um den Winter-Plan der EU ging es gestern bei unserem ersten Table.Live-Briefing. Grundgedanke sei es, die “low hanging fruits” in allen EU-Staaten zu ernten, sagte Unternehmensberater Jens Völler. Doch wenn Ausfuhrverbote für Gas wie in Ungarn um sich griffen, “dann haben wir ein Problem in einer Größenordnung, die wir uns noch gar nicht vorstellen können”, warnte Lion Hirth von der Hertie School. Über das Live-Briefing und die neuesten Entwicklungen in der Gaskrise schreibt Manuel Berkel.
Auch die Zusammenarbeit zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich in einem möglichen Gasnotfall ist ausbaufähig – so sieht es zumindest der Wirtschaftsausschuss des britischen Oberhauses. Die Argumentation: UK verfüge über LNG-Exportkapazitäten, die der EU notfalls helfen könnten, während die EU Gasspeicher habe, von denen das Königreich profitieren könne. Deswegen solle die britische Regierung “dringend” eine verbindliche Vereinbarung mit der EU über eine Energie-Notversorgung treffen. Mehr lesen Sie in den News.
Seit Monaten stellt sich Ungarns Premier Viktor Orbán bei wichtigen Entscheidungen auf EU-Ebene quer. Sein destruktives Verhalten könnte nun Konsequenzen haben. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen scheint mittlerweile entschlossen, die finanziellen Druckmittel der EU gegen Ungarn einzusetzen. Die fehlenden Gelder würden die Wirtschaft des Landes hart treffen. Dementsprechend sieht sich die Kommission am längeren Hebel. Der zuständige EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn geht von einer “konstruktiven Lösung” aus, wie Till Hoppe und Hans-Peter Siebenhaar erfahren haben.
Der Gegenwind war erwartbar. Kurz nachdem die EU-Kommission am Mittwoch in ihrem Winter-Plan ein pauschales Energiesparziel von 15 Prozent vorgeschlagen hat, äußerten einzelne Staaten ihre Ablehnung auch öffentlich. Die Regierung Portugals könne den Vorschlag überhaupt nicht akzeptieren, weil dieser unhaltbar sei, sagte gestern der Staatssekretär für Umwelt und Energie, João Galamba, in einem Zeitungsinterview. “Wir konsumieren Gas aus absoluter Notwendigkeit.”
Bereits am Vortag hatte die spanische Ministerin für Ökologischen Wandel, Teresa Ribera, geklagt: “Wir können doch keine Opfer bringen, über die wir nicht gefragt worden sind.” Als Seitenhieb vor allem gegen Deutschland musste man diesen Satz verstehen: “Im Gegensatz zu anderen Ländern haben wir Spanier in Sachen Energieverbrauch nicht über unsere Verhältnisse gelebt.” Das Blatt “El País” sprach am Donnerstag von einer “iberischen Front” gegen die Pläne der Brüsseler Behörde.
Das könnte allerdings bloß Theaterdonner vor den Verhandlungen der Energieminister am Dienstag in Brüssel sein. Denn Sonderfälle wie die Iberische Halbinsel hat die Kommission in ihrem Entwurf vom Mittwoch längst bedacht.
Für jene Mitgliedstaaten, die schlecht an das europäische Gasnetz angebunden sind, könnte das Energiesparziel auf maximal fünf Prozent gesenkt werden, heißt es in einem Absatz, der in der hitzigen Diskussion völlig unterging. Allerdings dürfte der betroffene Staat dann nicht einmal indirekt die Möglichkeit haben, die Gasversorgung eines anderen EU-Landes zu verbessern. Könnten aber nicht mehr LNG-Schiffe von den reichen Kapazitäten auf der Iberischen Halbinsel Richtung Nord- und Ostsee umgeleitet werden, wenn Spanien und Portugal Gas einsparten?
“Das kann erst wieder funktionieren, wenn die mittel- und westeuropäischen LNG-Terminals nicht mehr ausgebucht sind”, sagte gestern der Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Lion Hirth von der Hertie School beim Table.Live-Briefing von Europe.Table zum Winter-Plan der EU. Derzeit könnten andere europäische Terminals also gar keine spanischen Lieferungen aufnehmen.
Die Formel “Gas sparen, um anderen Staaten zu helfen” stößt aber auch in anderen Ländern auf Ablehnung. Im Verhältnis zu Deutschland müssten vor solidarischen Gas-Lieferungen in der EU zunächst einige Meilensteine erreicht werden, hatte am Mittwoch der Generalsekretär der polnischen Regierungspartei PiS, Krzysztof Sobolewski, im Fernsehen gesagt. Ein solcher Meilenstein könnte “die Frage der Kriegsreparationen” sein.
Ungarn hatte in der vergangenen Woche bereits ein Exportverbot für Erdgas angekündigt. “Wenn das der Modus Operandi der europäischen Zusammenarbeit wird, dann haben wir ein Problem in einer Größenordnung, die wir uns noch gar nicht vorstellen können”, sagte Hirth.
Gestern trieb Ungarn den Keil weiter zwischen sich und den Rest Europas. Außenminister Péter Szijjártó reiste zu einem Gespräch nach Moskau mit seinem Amtskollegen Sergei Lawrow, um über zusätzliche Gaslieferungen von 700 Millionen Kubikmetern zu verhandeln.
Zumindest in der Bundesregierung zeigt sich guter Wille beim Energiesparen. Gestern kündigte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) ein neues Paket von Verordnungen an – vom Sparen in öffentlichen Gebäuden über Energieeffizienz-Maßnahmen in der Industrie bis zu einem Heizungscheck für Wohngebäude. Zudem sollen Braunkohlekraftwerke aus der Reserve geholt werden, um die Gasverstromung zurückzudrängen. Wie der Speicherverband INES berichtet, werde außerdem eine Verordnung vorbereitet, um das Leeren einzelner Speicher zu verhindern. Verbandschef Sebastian Bleschke sprach von einer “Lex Uniper”.
Vom Wiederanfahren der Gasflüsse über Nord Stream 1 (Europe.Table berichtete) zeigte sich Habeck unbeeindruckt. Am Donnerstag wurden die Wartungsarbeiten beendet und die Pipeline wieder zu 40 Prozent ausgelastet. Doch der Minister warnte, man dürfe keineswegs davon ausgehen, dass die Lieferungen stetig so weitergingen. “Russland erweist sich zunehmend als Unsicherheitsfaktor im Energiesystem.”
Den Vorschlag der Kommission vom Mittwoch unterstütze er, sagte Habeck. Kein Wunder: Deutschland würde als große Industrienation davon profitieren, wenn es seine Großverbraucher nicht über Gebühr stilllegen müsste. Grundgedanke der Kommissions-Mitteilung sei es, überall in der EU die “low hanging fruits” zu ernten, sagte Gasmarkt-Experte Jens Völler vom Beratungsunternehmen Team Consult beim Table.Live-Briefing. “Es ist viel leichter, von allen 15 Prozent zu verlangen, als von einigen mehr, die besonders von Lieferengpässen beim russischen Gas betroffen sind.”
Eine höhere Anstrengung wünscht sich allerdings die zuständige Fachbehörde des Wirtschaftsressorts. In der Pressekonferenz mit Habeck erinnerte Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur, an Deutschlands Rolle als Transitland. Man richte sich darauf ein, manche osteuropäische Länder mit Gas zu unterstützen, sagte Müller. Als Zielmarke, um eine Gas-Mangellage in diesem und im nächsten Winter zu vermeiden, nannte er für Deutschland eine nötige Einsparung von 20 Prozent – also noch einiges mehr als das Ziel der EU.
Diese Einschätzung deckt sich auch mit Berechnungen der Denkfabrik Bruegel (Europe.Table berichtete). Bisher hatte die Netzagentur die 20-Prozent-Marke in ihren eigenen Szenarien lediglich als “gegriffene Zahl” bezeichnet. Am Donnerstag sprach sich Müller nun für mehr Verbindlichkeit aus. “Minister Habeck hat darauf hingewiesen, dass wir fünf Prozent wohl strukturell erreicht haben dürften. Darum müssen weitere Maßnahmen folgen. Ich glaube, es ist absolut richtig und notwendig, diesen Weg zu gehen.”
In den vergangenen Monaten ließ der Ministerpräsident Ungarns Viktor Orbán kaum eine Gelegenheit aus, um EU-Kommission und die anderen Mitgliedstaaten zu ärgern. Wochenlang blockierte der ungarische Ministerpräsident im Mai das Öl-Embargo gegen Russland und erzwang per Vetodrohung Ausnahmen für sein Land (Europe.Table berichtete). Ende Juni dann stoppte er aus heiterem Himmel die geplante Umsetzung der OECD-Mindeststeuer in der EU (Europe.Table berichtete).
Das destruktive Verhalten könnte sich bald rächen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen scheint inzwischen entschlossen, die finanziellen Druckmittel der EU gegen Budapest einzusetzen. Sollte Budapest den Forderungen – vor allem nach einem entschiedeneren Vorgehen gegen Korruption – in den kommenden vier Wochen nicht nachkommen, will die Kommission den Mitgliedsstaaten empfehlen, einen Teil der Milliardentransfers aus dem EU-Haushalt einzufrieren (Europe.Table berichtete). Dafür reicht nach dem Konditionalitätsmechanismus eine qualifizierte Mehrheit im Rat – und auf Wohlwollen der anderen Regierungen kann Orbán nicht mehr bauen.
Ohne echte Zugeständnisse dürfte die Orbán-Regierung auch weiter keinen Zugriff auf die 7,2 Milliarden Euro erhalten, die Ungarn eigentlich aus dem EU-Wiederaufbaufonds zustehen. Das Ausbleiben der EU-Gelder würde die ohnehin angeschlagene Wirtschaft aber hart treffen.
Angesichts der finanziellen Nöte der Regierung in Budapest sieht sich die Kommission in einer starken Verhandlungsposition: “Im Interesse des Landes gehe ich davon aus, dass die Regierung in Budapest an einer konstruktiven Lösung größtes Interesse haben wird”, sagte der zuständige EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn zu Europe.Table. Die Attraktivität des ungarischen Wirtschaftsstandortes stehe auf dem Spiel. “Ich nehme an, dass es im Laufe des Herbstes zu einer für die Kommission tragfähigen Lösung mit Ungarn kommen kann”, sagt er. Es liege in der Hand der Regierung in Budapest, den Durchbruch zu schaffen.
In ihrem jüngsten Rechtsstaatsbericht hatte die Kommission erneut die Missstände aufgelistet. In Ungarn herrsche ein “Umfeld, in dem die Risiken von Klientelismus, Günstlings- und Vetternwirtschaft in der hochrangigen öffentlichen Verwaltung nicht angegangen werden”. Seit Jahren gibt es deutliche Hinweise, dass Orbán etwa aus EU-Mitteln finanzierte öffentliche Aufträge verbündeten Unternehmern zuschanzt.
Die Regierung scheint angesichts des wachsenden Drucks aus Brüssel zumindest zu einigen Zugeständnissen bereit zu sein. Justizministerin Judit Varga reichte am Dienstag im Parlament zwei Gesetzesentwürfe ein, die für eine wirksamere Korruptionsbekämpfung sowie für eine transparentere Gesetzgebung sorgen sollen. Aus Sicht der Kommission reichen diese Schritte aber nicht aus.
Osteuropa-Experten erwarten, dass Orbán angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Schieflage Ungarns den Forderungen aus Brüssel noch weiter entgegenkommt. “Ich schätze die ungarische Führung als sehr pragmatisch ein und kann mir gut vorstellen, dass man noch einlenken wird, um größeren Schaden abzuwenden”, sagt Mario Holzner, Chef des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw). Zudem gingen Ungarn in Europa die Partner aus, seitdem man mit Polen in der Russland-Politik uneins sei.
Von der Leyen trifft Orbán an einem wunden Punkt. Die Gelder aus dem Wiederaufbaufonds und die Mittel aus dem regulären EU-Budget machten bis zu fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Die Gelder aus Brüssel befeuerten einen großen Teil der öffentlichen wie der privaten Investitionen in Ungarn, sagt Holzner. “Das Aussetzen der EU-Fördermittel wäre für Ungarn ein schwerer Schlag.”
Der Wirtschaft des Landes droht wegen der Folgen von Ukraine-Krieg und Energiekrise ohnehin eine Rezession. Ungarn weise derzeit ein sehr hohes Budget- und Leistungsbilanzdefizit von rund neun Prozent auf, was sich teils auch an der drastisch abwertenden Landeswährung zeige, sagt Gunter Deuber, Research-Chef der Osteuropa-Bank Raiffeisenbank International (RBI). “Ungarn braucht die EU-Gelder mehr als vor der aktuellen Krise.”
Anders als etwa noch im vergangenen Herbst könne die Regierung die benötigten Mittel nicht einfach bei Investoren aufnehmen, so Deuber. Im aktuellen Kapitalmarktumfeld mit steigenden Zinsen sei dies nicht mehr so einfach möglich. Die staatlichen Investitionen seien in den vergangenen Monaten bereits deutlich zurückgefahren worden, mit Folgeeffekten für private Investitionen. Ohne die Finanzierungsmöglichkeiten aus dem Wiederaufbaufonds werde Ungarn mittelfristig deutlich unattraktiver für ausländische Direktinvestitionen, warnt der Volkswirt.
Orbán steht daher vor einem Dilemma. Kann er sich nicht mit der EU-Kommission einigen und muss in der Folge auf einen substanziellen Teil der EU-Gelder verzichten, dann gerate auch das politische Grundgerüst des Systems Orbán ins Wanken, sagt wiiw-Chef Holzner. Allzu weit kann er den Forderungen aus Brüssel aber auch nicht entgegenkommen – denn der Klientelismus verträgt keine echte Transparenz und die ernsthafte Strafverfolgung von Korruptionsvergehen. Der Ungarn-Experte und Buchautor Paul Lendvai (“Orbáns Ungarn”) bezweifelt aber, dass Finanzsanktionen den Premier wirklich in Bedrängnis bringen können. “Angesichts der innenpolitischen Kräfteverhältnisse kann man von einer ernsthaften Gefährdung des Systems für die absehbare Zukunft kaum sprechen“, sagte Lendvai zu Europe.Table. “Mit der Vollmacht durch die Ausnahmegesetze kann Orbán jederzeit härter durchgreifen.” Till Hoppe und Hans-Peter Siebenhaar
Rat der EU: Verkehr, Telekommunikation und Energie
26.07.2022 10:00 Uhr
Themen: Gedankenaustausch zur Energieversorgungssicherheit in der EU und zu weiteren Maßnahmen vor dem nächsten Winter.
Vorläufige Tagesordnung
Nach der Entscheidung zur Auflösung der beiden Parlamentskammern in Italien ist das Datum für die vorgezogene Wahl 2022 auf den 25. September festgelegt worden. Das wurde während einer Sitzung des Ministerrats am Donnerstagabend in Rom mitgeteilt, wie die Nachrichtenagenturen Ansa und Adnkronos unter Berufung auf Teilnehmer berichteten. Der zurückgetretene, aber noch amtierende Regierungschef Mario Draghi bedankte sich in einer Rede bei Staatschef Sergio Mattarella für das Vertrauen, das er in ihn gesetzt habe. “Wir müssen sehr stolz auf die Arbeit sein, die wir im Auftrag des Präsidenten der Republik im Dienste aller Bürger geleistet haben”, sagte der 74-Jährige.
Der frühere Chef der Europäischen Zentralbank forderte, mit Entschlossenheit in den kommenden Wochen weiterzuarbeiten. Seine Regierung ist noch im Amt, bis es eine neue gibt. Mattarella löste zuvor die beiden Parlamentskammern auf. Dem wiederum ging der Rücktritt Draghis voraus. Es war das Ende eines einwöchigen Pokers um die Fortsetzung seiner Regierung, der durch das Ausbleiben des Vertrauens der mitregierenden Fünf-Sterne-Bewegung bei einer Abstimmung im Senat am vergangenen Donnerstag ausgelöst wurde. Am Mittwoch sprachen ihm gleich drei seiner Regierungsparteien das Vertrauen im Senat nicht aus (Europe.Table berichtete).
Auf Italien kommt nun ein wochenlanger Wahlkampf zu. In aktuellen Umfragen liegt die rechtsextreme Partei Fratelli d’Italia (Brüder Italiens) vorne. Ein Bündnis mit den Mitte-Rechts-Parteien Lega und Forza Italia scheint möglich. Entscheidend dürfte sein, wie Italien nun vor und nach der Wahl mit der Umsetzung wichtiger Reformen als Bedingung für die Auszahlung milliardenschwerer EU-Hilfsgelder zurechtkommt. dpa
Die Regierung Großbritanniens sollte “dringend” eine verbindliche Vereinbarung mit der EU über engere Zusammenarbeit bei der Energie-Notversorgung abschließen, fordert der Wirtschaftsausschuss des britischen House of Lords. Großbritannien verfüge über LNG-Exportkapazitäten, die die EU notfalls versorgen könnten, während die EU Gasspeicher habe, von denen das Königreich profitieren könne, schreibt das Oberhaus in einem am Donnerstag veröffentlichtem Bericht.
Trotz gegenseitiger Beteuerung zur Zusammenarbeit bei der Energiesicherheit planten beide Seiten, im Falle einer Knappheit die Lieferungen an die jeweils andere Partei einzuschränken. Daher solle ein Abkommen über die Energie-Zusammenarbeit zwischen der EU und Großbritannien zur Bewältigung möglicher Engpässe beitragen, heißt es von den Lords. Dieses solle nach Möglichkeit auch Norwegen einbeziehen.
Der britische Gasnotfallplan sieht vor, die Verbindungsleitungen ans Festland im Falle einer Verknappung, die die Stabilität des Systems bedroht, abzuschalten. Auch die EU sieht derzeit keinen Solidaritätsmechanismus mit dem Königreich für Notfälle vor.
Das sei etwas, das man dringend angehen müsse, sagte der Ausschussvorsitzende Lord George Bridges am Donnerstag der britischen “Financial Times”. “Was noch vor ein paar Monaten als sehr unwahrscheinlich galt, scheint jetzt wahrscheinlicher zu werden, und deshalb müssen wir einen Plan haben.“
Außerdem forderte der Wirtschaftsausschuss des Oberhauses die britische Regierung auf, eine Strategie zur Reduzierung der Energienachfrage zu erstellen sowie einen beschleunigten Ausbau von Erneuerbaren Energien, um die Abhängigkeit von volatilen Gasmärkten zu verringern. luk
Das britische Unterhaus hat am Mittwochabend in dritter Lesung für den umstrittenen Gesetzentwurf zum Nordirland-Protokoll gestimmt. Mit dem geplanten Gesetz sollen die Brexit-Vereinbarungen zu der britischen Provinz einseitig von London außer Kraft gesetzt werden können (Europe.Table berichtete). Die EU hatte sich zuvor über das Vorhaben äußerst besorgt gezeigt und Konsequenzen angedroht (Europe.Table berichtete).
Trotz teils heftiger Kritik aus den eigenen Reihen votierten 267 Abgeordnete in London für das Vorhaben, 195 Parlamentarier stimmten dagegen. Bevor das Gesetz in Kraft treten kann, muss es jedoch noch durch die zweite Parlamentskammer, das House of Lords. Das soll nach der Sommerpause geschehen. Im Oberhaus dürfte der Entwurf auf deutlicheren Widerstand stoßen. Sollte sich die Regierung mit den Plänen aber durchsetzen, dürfte es zu schweren Verwerfungen mit Brüssel kommen. Im schlimmsten Fall droht ein Handelskrieg.
Die Regierung in London will mit dem Gesetzesvorhaben erzwingen, dass Brüssel die erst 2019 im Rahmen des Brexit-Vertrags geschlossene Vereinbarung über den Sonderstatus für Nordirland wieder aufmacht. Die EU-Kommission schließt das strikt aus und will stattdessen über Lösungen im Rahmen der bestehenden Vereinbarung verhandeln.
Das Nordirland-Protokoll sieht vor, dass die Provinz Teil des EU-Binnenmarkts und der Europäischen Zollunion bleibt. Damit sollten Warenkontrollen an der Grenze zum EU-Mitglied Irland verhindert werden, um ein Wiederaufflammen des Konflikts zwischen Befürwortern und Gegnern einer Vereinigung der beiden Teile Irlands zu verhindern. Notwendig sind nun aber Kontrollen zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs. Diese Konsequenz will die Regierung in London nachträglich aufheben, ohne jedoch eine alternative Lösung vorzulegen. dpa
Das höchste britische Gericht will sich im Oktober mit der Frage befassen, ob Schottland auch ohne grünes Licht aus London erneut über seine Unabhängigkeit von Großbritannien abstimmen darf. Die Anhörungen sollten am 11. und 12. Oktober in London stattfinden, hieß es vom britischen Supreme Court am Donnerstag.
Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon, die ihren Landesteil nach dem Brexit als unabhängigen Staat wieder in die Europäische Union führen will, hatte selbst das Gericht angerufen, um die Rechtmäßigkeit eines Referendums ohne Zustimmung aus Westminster zu klären. Grund ist, dass die britische Regierung es entschieden ablehnt, die Schotten erneut abstimmen zu lassen. In den kommenden Wochen sollen beide Seiten dem Gericht ihre Argumente vorlegen.
Bei einem ersten Referendum hatte 2014 eine Mehrheit der Schotten (55 Prozent) für den Verbleib im Vereinigten Königreich gestimmt. Das war allerdings vor dem Brexit, den der nördlichste britische Landesteil mit klarer Mehrheit (62 Prozent) ablehnte. Daher hoffen die Unabhängigkeitsbefürworter, dass sich bei einer erneuten Abstimmung die Verhältnisse ändern.
Sturgeon hat die Abstimmung – vorbehaltlich der Gerichtsentscheidung – für den 19. Oktober 2023 angekündigt. Sollte das Oberste Gericht eine Abstimmung für unrechtmäßig halten, will sie die nächste britische Parlamentswahl zu einem De-facto-Referendum machen. dpa
Zäsur bei der Europäischen Zentralbank: Die EZB stemmt sich bei ihrer ersten Zinserhöhung seit elf Jahren mit einem unerwartet kräftigen Schritt gegen die immer weiter ausufernde Inflation. Die Währungshüter um EZB-Präsidentin Christine Lagarde beschlossen am Donnerstag, den Leitzins gleich um einen halben Prozentpunkt auf 0,50 Prozent heraufzusetzen. Auch den Einlagensatz erhöhte die EZB in gleichem Umfang – und zwar auf 0,00 Prozent. Banken müssen somit nicht mehr draufzahlen, wenn sie überschüssiges Geld bei der EZB parken. Die Zinsanhebung fiel damit doppelt so stark aus, wie die EZB noch unlängst in Aussicht gestellt hatte. Mit dem Schritt leitet sie eine umfassende Wende in ihrer Geldpolitik ein.
“Der EZB-Rat kam zu dem Urteil, dass im Zuge seiner Leitzinsnormalisierung ein größerer erster Schritt angemessen ist, als auf seiner vorangegangenen Sitzung signalisiert“, sagte Lagarde (Europe.Table berichtete). Sie stellte zudem weitere Zinsschritte in Aussicht. Die EZB befinde sich auf einem Normalisierungspfad, um ihr mittelfristiges Inflationsziel von zwei Prozent zu erreichen.
“Es ist gut, dass sich die EZB heute zu einem großen Zinsschritt von einem halben Prozentpunkt durchgerungen hat”, kommentierte Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer. “Aber das kann nur ein Anfang sein.” Der Euro-Raum mit seinem tiefgreifenden Inflationsproblem brauche eine Serie großer Schritte. DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben mahnte die Notenbanker dagegen zu “wohldosierten” Schritten. Die Inflation sei zum großen Teil importiert. “Daher muss nicht nur die EZB reagieren.”
Die Zinswende ergänzend verständigten sich die Währungshüter auf ein neues Krisen-Anleihenkaufprogramm, mit dem die EZB stark verschuldeten Staaten wie Italien bei Turbulenzen am Anleihenmarkt helfen kann. Das neue Werkzeug (Europe.Table berichtete) namens Transmission Protection Instrument (kurz: TPI) soll dabei helfen, dass die Geldpolitik gleichmäßig im Euroraum wirken kann und es nicht zu einem Auseinanderlaufen der Finanzierungskosten der einzelnen Eurostaaten kommt.
Die Einheitlichkeit der Geldpolitik des EZB-Rats sei eine Voraussetzung dafür, dass die EZB ihr Preisstabilitätsmandat erfüllen könne, erklärte die Notenbank. Laut Lagarde kann jedes Land der Euro-Zone im Prinzip in den Genuss des Programms kommen. TPI sei für spezielle Situationen und Risiken geschaffen worden, die jeden Staat treffen könnten. Der EZB-Rat werde bei Bedarf darüber entscheiden, ob das Programm für ein Land aktiviert werde. rtr
Viele Unternehmen in Deutschland sind bereit, IT-Fachkräfte aus Russland und Belarus zu beschäftigen. Das ergab eine (nicht repräsentative) Trendumfrage von Bitkom. Nach Angaben des Digitalverbands haben bereits mehr als 100.000 IT-Profis in den vergangenen Monaten Russland und Belarus verlassen, viele weitere könnten folgen.
84 Prozent der befragten deutschen Unternehmen gaben an, sie seien grundsätzlich offen für russische und belarussische IT-Expertinnen und -Experten. Voraussetzung sei jedoch, die IT-Fachkräfte verfügten über eine gesuchte Qualifikation und hätten vorab eine behördliche Sicherheitsüberprüfung bestanden. Lediglich 16 Prozent der befragten Unternehmen antworteten, sie lehnten Bewerberinnen und Bewerber aus Russland oder Belarus wegen Sicherheitsbedenken ab. An der Umfrage haben sich 139 Unternehmen beteiligt.
Hintergrund ist, dass sich der Fachkräftemangel in der IT-Wirtschaft wieder verschärft hat (Europe.Table berichtete). “Der IT-Fachkräftemangel betrifft nicht nur die Digitalwirtschaft – er betrifft alle Branchen und zudem Staat und Verwaltung, Schulen und Wissenschaft”, sagte Bitkom-Präsident Achim Berg. “Es wäre für alle Seiten ein Gewinn, wenn wir das exzellente IT-Know-how aus Russland und Belarus abziehen und es schaffen, möglichst viele IT-Profis nach Deutschland zu holen.” Der Bitkom geht davon aus, dass der gesamtwirtschaftliche Bedarf an IT-Fachkräften mittlerweile wieder bei mehr als 100.000 liegt. vis
Der außergewöhnliche Schock der noch immer andauernden Coronapandemie und die Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine haben die gesamte deutsche Wirtschaft nachhaltig erschüttert. Der scharfe Anstieg der Energie- und Rohstoffpreise sowie alte und neue Störungen der globalen Lieferketten verzögern die wirtschaftliche Erholung. Die Preise für Verbraucher und Hersteller steigen so schnell wie seit einem halben Jahrhundert nicht mehr und die Prognosen zum Wachstum des BIP wurden bereits nach unten korrigiert.
Neben diesen Krisen muss Deutschland aber auch dringend einige mittel- und langfristige Probleme bewältigen, die das Wachstum weiter dämpfen und die Inflation nach oben treiben könnten. Erstens sind die Produktivitätszuwächse nach der Wiedervereinigung im Jahr 1990 stark zurückgegangen und liegen seit der weltweiten Finanzkrise von 2008 auf niedrigem Niveau. Für ein anhaltendes Wirtschaftswachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Preisstabilität ist eine höhere Produktivität jedoch unverzichtbar.
Zweitens beschleunigt sich der demografische Wandel in Deutschland, wodurch sich das Verhältnis zwischen Rentnern und der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts deutlich verschieben wird. Dies wird den Druck auf die Sozialsysteme und den Arbeitsmarkt erhöhen, sodass der schon heute problematische Fachkräftemangel die mittelfristigen Wachstumsaussichten der Wirtschaft einschränkt.
Auch wenn die für die Klimawende notwendigen Investitionen ausbleiben oder die Maßnahmen zur Erreichung der Klimaneutralität zu viele zerstörerische Kräfte freisetzen, könnte das künftige Wirtschaftswachstum deutlich geringer ausfallen. Die Verteuerung fossiler Brennstoffe durch eine CO2-Bepreisung sind wichtige Anreize für die Entwicklung erneuerbarer Energiequellen. Allerdings besteht die Gefahr, dass diese absichtlichen relativen Preisänderungen das gesamte Preisniveau hochtreiben.
Als letzter Punkt ist Deutschlands exportorientierte Wirtschaft stärker als andere von der Funktion und Krisenfestigkeit internationaler Lieferketten abhängig, die sich seit 2020 als fragil und störungsanfällig erwiesen haben. Wenn eine teilweise Umkehrung oder Neustrukturierung der weltweiten Handelsströme dazu führen, dass sich Deutschland nicht mehr wie früher auf die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung verlassen kann, könnte sich das Wirtschaftswachstum verlangsamen und die Inflation steigen.
Vor diesem Hintergrund braucht Deutschland eine effiziente, zukunftsorientierte und proaktive Finanzpolitik, die durch angebotsorientierte Maßnahmen ein nachhaltiges Wachstum anregt, ohne die Inflation weiter anzuheizen, und damit der aktuellen Gefahr einer Stagflation entgegenwirkt. Gleichzeitig muss diese Finanzpolitik die aktuellen globalen geostrategischen Herausforderungen berücksichtigen und den privaten Sektor stärken, den Deutschland für wirtschaftliche Modernisierung, Digitalisierung und die Klimawende so dringend braucht.
Diese Grundsätze spiegeln sich in der neuen Strategie für die Finanzpolitik in Deutschland wider, die das Bundesfinanzministerium vor Kurzem vorgestellt hat. Die Strategie ruht auf drei Säulen und strebt ein sorgfältig austariertes Gleichgewicht an, das die Bekämpfung der aktuellen Krise ermöglicht, ohne den Preisdruck noch weiter zu erhöhen.
Die erste Säule ist eine kraftvolle und entschiedene Reaktion auf außergewöhnliche Ereignisse wie den aktuellen Krieg in der Ukraine. Zu diesem Zweck hat die Regierung bereits zwei Entlastungspakete für private Haushalte und Unternehmen beschlossen, die unter dem starken Anstieg der Energiepreise leiden. Dazu gehören Einmalzahlungen für besonders hilfsbedürftige Haushalte, aber auch besonders schwer getroffene Unternehmen werden entlastet. Damit sie den Inflationsdruck nicht zusätzlich erhöhen, sind diese Notfallmaßnahmen begrenzt, befristet und auf bestimmte Zielgruppen ausgelegt. So kommt die Hilfe für Unternehmen beispielsweise in Form einer Vorauszahlung, um sicherzustellen, dass stark belastete, jedoch ansonsten profitable Unternehmen die Krise überleben.
Die Regierung kann diese Hilfen leisten, weil sie vor der Pandemie einen Finanzpuffer aufgebaut hat. Dank einer umsichtigen Politik in guten Zeiten verfügt sie über genug finanzielle Reserven, um die Resilienz der Volkswirtschaft während der Coronapandemie und jetzt während des Kriegs in der Ukraine zu stärken.
Mit der zweiten Säule unserer finanzpolitischen Strategie wollen wir die Ordnungs- und Produktivkräfte des Marktes freisetzen und so ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum generieren. Deshalb spielt die Angebotspolitik bei unseren Maßnahmen im Kampf gegen eine Stagflation eine entscheidende Rolle.
Die in der Strategie enthaltenen finanzpolitischen Maßnahmen sollen private Investitionen mobilisieren, ohne die Wirtschaft weiter in inflationäre Engpässe zu treiben. Dazu gehören auch attraktive Anreize für Unternehmen und hoch qualifizierte Arbeitnehmer sowie bessere Finanzierungsmöglichkeiten für vielversprechende risikobereite Unternehmen.
Ganz grundsätzlich müssen wir Deutschland für Unternehmer attraktiver machen. Dazu brauchen wir innovationsfreundlichere Rahmenbedingungen, ein wettbewerbsfähiges Steuersystem, eine moderne Verwaltung und schnelle Gründungsverfahren. Die Geschwindigkeit, mit der Deutschland zurzeit LNG-Terminals baut (Europe.Table berichtete) und die Energiewende umsetzt, zeigt, dass das möglich ist. Jetzt müssen wir schnell ähnliche Initiativen in anderen Sektoren umsetzen.
Die dritte Säule unserer Strategie betont die fiskalische Resilienz und eine nachhaltige Schuldenpolitik. In diesem Sinne ist die Regierung entschlossen, schon nächstes Jahr die in der Verfassung verankerte Schuldenbremse wieder einzuhalten. Ein Ende der expansiven Haushaltspolitik und die Rückkehr zu einem neutralen Kurs werden ebenfalls zum Kampf gegen die Inflation beitragen.
Die Rückkehr zu einem ausgeglichenen Haushalt wird die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen erhöhen und das Vertrauen von Investoren und Öffentlichkeit in die Regierung stärken. Für die Finanzierung ihrer Modernisierungsprojekte braucht die Koalitionsregierung alle drei Säulen.
In Zeiten einer erhöhten Inflationserwartung sind fiskalische Resilienz und ein höheres Produktivitätswachstum komplementäre Ziele. Beide werden dazu beitragen, die Inflation abzumildern und die deutsche Volkswirtschaft zu stärken.
In Kooperation mit Project Syndicate.
um den Winter-Plan der EU ging es gestern bei unserem ersten Table.Live-Briefing. Grundgedanke sei es, die “low hanging fruits” in allen EU-Staaten zu ernten, sagte Unternehmensberater Jens Völler. Doch wenn Ausfuhrverbote für Gas wie in Ungarn um sich griffen, “dann haben wir ein Problem in einer Größenordnung, die wir uns noch gar nicht vorstellen können”, warnte Lion Hirth von der Hertie School. Über das Live-Briefing und die neuesten Entwicklungen in der Gaskrise schreibt Manuel Berkel.
Auch die Zusammenarbeit zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich in einem möglichen Gasnotfall ist ausbaufähig – so sieht es zumindest der Wirtschaftsausschuss des britischen Oberhauses. Die Argumentation: UK verfüge über LNG-Exportkapazitäten, die der EU notfalls helfen könnten, während die EU Gasspeicher habe, von denen das Königreich profitieren könne. Deswegen solle die britische Regierung “dringend” eine verbindliche Vereinbarung mit der EU über eine Energie-Notversorgung treffen. Mehr lesen Sie in den News.
Seit Monaten stellt sich Ungarns Premier Viktor Orbán bei wichtigen Entscheidungen auf EU-Ebene quer. Sein destruktives Verhalten könnte nun Konsequenzen haben. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen scheint mittlerweile entschlossen, die finanziellen Druckmittel der EU gegen Ungarn einzusetzen. Die fehlenden Gelder würden die Wirtschaft des Landes hart treffen. Dementsprechend sieht sich die Kommission am längeren Hebel. Der zuständige EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn geht von einer “konstruktiven Lösung” aus, wie Till Hoppe und Hans-Peter Siebenhaar erfahren haben.
Der Gegenwind war erwartbar. Kurz nachdem die EU-Kommission am Mittwoch in ihrem Winter-Plan ein pauschales Energiesparziel von 15 Prozent vorgeschlagen hat, äußerten einzelne Staaten ihre Ablehnung auch öffentlich. Die Regierung Portugals könne den Vorschlag überhaupt nicht akzeptieren, weil dieser unhaltbar sei, sagte gestern der Staatssekretär für Umwelt und Energie, João Galamba, in einem Zeitungsinterview. “Wir konsumieren Gas aus absoluter Notwendigkeit.”
Bereits am Vortag hatte die spanische Ministerin für Ökologischen Wandel, Teresa Ribera, geklagt: “Wir können doch keine Opfer bringen, über die wir nicht gefragt worden sind.” Als Seitenhieb vor allem gegen Deutschland musste man diesen Satz verstehen: “Im Gegensatz zu anderen Ländern haben wir Spanier in Sachen Energieverbrauch nicht über unsere Verhältnisse gelebt.” Das Blatt “El País” sprach am Donnerstag von einer “iberischen Front” gegen die Pläne der Brüsseler Behörde.
Das könnte allerdings bloß Theaterdonner vor den Verhandlungen der Energieminister am Dienstag in Brüssel sein. Denn Sonderfälle wie die Iberische Halbinsel hat die Kommission in ihrem Entwurf vom Mittwoch längst bedacht.
Für jene Mitgliedstaaten, die schlecht an das europäische Gasnetz angebunden sind, könnte das Energiesparziel auf maximal fünf Prozent gesenkt werden, heißt es in einem Absatz, der in der hitzigen Diskussion völlig unterging. Allerdings dürfte der betroffene Staat dann nicht einmal indirekt die Möglichkeit haben, die Gasversorgung eines anderen EU-Landes zu verbessern. Könnten aber nicht mehr LNG-Schiffe von den reichen Kapazitäten auf der Iberischen Halbinsel Richtung Nord- und Ostsee umgeleitet werden, wenn Spanien und Portugal Gas einsparten?
“Das kann erst wieder funktionieren, wenn die mittel- und westeuropäischen LNG-Terminals nicht mehr ausgebucht sind”, sagte gestern der Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Lion Hirth von der Hertie School beim Table.Live-Briefing von Europe.Table zum Winter-Plan der EU. Derzeit könnten andere europäische Terminals also gar keine spanischen Lieferungen aufnehmen.
Die Formel “Gas sparen, um anderen Staaten zu helfen” stößt aber auch in anderen Ländern auf Ablehnung. Im Verhältnis zu Deutschland müssten vor solidarischen Gas-Lieferungen in der EU zunächst einige Meilensteine erreicht werden, hatte am Mittwoch der Generalsekretär der polnischen Regierungspartei PiS, Krzysztof Sobolewski, im Fernsehen gesagt. Ein solcher Meilenstein könnte “die Frage der Kriegsreparationen” sein.
Ungarn hatte in der vergangenen Woche bereits ein Exportverbot für Erdgas angekündigt. “Wenn das der Modus Operandi der europäischen Zusammenarbeit wird, dann haben wir ein Problem in einer Größenordnung, die wir uns noch gar nicht vorstellen können”, sagte Hirth.
Gestern trieb Ungarn den Keil weiter zwischen sich und den Rest Europas. Außenminister Péter Szijjártó reiste zu einem Gespräch nach Moskau mit seinem Amtskollegen Sergei Lawrow, um über zusätzliche Gaslieferungen von 700 Millionen Kubikmetern zu verhandeln.
Zumindest in der Bundesregierung zeigt sich guter Wille beim Energiesparen. Gestern kündigte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) ein neues Paket von Verordnungen an – vom Sparen in öffentlichen Gebäuden über Energieeffizienz-Maßnahmen in der Industrie bis zu einem Heizungscheck für Wohngebäude. Zudem sollen Braunkohlekraftwerke aus der Reserve geholt werden, um die Gasverstromung zurückzudrängen. Wie der Speicherverband INES berichtet, werde außerdem eine Verordnung vorbereitet, um das Leeren einzelner Speicher zu verhindern. Verbandschef Sebastian Bleschke sprach von einer “Lex Uniper”.
Vom Wiederanfahren der Gasflüsse über Nord Stream 1 (Europe.Table berichtete) zeigte sich Habeck unbeeindruckt. Am Donnerstag wurden die Wartungsarbeiten beendet und die Pipeline wieder zu 40 Prozent ausgelastet. Doch der Minister warnte, man dürfe keineswegs davon ausgehen, dass die Lieferungen stetig so weitergingen. “Russland erweist sich zunehmend als Unsicherheitsfaktor im Energiesystem.”
Den Vorschlag der Kommission vom Mittwoch unterstütze er, sagte Habeck. Kein Wunder: Deutschland würde als große Industrienation davon profitieren, wenn es seine Großverbraucher nicht über Gebühr stilllegen müsste. Grundgedanke der Kommissions-Mitteilung sei es, überall in der EU die “low hanging fruits” zu ernten, sagte Gasmarkt-Experte Jens Völler vom Beratungsunternehmen Team Consult beim Table.Live-Briefing. “Es ist viel leichter, von allen 15 Prozent zu verlangen, als von einigen mehr, die besonders von Lieferengpässen beim russischen Gas betroffen sind.”
Eine höhere Anstrengung wünscht sich allerdings die zuständige Fachbehörde des Wirtschaftsressorts. In der Pressekonferenz mit Habeck erinnerte Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur, an Deutschlands Rolle als Transitland. Man richte sich darauf ein, manche osteuropäische Länder mit Gas zu unterstützen, sagte Müller. Als Zielmarke, um eine Gas-Mangellage in diesem und im nächsten Winter zu vermeiden, nannte er für Deutschland eine nötige Einsparung von 20 Prozent – also noch einiges mehr als das Ziel der EU.
Diese Einschätzung deckt sich auch mit Berechnungen der Denkfabrik Bruegel (Europe.Table berichtete). Bisher hatte die Netzagentur die 20-Prozent-Marke in ihren eigenen Szenarien lediglich als “gegriffene Zahl” bezeichnet. Am Donnerstag sprach sich Müller nun für mehr Verbindlichkeit aus. “Minister Habeck hat darauf hingewiesen, dass wir fünf Prozent wohl strukturell erreicht haben dürften. Darum müssen weitere Maßnahmen folgen. Ich glaube, es ist absolut richtig und notwendig, diesen Weg zu gehen.”
In den vergangenen Monaten ließ der Ministerpräsident Ungarns Viktor Orbán kaum eine Gelegenheit aus, um EU-Kommission und die anderen Mitgliedstaaten zu ärgern. Wochenlang blockierte der ungarische Ministerpräsident im Mai das Öl-Embargo gegen Russland und erzwang per Vetodrohung Ausnahmen für sein Land (Europe.Table berichtete). Ende Juni dann stoppte er aus heiterem Himmel die geplante Umsetzung der OECD-Mindeststeuer in der EU (Europe.Table berichtete).
Das destruktive Verhalten könnte sich bald rächen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen scheint inzwischen entschlossen, die finanziellen Druckmittel der EU gegen Budapest einzusetzen. Sollte Budapest den Forderungen – vor allem nach einem entschiedeneren Vorgehen gegen Korruption – in den kommenden vier Wochen nicht nachkommen, will die Kommission den Mitgliedsstaaten empfehlen, einen Teil der Milliardentransfers aus dem EU-Haushalt einzufrieren (Europe.Table berichtete). Dafür reicht nach dem Konditionalitätsmechanismus eine qualifizierte Mehrheit im Rat – und auf Wohlwollen der anderen Regierungen kann Orbán nicht mehr bauen.
Ohne echte Zugeständnisse dürfte die Orbán-Regierung auch weiter keinen Zugriff auf die 7,2 Milliarden Euro erhalten, die Ungarn eigentlich aus dem EU-Wiederaufbaufonds zustehen. Das Ausbleiben der EU-Gelder würde die ohnehin angeschlagene Wirtschaft aber hart treffen.
Angesichts der finanziellen Nöte der Regierung in Budapest sieht sich die Kommission in einer starken Verhandlungsposition: “Im Interesse des Landes gehe ich davon aus, dass die Regierung in Budapest an einer konstruktiven Lösung größtes Interesse haben wird”, sagte der zuständige EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn zu Europe.Table. Die Attraktivität des ungarischen Wirtschaftsstandortes stehe auf dem Spiel. “Ich nehme an, dass es im Laufe des Herbstes zu einer für die Kommission tragfähigen Lösung mit Ungarn kommen kann”, sagt er. Es liege in der Hand der Regierung in Budapest, den Durchbruch zu schaffen.
In ihrem jüngsten Rechtsstaatsbericht hatte die Kommission erneut die Missstände aufgelistet. In Ungarn herrsche ein “Umfeld, in dem die Risiken von Klientelismus, Günstlings- und Vetternwirtschaft in der hochrangigen öffentlichen Verwaltung nicht angegangen werden”. Seit Jahren gibt es deutliche Hinweise, dass Orbán etwa aus EU-Mitteln finanzierte öffentliche Aufträge verbündeten Unternehmern zuschanzt.
Die Regierung scheint angesichts des wachsenden Drucks aus Brüssel zumindest zu einigen Zugeständnissen bereit zu sein. Justizministerin Judit Varga reichte am Dienstag im Parlament zwei Gesetzesentwürfe ein, die für eine wirksamere Korruptionsbekämpfung sowie für eine transparentere Gesetzgebung sorgen sollen. Aus Sicht der Kommission reichen diese Schritte aber nicht aus.
Osteuropa-Experten erwarten, dass Orbán angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Schieflage Ungarns den Forderungen aus Brüssel noch weiter entgegenkommt. “Ich schätze die ungarische Führung als sehr pragmatisch ein und kann mir gut vorstellen, dass man noch einlenken wird, um größeren Schaden abzuwenden”, sagt Mario Holzner, Chef des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw). Zudem gingen Ungarn in Europa die Partner aus, seitdem man mit Polen in der Russland-Politik uneins sei.
Von der Leyen trifft Orbán an einem wunden Punkt. Die Gelder aus dem Wiederaufbaufonds und die Mittel aus dem regulären EU-Budget machten bis zu fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Die Gelder aus Brüssel befeuerten einen großen Teil der öffentlichen wie der privaten Investitionen in Ungarn, sagt Holzner. “Das Aussetzen der EU-Fördermittel wäre für Ungarn ein schwerer Schlag.”
Der Wirtschaft des Landes droht wegen der Folgen von Ukraine-Krieg und Energiekrise ohnehin eine Rezession. Ungarn weise derzeit ein sehr hohes Budget- und Leistungsbilanzdefizit von rund neun Prozent auf, was sich teils auch an der drastisch abwertenden Landeswährung zeige, sagt Gunter Deuber, Research-Chef der Osteuropa-Bank Raiffeisenbank International (RBI). “Ungarn braucht die EU-Gelder mehr als vor der aktuellen Krise.”
Anders als etwa noch im vergangenen Herbst könne die Regierung die benötigten Mittel nicht einfach bei Investoren aufnehmen, so Deuber. Im aktuellen Kapitalmarktumfeld mit steigenden Zinsen sei dies nicht mehr so einfach möglich. Die staatlichen Investitionen seien in den vergangenen Monaten bereits deutlich zurückgefahren worden, mit Folgeeffekten für private Investitionen. Ohne die Finanzierungsmöglichkeiten aus dem Wiederaufbaufonds werde Ungarn mittelfristig deutlich unattraktiver für ausländische Direktinvestitionen, warnt der Volkswirt.
Orbán steht daher vor einem Dilemma. Kann er sich nicht mit der EU-Kommission einigen und muss in der Folge auf einen substanziellen Teil der EU-Gelder verzichten, dann gerate auch das politische Grundgerüst des Systems Orbán ins Wanken, sagt wiiw-Chef Holzner. Allzu weit kann er den Forderungen aus Brüssel aber auch nicht entgegenkommen – denn der Klientelismus verträgt keine echte Transparenz und die ernsthafte Strafverfolgung von Korruptionsvergehen. Der Ungarn-Experte und Buchautor Paul Lendvai (“Orbáns Ungarn”) bezweifelt aber, dass Finanzsanktionen den Premier wirklich in Bedrängnis bringen können. “Angesichts der innenpolitischen Kräfteverhältnisse kann man von einer ernsthaften Gefährdung des Systems für die absehbare Zukunft kaum sprechen“, sagte Lendvai zu Europe.Table. “Mit der Vollmacht durch die Ausnahmegesetze kann Orbán jederzeit härter durchgreifen.” Till Hoppe und Hans-Peter Siebenhaar
Rat der EU: Verkehr, Telekommunikation und Energie
26.07.2022 10:00 Uhr
Themen: Gedankenaustausch zur Energieversorgungssicherheit in der EU und zu weiteren Maßnahmen vor dem nächsten Winter.
Vorläufige Tagesordnung
Nach der Entscheidung zur Auflösung der beiden Parlamentskammern in Italien ist das Datum für die vorgezogene Wahl 2022 auf den 25. September festgelegt worden. Das wurde während einer Sitzung des Ministerrats am Donnerstagabend in Rom mitgeteilt, wie die Nachrichtenagenturen Ansa und Adnkronos unter Berufung auf Teilnehmer berichteten. Der zurückgetretene, aber noch amtierende Regierungschef Mario Draghi bedankte sich in einer Rede bei Staatschef Sergio Mattarella für das Vertrauen, das er in ihn gesetzt habe. “Wir müssen sehr stolz auf die Arbeit sein, die wir im Auftrag des Präsidenten der Republik im Dienste aller Bürger geleistet haben”, sagte der 74-Jährige.
Der frühere Chef der Europäischen Zentralbank forderte, mit Entschlossenheit in den kommenden Wochen weiterzuarbeiten. Seine Regierung ist noch im Amt, bis es eine neue gibt. Mattarella löste zuvor die beiden Parlamentskammern auf. Dem wiederum ging der Rücktritt Draghis voraus. Es war das Ende eines einwöchigen Pokers um die Fortsetzung seiner Regierung, der durch das Ausbleiben des Vertrauens der mitregierenden Fünf-Sterne-Bewegung bei einer Abstimmung im Senat am vergangenen Donnerstag ausgelöst wurde. Am Mittwoch sprachen ihm gleich drei seiner Regierungsparteien das Vertrauen im Senat nicht aus (Europe.Table berichtete).
Auf Italien kommt nun ein wochenlanger Wahlkampf zu. In aktuellen Umfragen liegt die rechtsextreme Partei Fratelli d’Italia (Brüder Italiens) vorne. Ein Bündnis mit den Mitte-Rechts-Parteien Lega und Forza Italia scheint möglich. Entscheidend dürfte sein, wie Italien nun vor und nach der Wahl mit der Umsetzung wichtiger Reformen als Bedingung für die Auszahlung milliardenschwerer EU-Hilfsgelder zurechtkommt. dpa
Die Regierung Großbritanniens sollte “dringend” eine verbindliche Vereinbarung mit der EU über engere Zusammenarbeit bei der Energie-Notversorgung abschließen, fordert der Wirtschaftsausschuss des britischen House of Lords. Großbritannien verfüge über LNG-Exportkapazitäten, die die EU notfalls versorgen könnten, während die EU Gasspeicher habe, von denen das Königreich profitieren könne, schreibt das Oberhaus in einem am Donnerstag veröffentlichtem Bericht.
Trotz gegenseitiger Beteuerung zur Zusammenarbeit bei der Energiesicherheit planten beide Seiten, im Falle einer Knappheit die Lieferungen an die jeweils andere Partei einzuschränken. Daher solle ein Abkommen über die Energie-Zusammenarbeit zwischen der EU und Großbritannien zur Bewältigung möglicher Engpässe beitragen, heißt es von den Lords. Dieses solle nach Möglichkeit auch Norwegen einbeziehen.
Der britische Gasnotfallplan sieht vor, die Verbindungsleitungen ans Festland im Falle einer Verknappung, die die Stabilität des Systems bedroht, abzuschalten. Auch die EU sieht derzeit keinen Solidaritätsmechanismus mit dem Königreich für Notfälle vor.
Das sei etwas, das man dringend angehen müsse, sagte der Ausschussvorsitzende Lord George Bridges am Donnerstag der britischen “Financial Times”. “Was noch vor ein paar Monaten als sehr unwahrscheinlich galt, scheint jetzt wahrscheinlicher zu werden, und deshalb müssen wir einen Plan haben.“
Außerdem forderte der Wirtschaftsausschuss des Oberhauses die britische Regierung auf, eine Strategie zur Reduzierung der Energienachfrage zu erstellen sowie einen beschleunigten Ausbau von Erneuerbaren Energien, um die Abhängigkeit von volatilen Gasmärkten zu verringern. luk
Das britische Unterhaus hat am Mittwochabend in dritter Lesung für den umstrittenen Gesetzentwurf zum Nordirland-Protokoll gestimmt. Mit dem geplanten Gesetz sollen die Brexit-Vereinbarungen zu der britischen Provinz einseitig von London außer Kraft gesetzt werden können (Europe.Table berichtete). Die EU hatte sich zuvor über das Vorhaben äußerst besorgt gezeigt und Konsequenzen angedroht (Europe.Table berichtete).
Trotz teils heftiger Kritik aus den eigenen Reihen votierten 267 Abgeordnete in London für das Vorhaben, 195 Parlamentarier stimmten dagegen. Bevor das Gesetz in Kraft treten kann, muss es jedoch noch durch die zweite Parlamentskammer, das House of Lords. Das soll nach der Sommerpause geschehen. Im Oberhaus dürfte der Entwurf auf deutlicheren Widerstand stoßen. Sollte sich die Regierung mit den Plänen aber durchsetzen, dürfte es zu schweren Verwerfungen mit Brüssel kommen. Im schlimmsten Fall droht ein Handelskrieg.
Die Regierung in London will mit dem Gesetzesvorhaben erzwingen, dass Brüssel die erst 2019 im Rahmen des Brexit-Vertrags geschlossene Vereinbarung über den Sonderstatus für Nordirland wieder aufmacht. Die EU-Kommission schließt das strikt aus und will stattdessen über Lösungen im Rahmen der bestehenden Vereinbarung verhandeln.
Das Nordirland-Protokoll sieht vor, dass die Provinz Teil des EU-Binnenmarkts und der Europäischen Zollunion bleibt. Damit sollten Warenkontrollen an der Grenze zum EU-Mitglied Irland verhindert werden, um ein Wiederaufflammen des Konflikts zwischen Befürwortern und Gegnern einer Vereinigung der beiden Teile Irlands zu verhindern. Notwendig sind nun aber Kontrollen zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs. Diese Konsequenz will die Regierung in London nachträglich aufheben, ohne jedoch eine alternative Lösung vorzulegen. dpa
Das höchste britische Gericht will sich im Oktober mit der Frage befassen, ob Schottland auch ohne grünes Licht aus London erneut über seine Unabhängigkeit von Großbritannien abstimmen darf. Die Anhörungen sollten am 11. und 12. Oktober in London stattfinden, hieß es vom britischen Supreme Court am Donnerstag.
Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon, die ihren Landesteil nach dem Brexit als unabhängigen Staat wieder in die Europäische Union führen will, hatte selbst das Gericht angerufen, um die Rechtmäßigkeit eines Referendums ohne Zustimmung aus Westminster zu klären. Grund ist, dass die britische Regierung es entschieden ablehnt, die Schotten erneut abstimmen zu lassen. In den kommenden Wochen sollen beide Seiten dem Gericht ihre Argumente vorlegen.
Bei einem ersten Referendum hatte 2014 eine Mehrheit der Schotten (55 Prozent) für den Verbleib im Vereinigten Königreich gestimmt. Das war allerdings vor dem Brexit, den der nördlichste britische Landesteil mit klarer Mehrheit (62 Prozent) ablehnte. Daher hoffen die Unabhängigkeitsbefürworter, dass sich bei einer erneuten Abstimmung die Verhältnisse ändern.
Sturgeon hat die Abstimmung – vorbehaltlich der Gerichtsentscheidung – für den 19. Oktober 2023 angekündigt. Sollte das Oberste Gericht eine Abstimmung für unrechtmäßig halten, will sie die nächste britische Parlamentswahl zu einem De-facto-Referendum machen. dpa
Zäsur bei der Europäischen Zentralbank: Die EZB stemmt sich bei ihrer ersten Zinserhöhung seit elf Jahren mit einem unerwartet kräftigen Schritt gegen die immer weiter ausufernde Inflation. Die Währungshüter um EZB-Präsidentin Christine Lagarde beschlossen am Donnerstag, den Leitzins gleich um einen halben Prozentpunkt auf 0,50 Prozent heraufzusetzen. Auch den Einlagensatz erhöhte die EZB in gleichem Umfang – und zwar auf 0,00 Prozent. Banken müssen somit nicht mehr draufzahlen, wenn sie überschüssiges Geld bei der EZB parken. Die Zinsanhebung fiel damit doppelt so stark aus, wie die EZB noch unlängst in Aussicht gestellt hatte. Mit dem Schritt leitet sie eine umfassende Wende in ihrer Geldpolitik ein.
“Der EZB-Rat kam zu dem Urteil, dass im Zuge seiner Leitzinsnormalisierung ein größerer erster Schritt angemessen ist, als auf seiner vorangegangenen Sitzung signalisiert“, sagte Lagarde (Europe.Table berichtete). Sie stellte zudem weitere Zinsschritte in Aussicht. Die EZB befinde sich auf einem Normalisierungspfad, um ihr mittelfristiges Inflationsziel von zwei Prozent zu erreichen.
“Es ist gut, dass sich die EZB heute zu einem großen Zinsschritt von einem halben Prozentpunkt durchgerungen hat”, kommentierte Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer. “Aber das kann nur ein Anfang sein.” Der Euro-Raum mit seinem tiefgreifenden Inflationsproblem brauche eine Serie großer Schritte. DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben mahnte die Notenbanker dagegen zu “wohldosierten” Schritten. Die Inflation sei zum großen Teil importiert. “Daher muss nicht nur die EZB reagieren.”
Die Zinswende ergänzend verständigten sich die Währungshüter auf ein neues Krisen-Anleihenkaufprogramm, mit dem die EZB stark verschuldeten Staaten wie Italien bei Turbulenzen am Anleihenmarkt helfen kann. Das neue Werkzeug (Europe.Table berichtete) namens Transmission Protection Instrument (kurz: TPI) soll dabei helfen, dass die Geldpolitik gleichmäßig im Euroraum wirken kann und es nicht zu einem Auseinanderlaufen der Finanzierungskosten der einzelnen Eurostaaten kommt.
Die Einheitlichkeit der Geldpolitik des EZB-Rats sei eine Voraussetzung dafür, dass die EZB ihr Preisstabilitätsmandat erfüllen könne, erklärte die Notenbank. Laut Lagarde kann jedes Land der Euro-Zone im Prinzip in den Genuss des Programms kommen. TPI sei für spezielle Situationen und Risiken geschaffen worden, die jeden Staat treffen könnten. Der EZB-Rat werde bei Bedarf darüber entscheiden, ob das Programm für ein Land aktiviert werde. rtr
Viele Unternehmen in Deutschland sind bereit, IT-Fachkräfte aus Russland und Belarus zu beschäftigen. Das ergab eine (nicht repräsentative) Trendumfrage von Bitkom. Nach Angaben des Digitalverbands haben bereits mehr als 100.000 IT-Profis in den vergangenen Monaten Russland und Belarus verlassen, viele weitere könnten folgen.
84 Prozent der befragten deutschen Unternehmen gaben an, sie seien grundsätzlich offen für russische und belarussische IT-Expertinnen und -Experten. Voraussetzung sei jedoch, die IT-Fachkräfte verfügten über eine gesuchte Qualifikation und hätten vorab eine behördliche Sicherheitsüberprüfung bestanden. Lediglich 16 Prozent der befragten Unternehmen antworteten, sie lehnten Bewerberinnen und Bewerber aus Russland oder Belarus wegen Sicherheitsbedenken ab. An der Umfrage haben sich 139 Unternehmen beteiligt.
Hintergrund ist, dass sich der Fachkräftemangel in der IT-Wirtschaft wieder verschärft hat (Europe.Table berichtete). “Der IT-Fachkräftemangel betrifft nicht nur die Digitalwirtschaft – er betrifft alle Branchen und zudem Staat und Verwaltung, Schulen und Wissenschaft”, sagte Bitkom-Präsident Achim Berg. “Es wäre für alle Seiten ein Gewinn, wenn wir das exzellente IT-Know-how aus Russland und Belarus abziehen und es schaffen, möglichst viele IT-Profis nach Deutschland zu holen.” Der Bitkom geht davon aus, dass der gesamtwirtschaftliche Bedarf an IT-Fachkräften mittlerweile wieder bei mehr als 100.000 liegt. vis
Der außergewöhnliche Schock der noch immer andauernden Coronapandemie und die Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine haben die gesamte deutsche Wirtschaft nachhaltig erschüttert. Der scharfe Anstieg der Energie- und Rohstoffpreise sowie alte und neue Störungen der globalen Lieferketten verzögern die wirtschaftliche Erholung. Die Preise für Verbraucher und Hersteller steigen so schnell wie seit einem halben Jahrhundert nicht mehr und die Prognosen zum Wachstum des BIP wurden bereits nach unten korrigiert.
Neben diesen Krisen muss Deutschland aber auch dringend einige mittel- und langfristige Probleme bewältigen, die das Wachstum weiter dämpfen und die Inflation nach oben treiben könnten. Erstens sind die Produktivitätszuwächse nach der Wiedervereinigung im Jahr 1990 stark zurückgegangen und liegen seit der weltweiten Finanzkrise von 2008 auf niedrigem Niveau. Für ein anhaltendes Wirtschaftswachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Preisstabilität ist eine höhere Produktivität jedoch unverzichtbar.
Zweitens beschleunigt sich der demografische Wandel in Deutschland, wodurch sich das Verhältnis zwischen Rentnern und der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts deutlich verschieben wird. Dies wird den Druck auf die Sozialsysteme und den Arbeitsmarkt erhöhen, sodass der schon heute problematische Fachkräftemangel die mittelfristigen Wachstumsaussichten der Wirtschaft einschränkt.
Auch wenn die für die Klimawende notwendigen Investitionen ausbleiben oder die Maßnahmen zur Erreichung der Klimaneutralität zu viele zerstörerische Kräfte freisetzen, könnte das künftige Wirtschaftswachstum deutlich geringer ausfallen. Die Verteuerung fossiler Brennstoffe durch eine CO2-Bepreisung sind wichtige Anreize für die Entwicklung erneuerbarer Energiequellen. Allerdings besteht die Gefahr, dass diese absichtlichen relativen Preisänderungen das gesamte Preisniveau hochtreiben.
Als letzter Punkt ist Deutschlands exportorientierte Wirtschaft stärker als andere von der Funktion und Krisenfestigkeit internationaler Lieferketten abhängig, die sich seit 2020 als fragil und störungsanfällig erwiesen haben. Wenn eine teilweise Umkehrung oder Neustrukturierung der weltweiten Handelsströme dazu führen, dass sich Deutschland nicht mehr wie früher auf die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung verlassen kann, könnte sich das Wirtschaftswachstum verlangsamen und die Inflation steigen.
Vor diesem Hintergrund braucht Deutschland eine effiziente, zukunftsorientierte und proaktive Finanzpolitik, die durch angebotsorientierte Maßnahmen ein nachhaltiges Wachstum anregt, ohne die Inflation weiter anzuheizen, und damit der aktuellen Gefahr einer Stagflation entgegenwirkt. Gleichzeitig muss diese Finanzpolitik die aktuellen globalen geostrategischen Herausforderungen berücksichtigen und den privaten Sektor stärken, den Deutschland für wirtschaftliche Modernisierung, Digitalisierung und die Klimawende so dringend braucht.
Diese Grundsätze spiegeln sich in der neuen Strategie für die Finanzpolitik in Deutschland wider, die das Bundesfinanzministerium vor Kurzem vorgestellt hat. Die Strategie ruht auf drei Säulen und strebt ein sorgfältig austariertes Gleichgewicht an, das die Bekämpfung der aktuellen Krise ermöglicht, ohne den Preisdruck noch weiter zu erhöhen.
Die erste Säule ist eine kraftvolle und entschiedene Reaktion auf außergewöhnliche Ereignisse wie den aktuellen Krieg in der Ukraine. Zu diesem Zweck hat die Regierung bereits zwei Entlastungspakete für private Haushalte und Unternehmen beschlossen, die unter dem starken Anstieg der Energiepreise leiden. Dazu gehören Einmalzahlungen für besonders hilfsbedürftige Haushalte, aber auch besonders schwer getroffene Unternehmen werden entlastet. Damit sie den Inflationsdruck nicht zusätzlich erhöhen, sind diese Notfallmaßnahmen begrenzt, befristet und auf bestimmte Zielgruppen ausgelegt. So kommt die Hilfe für Unternehmen beispielsweise in Form einer Vorauszahlung, um sicherzustellen, dass stark belastete, jedoch ansonsten profitable Unternehmen die Krise überleben.
Die Regierung kann diese Hilfen leisten, weil sie vor der Pandemie einen Finanzpuffer aufgebaut hat. Dank einer umsichtigen Politik in guten Zeiten verfügt sie über genug finanzielle Reserven, um die Resilienz der Volkswirtschaft während der Coronapandemie und jetzt während des Kriegs in der Ukraine zu stärken.
Mit der zweiten Säule unserer finanzpolitischen Strategie wollen wir die Ordnungs- und Produktivkräfte des Marktes freisetzen und so ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum generieren. Deshalb spielt die Angebotspolitik bei unseren Maßnahmen im Kampf gegen eine Stagflation eine entscheidende Rolle.
Die in der Strategie enthaltenen finanzpolitischen Maßnahmen sollen private Investitionen mobilisieren, ohne die Wirtschaft weiter in inflationäre Engpässe zu treiben. Dazu gehören auch attraktive Anreize für Unternehmen und hoch qualifizierte Arbeitnehmer sowie bessere Finanzierungsmöglichkeiten für vielversprechende risikobereite Unternehmen.
Ganz grundsätzlich müssen wir Deutschland für Unternehmer attraktiver machen. Dazu brauchen wir innovationsfreundlichere Rahmenbedingungen, ein wettbewerbsfähiges Steuersystem, eine moderne Verwaltung und schnelle Gründungsverfahren. Die Geschwindigkeit, mit der Deutschland zurzeit LNG-Terminals baut (Europe.Table berichtete) und die Energiewende umsetzt, zeigt, dass das möglich ist. Jetzt müssen wir schnell ähnliche Initiativen in anderen Sektoren umsetzen.
Die dritte Säule unserer Strategie betont die fiskalische Resilienz und eine nachhaltige Schuldenpolitik. In diesem Sinne ist die Regierung entschlossen, schon nächstes Jahr die in der Verfassung verankerte Schuldenbremse wieder einzuhalten. Ein Ende der expansiven Haushaltspolitik und die Rückkehr zu einem neutralen Kurs werden ebenfalls zum Kampf gegen die Inflation beitragen.
Die Rückkehr zu einem ausgeglichenen Haushalt wird die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen erhöhen und das Vertrauen von Investoren und Öffentlichkeit in die Regierung stärken. Für die Finanzierung ihrer Modernisierungsprojekte braucht die Koalitionsregierung alle drei Säulen.
In Zeiten einer erhöhten Inflationserwartung sind fiskalische Resilienz und ein höheres Produktivitätswachstum komplementäre Ziele. Beide werden dazu beitragen, die Inflation abzumildern und die deutsche Volkswirtschaft zu stärken.
In Kooperation mit Project Syndicate.