EU-Gipfel sind häufig eher ein Stimmungsbarometer als ein Ort zielführender Diskussionen. Manch Ministerpräsident nutzt die Brüsseler Bühne, um sich an das heimische Publikum zu wenden. Die Wähler murren lautstark, weil Strom- und Heizkosten steigen? Seht her, ich kämpfe auf höchster Ebene für euer Anliegen! Andere Regierungschefs wiederum erliegen der Versuchung, im Windschatten eigene Anliegen voranzutreiben, auch wenn die objektiv wenig zur Lösung des Problems beitragen.
Beim gestrigen Gipfel, dem ersten von Bundeskanzler Olaf Scholz, war die Stimmung beim Energiethema ziemlich gereizt. Der Spanier Pedro Sánchez verlangte erneut neue Regeln für den europäischen Strommarkt, der Pole Mateusz Morawiecki ein Aussetzen des Emissionshandels. Der Tscheche Andrej Babiš, der Rumäne Klaus Johannis und einige weitere wiederum versuchten, die EU-Kommission auf die umgehende Vorlage des umstrittenen Taxonomie-Rechtsaktes zu Atomenergie und Gas festzulegen.
Nach langer Diskussion einigte man sich schließlich nur darauf, uneinig zu sein. Das Kapitel zu den Energiepreisen wurde aus den Schlussfolgerungen gestrichen, wie Timo Landenberger berichtet. Scholz zeigte sich von dem Streit unbeeindruckt: “Ich hab’ mich wohlgefühlt”, sagte er auf der gemeinsamen Abschluss-Pressekonferenz mit Emmanuel Macron.
Ein anderes, ebenfalls eingeübtes Verhaltensmuster: zu Hause den Alleingang wählen, um sich dann in Brüssel zu einem abgestimmten Vorgehen zu bekennen. So erneut geschehen beim Thema Corona-Maßnahmen, wo die Regierungen auch in der vierten Welle nach Gusto und ohne Absprachen die Einreise von EU-Bürgern beschränken. Mehr dazu lesen Sie in der Analyse meiner Kollegin Eugenie Ankowitsch.
Einen klaren Beschluss hat der Rat hingegen in Bezug auf Russland gefasst. Militärische Aggressionen gegenüber der Ukraine würden “massive Konsequenzen und erhebliche Kosten” nach sich ziehen, heißt es in der Gipfelerklärung, die am späten Abend verabschiedet wurde. Weniger deutlich ist die Erklärung bei den möglichen Strafmaßnahmen. Eric Bonse analysiert, welche Sanktionsmöglichkeiten der EU zur Verfügung stehen und warum besonders Olaf Scholz es sich gut überlegen dürfte, ob sie tatsächlich zum Einsatz kommen.
Die EU Staats- und Regierungschefs haben bei ihrem Gipfeltreffen erneut keine gemeinsame Antwort auf die seit Wochen andauernde Energiepreis-Krise gefunden. Wie beim Europäischen Rat im Oktober sorgte das Thema am Donnerstag für heftige Diskussionen. Trotz langwieriger Verhandlungen konnten sich die Teilnehmer nicht auf gemeinsame Schlussfolgerungen einigen. Vor allem Polen und Tschechien zeigten sich hartleibig.
Die Bewertungen der Lage an den Energiemärkten gehen teils weit auseinander. So machen einige Länder, angeführt von Polen, auch den Anstieg des CO2-Preises im Rahmen des Europäischen Emissionshandels (ETS) für die Krise verantwortlich (Europe.Table berichtete). Der Preis pro Tonne CO₂ war in den vergangenen Wochen und Monaten stark gestiegen und hat inzwischen die Schwelle von 90 Euro geknackt. Befürworter sehen darin ein Zeichen dafür, dass das System funktioniert. Kritiker hingegen machen insbesondere Finanzspekulationen für den Preisanstieg verantwortlich und befürchten soziale Schieflagen durch die Zusatzbelastung.
Polen, das bei seiner Stromerzeugung überwiegend von Kohle abhängig ist, setzte sich dem Vernehmen nach für eine temporäre Aussetzung des Emissionshandels ein. Damit will der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki insbesondere preistreibenden Finanzspekulationen Einhalt gebieten. Ein Ansatz, der auch von anderen osteuropäischen Ländern wie Ungarn oder Tschechien forciert wurde. Breite Unterstützung unter den Regierungschefs fand der Vorschlag über einer Aussetzung des ETS zwar nicht. Man habe sich aber darauf verständigt, die Preisentwicklung dort ebenso wie an den Energiemärkten genau zu beobachten, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz.
Der französische Präsident Emmanuel Macron wiederum sprach sich vor dem Hintergrund des hohen CO2-Preises gegen eine Ausweitung des ETS auf Gebäude und Verkehr aus. Entsprechende Pläne hatte die EU-Kommission im Rahmen ihres Fit-For-55-Pakets im Juli vorgelegt. Diese sorgten nicht nur in Frankreich für einen Aufschrei (Europe.Table berichtete).
Andere Länder, allen voran Spanien, pochten derweil auf eine Anpassung des europäischen Strom- und Gasmarktdesigns, um auf die Energiekrise zu reagieren und die Volatilität des Marktes zu verringern. Im Rahmen des am Mittwoch veröffentlichten EU-Gaspakets (Europe.Table berichtete) will die Europäische Kommission der Forderung nach gemeinsamen strategischen Gaseinkäufen entgegenkommen und diese zumindest auf freiwilliger Basis ermöglichen. Von der spanischen Wunschvorstellung einer europaweit zugänglichen, zentralen Plattform ist man damit jedoch weit entfernt.
Die meisten Länder, darunter Deutschland, sehen in dem Anstieg der Energiepreise allerdings ein vorübergehendes, marktbasiertes Phänomen und halte weitreichende Eingriffe in den EU-Markt für kontraproduktiv. Zuletzt hatten die EU-Energieagentur ACER sowie die Marktaufsichtsbehörde ESMA die Entwicklung der Energiepreise untersucht. Den Berichten zufolge gehen die rekordhohen Strompreise weder auf Marktmanipulationen noch auf Fehler im bestehenden Strommarktdesign zurück. Die beiden Behörden sollen jetzt noch tiefer in die Untersuchung einsteigen.
Vielmehr sei der Preisanstieg in erster Linie auf die globale wirtschaftliche Erholung und die damit verbundene gestiegene Nachfrage nach Gas zurückzuführen. Um Verbraucher und Industrie kurzfristig vor den hohen Kosten zu schützen, seien befristete und gezielte nationale Maßnahmen am geeignetsten. Eine Toolbox mit entsprechenden Vorschlägen hatte die EU-Kommission im Oktober vorgestellt (Europe.Table berichtete).
Für zusätzlichen Streit sorgte der geplante delegierte Rechtsakt zur Taxonomie, der den Klimaschutzbeitrag von Atomenergie und Erdgas bewerten soll. Angeführt von Tschechien drängten mehrere Länder darauf, eine Formulierung in die Gipfelerklärung aufzunehmen, wonach die Kommission den Rechtsakt bereits kommende Woche vorlegen solle, mitsamt eines grünen Labels für Atom und Gas. Dagegen aber wehrten sich Atomkraftgegner wie Österreich und Luxemburg verbissen.
Scholz bemühte sich, ebenso wie Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die ideologisch aufgeheizte Diskussion zu beruhigen. “Die Frage wird völlig überbewertet“, sagte er. Die Taxonomie sei wichtig für Investoren, die ihr Geld nach Nachhaltigkeitskriterien anlegen wollten. Sie entscheide aber nicht darüber, welchen Weg die einzelnen Länder zum Ziel der Klimaneutralität einschlagen müssten. Scholz und Macron kündigten an, sich in den nächsten Tagen weiter intensiv um Kompromisslösungen zu bemühen. mit Till Hoppe
Die Europäische Union wagt sich außen- und wirtschaftspolitisch auf neues Terrain vor. Beim Europäischen Rat am Donnerstag in Brüssel haben die EU-Staats- und Regierungschefs – darunter erstmals Bundeskanzler Olaf Scholz – mit wirtschaftlichen und finanziellen Sanktionen gegen Russland gedroht, noch bevor das Land die befürchtete Militäroffensive gegen die Ukraine gestartet hat.
Bisher hatte die EU nur nachträglich mit Strafmaßnahmen auf Verletzungen ihrer Werte und Interessen reagiert. Nun geht sie – nicht zuletzt auf Drängen der USA und der Nato – proaktiv vor. Der Schritt ist als abschreckende Maßnahme gedacht; parallel wollen sich Scholz und der französische Staatschef Emmanuel Macron wieder um einen Dialog mit Präsident Wladimir Putin bemühen (Europe.Table berichtete).
“Jede weitere militärische Aggression gegenüber der Ukraine wird massive Konsequenzen und erhebliche Kosten nach sich ziehen”, heißt es in der Gipfelerklärung, die die 27 am späten Donnerstagabend verabschiedet haben. Geplant seien auch “restriktive Maßnahmen, die mit unseren Partnern koordiniert werden”. Die USA hatten zuvor auf die Vorbereitung von EU-Sanktionen gegen Russland gedrungen.
Allerdings werden die Strafmaßnahmen nicht “ausbuchstabiert”. Dies hatten neben der Ukraine auch Polen, Litauen und Lettland gefordert. Der Gipfel möge beschließen, dass die Ostseepipeline “Nord Stream auf dem Tisch ist”, sagte der lettische Regierungschef Krišjānis Kariņš. “Wenn es erhöhte militärische Aktivitäten gibt, würde das Projekt abgeschaltet.”
Kariņš konnte sich mit dieser Forderung jedoch nicht durchsetzen. Aus Sicht von Scholz und Macron, die sich eng abstimmten, sprachen zwei Argumente gegen eine konkrete Nennung der EU-Sanktionen gegen Russland: Zum einen würde dies Putin in die Hände spielen – er könnte sich auf die Strafen einstellen und Gegenmaßnahmen vorbereiten. Zum anderen müsse man zunächst die möglichen Kosten abschätzen.
Diese Kosten können erheblich sein. So dürfte ein endgültiger Verzicht auf Nord Stream 2 zu noch höheren Energiepreisen führen. Der Gaspreis war schon am Montag in die Höhe geschnellt, nachdem Außenministerin Annalena Baerbock angekündigt hatte, dass nicht mit einer schnellen Genehmigung der Pipeline zu rechnen sei. Nach Angaben der Bundesnetzagentur fällt vor Sommer 2022 keine Entscheidung mehr.
Noch wesentlich schmerzhafter könnte ein Ausschluss Russlands vom Finanzdienstleister Swift werden, wie er in Brüssel erwogen wird. Ein solcher Schritt hätte “dramatische Auswirkungen” auf die Wirtschaft, sagte Oliver Hermes, der Vorsitzende des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft. In Moskau spricht man von einer “Atombombe auf dem Finanzmarkt”, die auch Europa treffen werde.
Tatsächlich dürfte die finanzielle Isolation Russlands zu erheblichen Erschütterungen auf den Märkten führen – und auf die deutsche Exportwirtschaft zurückschlagen. Scholz wird es sich daher zweimal überlegen, bevor er der “Nuklearoption” Swift zustimmt. Wie es in Brüsseler EU-Kreisen hieß, will man zunächst eine Folgeabschätzung abwarten. Diese könnte die EU-Kommission ausarbeiten.
Trotz dieser Vorbehalte fällt die Drohung mit “massiven Sanktionen” deutlicher aus als das Gesprächsangebot, das der EU-Gipfel nach Moskau schickte. In den Schlussfolgerungen ist lediglich davon die Rede, dass der Europäische Rat die “diplomatischen Bemühungen ermuntert”, um die vollständige Umsetzung des Minsker Abkommens von 2015 zu erreichen.
Außerdem wird das sogenannte Normandie-Format unterstützt, in dem Deutschland, Frankreich, die Ukraine und Russland nach einer Friedenslösung suchen. Der bislang einzige Normandie-Gipfel im Vierer-Format hatte Ende 2019 in Paris stattgefunden. Seither haben sich die Spannungen jedoch immer mehr verschärft. Zuletzt hatten die USA die Führung in der Ukraine-Krise übernommen.
Ob die EU nun wieder zurück ins diplomatische Spiel findet oder weiter an den Rand gedrängt wird, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall hat sie sich mit ihrem Sanktions-Beschluss weiter vorgewagt denn je – Scholz ist bei seinem ersten Gipfel eine riskante Wette eingegangen.
Wöchentliche Kommissionssitzung
22.12.2021
Akteure: EU-Kommission
Agenda: Auf der vorläufigen Tagesordnung stehen unter anderem eine Initiative zur Bekämpfung des Missbrauchs von Briefkastenfirmen, ein Vorschlag zur Umsetzung des globalen OECD-Übereinkommens über die effektive Mindestbesteuerung und eine gemeinsame Mitteilung über ein strategisches Konzept zur Unterstützung der Entwaffnung, Demobilisierung und Wiedereingliederung ehemaliger Soldaten. Zu erwarten ist auch, dass die Kommission den delegierten Rechtsakt zur Behandlung von Kernenergie und Erdgas im Rahmen der EU-Taxonomie vorlegt. Zudem dürfte die Behörde die neuen Leitlinien für Klima-, Energie- und Umweltbeihilfen präsentieren. Im Anschluss findet gegen 12:00 Uhr eine Pressekonferenz statt.
Vorläufige Tagesordnung Pressekonferenz Live
Rat der EU: Umwelt
20.12.2021 09:30 Uhr
Akteure: Umweltminister:innen
Agenda: Auf der vorläufigen Tagesordnung stehen unter anderem ein Fortschrittsbericht bezüglich des Fit-for-55-Pakets, verschiedene damit in Verbindung stehende aktuelle Gesetzgebungsvorschläge sowie Berichte über die wichtigsten jüngsten internationalen Tagungen.
Vorläufige Tagesordnung
Als die erste Pandemie-Welle Anfang 2020 über Europa rollte, setzten die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf Grenzschließungen. Trotz der Erkenntnis, dass das Virus an keiner Landesgrenze haltmacht und Grenzschließungen zwischen EU-Mitgliedstaaten nicht zielführend sind, kommt es immer wieder zu ähnlichen Reaktionen. So hat etwa Deutschland während der dritten Welle im vergangenen Frühjahr an den Grenzen zu Tschechien und Österreich strenge Kontrollen durchgeführt, um die Ausbreitung der damals neuen Delta-Virusvariante zu verlangsamen. Auch der Streit um den richtigen Ansatz erst für die Corona-Apps und später der digitalen Impfzertifikate spaltete die Mitgliedstaaten.
Angesichts der vierten Welle und der neuen Omikron-Variante leiten immer mehr Länder neue Notfallmaßnahmen ein. Noch Ende November versuchte die EU-Kommission, die Mitgliedstaaten auf eine gemeinsame Linie einzuschwören. So betonte EU-Justizkommissar Didier Reynders etwa: “Unser Hauptziel ist es, abweichende Maßnahmen in der EU zu vermeiden.” EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides warnte im Europaparlament vor einer neuen “Zersplitterung” der Regeln wie zu Beginn der Pandemie.
Doch vergeblich. Nach und nach scheren erneut immer mehr Länder aus und ergreifen eigene Maßnahmen, etwa bei der Gültigkeitsdauer des Covid-Impfzertifikats oder bei den Einreisebestimmungen. Die Befürchtung der EU-Kommission, dass in der EU ein bunter Flickenteppich an unterschiedlichen Regelungen entsteht, wird erneut Realität.
Erste Mitgliedstaaten haben sich dazu entschlossen, die Gültigkeitsdauer der Impfzertifikate herunterzusetzen. So sind digitale EU-Impfzertifikate etwa in Italien und Österreich neun Monate lang gültig. In Frankreich und auch in Dänemark sind es bald nur noch sieben Monate. Einige weitere Länder diskutieren oder planen bereits ähnliche Maßnahmen. In Deutschland gilt das Zertifikat bislang zwölf Monate. Im Gegensatz zu anderen Ländern will Deutschland allerdings eine europäische Gesamtlösung abwarten. Und diese soll auch kommen.
Die Staatschefs haben beim EU-Gipfel am Donnerstag bestätigt, dass die EU-Kommission im Rahmen eines unmittelbar wirksamen delegierten Rechtsakts verbindliche Regelungen zur Gültigkeitsdauer der digitalen Impfzertifikate erlassen soll. Für Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) ist das der richtige Schritt: “Die Zertifikatslaufzeiten sollten vereinheitlicht werden, und das sollte auf Grundlage der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse geschehen.” Damit könnten die Zertifikate künftig abhängig von der Wirksamkeit der Impfungen bei den jeweils dominanten Virusvarianten in der ganzen EU schneller ihre Gültigkeit verlieren als bisher.
In vielen Ländern werden nun Booster-Impfungen in erheblichem Umfang und entsprechend hohe Impfstoffmengen benötigt. In Deutschland drohe für das erste Quartal 2022 sogar ein Impfstoffmangel, teilte Gesundheitsminister Lauterbach nach einer Bestandsaufnahme mit, für die er jedoch weder seinen Amtsvorgänger noch die EU-Kommission verantwortlich macht.
Am Donnerstag kündigte die Kommission an, dass der Impfstoffhersteller Moderna Deutschland und anderen EU-Mitgliedstaaten beschleunigt Messenger-RNA-Impfstoff zur Verfügung stellt. Eine Lieferung von 10 Millionen Dosen Moderna für Deutschland soll auf Dezember 2021 vorgezogen werden. Weitere zusätzliche 25 Millionen Moderna-Dosen werden im ersten Quartal 2022 geliefert, Ende des ersten Quartals könnten auch erste an die Omikron-Variante angepasste mRNA-Vakzine zur Verfügung stehen. Deutschland hat zudem eine Abnahmezusage für den Großteil der Impfdosen eines weiteren EU-Rahmenvertrages mit Biontech für 2022 gegeben.
Doch bis Booster und angepasste Impfstoffe flächendeckend wirken, droht weiteres EU-Chaos. Länder wie Portugal, Irland und Italien fordern einen negativen Coronavirus-Test für alle Reisenden aus anderen EU-Ländern, unabhängig vom Impfstatus. Vor allem Italien sorgt damit für Irritationen. Der italienische Gesundheitsminister Roberto Speranza unterzeichnete erst am Dienstag eine entsprechende Verordnung, ohne der Vereinbarung nachzukommen, die EU-Kommission 48 Stunden im Voraus zu informieren.
“Diese Einzelentscheidungen der Staaten untergraben das Vertrauen der Menschen, dass die Bedingungen überall in der EU gleich sind”, sagte die Vizepräsidentin der EU-Kommission, Věra Jourová. Sie betonte, dass die EU-Verordnung über den Grünen Pass vorsieht, dass EU-Bürger ohne Einschränkungen in der gesamten EU reisen dürfen, wenn sie geimpft sind, einen negativen Test haben oder eine Bescheinigung über ihre Genesung vorlegen können.
Der Zeitpunkt für Italiens Alleingang könnte kaum schlechter gewählt sein. Denn nur zwei Tage später, auf dem gestrigen EU-Gipfel, sollte es gerade um ein koordiniertes Vorgehen der Mitgliedsländer gehen. Der luxemburgische Premierminister Xavier Bettel kritisierte unmittelbar vor dem Gipfel die Entscheidung der Länder, obligatorische Tests für EU-Reisende einzuführen. Er warnte davor, dass solche Regeln die Impfbereitschaft mindern würden. Ähnlich äußerte sich der belgische Premierminister Alexander De Croo.
Die 27 Staatschefs – darunter auch Italiens Premier Mario Draghi – betonten in ihrer gemeinsamen Erklärung erneut die Bedeutung eines koordinierten Vorgehens in der Pandemie. Es sei wichtig sicherzustellen, dass “alle Beschränkungen auf objektiven Kriterien beruhen und das Funktionieren des Binnenmarktes nicht untergraben oder die Freizügigkeit zwischen den Mitgliedstaaten und die Einreise in die EU nicht unverhältnismäßig behindern“, hieß es in den Schlussfolgerungen.
Nachdem das Europäische Parlament Anfang Dezember den Kompetenzstreit über die Verordnung für Künstliche Intelligenz (KI) geklärt hat, stehen nun auch die Berichterstatter für den Ausschuss für Kultur und Bildung (CULT) und den Industrieausschuss (ITRE) fest. Diese verhandeln das Gesetz im Parlament in mitberatender Funktion. Wie erwartet geht der Bericht im ITRE an die EVP-Fraktion (Europe.Table berichtete). Die Bulgarin Eva Maydell wird ihn verfassen. “Das erste allgemeine Gesetz für Künstliche Intelligenz sollte allen zugutekommen: Bürger:innnen, Verbraucher:innen und Unternehmen”, kommentierte die 35-Jährige die Dossierzuständigkeit auf Twitter.
Maydell ist Mitglied im Sonderausschuss für Künstliche Intelligenz (AIDA) und ist in mehreren weiteren digitalpolitischen Dossiers aktiv, darunter die Revision der Netzwerk- und Informationssicherheitsrichtlinie (NIS) (Europe.Table berichtete) sowie den Gesetzen zur Plattformregulierung (Digital Markets Act und Digital Services Act). Der ITRE hat die exklusive Beratungskompetenz für den Artikel 15 (Genauigkeit, Robustheit und Cybersicherheit) sowie den Artikel 55 (Maßnahmen für Kleinanbieter und Kleinnutzer) der KI-Verordnung.
Im CULT wird der Piraten-Politiker Marcel Kolaja Berichterstatter (Grüne/EFA). Der Tscheche zog 2019 erstmals ins Europaparlament ein und ist seither Vize-Präsident des Abgeordnetenhauses. Als studierter Informatiker liegen Kolaja digitale Themen am Herz. Der 41-Jährige sitzt wie Maydell im AIDA-Auschuss und ist im Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz (IMCO) Schattenberichterstatter für den Digital Markets Act. Er setzt sich unter anderem für die Freiheit des Internets ein.
Damit steht nur die offizielle Bestätigung von Axel Voss (CDU/EVP) noch aus, der inoffiziell bereits seit Langem als Berichterstatter für den Rechtsausschuss (JURI) gesetzt ist.
Wie “Contexte” zuerst berichtete, plant das Europaparlament derzeit, seine Verhandlungsposition zur KI-Verordnung bis November 2022 festzuzurren. Einem internen Kalender zufolge soll Mitte März eine Anhörung mit der Kommission stattfinden, bevor die Berichterstatter des IMCO Brando Benifei (IT, S&D) und des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) Dragoş Tudorache (RO, Renew) ihren Bericht Anfang April fertigstellen.
Aufgrund der geteilten Federführung von IMCO und LIBE schreiben die Europaabgeordneten den Bericht gemeinsam. Die Stellungnahmen der mitberatenden Ausschüsse JURI, ITRE und CULT sind für Mitte Juni vorgesehen. koj
Die Gesamtkosten eines Elektro-Pkw fallen nicht höher aus als die eines Verbrenners. E-Autos seien dank der staatlichen Prämie somit eine “wirtschaftliche Alternative zu Benzin- oder Dieselfahrzeugen”. Das ist das Ergebnis einer Analyse der Initiative Agora Verkehrswende, in der Daten des ADAC für die etwa 8.000 in Deutschland verfügbaren Neuwagenmodelle in den ersten fünf Nutzungsjahren ausgewertet wurden.
Demnach sind kleinere Elektromodelle allerdings nur aufgrund der Förderprämie konkurrenzfähig. Eine Golfklasse mit Verbrennungsmotor kostet laut den Autoren in den ersten fünf Nutzungsjahren bei 15.000 gefahrenen Kilometern rund 42.000 Euro, das elektrische Pendant mitsamt Prämie rund 40.000. Bei der Berechnung wurden Wertverlust, Energiekosten, Steuern, Versicherungen und die Wartung berücksichtigt.
Mittel- und hochklassige E-Autos sind dagegen auch ohne die Prämie wirtschaftlicher als ihre fossilen Pendants. Die Prämie wird ohnehin nur bei Fahrzeugen mit einem Kaufpreis unter 65.000 Euro ausgezahlt. Agora rechnet vor, dass ein Benziner der E-Klasse insgesamt 77.000 Euro koste – bei einem vergleichbaren E-Modell seien es nur 70.000 Euro.
Agora fordert daher, dass Fördermaßnahmen sich künftig vielmehr auf mittlere und kleine Fahrzeugklassen konzentrieren. Prämien für hochklassige Fahrzeuge könnten entsprechend bereits reduziert werden.
Mit durchschnittlich rund 58.000 Euro mitsamt Prämie sind Plug-in-Hybride (PHEV) teurer als E-Autos (51.000 Euro) oder Verbrenner (57.000 Euro) in einer vergleichbaren Größe. PHEV sind demnach keine kostengünstige Alternative zum Verbrenner. Dazu kommt die stark vom Fahrverhalten abhängige Emissionsbilanz der PHEV (Europe.Table berichtete). Die Studienautoren plädieren deshalb für eine PHEV-Förderung, die am elektrischen Fahranteil bemessen wird. luk
Die französische Datenschutzaufsichtsbehörde CNIL hat die Gesichtserkennungs-Softwarefirma Clearview AI formal aufgefordert, die Erhebung und Verarbeitung von Daten aus Frankreich einzustellen. Clearview hat weltweit 10 Milliarden Fotos aus öffentlich zugänglichen Quellen im Netz weitgehend ohne Zustimmung der Betroffenen für seine Algorithmen verarbeitet.
Nach Auffassung der CNIL ist die Verarbeitung und biometrische Analyse der Bilddaten durch Clearview ein Verstoß gegen die Datenschutzgrundverordnung. Clearview bietet Nachrichtendiensten und Strafverfolgungsbehörden eine Gesichtserkennungs-Suchmaschine als Dienstleistung an.
“Diese biometrischen Daten sind besonders sensibel, insbesondere da sie mit unserer physischen Identität verknüpft sind (was wir sind) und erlauben es, uns auf einzigartige Weise zu identifizieren”, so die französische Behörde. Sie bemängelte zudem, dass Clearview den Zugang zu Daten für potenziell Betroffene unzulässig einschränke. Clearview AI hat nun laut der französischen Datenschutzaufsicht zwei Monate Zeit, der Aufforderung der CNIL nachzukommen. Anderenfalls droht die Behörde mit Strafen, die in diesem Fall nach DSGVO bemerkenswert hoch ausfallen könnten.
Die formelle Entscheidung der CNIL erging nach mehreren Beschwerden, darunter der NGO Privacy International. Die australische Datenschutzaufsicht hatte Clearview AI bereits dazu aufgefordert, die Datensammlung in ihrem Aufsichtsgebiet zu unterlassen sowie gesammelte Daten zu löschen.
Die Entscheidung der CNIL kommt zu einem politisch sensiblen Zeitpunkt: Seit dem Schrems-II-Urteil gibt es keinen verlässlichen allgemeinen Rechtsrahmen für die Datenübermittlung in die USA, am Privacy Shield-Nachfolger wird zwischen Biden-Administration und EU-Kommission intensiv verhandelt (Europe.Table berichtete). Der Fall Clearview hat dabei aufgrund des Dienstleistungsverhältnisses der Firma für Sicherheitsbehörden das Potenzial, die Problempunkte des aus europäischer Sicht mangelnden Datenschutzniveaus in den USA nachdrücklich aufzuzeigen. rtr/fst
Intel will erst im kommenden Jahr über die geplante europäische Chipfabrik entscheiden (Europe.Table berichtete). Er hoffe, die nächsten Standorte in den USA und Europa Anfang 2022 bekanntgeben zu können, sagte Intel-Chef Pat Gelsinger am Donnerstag.
Intel ist mit mehreren europäischen Staaten im Gespräch für einen auf bis zu acht sogenannte Fabs erweiterbaren Produktionsstandort. In den Chipfabriken sollen Intel-eigene Produkte und Halbleiter für Dritte im Auftrag hergestellt werden. Ein wesentlicher Faktor der Standortauswahl ist neben Infrastrukturfragen auch die öffentliche Förderung (Europe.Table berichtete).
Zugleich teilte der US-Chipkonzern mit, mehr als sieben Milliarden Dollar für den Bau einer neuen Chipfertigung in Malaysia auszugeben. Das Werk solle 2024 an den Start gehen. Es würden 4000 Intel-Stellen sowie mehr als 5000 für den Bau geschaffen. Intel produziert seit 1972 in Malaysia. rtr
Die EU-Wettbewerbsbehörde wird Insidern zufolge grünes Licht für die Übernahme des US-Kundenmanagement-Spezialisten Kustomer durch das weltgrößte Internet-Netzwerk Facebook erteilen. Facebook habe auf Bedenken reagiert und garantiere nun eine bessere Interoperabilität, um den Zugriff von außen auf das Angebot des Start-ups zu sichern, sagten mehrere mit der Angelegenheit vertraute Personen.
Die EU-Kommission, die bis 28. Januar über den Deal entscheiden muss, wollte keine Stellung nehmen. Facebook hatte die Akquisition im November vergangenen Jahres angekündigt. Das Bundeskartellamt will die Auswirkungen von Facebooks Kustomer-Übernahme auf den deutschen Markt untersuchen. rtr
Als “faszinierend” beschrieb Luukas Ilves im Sommer das Ergebnis einer Studie: Zwei von drei der Befragten aus zehn verschiedenen Ländern würden digitales Zentralbankgeld nutzen, sobald es eingeführt würde. Eine gute Nachricht für den Head of Strategy von Guardtime Luukas Ilves – seit Jahren arbeitet das estnische Blockchain-Unternehmen gemeinsam mit Zentralbanken an elektronischen Währungen.
“Mein Deutsch ist etwas eingerostet”, sagt der 34-Jährige ohne jeglichen Akzent. “Ich habe seit der achten Klasse nicht mehr regelmäßig Deutsch gesprochen.” Ilves wurde 1987 in München geboren. Sein Vater, der spätere estnische Staatspräsident Toomas Hendrik Ilves, arbeitete damals als Leiter des Estnischen Dienstes bei Radio Free Europe. Später zog die Familie in die USA, die Heimat seiner Mutter. Luukas Ilves verbrachte dort den Rest seiner Schulzeit, studierte danach Internationale Beziehungen, Philosophie und Wirtschaft an der Stanford University.
Zurück in Estland begann Luukas Ilves’ Weg zum Experten für Telekommunikation: Er war zunächst Beamter im Verteidigungsministerium, beschäftigte sich dort mit den Themen Cybersecurity und E-Government. Später arbeitete er bei der Estnischen Behörde für Informationssysteme und in Brüssel für die Europäische Kommission, den Rat der EU und den Thinktank The Lisbon Council. Während der EU-Ratspräsidentschaft Estlands 2017 war Ilves für das Thema Digitalpolitik zuständig.
Über seinen anschließenden Wechsel in die Wirtschaft sagt er: “Ich hatte den Eindruck, Regierungen sind zu langsam, um auch komplexere Lösungen zu finden.” Die Wirtschaft sei schneller und aggressiver darin, neue Ideen zu entwickeln und auszubauen. Er wollte aber weiter in der Technologiebranche arbeiten. Der Wechsel von Beamten in die freie Wirtschaft sei in Estland ganz normal – in Brüssel hingegen seien seine Kollegen überrascht gewesen und hätten den Schritt mutig gefunden, erzählt er.
Seit 2019 leitet Luukas Ilves die strategische Ausrichtung von Guardtime in Tallinn. Das Unternehmen wurde 2007 – nach russischen Cyberattacken auf Estland – mit dem Ziel gegründet, Daten sicher und verlässlich zu verschlüsseln und diese Prozesse zu automatisieren. Zu den Produkten gehört unter anderem ein “Smart Vaccination Certificate”, mit dem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fälschungssichere internationale Impfzertifikate entwickeln will.
Schon seit den frühen 2000er-Jahren arbeitet Guardtime am Aufbau eines elektronischen Geldsystems. Das Unternehmen schuf “KSI Cash”, eine Plattform, über die Zahlungen mit digitalem Geld abgewickelt werden. Seit 2020 arbeitet das Unternehmen auch mit der estnischen Zentralbank zusammen, um den Einsatz der Plattform im Euro-System zu untersuchen. Auch mit weiteren Zentralbanken auf der ganzen Welt führt Guardtime Pilotprojekte durch.
“Datenschutz ist auch eine Frage von Selbstbewusstsein”, sagt Ilves. Entschuldigungen für die schleppende Digitalisierung, wie sie aus Deutschland immer wieder zu hören seien, würden irgendwann selbsterfüllend. “Der Mangel an Selbstvertrauen kann da sehr schwächen.” Als Vorbild nennt er sein Heimatland Estland: Bereits nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1989 baute man dort die politischen Institutionen digital auf.
Den “Spirit” der öffentlichen Verwaltung vergleicht Ilves sogar mit dem Silicon Valley – innovativ und effizient. Davon könnten sich andere Länder und auch die EU etwas abschauen. “Regierungen müssen mit den Entwicklungen im privaten Sektor mithalten”, sagt er. Die 27 nationalen Agenturen funktionieren laut Ilves noch zu unterschiedlich. Die Mitgliedstaaten seien noch zu gehemmt, Souveränität an die EU abzugeben.
Die Coronapandemie hat unterdessen vielen Ideen Aufschwung verliehen: Nicht nur die Digitalisierung sei stark vorangeschritten, auch unser Umgang mit Geld habe sich verändert, sagt Ilves. Die erste digitale Zentralbankwährung (CBDC) könnte laut Guardtimes Prognosen schon innerhalb der kommenden zwei Jahre eingeführt werden. Leonie Düngefeld
EU-Gipfel sind häufig eher ein Stimmungsbarometer als ein Ort zielführender Diskussionen. Manch Ministerpräsident nutzt die Brüsseler Bühne, um sich an das heimische Publikum zu wenden. Die Wähler murren lautstark, weil Strom- und Heizkosten steigen? Seht her, ich kämpfe auf höchster Ebene für euer Anliegen! Andere Regierungschefs wiederum erliegen der Versuchung, im Windschatten eigene Anliegen voranzutreiben, auch wenn die objektiv wenig zur Lösung des Problems beitragen.
Beim gestrigen Gipfel, dem ersten von Bundeskanzler Olaf Scholz, war die Stimmung beim Energiethema ziemlich gereizt. Der Spanier Pedro Sánchez verlangte erneut neue Regeln für den europäischen Strommarkt, der Pole Mateusz Morawiecki ein Aussetzen des Emissionshandels. Der Tscheche Andrej Babiš, der Rumäne Klaus Johannis und einige weitere wiederum versuchten, die EU-Kommission auf die umgehende Vorlage des umstrittenen Taxonomie-Rechtsaktes zu Atomenergie und Gas festzulegen.
Nach langer Diskussion einigte man sich schließlich nur darauf, uneinig zu sein. Das Kapitel zu den Energiepreisen wurde aus den Schlussfolgerungen gestrichen, wie Timo Landenberger berichtet. Scholz zeigte sich von dem Streit unbeeindruckt: “Ich hab’ mich wohlgefühlt”, sagte er auf der gemeinsamen Abschluss-Pressekonferenz mit Emmanuel Macron.
Ein anderes, ebenfalls eingeübtes Verhaltensmuster: zu Hause den Alleingang wählen, um sich dann in Brüssel zu einem abgestimmten Vorgehen zu bekennen. So erneut geschehen beim Thema Corona-Maßnahmen, wo die Regierungen auch in der vierten Welle nach Gusto und ohne Absprachen die Einreise von EU-Bürgern beschränken. Mehr dazu lesen Sie in der Analyse meiner Kollegin Eugenie Ankowitsch.
Einen klaren Beschluss hat der Rat hingegen in Bezug auf Russland gefasst. Militärische Aggressionen gegenüber der Ukraine würden “massive Konsequenzen und erhebliche Kosten” nach sich ziehen, heißt es in der Gipfelerklärung, die am späten Abend verabschiedet wurde. Weniger deutlich ist die Erklärung bei den möglichen Strafmaßnahmen. Eric Bonse analysiert, welche Sanktionsmöglichkeiten der EU zur Verfügung stehen und warum besonders Olaf Scholz es sich gut überlegen dürfte, ob sie tatsächlich zum Einsatz kommen.
Die EU Staats- und Regierungschefs haben bei ihrem Gipfeltreffen erneut keine gemeinsame Antwort auf die seit Wochen andauernde Energiepreis-Krise gefunden. Wie beim Europäischen Rat im Oktober sorgte das Thema am Donnerstag für heftige Diskussionen. Trotz langwieriger Verhandlungen konnten sich die Teilnehmer nicht auf gemeinsame Schlussfolgerungen einigen. Vor allem Polen und Tschechien zeigten sich hartleibig.
Die Bewertungen der Lage an den Energiemärkten gehen teils weit auseinander. So machen einige Länder, angeführt von Polen, auch den Anstieg des CO2-Preises im Rahmen des Europäischen Emissionshandels (ETS) für die Krise verantwortlich (Europe.Table berichtete). Der Preis pro Tonne CO₂ war in den vergangenen Wochen und Monaten stark gestiegen und hat inzwischen die Schwelle von 90 Euro geknackt. Befürworter sehen darin ein Zeichen dafür, dass das System funktioniert. Kritiker hingegen machen insbesondere Finanzspekulationen für den Preisanstieg verantwortlich und befürchten soziale Schieflagen durch die Zusatzbelastung.
Polen, das bei seiner Stromerzeugung überwiegend von Kohle abhängig ist, setzte sich dem Vernehmen nach für eine temporäre Aussetzung des Emissionshandels ein. Damit will der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki insbesondere preistreibenden Finanzspekulationen Einhalt gebieten. Ein Ansatz, der auch von anderen osteuropäischen Ländern wie Ungarn oder Tschechien forciert wurde. Breite Unterstützung unter den Regierungschefs fand der Vorschlag über einer Aussetzung des ETS zwar nicht. Man habe sich aber darauf verständigt, die Preisentwicklung dort ebenso wie an den Energiemärkten genau zu beobachten, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz.
Der französische Präsident Emmanuel Macron wiederum sprach sich vor dem Hintergrund des hohen CO2-Preises gegen eine Ausweitung des ETS auf Gebäude und Verkehr aus. Entsprechende Pläne hatte die EU-Kommission im Rahmen ihres Fit-For-55-Pakets im Juli vorgelegt. Diese sorgten nicht nur in Frankreich für einen Aufschrei (Europe.Table berichtete).
Andere Länder, allen voran Spanien, pochten derweil auf eine Anpassung des europäischen Strom- und Gasmarktdesigns, um auf die Energiekrise zu reagieren und die Volatilität des Marktes zu verringern. Im Rahmen des am Mittwoch veröffentlichten EU-Gaspakets (Europe.Table berichtete) will die Europäische Kommission der Forderung nach gemeinsamen strategischen Gaseinkäufen entgegenkommen und diese zumindest auf freiwilliger Basis ermöglichen. Von der spanischen Wunschvorstellung einer europaweit zugänglichen, zentralen Plattform ist man damit jedoch weit entfernt.
Die meisten Länder, darunter Deutschland, sehen in dem Anstieg der Energiepreise allerdings ein vorübergehendes, marktbasiertes Phänomen und halte weitreichende Eingriffe in den EU-Markt für kontraproduktiv. Zuletzt hatten die EU-Energieagentur ACER sowie die Marktaufsichtsbehörde ESMA die Entwicklung der Energiepreise untersucht. Den Berichten zufolge gehen die rekordhohen Strompreise weder auf Marktmanipulationen noch auf Fehler im bestehenden Strommarktdesign zurück. Die beiden Behörden sollen jetzt noch tiefer in die Untersuchung einsteigen.
Vielmehr sei der Preisanstieg in erster Linie auf die globale wirtschaftliche Erholung und die damit verbundene gestiegene Nachfrage nach Gas zurückzuführen. Um Verbraucher und Industrie kurzfristig vor den hohen Kosten zu schützen, seien befristete und gezielte nationale Maßnahmen am geeignetsten. Eine Toolbox mit entsprechenden Vorschlägen hatte die EU-Kommission im Oktober vorgestellt (Europe.Table berichtete).
Für zusätzlichen Streit sorgte der geplante delegierte Rechtsakt zur Taxonomie, der den Klimaschutzbeitrag von Atomenergie und Erdgas bewerten soll. Angeführt von Tschechien drängten mehrere Länder darauf, eine Formulierung in die Gipfelerklärung aufzunehmen, wonach die Kommission den Rechtsakt bereits kommende Woche vorlegen solle, mitsamt eines grünen Labels für Atom und Gas. Dagegen aber wehrten sich Atomkraftgegner wie Österreich und Luxemburg verbissen.
Scholz bemühte sich, ebenso wie Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die ideologisch aufgeheizte Diskussion zu beruhigen. “Die Frage wird völlig überbewertet“, sagte er. Die Taxonomie sei wichtig für Investoren, die ihr Geld nach Nachhaltigkeitskriterien anlegen wollten. Sie entscheide aber nicht darüber, welchen Weg die einzelnen Länder zum Ziel der Klimaneutralität einschlagen müssten. Scholz und Macron kündigten an, sich in den nächsten Tagen weiter intensiv um Kompromisslösungen zu bemühen. mit Till Hoppe
Die Europäische Union wagt sich außen- und wirtschaftspolitisch auf neues Terrain vor. Beim Europäischen Rat am Donnerstag in Brüssel haben die EU-Staats- und Regierungschefs – darunter erstmals Bundeskanzler Olaf Scholz – mit wirtschaftlichen und finanziellen Sanktionen gegen Russland gedroht, noch bevor das Land die befürchtete Militäroffensive gegen die Ukraine gestartet hat.
Bisher hatte die EU nur nachträglich mit Strafmaßnahmen auf Verletzungen ihrer Werte und Interessen reagiert. Nun geht sie – nicht zuletzt auf Drängen der USA und der Nato – proaktiv vor. Der Schritt ist als abschreckende Maßnahme gedacht; parallel wollen sich Scholz und der französische Staatschef Emmanuel Macron wieder um einen Dialog mit Präsident Wladimir Putin bemühen (Europe.Table berichtete).
“Jede weitere militärische Aggression gegenüber der Ukraine wird massive Konsequenzen und erhebliche Kosten nach sich ziehen”, heißt es in der Gipfelerklärung, die die 27 am späten Donnerstagabend verabschiedet haben. Geplant seien auch “restriktive Maßnahmen, die mit unseren Partnern koordiniert werden”. Die USA hatten zuvor auf die Vorbereitung von EU-Sanktionen gegen Russland gedrungen.
Allerdings werden die Strafmaßnahmen nicht “ausbuchstabiert”. Dies hatten neben der Ukraine auch Polen, Litauen und Lettland gefordert. Der Gipfel möge beschließen, dass die Ostseepipeline “Nord Stream auf dem Tisch ist”, sagte der lettische Regierungschef Krišjānis Kariņš. “Wenn es erhöhte militärische Aktivitäten gibt, würde das Projekt abgeschaltet.”
Kariņš konnte sich mit dieser Forderung jedoch nicht durchsetzen. Aus Sicht von Scholz und Macron, die sich eng abstimmten, sprachen zwei Argumente gegen eine konkrete Nennung der EU-Sanktionen gegen Russland: Zum einen würde dies Putin in die Hände spielen – er könnte sich auf die Strafen einstellen und Gegenmaßnahmen vorbereiten. Zum anderen müsse man zunächst die möglichen Kosten abschätzen.
Diese Kosten können erheblich sein. So dürfte ein endgültiger Verzicht auf Nord Stream 2 zu noch höheren Energiepreisen führen. Der Gaspreis war schon am Montag in die Höhe geschnellt, nachdem Außenministerin Annalena Baerbock angekündigt hatte, dass nicht mit einer schnellen Genehmigung der Pipeline zu rechnen sei. Nach Angaben der Bundesnetzagentur fällt vor Sommer 2022 keine Entscheidung mehr.
Noch wesentlich schmerzhafter könnte ein Ausschluss Russlands vom Finanzdienstleister Swift werden, wie er in Brüssel erwogen wird. Ein solcher Schritt hätte “dramatische Auswirkungen” auf die Wirtschaft, sagte Oliver Hermes, der Vorsitzende des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft. In Moskau spricht man von einer “Atombombe auf dem Finanzmarkt”, die auch Europa treffen werde.
Tatsächlich dürfte die finanzielle Isolation Russlands zu erheblichen Erschütterungen auf den Märkten führen – und auf die deutsche Exportwirtschaft zurückschlagen. Scholz wird es sich daher zweimal überlegen, bevor er der “Nuklearoption” Swift zustimmt. Wie es in Brüsseler EU-Kreisen hieß, will man zunächst eine Folgeabschätzung abwarten. Diese könnte die EU-Kommission ausarbeiten.
Trotz dieser Vorbehalte fällt die Drohung mit “massiven Sanktionen” deutlicher aus als das Gesprächsangebot, das der EU-Gipfel nach Moskau schickte. In den Schlussfolgerungen ist lediglich davon die Rede, dass der Europäische Rat die “diplomatischen Bemühungen ermuntert”, um die vollständige Umsetzung des Minsker Abkommens von 2015 zu erreichen.
Außerdem wird das sogenannte Normandie-Format unterstützt, in dem Deutschland, Frankreich, die Ukraine und Russland nach einer Friedenslösung suchen. Der bislang einzige Normandie-Gipfel im Vierer-Format hatte Ende 2019 in Paris stattgefunden. Seither haben sich die Spannungen jedoch immer mehr verschärft. Zuletzt hatten die USA die Führung in der Ukraine-Krise übernommen.
Ob die EU nun wieder zurück ins diplomatische Spiel findet oder weiter an den Rand gedrängt wird, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall hat sie sich mit ihrem Sanktions-Beschluss weiter vorgewagt denn je – Scholz ist bei seinem ersten Gipfel eine riskante Wette eingegangen.
Wöchentliche Kommissionssitzung
22.12.2021
Akteure: EU-Kommission
Agenda: Auf der vorläufigen Tagesordnung stehen unter anderem eine Initiative zur Bekämpfung des Missbrauchs von Briefkastenfirmen, ein Vorschlag zur Umsetzung des globalen OECD-Übereinkommens über die effektive Mindestbesteuerung und eine gemeinsame Mitteilung über ein strategisches Konzept zur Unterstützung der Entwaffnung, Demobilisierung und Wiedereingliederung ehemaliger Soldaten. Zu erwarten ist auch, dass die Kommission den delegierten Rechtsakt zur Behandlung von Kernenergie und Erdgas im Rahmen der EU-Taxonomie vorlegt. Zudem dürfte die Behörde die neuen Leitlinien für Klima-, Energie- und Umweltbeihilfen präsentieren. Im Anschluss findet gegen 12:00 Uhr eine Pressekonferenz statt.
Vorläufige Tagesordnung Pressekonferenz Live
Rat der EU: Umwelt
20.12.2021 09:30 Uhr
Akteure: Umweltminister:innen
Agenda: Auf der vorläufigen Tagesordnung stehen unter anderem ein Fortschrittsbericht bezüglich des Fit-for-55-Pakets, verschiedene damit in Verbindung stehende aktuelle Gesetzgebungsvorschläge sowie Berichte über die wichtigsten jüngsten internationalen Tagungen.
Vorläufige Tagesordnung
Als die erste Pandemie-Welle Anfang 2020 über Europa rollte, setzten die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf Grenzschließungen. Trotz der Erkenntnis, dass das Virus an keiner Landesgrenze haltmacht und Grenzschließungen zwischen EU-Mitgliedstaaten nicht zielführend sind, kommt es immer wieder zu ähnlichen Reaktionen. So hat etwa Deutschland während der dritten Welle im vergangenen Frühjahr an den Grenzen zu Tschechien und Österreich strenge Kontrollen durchgeführt, um die Ausbreitung der damals neuen Delta-Virusvariante zu verlangsamen. Auch der Streit um den richtigen Ansatz erst für die Corona-Apps und später der digitalen Impfzertifikate spaltete die Mitgliedstaaten.
Angesichts der vierten Welle und der neuen Omikron-Variante leiten immer mehr Länder neue Notfallmaßnahmen ein. Noch Ende November versuchte die EU-Kommission, die Mitgliedstaaten auf eine gemeinsame Linie einzuschwören. So betonte EU-Justizkommissar Didier Reynders etwa: “Unser Hauptziel ist es, abweichende Maßnahmen in der EU zu vermeiden.” EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides warnte im Europaparlament vor einer neuen “Zersplitterung” der Regeln wie zu Beginn der Pandemie.
Doch vergeblich. Nach und nach scheren erneut immer mehr Länder aus und ergreifen eigene Maßnahmen, etwa bei der Gültigkeitsdauer des Covid-Impfzertifikats oder bei den Einreisebestimmungen. Die Befürchtung der EU-Kommission, dass in der EU ein bunter Flickenteppich an unterschiedlichen Regelungen entsteht, wird erneut Realität.
Erste Mitgliedstaaten haben sich dazu entschlossen, die Gültigkeitsdauer der Impfzertifikate herunterzusetzen. So sind digitale EU-Impfzertifikate etwa in Italien und Österreich neun Monate lang gültig. In Frankreich und auch in Dänemark sind es bald nur noch sieben Monate. Einige weitere Länder diskutieren oder planen bereits ähnliche Maßnahmen. In Deutschland gilt das Zertifikat bislang zwölf Monate. Im Gegensatz zu anderen Ländern will Deutschland allerdings eine europäische Gesamtlösung abwarten. Und diese soll auch kommen.
Die Staatschefs haben beim EU-Gipfel am Donnerstag bestätigt, dass die EU-Kommission im Rahmen eines unmittelbar wirksamen delegierten Rechtsakts verbindliche Regelungen zur Gültigkeitsdauer der digitalen Impfzertifikate erlassen soll. Für Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) ist das der richtige Schritt: “Die Zertifikatslaufzeiten sollten vereinheitlicht werden, und das sollte auf Grundlage der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse geschehen.” Damit könnten die Zertifikate künftig abhängig von der Wirksamkeit der Impfungen bei den jeweils dominanten Virusvarianten in der ganzen EU schneller ihre Gültigkeit verlieren als bisher.
In vielen Ländern werden nun Booster-Impfungen in erheblichem Umfang und entsprechend hohe Impfstoffmengen benötigt. In Deutschland drohe für das erste Quartal 2022 sogar ein Impfstoffmangel, teilte Gesundheitsminister Lauterbach nach einer Bestandsaufnahme mit, für die er jedoch weder seinen Amtsvorgänger noch die EU-Kommission verantwortlich macht.
Am Donnerstag kündigte die Kommission an, dass der Impfstoffhersteller Moderna Deutschland und anderen EU-Mitgliedstaaten beschleunigt Messenger-RNA-Impfstoff zur Verfügung stellt. Eine Lieferung von 10 Millionen Dosen Moderna für Deutschland soll auf Dezember 2021 vorgezogen werden. Weitere zusätzliche 25 Millionen Moderna-Dosen werden im ersten Quartal 2022 geliefert, Ende des ersten Quartals könnten auch erste an die Omikron-Variante angepasste mRNA-Vakzine zur Verfügung stehen. Deutschland hat zudem eine Abnahmezusage für den Großteil der Impfdosen eines weiteren EU-Rahmenvertrages mit Biontech für 2022 gegeben.
Doch bis Booster und angepasste Impfstoffe flächendeckend wirken, droht weiteres EU-Chaos. Länder wie Portugal, Irland und Italien fordern einen negativen Coronavirus-Test für alle Reisenden aus anderen EU-Ländern, unabhängig vom Impfstatus. Vor allem Italien sorgt damit für Irritationen. Der italienische Gesundheitsminister Roberto Speranza unterzeichnete erst am Dienstag eine entsprechende Verordnung, ohne der Vereinbarung nachzukommen, die EU-Kommission 48 Stunden im Voraus zu informieren.
“Diese Einzelentscheidungen der Staaten untergraben das Vertrauen der Menschen, dass die Bedingungen überall in der EU gleich sind”, sagte die Vizepräsidentin der EU-Kommission, Věra Jourová. Sie betonte, dass die EU-Verordnung über den Grünen Pass vorsieht, dass EU-Bürger ohne Einschränkungen in der gesamten EU reisen dürfen, wenn sie geimpft sind, einen negativen Test haben oder eine Bescheinigung über ihre Genesung vorlegen können.
Der Zeitpunkt für Italiens Alleingang könnte kaum schlechter gewählt sein. Denn nur zwei Tage später, auf dem gestrigen EU-Gipfel, sollte es gerade um ein koordiniertes Vorgehen der Mitgliedsländer gehen. Der luxemburgische Premierminister Xavier Bettel kritisierte unmittelbar vor dem Gipfel die Entscheidung der Länder, obligatorische Tests für EU-Reisende einzuführen. Er warnte davor, dass solche Regeln die Impfbereitschaft mindern würden. Ähnlich äußerte sich der belgische Premierminister Alexander De Croo.
Die 27 Staatschefs – darunter auch Italiens Premier Mario Draghi – betonten in ihrer gemeinsamen Erklärung erneut die Bedeutung eines koordinierten Vorgehens in der Pandemie. Es sei wichtig sicherzustellen, dass “alle Beschränkungen auf objektiven Kriterien beruhen und das Funktionieren des Binnenmarktes nicht untergraben oder die Freizügigkeit zwischen den Mitgliedstaaten und die Einreise in die EU nicht unverhältnismäßig behindern“, hieß es in den Schlussfolgerungen.
Nachdem das Europäische Parlament Anfang Dezember den Kompetenzstreit über die Verordnung für Künstliche Intelligenz (KI) geklärt hat, stehen nun auch die Berichterstatter für den Ausschuss für Kultur und Bildung (CULT) und den Industrieausschuss (ITRE) fest. Diese verhandeln das Gesetz im Parlament in mitberatender Funktion. Wie erwartet geht der Bericht im ITRE an die EVP-Fraktion (Europe.Table berichtete). Die Bulgarin Eva Maydell wird ihn verfassen. “Das erste allgemeine Gesetz für Künstliche Intelligenz sollte allen zugutekommen: Bürger:innnen, Verbraucher:innen und Unternehmen”, kommentierte die 35-Jährige die Dossierzuständigkeit auf Twitter.
Maydell ist Mitglied im Sonderausschuss für Künstliche Intelligenz (AIDA) und ist in mehreren weiteren digitalpolitischen Dossiers aktiv, darunter die Revision der Netzwerk- und Informationssicherheitsrichtlinie (NIS) (Europe.Table berichtete) sowie den Gesetzen zur Plattformregulierung (Digital Markets Act und Digital Services Act). Der ITRE hat die exklusive Beratungskompetenz für den Artikel 15 (Genauigkeit, Robustheit und Cybersicherheit) sowie den Artikel 55 (Maßnahmen für Kleinanbieter und Kleinnutzer) der KI-Verordnung.
Im CULT wird der Piraten-Politiker Marcel Kolaja Berichterstatter (Grüne/EFA). Der Tscheche zog 2019 erstmals ins Europaparlament ein und ist seither Vize-Präsident des Abgeordnetenhauses. Als studierter Informatiker liegen Kolaja digitale Themen am Herz. Der 41-Jährige sitzt wie Maydell im AIDA-Auschuss und ist im Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz (IMCO) Schattenberichterstatter für den Digital Markets Act. Er setzt sich unter anderem für die Freiheit des Internets ein.
Damit steht nur die offizielle Bestätigung von Axel Voss (CDU/EVP) noch aus, der inoffiziell bereits seit Langem als Berichterstatter für den Rechtsausschuss (JURI) gesetzt ist.
Wie “Contexte” zuerst berichtete, plant das Europaparlament derzeit, seine Verhandlungsposition zur KI-Verordnung bis November 2022 festzuzurren. Einem internen Kalender zufolge soll Mitte März eine Anhörung mit der Kommission stattfinden, bevor die Berichterstatter des IMCO Brando Benifei (IT, S&D) und des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) Dragoş Tudorache (RO, Renew) ihren Bericht Anfang April fertigstellen.
Aufgrund der geteilten Federführung von IMCO und LIBE schreiben die Europaabgeordneten den Bericht gemeinsam. Die Stellungnahmen der mitberatenden Ausschüsse JURI, ITRE und CULT sind für Mitte Juni vorgesehen. koj
Die Gesamtkosten eines Elektro-Pkw fallen nicht höher aus als die eines Verbrenners. E-Autos seien dank der staatlichen Prämie somit eine “wirtschaftliche Alternative zu Benzin- oder Dieselfahrzeugen”. Das ist das Ergebnis einer Analyse der Initiative Agora Verkehrswende, in der Daten des ADAC für die etwa 8.000 in Deutschland verfügbaren Neuwagenmodelle in den ersten fünf Nutzungsjahren ausgewertet wurden.
Demnach sind kleinere Elektromodelle allerdings nur aufgrund der Förderprämie konkurrenzfähig. Eine Golfklasse mit Verbrennungsmotor kostet laut den Autoren in den ersten fünf Nutzungsjahren bei 15.000 gefahrenen Kilometern rund 42.000 Euro, das elektrische Pendant mitsamt Prämie rund 40.000. Bei der Berechnung wurden Wertverlust, Energiekosten, Steuern, Versicherungen und die Wartung berücksichtigt.
Mittel- und hochklassige E-Autos sind dagegen auch ohne die Prämie wirtschaftlicher als ihre fossilen Pendants. Die Prämie wird ohnehin nur bei Fahrzeugen mit einem Kaufpreis unter 65.000 Euro ausgezahlt. Agora rechnet vor, dass ein Benziner der E-Klasse insgesamt 77.000 Euro koste – bei einem vergleichbaren E-Modell seien es nur 70.000 Euro.
Agora fordert daher, dass Fördermaßnahmen sich künftig vielmehr auf mittlere und kleine Fahrzeugklassen konzentrieren. Prämien für hochklassige Fahrzeuge könnten entsprechend bereits reduziert werden.
Mit durchschnittlich rund 58.000 Euro mitsamt Prämie sind Plug-in-Hybride (PHEV) teurer als E-Autos (51.000 Euro) oder Verbrenner (57.000 Euro) in einer vergleichbaren Größe. PHEV sind demnach keine kostengünstige Alternative zum Verbrenner. Dazu kommt die stark vom Fahrverhalten abhängige Emissionsbilanz der PHEV (Europe.Table berichtete). Die Studienautoren plädieren deshalb für eine PHEV-Förderung, die am elektrischen Fahranteil bemessen wird. luk
Die französische Datenschutzaufsichtsbehörde CNIL hat die Gesichtserkennungs-Softwarefirma Clearview AI formal aufgefordert, die Erhebung und Verarbeitung von Daten aus Frankreich einzustellen. Clearview hat weltweit 10 Milliarden Fotos aus öffentlich zugänglichen Quellen im Netz weitgehend ohne Zustimmung der Betroffenen für seine Algorithmen verarbeitet.
Nach Auffassung der CNIL ist die Verarbeitung und biometrische Analyse der Bilddaten durch Clearview ein Verstoß gegen die Datenschutzgrundverordnung. Clearview bietet Nachrichtendiensten und Strafverfolgungsbehörden eine Gesichtserkennungs-Suchmaschine als Dienstleistung an.
“Diese biometrischen Daten sind besonders sensibel, insbesondere da sie mit unserer physischen Identität verknüpft sind (was wir sind) und erlauben es, uns auf einzigartige Weise zu identifizieren”, so die französische Behörde. Sie bemängelte zudem, dass Clearview den Zugang zu Daten für potenziell Betroffene unzulässig einschränke. Clearview AI hat nun laut der französischen Datenschutzaufsicht zwei Monate Zeit, der Aufforderung der CNIL nachzukommen. Anderenfalls droht die Behörde mit Strafen, die in diesem Fall nach DSGVO bemerkenswert hoch ausfallen könnten.
Die formelle Entscheidung der CNIL erging nach mehreren Beschwerden, darunter der NGO Privacy International. Die australische Datenschutzaufsicht hatte Clearview AI bereits dazu aufgefordert, die Datensammlung in ihrem Aufsichtsgebiet zu unterlassen sowie gesammelte Daten zu löschen.
Die Entscheidung der CNIL kommt zu einem politisch sensiblen Zeitpunkt: Seit dem Schrems-II-Urteil gibt es keinen verlässlichen allgemeinen Rechtsrahmen für die Datenübermittlung in die USA, am Privacy Shield-Nachfolger wird zwischen Biden-Administration und EU-Kommission intensiv verhandelt (Europe.Table berichtete). Der Fall Clearview hat dabei aufgrund des Dienstleistungsverhältnisses der Firma für Sicherheitsbehörden das Potenzial, die Problempunkte des aus europäischer Sicht mangelnden Datenschutzniveaus in den USA nachdrücklich aufzuzeigen. rtr/fst
Intel will erst im kommenden Jahr über die geplante europäische Chipfabrik entscheiden (Europe.Table berichtete). Er hoffe, die nächsten Standorte in den USA und Europa Anfang 2022 bekanntgeben zu können, sagte Intel-Chef Pat Gelsinger am Donnerstag.
Intel ist mit mehreren europäischen Staaten im Gespräch für einen auf bis zu acht sogenannte Fabs erweiterbaren Produktionsstandort. In den Chipfabriken sollen Intel-eigene Produkte und Halbleiter für Dritte im Auftrag hergestellt werden. Ein wesentlicher Faktor der Standortauswahl ist neben Infrastrukturfragen auch die öffentliche Förderung (Europe.Table berichtete).
Zugleich teilte der US-Chipkonzern mit, mehr als sieben Milliarden Dollar für den Bau einer neuen Chipfertigung in Malaysia auszugeben. Das Werk solle 2024 an den Start gehen. Es würden 4000 Intel-Stellen sowie mehr als 5000 für den Bau geschaffen. Intel produziert seit 1972 in Malaysia. rtr
Die EU-Wettbewerbsbehörde wird Insidern zufolge grünes Licht für die Übernahme des US-Kundenmanagement-Spezialisten Kustomer durch das weltgrößte Internet-Netzwerk Facebook erteilen. Facebook habe auf Bedenken reagiert und garantiere nun eine bessere Interoperabilität, um den Zugriff von außen auf das Angebot des Start-ups zu sichern, sagten mehrere mit der Angelegenheit vertraute Personen.
Die EU-Kommission, die bis 28. Januar über den Deal entscheiden muss, wollte keine Stellung nehmen. Facebook hatte die Akquisition im November vergangenen Jahres angekündigt. Das Bundeskartellamt will die Auswirkungen von Facebooks Kustomer-Übernahme auf den deutschen Markt untersuchen. rtr
Als “faszinierend” beschrieb Luukas Ilves im Sommer das Ergebnis einer Studie: Zwei von drei der Befragten aus zehn verschiedenen Ländern würden digitales Zentralbankgeld nutzen, sobald es eingeführt würde. Eine gute Nachricht für den Head of Strategy von Guardtime Luukas Ilves – seit Jahren arbeitet das estnische Blockchain-Unternehmen gemeinsam mit Zentralbanken an elektronischen Währungen.
“Mein Deutsch ist etwas eingerostet”, sagt der 34-Jährige ohne jeglichen Akzent. “Ich habe seit der achten Klasse nicht mehr regelmäßig Deutsch gesprochen.” Ilves wurde 1987 in München geboren. Sein Vater, der spätere estnische Staatspräsident Toomas Hendrik Ilves, arbeitete damals als Leiter des Estnischen Dienstes bei Radio Free Europe. Später zog die Familie in die USA, die Heimat seiner Mutter. Luukas Ilves verbrachte dort den Rest seiner Schulzeit, studierte danach Internationale Beziehungen, Philosophie und Wirtschaft an der Stanford University.
Zurück in Estland begann Luukas Ilves’ Weg zum Experten für Telekommunikation: Er war zunächst Beamter im Verteidigungsministerium, beschäftigte sich dort mit den Themen Cybersecurity und E-Government. Später arbeitete er bei der Estnischen Behörde für Informationssysteme und in Brüssel für die Europäische Kommission, den Rat der EU und den Thinktank The Lisbon Council. Während der EU-Ratspräsidentschaft Estlands 2017 war Ilves für das Thema Digitalpolitik zuständig.
Über seinen anschließenden Wechsel in die Wirtschaft sagt er: “Ich hatte den Eindruck, Regierungen sind zu langsam, um auch komplexere Lösungen zu finden.” Die Wirtschaft sei schneller und aggressiver darin, neue Ideen zu entwickeln und auszubauen. Er wollte aber weiter in der Technologiebranche arbeiten. Der Wechsel von Beamten in die freie Wirtschaft sei in Estland ganz normal – in Brüssel hingegen seien seine Kollegen überrascht gewesen und hätten den Schritt mutig gefunden, erzählt er.
Seit 2019 leitet Luukas Ilves die strategische Ausrichtung von Guardtime in Tallinn. Das Unternehmen wurde 2007 – nach russischen Cyberattacken auf Estland – mit dem Ziel gegründet, Daten sicher und verlässlich zu verschlüsseln und diese Prozesse zu automatisieren. Zu den Produkten gehört unter anderem ein “Smart Vaccination Certificate”, mit dem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fälschungssichere internationale Impfzertifikate entwickeln will.
Schon seit den frühen 2000er-Jahren arbeitet Guardtime am Aufbau eines elektronischen Geldsystems. Das Unternehmen schuf “KSI Cash”, eine Plattform, über die Zahlungen mit digitalem Geld abgewickelt werden. Seit 2020 arbeitet das Unternehmen auch mit der estnischen Zentralbank zusammen, um den Einsatz der Plattform im Euro-System zu untersuchen. Auch mit weiteren Zentralbanken auf der ganzen Welt führt Guardtime Pilotprojekte durch.
“Datenschutz ist auch eine Frage von Selbstbewusstsein”, sagt Ilves. Entschuldigungen für die schleppende Digitalisierung, wie sie aus Deutschland immer wieder zu hören seien, würden irgendwann selbsterfüllend. “Der Mangel an Selbstvertrauen kann da sehr schwächen.” Als Vorbild nennt er sein Heimatland Estland: Bereits nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1989 baute man dort die politischen Institutionen digital auf.
Den “Spirit” der öffentlichen Verwaltung vergleicht Ilves sogar mit dem Silicon Valley – innovativ und effizient. Davon könnten sich andere Länder und auch die EU etwas abschauen. “Regierungen müssen mit den Entwicklungen im privaten Sektor mithalten”, sagt er. Die 27 nationalen Agenturen funktionieren laut Ilves noch zu unterschiedlich. Die Mitgliedstaaten seien noch zu gehemmt, Souveränität an die EU abzugeben.
Die Coronapandemie hat unterdessen vielen Ideen Aufschwung verliehen: Nicht nur die Digitalisierung sei stark vorangeschritten, auch unser Umgang mit Geld habe sich verändert, sagt Ilves. Die erste digitale Zentralbankwährung (CBDC) könnte laut Guardtimes Prognosen schon innerhalb der kommenden zwei Jahre eingeführt werden. Leonie Düngefeld