, sagte EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni.

    Deutschland und andere Mitgliedstaaten scheuen bislang wegen der ökonomischen Folgen davor zurück (Europe.Table berichtete), die Importe von Erdgas, Öl und Kohle aus Russland zu stoppen. Habeck argumentierte aber, Deutschland sei bei Abkoppelung von Russland in den vergangenen vier Wochen ein gutes Stück vorangekommen. “Die nächsten Schritte werden sein, das russische Eigentum an der (deutschen Energie-)Infrastruktur – Gazprom oder Rosneft – nicht der russischen Willkür auszusetzen”, sagte er.

    Gazprom und Rosneft im Visier Berlins

    In der Bundesregierung wird die starke Präsenz der beiden Kreml-nahen Konzerne in Deutschland inzwischen sehr kritisch gesehen, und eine Verstaatlichung oder Enteignung durchgespielt (Europe.Table berichtete). Gazprom ist über die Tochter Wingas ein wichtiger Gasversorger in Deutschland und betreibt mehrere Gasspeicher, darunter in Rehden den größten Porenspeicher Europas. Am Freitag teilte der Gasriese mit, seine deutsche Tochter Gazprom Germania GmbH und deren Beteiligungen, darunter die Firma Gazprom Marketing & Trading, aufzugeben. Nähere Angaben machte er nicht.

    Der Ölkonzern Rosneft kontrolliert seit der mehrheitlichen Übernahme der PCK Raffinerie in Schwedt im vergangenen Jahr ein Viertel des deutschen Raffineriegeschäfts. Hier hat das BMWK ein Investitionsprüfverfahren eingeleitet. Diese Schritte schadeten dem russischen Regime, wie es gefordert werde, sagte Habeck. “Nur gehen wir so vor, dass erst die abgewogenen Schritte erfolgen und dann, dass weniger Gas, dass weniger Öl kommt.”

    Litauen verkündete hingegen, den Import von Erdgas aus Russland bereits eingestellt zu haben. “Wir sind das erste EU-Land unter den Lieferländern von Gazprom, das unabhängig von russischen Gaslieferungen ist”, sagte Energieminister Dainius Kreivys. Demnach werde der gesamte litauische Gasbedarf nun über das Flüssiggas-Terminal in der Ostsee-Hafenstadt Klaipeda gedeckt. dpa/rtr/tho

    • Energie
    • Europapolitik

    Ungarn: Orbán vor weiterer Amtszeit

    In Ungarn hat Ministerpräsident Viktor Orbán die Parlamentswahlen gewonnen. Seine Fidesz-Partei kam nach Auszählung von 96 Prozent der Stimmen auf 53 Prozent der Stimmen. Das zuletzt in Umfrage bereits zurückliegende Sechs-Parteien-Bündnis um Peter Marki-Zay kommt demnach auf 35 Prozent.

    Orbán zum Einmarsch in der Ukraine

    Orbán kann damit voraussichtlich zum vierten Mal in Folge mit einer verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit regieren. Er regiert Ungarn seit 2010. Erstmals muss er sich einem Gegenkandidaten einer geeinten Opposition stellen. An der Spitze dieses Sechs-Parteien-Bündnisses stand der 49-jährige Marki-Zay, Bürgermeister der südungarischen Stadt Hodmezövasarhely.

    Bestimmt wurde der Wahlkampf zuletzt durch den Krieg in der Ukraine, der frühere Themen wie Korruption und das Verhältnis Ungarns zur EU verdrängte. Orbán hat den russischen Einmarsch in der Ukraine zwar verurteilt, vermeidet aber persönliche Kritik an Russlands Präsident. Darauf angesprochen, sagte er am Sonntag: “Wladimir Putin stellt sich in Ungarn nicht zur Wahl, deshalb muss ich mich glücklicherweise heute mit dieser Frage nicht beschäftigen.”

    Ungleicher Kampf

    In einem letzten Fernsehinterview am Samstag unterstellte Orbán der Opposition, sich in den Krieg in der benachbarten Ukraine einmischen zu wollen. “Die Linke hat mit den Ukrainern einen Pakt geschlossen, und wenn sie gewinnt, zieht sie Ungarn in den Krieg hinein”, sagte er. Tatsächlich gibt es einen solchen Pakt nicht, und Orbán legte dafür auch keine Beweise vor.

    Linke Parteien bilden wiederum nur einen Teil des Oppositionsbündnisses. Spitzenkandidat Marki-Zay ist ein bekennender Katholik mit wirtschaftsliberalen Auffassungen. Auf der Abschlusskundgebung der Opposition am Samstag in Budapest warf er dem Regierungschef wegen seiner Haltung zu Moskau “Landesverrat” vor. “Wir alle schämen uns für Viktor Orbán”, sagte er.

    Orbán, der 2014 die “illiberale Demokratie” nach russischem Vorbild ausgerufen hatte, änderte auch die Wahlgesetze derart, dass es immer schwieriger wird, ihn abzuwählen. Der Zuschnitt der Wahlkreise sowie das Wahlrecht für ethnische Ungarn in den Nachbarländern begünstigen seine Fidesz-Partei.

    Außerdem stellte Orbán die Ressourcen der Regierung und des Staates ungeniert in den Dienst der Fidesz-Wahlkampagne. Wahlforschern zufolge gab das Fidesz-Lager acht bis zehn Mal so viel Geld für den Wahlkampf aus wie die Opposition. dpa/rtr

    • Ungarn

    EU-Kommission stellt Fragen zu Microsofts Cloud-Geschäft

    Die EU-Wettbewerbshüter befragen Microsofts Konkurrenten und Kunden zu seinem Cloud-Geschäft und seinen Lizenzverträgen. Dies geht aus einem Fragebogen hervor, den Reuters einsehen konnte und der zu einer förmlichen Untersuchung gegen das US-Softwareunternehmen führen könnte.

    Microsoft geriet ins Visier der EU-Kommission, nachdem der deutsche Softwareanbieter Nextcloud, die französische OVH Cloud und zwei weitere Unternehmen Beschwerden gegen Microsofts Praktiken eingereicht hatten. “Der Kommission liegen Informationen vor, dass Microsoft seine potenziell marktbeherrschende Stellung auf bestimmten Softwaremärkten ausnutzt, um den Wettbewerb bei bestimmten Cloud-Computing-Diensten auszuschließen”, heißt es in dem Fragebogen.

    Die Regulierungsbehörden wollen wissen, ob die Bedingungen in Microsofts Lizenzvereinbarungen mit Cloud-Service-Anbietern es den Konkurrenten erlauben, wirksam zu konkurrieren. Sie wollten auch wissen, ob Unternehmen Microsofts Betriebssysteme und Produktivitätsanwendungen benötigten, um ihr eigenes Cloud-Infrastrukturangebot zu ergänzen, damit sie effektiv konkurrieren könnten.

    Ein weiterer Schwerpunkt waren mögliche technische Beschränkungen für Cloud-Speicherdienste, die in der Cloud-Infrastruktur der Unternehmen verfügbar sind. “Wir prüfen laufend, wie wir unsere Partner am besten unterstützen und unseren Kunden Microsoft-Software in allen Umgebungen zur Verfügung stellen können, auch in denen anderer Cloud-Anbieter”, teilte Microsoft in einer Erklärung mit.

    Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager hatte Anfang der Woche gesagt, sie habe noch keine Bedenken gegen Cloud Computing und verwies auf den Wettbewerb durch die europäische Gaia-X-Initiative. rtr

    • Digitalisierung
    • Digitalpolitik
    • Plattformen
    • Technologie

    Presseschau

    Kriegsgräuel in der Ukraine: Scholz wirft Russland “Kriegsverbrechen” vor und kündigt weitere Sanktionen an WELT
    Baltikum beendet Gas-Import aus Russland NTV
    EU will gegen Einsatz von Spionagesoftware Pegasus vorgehen FAZ
    Störung am Verkehrsleitsystem: Bahnverkehr in den Niederlanden weitgehend zusammengebrochen SPIEGEL
    CO₂-Preis soll künftig zwischen Mieter und Vermieter aufgeteilt werden ZEIT
    Robert Habeck kündigt “großes Paket für Erneuerbaren-Ausbau” an ZEIT
    Enteignung nicht ausgeschlossen: Gazprom und Rosneft unter Beobachtung HANDELSBLATT

    Portrait

    Luc Van den hove – Weltklasse in der Chipforschung

    Luc Van den hove, CEO des Halbleiter-Forschungszentrums Imec, zum European Chips Act.
    Luc Van den hove ist CEO des Halbleiter-Forschungszentrums Imec.

    Das Hochhaus ist von der Autobahn nach Leuven aus nicht zu übersehen. In der obersten Etage des 15-stöckigen Towers hat Luc Van den hove einen guten Blick über das flache Land. Der 61-Jährige ist CEO von Imec (Interuniversity Microeletronics Centre), Europas größtem Forschungszentrum für Nano- und Mikroelektronik. Margrethe Vestager, Vizepräsidentin der EU-Kommission, erwähnte Imec bei der Präsentation des European Chips Act als wichtigen Trumpf (Europe.Table berichtete), den Europa im globalen Wettbewerb hat.

    Luc Van den hove begrüßt den Gesetzesvorschlag. Der Chips Act werde Europas Stellung in der globalen Wertschöpfungskette verbessern, sagt er. Der Ansatz sei “ausgewogenen”: Auf der einen Seite würde in Europa existierende Player gestärkt. Und auf der anderen Seite internationale Firmen wie Intel (Europe.Table berichtete), Taiwans TSMC oder Samsung dazu bewegt, in Europa zu investieren.

    Europa könne bei der Produktion von Halbleitern ein wichtiges Wort mitreden, sagt Luc Van den hove. Ohne die Maschinen des niederländischen Werkzeugherstellers ASML könne kaum jemand Chips herstellen. Auch auf die Lithographie-Optiken von Zeiss seien Hersteller weltweit angewiesen, um Wafer mit Nano-Präzision zu belichten. Der niederländische Halbleiterproduzent NXP oder Infineon und Bosch aus Deutschland seien ebenfalls wichtige Akteure.

    Bei der Forschung sei Imec weltweit führend, sagt der CEO selbstbewusst. Imec ist eine Non-Profitorganisation mit Büros in Taiwan, Japan, China und USA. Alle großen Namen der Branche aus Asien, den USA und Europa arbeiten im Anbau des Hochhauses zusammen an den Halbleitern der Zukunft, die immer kleiner, leistungsfähiger und sparsamer sein werden sollen.

    Entwicklungskosten von zehn Milliarden Euro

    Frauen und Männer in weißen Schutzanzügen sind hinter großen Schaufensterscheiben in Reinräumen zwischen busgroßen Maschinen am Werk, alles Unikate im Wert von insgesamt drei Milliarden Euro. Hier wird an neuer Technologie und an Verfahren geforscht, die in einigen Jahren in selbstfahrenden Autos, im Lebensmittel- oder Gesundheitssektor zum Einsatz kommen sollen. Die Bedeutung der Chips habe sich gerade auch in der Coronakrise gezeigt, sagt Van den hove. Während die Sequenzierung von Viren vor nicht langer Zeit noch ein Jahr gedauert habe, sei dies heute in 24 bis 28 Stunden möglich.

    Ein Unternehmen könne die Technologie nicht alleine entwickeln, das sei zu komplex und zu teuer geworden, sagt der CEO. 5000 Ingenieure und Doktoranden von Hochschulen testen und entwickeln im Auftrag von Intel, ASML und Co diese Werkzeugmaschinen, den Chipaufbau und die Prozesse der Zukunft. Die Maschine der nächsten Generation soll bei Entwicklungskosten von zehn Milliarden Euro bis 2026 fertig sein. Indem Imec alle Partner vom Start-up bis zum Weltkonzern im Ökosystem zusammenbringe, könnten auch die Verluste minimiert werden, sagt Luc Van den hove. Nach der Entwicklungsphase gehe aber jede Firma wieder eigene Wege und stehe dann mit ihren Produkten im Wettbewerb.

    Mit dem Fraunhofer-Institut in Deutschland oder dem CEA-Leti in Frankreich gebe es auch in anderen EU-Staaten Spitzenforscher, sagt Van den hove. Der Chips Act von Margrethe Vestager und Thierry Breton werde helfen, die verschiedenen Zentren in einem “paneuropäischen Netzwerk” zu verknüpfen.

    In der Vergangenheit habe Deutschland in nationalen Dimensionen gedacht und Frankreich seinen eigenen Plan für die Forschung in der Halbleitertechnologie verfolgt. Imec sei mit seinem Standort in einem kleineren Land schon immer gezwungen gewesen, sich international aufzustellen. Der Chips Act sei die Chance, die verschiedenen Stärken auf europäischer Ebene zusammenzuführen. Es sei gut, dass die Brüssel jetzt handle.

    Keine Konkurrenz für die Kunden

    Auch in Asien und den USA schütten die Regierungen Milliarden aus. Wenn Europa da nicht mitziehen, werde der Kontinent zurückbleiben, sagt Van den hove. Dass öffentliche Unterstützung wichtig ist, zeigt das Beispiel von Imec. Eine visionäre flämische Regierung trug 1984 und in den Jahren danach bis zu 60 Prozent der Kosten, als Ingenieure von der nahen Universität Leuven das Forschungszentrum gründeten. Heute kommt der Großteil von der Industrie. Die flämische Regierung steuert noch 16 Prozent und EU-Programme sechs Prozent des Budgets von knapp 700 Millionen Euro bei.

    Weshalb stellt neben dem Imec-Hochhaus eigentlich keine Halbleiterfabrik? Das Forschungszentrum könne nicht mit den Partnern in Konkurrenz treten, das Modell der Zusammenarbeit auf der neutralen Plattform würde kollabieren, sagt Luc Van den hove. Anfänglich gab es in Brüssel wohl auch die Idee, einen europäischen Champion aufzubauen, der Mikrochips der neuesten Generation herstellt. Die Hürde, einen neuen Player zu schaffen, sei extrem hoch, sagt CEO Luc Van den hove.

    Die protektionistische Logik, alles in Europa zu machen, sei aber ohnehin nicht realistisch. Viel interessanter sei es, Hersteller wie Intel, TSMC oder Samsung dazu zu bewegen, in Europa zu investieren (Europe.Table berichtete). Dadurch werde Europas Position in der Lieferkette gestärkt und gleichzeitig auch Abhängigkeiten von Europa geschaffen. ASML oder Imec seien gute Beispiele dafür, dass Europa durchaus eine Chance habe, bei der Technologie der Zukunft mitzuspielen. Von Stephan Israel

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