nach der umstrittenen Entscheidung der EU-Kommission, Gas und Atomkraft in die Taxonomie aufzunehmen und somit als grün einzustufen, dreht sich die Diskussion nun um den Bergbau. Um Lieferschwierigkeiten vorzubeugen, müssten europäische Bergbauprojekte gefördert werden, heißt es. Umweltverbände sind aber skeptisch, schreibt Leonie Düngefeld.
Es wird eine knappe Abstimmung heute im EU-Parlament. Die Abgeordneten entscheiden über wichtige Teile des Fit-for-55-Pakets, darunter über ein mögliches De-facto-Verbot für Verbrennermotoren ab 2035. Bei den Dossiers zum ETS, dem CBAM und den Flottengrenzwerten zeichnen sich noch keine eindeutigen Kompromisse ab. Die Stimmen der Renew-Abgeordneten dürften hier entscheidend sein, analysiert Lukas Scheid.
Einigungen zwischen den Mitgliedstaaten und dem EU-Parlament gab es dafür gestern in gleich drei anderen wichtigen Bereichen: So ist ab 2024 Schluss mit dem Kabelsalat, die USB-C-Ladebuchse wird sich durchsetzen. Einen Kompromiss gab es auch bei einheitlichen Standards für Mindestlöhne in der EU und nicht zuletzt bei der Geschlechterquote in den Leitungspositionen börsennotierter Unternehmen.
Die Weltwirtschaft steckt in der Krise und die 12. Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation, die am Sonntag in Genf beginnt, steht vor einer Mammutaufgabe. Nicht nur muss sie Antworten auf die Krisen finden, sondern sich auch damit beschäftigen, wie sie selbst zukunftsfit wird, schreibt Stormy-Annika Mildner, Leiterin des Aspen Institute Germany, im Gastbeitrag.
Vor einer Abstimmung im Plenum des EU-Parlaments sind die Positionen der verschiedenen Parteien und Fraktionen meist hinlänglich bekannt. Die eigentlichen Verhandlungen fanden bereits im Vorfeld des vorangegangenen Votums in den Ausschüssen statt, sodass Kompromisslinien oft bereits gefunden wurden, bevor ein Dossier im Plenum landet. Doch Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel und deshalb kann es bei besonders kontroversen Themen auch ganz anders kommen. Einige Gesetzesvorschläge des Fit-for-55-Pakets gehören zu dieser Kategorie.
Und so mahnte der niederländische Sozialdemokrat und CBAM-Berichterstatter Mohammed Chahim bei der Parlamentsdebatte zum Klimapaket gestern, man habe noch einen Tag Zeit, um Kompromisse zu finden. Das bedeutet, es wird noch immer um gemeinsame Positionen gerungen. Chahims im Umweltausschuss (ENVI) erstrittener Kompromiss, den CO2-Grenzausgleichsmechanismus schon 2030 als Carbon-Leakage-Schutz vollumfänglich einzuführen und die Ausgabe kostenloser CO2-Zertifikate an die Industrie zu beenden (Europe.Table berichtete), steht vor dem Aus.
Es fehlt die Mehrheit, da die EVP den ITRE-Kompromiss bevorzugt, der 2034 als Ende der freien Zuteilungen vorsieht. Auch die Renew-Abgeordneten im ENVI stimmten dem Chahim-Bericht zur zähneknirschend zu. Im Plenum galt deren Zustimmung von Beginn an als nahezu utopisch. Und auch einige S&D-Mitglieder halten 2030 als Enddatum freier Industrie-Zertifikate für verfrüht.
Deshalb steht auch noch ein dritter Vorschlag zur Wahl, der die beiden Positionen zusammenbringt. S&D und Renew einigten sich auf das Jahr 2032 (Europe.Table berichtete). Diesen Kompromiss werden die Grünen im EU-Parlament größtenteils unterstützen. Ganz nach dem Motto: Wenn wir 2030 nicht bekommen, nehmen wir lieber 2032 statt 2034. Ob diese Position mehrheitsfähig ist, hängt auch davon ab, ob die Linken und die französischen Grünen mitgehen oder auf 2030 beharren. Deren Positionen sind noch offen.
Offen ist auch, wie es um die Export-Regelung im CBAM bestellt ist. Viele Industrievertreter äußern nach wie vor große Sorge, dass in Europa klimafreundlich produzierte Ware auf dem Weltmarkt nicht mehr konkurrenzfähig ist. S&D und Grüne unterstützen einen Vorschlag, der für nachhaltig produzierte Exportware weiterhin kostenlose CO2-Zertifikate vorsieht (Europe.Table berichtete). Unter EVP- und Renew-Abgeordneten ist dies umstritten, da bislang nicht eindeutig geregelt ist, wie überprüft wird, was nachhaltig hergestellt wurde und für den Export vorgesehen ist und was nicht.
Die Reform des europäischen Emissionshandelssystems bot seit der Vorstellung des Kommissionsvorschlags vergangenen Juli reichlich Diskussionsstoff (Europe.Table berichtete) – und sie tut es bis heute. Um die Reduktionswirkung des ETS zu beschleunigen und die Ambitionen der europäischen Klimapolitik zu erhöhen, hatte die Kommission eine einmalige Löschung von rund 110 Millionen Zertifikaten im Jahr 2024 vorgeschlagen. Die EVP befürchtet, dass dies zu einem schlagartigen Preisanstieg im ETS und disruptiven Marktentwicklungen führen könnte. Ihre Alternative: 2024 werden zunächst nur 70 Millionen CO2-Zertifikate vom Markt genommen, aber dafür 2026 noch einmal 50 Millionen, um größere Preisschocks zu verhindern. Diese Idee fand Anklang innerhalb der Renew-Fraktion, obwohl diese im ENVI noch die deutlich ambitioniertere einmalige Löschung von über 200 Millionen CO2-Zertifikaten mitgetragen hatte.
Im Sinne eines Kompromisses sind Grüne und Sozialdemokraten nun zurück beim Ausgangsvorschlag der Kommission und hoffen, auf diese Weise die Renew-Abgeordneten zurückzugewinnen. Aus Parlamentskreisen hat Europe.Table erfahren, dass zumindest ein Teil der Renew-Fraktion diesem Kompromiss nicht abgeneigt ist. Wie groß dieser Teil ist, entscheidet schlussendlich darüber, wessen Änderungsantrag die Mehrheit erhält.
Ähnlich ist die Situation bei den CO2-Flottengrenzwerten für Pkw (Europe.Table berichtete) und leichte Nutzfahrzeuge. Obwohl der ENVI-Bericht aus der Feder des Renew-Politikers Jan Huitema stammt (Europe.Table berichtete), bekam der Vorschlag für ambitioniertere Zwischenziele aufgrund fehlender Stimmen aus der eigenen Fraktion keine Mehrheit. Stattdessen stimmten zwei Renew-Abgeordnete (darunter FDP-Mann Andreas Glück) für Änderungsanträge der EVP. Diese sehen kein Verbrenner-Aus für 2035 vor, sondern ein Flottenziel von 90 Prozent, um so die Möglichkeit für die Nutzung von E-Fuels offenzulassen.
Neue Kompromisse gibt es hier allerdings keine. Daher wird es zu einer enorm knappen Abstimmung zwischen dem EVP-Vorschlag und dem Kommissionsvorschlag (Verbrenner-Aus 2035) kommen. Ausschlaggebend wird abermals sein, wie sich die Renew-Abgeordneten entscheiden. Bei einer Presseveranstaltung vergangene Woche versicherte Huitema auf Nachfrage von Europe.Table, seine Fraktion sei geschlossen. Sollte das der Fall sein, dürfte es auf eine Mehrheit für den Kommissionsvorschlag zum Fit-for-55-Paket hinauslaufen.
Mit großer Anstrengung versuchen europäische Bergbauunternehmen zurzeit, ihr Image einer schmutzigen Industrie abzulegen. Auch die Politik hat Interesse daran, schließlich will Europa sich von anderen Rohstoffexporteuren unabhängiger machen. Die EU-Kommission will deshalb eine Gesetzesinitiative vorbereiten, die unter anderem die Aufnahme von Bergbau- und Veredelungsprojekten in die Taxonomie umfasst. Das würde bedeuten: Diese Projekte gelten als nachhaltig und Investitionen werden in diesen Sektor gelenkt.
Viele sehen dies als einzige Möglichkeit, die Versorgung mit kritischen Rohstoffen zu sichern. “Europäische Bergbauprojekte nicht in die Taxonomie aufzunehmen, würde Stillstand bedeuten”, sagte Philippe Varin, Leiter der französischen Regierungsmission für kritische Materialien. Der russische Krieg in der Ukraine gebe Anlass zur Sorge um die Versorgung mit wichtigen Metallen wie Titan, Palladium, Nickel oder Neon. Auch bei Importen aus China gibt es immer wieder Lieferverzögerungen.
Die Platform on Sustainable Finance (PSF), welche die Kommission in der Weiterentwicklung der Taxonomie berät, beginnt zurzeit, technische Prüfkriterien für Bergbau und Veredelung zu entwickeln. Im September plant sie, diese der Kommission zu präsentieren. Dies war eigentlich bereits für Juni geplant, jedoch habe man aufgrund von Datenmangel über die Bergbauaktivitäten noch keinen Konsens erreicht, erklärt Marzia Traverso, Berichterstatterin der technischen Arbeitsgruppe der PSF. Es sei wahrscheinlich, dass Bergbau in die Taxonomie aufgenommen werde, jedoch sei noch nicht sicher, in welchem der noch ausstehenden delegierten Rechtsakte.
Die Europäische Vereinigung der Geologen (EFG) forderte bereits im vergangenen Jahr die Annahme der EU-Taxonomie für umwelt- und sozialverträgliche Bergbauaktivitäten: Europa habe ein nachgewiesenes Potenzial für die Erschließung von Ressourcen – jedoch gelte die Region für die Industrie als nicht investitionsfreundlich, heißt es in einem Positionspapier der NGO. Diese Wahrnehmung müsse die EU ändern.
Bergbauprojekte von der Taxonomie auszuschließen könnte dazu führen, dass Investitionen in nachhaltigen Bergbau in Europa abnehmen. “Dies käme dann einer weniger nachhaltigen Produktion in anderen Teilen der Welt zugute”, sagte eine Sprecherin des schwedischen Bergbauverbands SveMin. Die schwedische Bergbauindustrie habe in den vergangenen Jahren Milliarden investiert, um auf eine fossilfreie und nachhaltige Produktion von Rohstoffen umzustellen. Sie will Vorreiter im nachhaltigen Bergbau werden, zum Beispiel mit dem groß angelegten Projekt “Mining with Nature”: Bis 2030 sollen die Unternehmen die biologische Vielfalt vergrößern – in allen Regionen, in denen ihre Aktivitäten stattfinden.
“Es ist bemerkenswert, dass dies jetzt geschieht, wo die Taxonomie entwickelt wird”, sagt Diego Marin vom European Environmental Bureau (EEB). “Freiwillige Bemühungen werden jedoch niemals an verbindliche Vorschriften herankommen.” Aus den aktuellen Daten gehe hervor, dass es derzeit kaum Beweise für einen verantwortungsvollen Bergbau gibt. In der Theorie könnte die Taxonomie ein Mittel sein, um die Bergbauindustrie dazu zu bringen, sich weniger umweltschädlich und verantwortungsbewusster zu verhalten, sagt Marin. Der Teufel stecke am Ende jedoch im Detail.
Die Responsible Mining Foundation (RFM) definiert verantwortungsvollen Bergbau als “einen Bergbau, der nachweislich die Interessen der Menschen und der Umwelt respektiert und schützt und einen erkennbaren und fairen Beitrag zur allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung des Förderlandes leistet.” Alle zwei Jahre veröffentlicht RFM den Responsible Mining Index, in welchem sie Bergbauprojekte rund um die Welt auf ihre Performance hinsichtlich Umwelt-, Sozial- und Governance-Prinzipien (ESG) bewertet. Die Ergebnisse zeigen: In den letzten Jahren wurden bei den meisten klimabedingten Auswirkungen des Bergbaus kaum Fortschritte erzielt. Lediglich einzelne Unternehmen hätten sich verbessert.
Fortschritte gab es vor allem in der Bekämpfung von Bestechung und Korruption, beim Thema Menschenrechte, verantwortungsvoller Beschaffung und der Offenlegung von Zahlungen an Regierungen. “Dies kann zumindest teilweise auf externe Faktoren zurückgeführt werden, da die Themen in die Gesetzgebung, die Anforderungen und/oder den Berichtsrahmen aufgenommen wurden”, erklärt Pierre de Pasquale von der Responsible Mining Foundation.
RMF unterstützt deshalb die Aufnahme des Bergbaus in die Taxonomie. Sie sieht jedoch die Gefahr des “carbon-washing”, sollte die Umbenennung der Bergbauunternehmen in “grün” und “zukunftsfähig” nur durch die bisherigen Klimaschutzmaßnahmen untermauert bleiben, erklärt Pierre de Pasquale – wenn die Klimaschutzmaßnahmen der Unternehmen bei einer kohlenstoffarmen Produktion vor Ort enden und andere dringende klimabezogene Auswirkungen unbeachtet bleiben. Unternehmen, Finanziers, Versicherer und Regierungen müssen deshalb sicherstellen, dass die klimabedingten Auswirkungen des Bergbaus erkannt und angegangen werden, so de Pasquale.
Die Unterhändler der EU-Institutionen haben sich darauf verständigt, für das Laden von Smartphones und zahlreichen anderen Elektrogeräten ab Mitte 2024 einheitliche Schnittstellen vorzuschreiben. Hersteller von Geräten aus 15 Kategorien müssen in der EU gemäß dem Trilog-Ergebnis USB-C als Standard-Ladebuchse verbauen. Aus der Industrie kommt scharfe Kritik.
Die Regelung gilt etwa für Mobiltelefone, Tablets, Digitalkameras, Kopfhörer, Headsets und tragbare Videospielkonsolen. Das Europaparlament setzte durch (Europe.Table berichtete), dass auch E-Reader, Tastaturen und Computer-Mäuse, Navigationsgeräte, Smartwatches und elektronisches Spielzeug einbezogen werden – solange die Geräte groß genug für einen entsprechenden Anschluss sind. Auch Laptops sollen einbezogen werden, allerdings bekommen die Hersteller hier 16 Monate länger Zeit für die Umstellung. Das Parlament hatte sich dafür eingesetzt, die einheitlichen Ladebuchsen insgesamt schneller vorzuschreiben, konnte sich damit aber nicht gegen den Rat durchsetzen.
“Das bedeutet das Ende des Kabelsalats in unseren Schubladen und deutlich weniger Ressourcenverbrauch“, sagte die Vorsitzende des Binnenmarktausschusses, Anna Cavazzini (Grüne). Laut EU-Kommission könnten durch die Regelung knapp 1000 Tonnen Elektroschrott eingespart werden (Europe.Table berichtete). Derzeit fielen jährlich geschätzt 11.000 Tonnen Elektroabfall durch entsorgte und nicht benutzte Ladegeräte an.
Die Unternehmen werden zudem verpflichtet, ihre Geräte auch ohne Ladekabel anzubieten. Die Kunden sollen selbst entscheiden können, ob sie ein neues Ladegerät brauchen. Unter anderem die Grünen hatten darauf gedrungen, die Trennung vorzuschreiben, konnten sich damit aber nicht durchsetzen. Stattdessen einigten sich die Unterhändler darauf, die verbindliche Entflechtung nach vier Jahren erneut zu prüfen.
Um das wachsende Segment des kabellosen Ladens ebenfalls erfassen zu können, soll die Kommission einen einheitlichen Standard auf den Weg bringen. Die Behörde soll die Normungsorganisationen damit beauftragen, binnen 24 Monaten die technischen Spezifikationen auszuarbeiten.
Die IT-Branche kritisiert die Vorgaben. Natürlich müsse der Elektroschrott weltweit drastisch reduziert werden, die neue Regulierung zahle auf dieses wichtige Ziel allerdings kaum ein, sagte Bitkom-Hauptgeschäftsführer Bernhard Rohleder. Bei Smartphones und Tablets gebe es ohnehin nur noch drei Standards, neben USB-C noch Micro-USB und die Lightning-Technologie von Apple. “Die unzähligen echten Ladebuchsen, die von anderen Elektrokleingeräten genutzt werden, sind hingegen gar nicht berührt und dort wird es weiterhin eine unüberschaubare Vielfalt geben”, so Rohleder. Zudem setze sich bereits induktives, kabelloses Laden auf Basis des Qi-Standards immer weiter durch.
Auch Apple hatte wiederholt kritisiert, die Regulierung behindere den Wettbewerb um Innovationen. Binnenmarktkommissar Thierry Breton widersprach: Die Vorgaben könnten angepasst werden, wenn neue Technologien dies erforderten. Auch die Liste von erfassten Gerätekategorien soll regelmäßig überprüft werden, das erste Mal in drei Jahren, dann alle fünf Jahre. tho
EU-Staaten und Europaparlament haben sich auf einheitliche Standards für Mindestlöhne in der Europäischen Union geeinigt. Nach Angaben des Verhandlungsführers des Parlaments, Dennis Radtke (CDU), beinhaltet der Kompromiss Standards, wie gesetzliche Mindestlöhne festgelegt, aktualisiert und durchgesetzt werden sollen. Zudem sehe das Gesetzesvorhaben vor, dass EU-Länder Aktionspläne festlegen müssen, um die Tarifbindung zu steigern, wenn deren Quote unter 80 Prozent liege, sagte er gestern. Die Regelung werde EU-weit rund 24 Millionen Beschäftigte betreffen, sagte Co-Berichterstatterin Agnes Jongerius (S&D).
Laut dem Rat sollen gesetzliche Mindestlöhne künftig mindestens alle zwei Jahre aktualisiert werden. Eine Ausnahme gebe es für Länder, die einen automatischen Indexierungsmechanismus anwenden – etwa wenn Gehälter automatisch mit der Inflation steigen. Hier gelte eine Frist von vier Jahren. Die Sozialpartner müssen den Angaben zufolge an den Verfahren zur Festlegung und Aktualisierung der Mindestlöhne beteiligt werden.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil bezeichnete das 80-Prozent-Ziel als ehrgeizigen Plan. “Aber wir haben Instrumente, die das möglich machen – etwa ein Tariftreuegesetz des Bundes, damit öffentliche Aufträge an Unternehmen gehen, die Tariflohn zahlen”, sagte der SPD-Politiker. Die Bundesregierung hatte jüngst beschlossen, den Mindestlohn vom 1. Oktober an auf zwölf Euro zu erhöhen. Damit hat Deutschland einen der höchsten Mindestlöhne in der EU. Jedoch liegt die Tarifbindungsquote laut Statistischem Bundesamt mit 44 Prozent deutlich unter den nun angestrebten 80 Prozent.
Die EU-Verträge setzen den Eingriffsmöglichkeiten Brüssels hier enge Grenzen: Die Europäische Union darf keine konkreten Lohnhöhen vorgeben, sondern nur Leitlinien erlassen. Vor allem nordische Länder sind kritisch, die zwar keinen gesetzlichen Mindestlohn haben, aber eine verhältnismäßig hohe Tarifbindung. Sie fürchten, dass sich Brüssel zu sehr in nationale Angelegenheiten einmischt.
Sozialkommissar Nicolas Schmit beteuerte zwar, die dortigen Systeme würden durch die Richtlinie “nicht berührt”. Dänemarks Arbeitsminister Peter Hummelgaard kritisierte aber, sein Land habe ein EU-Gesetz zu Mindestlöhnen nie gewollt. Man werde sich die Einigung nun genau ansehen, so der Minister. Kritik äußerte auch der deutsche Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger: “Europäische Kriterien zur Angemessenheit von nationalen Mindestlöhnen werden die Lohnfestsetzung weiter gefährlich politisieren.” Er forderte Deutschland auf, gegen das Gesetzesvorhaben zu stimmen.
Rat und Parlament müssen den Kompromiss noch formell bestätigen. Dann haben die EU-Länder zwei Jahre Zeit, die Richtlinie in nationales Recht zu übertragen. Jongerius zeigte sich zuversichtlich, dass die Sozialminister der Mitgliedstaaten beim EPSCO-Rat am 16. Juni die nötige qualifizierte Mehrheit erzielen – notfalls auch ohne die Zustimmung Dänemarks und Schwedens.
Nicht durchsetzen konnte sich das EU-Parlament in den Verhandlungen mit der Forderung, die Höhe von Mindestlöhnen anhand von Durchschnittswerten festzulegen. “Wir haben jetzt eine Cola light, aber mit sehr viel Geschmack”, sagte Radtke. Man gebe eine sehr klare Empfehlung an die EU-Staaten. Diese sei, dass Mindestlöhne fair und gerecht seien, wenn sie 60 Prozent des Median-Einkommens und 50 Prozent des Durchschnittseinkommens abbilden.
Der Median wird auch mittlerer Lohn genannt und ist eine Rechengröße: 50 Prozent der Arbeitnehmer verdienen mehr, 50 Prozent weniger. Mit einem Mindestlohn von zwölf Euro kommt man nach Angaben des Arbeitsministeriums auf 2064 Euro – zum Vergleich: Die Hälfte des Durchschnittslohns in Deutschland sind demnach rund 1988 Euro, 60 Prozent des Medians sind etwa 2056 Euro. dpa/tho
Nach jahrelanger Blockade haben sich Unterhändler der EU-Länder und des EU-Parlaments auf verbindliche Frauenquoten in der EU für Leitungspositionen börsennotierter Unternehmen geeinigt. Konkret sollen die Staaten bis 2026 zwischen zwei Modellen wählen können. Entweder sollen mindestens 40 Prozent der Mitglieder von nicht geschäftsführenden Aufsichtsratsmitgliedern Frauen sein, wie die Vize-Präsidentin des EU-Parlaments Evelyn Regner am Dienstagabend mitteilte. Die andere Möglichkeit sehe vor, eine durchschnittliche Frauenquote von 33 Prozent für Aufsichtsräte und Vorstände zu erreichen. Wer sich nicht an die Regeln halte, müsse zahlen.
Eine solche Vorgabe sei längst überfällig: “Nach Schätzungen des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen sind derzeit nur 30,6 Prozent der Aufsichtsratsmitglieder weiblich und nur 8,5 Prozent der Vorstände in der EU mit Frauen besetzt”, so die als Chefverhandlerin an den Verhandlungen beteiligte Sozialdemokratin.
Das Vorhaben ist geschlechtsneutral. Sprich: Wenn in einem entsprechenden Gremium mehr Frauen als Männer säßen, profitierten auch Männer von der Regelung. Formell müssen EU-Staaten und Europaparlament der Einigung noch zustimmen.
Maßgeblich für die nun gefundene Einigung war auch der Regierungswechsel in Deutschland. Unter Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) stand Deutschland einer Einigung noch im Weg. Bereits vor rund zehn Jahren hatte die EU-Kommission versucht, verbindliche Regeln einzuführen. Unter der damaligen EU-Justizkommissarin Viviane Reding gab einen entsprechenden Vorstoß, der jedoch auch von der Bundesregierung unter Merkel abgelehnt wurde. Damals waren in Deutschland nur 15,6 Prozent der Aufsichtsräte weiblich.
Das Projekt wurde von Kommissionschefin Ursula von der Leyen Anfang des Jahres – also kurz nach der Vereidigung der neuen Bundesregierung – wieder auf die Agenda gesetzt. Als die deutsche Regierung seinerzeit unter Merkel das Vorhaben blockiert hatte, war die CDU-Politikerin Arbeitsministerin.
In Deutschland gibt es seit 2015 eine Frauenquote für Aufsichtsräte – 30 Prozent für besonders große Unternehmen. Zudem einigte sich die frühere große Koalition aus Union und SPD vergangenes Jahr auf eine Quote für Vorstände. Es gibt jedoch Kritik daran, dass Unternehmen diese Quote durch eine Umwandlung in eine Europäische Aktiengesellschaft umgehen können. dpa
Bundesfinanzminister Christian Lindner schließt die Vorlage eines Gesetzentwurfs zur Besteuerung sogenannter Übergewinne aus, die bei manchen Unternehmen und Branchen durch den Krieg in der Ukraine mutmaßlich anfallen. “Selbstverständlich nein”, sagte der FDP-Chef am Dienstag in Berlin auf eine entsprechende Frage nach einem Gesetzentwurf.
Dies würde das Steuerrecht willkürlich, undurchschaubarer und noch bürokratischer machen. Diesen Geist könne man dann nicht mehr einfangen. “In Deutschland gibt es eine Besteuerung von Gewinnen, aber keine Diskriminierung einzelner Branchen.” Das wäre eine fundamentale Veränderung des Steuerrechts, die es mit ihm nicht geben werde.
“Wir wissen nicht, ob es Übergewinne gibt”, ergänzte Lindner. Es sei eine gefährliche Diskussion, die ohnehin schon hohe Inflation müsse bekämpft werden. “Die Politik darf doch jetzt das nicht noch zusätzlich anheizen.” Sonst hätten die Verbraucher am Ende an der Zapfsäule den Schaden und die Preise würden noch weiter steigen. Weil Deutschland keine eigenen Ölquellen habe, könnten die bestehenden Knappheiten durch höhere Steuern noch größer werden.
Andere Länder haben sich hingegen für Sondersteuern entschieden, um sogenannte Windfall profits abzuschöpfen. Spanien hat eine solche Steuer bereits eingeführt, in Italien ist sie beschlossen. Die britische Regierung plant ebenfalls eine Sondersteuer, die rund fünf Milliarden Pfund im Jahr einbringen soll. Auch in den USA wird darüber diskutiert. Das Europaparlament hat sich in einer Resolution für Übergewinnsteuern ausgesprochen, auch die EU-Kommission hält diese unter bestimmten Bedingungen für gerechtfertigt. rtr/tho
Bundeskanzler Olaf Scholz hat seine Telefonate mit Russlands Präsident Wladimir Putin gegen Kritik verteidigt. Diese seien wichtig, um Wladimir Putin immer wieder klar zu machen, dass seine Strategie des Angriffs auf die Ukraine nicht aufgehe, sagte Olaf Scholz am Montag in der litauischen Stadt Vilnius nach einem Treffen mit den Regierungschefs der drei baltischen Staaten. “Es wird nicht funktionieren”, fügte er mit Blick auf mögliche Hoffnungen Putins hinzu, die Grenzen in der Ukraine nach den Angriffen zu verschieben. Erneut wiederholte er, dass Russland den Krieg nicht gewinnen dürfe.
Die baltischen Staats- und Regierungschefs äußerten sich deutlich kritischer. “Unser Ziel ist eindeutig: Russland muss diesen Krieg verlieren und die Ukraine muss ihn gewinnen”, sagte der lettische Ministerpräsident Krisjanis Karins. Wie auch der litauische Präsident Gitanas Nauseda kritisierte er eine Bemerkung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, dass man Russland nicht demütigen dürfe.
“Wir werden Russland im Sinne Macrons erniedrigen, sowohl militärisch als auch wirtschaftlich”, sagte er. “Russland hat sich selbst erniedrigt mit diesem Krieg”, sagte Nauseda. In Anspielung auf die Gespräche mit Putin fügte er hinzu, es sei sehr kompliziert, mit einem Diktator zu verhandeln. Auch die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas hatte zuvor die Telefonate etwa von deutscher und französischer Seite mit dem russischen Präsidenten kritisiert.
Die baltischen Staaten machten sich nachdrücklich dafür stark, die Ukraine zügig zum EU-Beitrittskandidaten zu machen. “Eine wichtige politische Botschaft, die wir so schnell wie möglich senden müssen, ist die Zuerkennung des EU-Kandidatenstatus für die Ukraine. Es ist an der Zeit klarzustellen, dass die Ukraine in die Europäische Union gehört”, sagte Nauseda am Dienstag nach Gesprächen mit Scholz in Vilnius. “Wir haben kein moralisches Recht, diesen Augenblick zu verpassen. Die Ukraine verteidigt dieses Recht mit ihrem Blut.”
Auch die Regierungschefs von Lettland und Estland forderten nach dem Treffen mit Scholz und Nauseda eine klare europäische Perspektive für die Ukraine. “Wir, die baltischen Länder, vor allem Lettland, wissen immer noch sehr gut, wie ein positives Signal aus der EU an uns gesendet wurde. Und wie dieses Signal – der künftige Beitritt zur EU – fruchtbare Reformen ausgelöst hat”, betonte Karins. Scholz äußerte sich nicht zu der Frage, bei der sich die Bundesregierung bislang noch nicht festgelegt hat. rtr/dpa
Getreide, Ölsaaten, Pflanzenöl: Die Agrarexporte der Ukraine sind im Mai in die Höhe geschnellt, bleiben aber weiter unter dem vor der russischen Invasion erreichten Niveau. Sie wuchsen um 80 Prozent im Vergleich zum Vormonat auf 1,743 Millionen Tonnen, wie das Landwirtschaftsministerium am Dienstag in Kiew mitteilte. Auch künftig könnten maximal zwei Millionen Tonnen pro Monat ins Ausland geliefert werden, sollte Russland die Schwarzmeerhäfen weiter blockieren, sagte der stellvertretende Landwirtschaftsminister Taras Wisotzkij. Vor dem Einmarsch Russlands exportierte die Ukraine monatlich bis zu sechs Millionen Tonnen Getreide.
Im vergangenen Monat wurden 959.000 Tonnen Mais und 202.650 Tonnen Sonnenblumenöl ins Ausland geschickt. Zum Vergleich: Im Mai 2021 waren es noch 2,245 Millionen Tonnen Mais und 501.800 Tonnen Sonnenblumenöl. Die Ukraine ist ein bedeutender Agrarproduzent, der früher den Großteil der Waren über die Seehäfen in alle Welt transportiert hat. Seit der am 24. Februar begonnenen russischen Invasion ist das Land aber gezwungen, die Güter per Zug über die Westgrenze oder über die kleinen Donauhäfen zu exportieren.
Die Vereinten Nationen (UN) bemühen sich angesichts weltweit gestiegener Lebensmittelpreise um die Wiederaufnahme der Getreide-Exporte aus Russland und der Ukraine. Ziel ist es, weltweit die Versorgung mit Lebensmitteln sicher zu stellen. Russlands Krieg hat eine weltweite Nahrungsmittelkrise ausgelöst, in deren Folge die Preise für Getreide, Speiseöl, Treibstoff und Düngemittel in die Höhe schossen. Auf Russland und die Ukraine entfällt fast ein Drittel der weltweiten Weizenlieferungen. Russland ist zudem ein wichtiger Exporteur von Düngemitteln, die Ukraine von Mais und Sonnenblumenöl. Die Regierung in Moskau macht westliche Sanktionen für die Lieferengpässe verantwortlich.
Die Türkei arbeitet nach eigenen Angaben eng mit der Ukraine und Russland zusammen, um einen Plan für die Wiederaufnahme der ukrainischen Getreideexporte zu vereinbaren. Der Plan wird von den Vereinten Nationen vorangetrieben und beinhaltet einen Korridor im Schwarzen Meer, durch den per Schiff das von armen Ländern dringend benötigte Getreide aus der Ukraine geliefert werden soll. Es gehe unter anderem um die Beseitigung von Minen vor dem Hafen von Odessa und anderen Orten entlang der ukrainischen Küste, sagte der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar. Eine Frage sei, wer die Minen räumen und den geschaffenen Korridor schützen solle. Die Türkei hat im Schwarzen Meer eine Seegrenze mit den beiden Kriegsparteien. rtr
Der Ausblick für die Weltwirtschaft ist alles andere als rosig. Die Welt steht vor einer dreifachen Krise: einer Energiepreiskrise, einer Nahrungsmittelkrise und einer Finanzkrise. Diese dreifache Krise kommt zusätzlich zur Gesundheitskrise und Klimakrise. Sie alle verstärken sich gegenseitig. Die Weltbank erwartet, dass die Energiepreise im Jahr 2022 um mehr als 50 Prozent steigen werden. Der Nahrungsmittelpreisindex der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) erreichte im März seinen höchsten Stand seit seiner Einführung. Die Düngemittelpreise sind seit Anfang 2022 um fast 30 Prozent gestiegen, nachdem sie im letzten Jahr um 80 Prozent zugelegt hatten.
Besonders betroffen sind die armen Länder und die ärmeren Bevölkerungsschichten. Schon bevor Russland die Ukraine angegriffen hat, war die Zahl der hungernden Menschen weltweit aufgrund von Klimawandel, Kriegen und den Folgen der Corona-Pandemie stetig gestiegen. Nun warnt das World Food Programm vor einer neuen Hungerkatastrophe. In vielen, von der Covid-19-Pandemie besonders gebeutelten Ländern, ist der Spielraum für fiskalpolitische Stützmaßnahmen eng. Aufgrund der hohen Inflation müssen zudem viele Zentralbanken die geldpolitische Bremse ziehen. Dies dämpft die Konjunktur weiter.
Die WTO hat ihre Wachstumsprognose für den Welthandel für 2022 deutlich nach unten revidiert, von 4,7 Prozent auf 3 Prozent. Neben Russlands Krieg gegen die Ukraine tun Corona-Lockdowns in China, Engpässe gerade bei der Container-Schifffahrt, hohe Transportkosten und ein Arbeitskräftemangel ihr übriges, um den Welthandel zu bremsen. Hinzu kommt – wie schon zu Beginn der Covid-19-Pandemie – ein weiteres Problem: Seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine ist die Zahl der Länder, die Ausfuhrbeschränkungen für Lebensmittel verhängen, von 3 auf 16 gestiegen (April 2022).
Die Gesamtmenge der von den Beschränkungen betroffenen Ausfuhren entspricht etwa 17 Prozent der weltweit gehandelten Kalorienmenge. Zu den Ländern, die Ausfuhrbeschränkungen verhängen, gehören Russland (Weizen), Indonesien (Palmöl), Argentinien (Rindfleisch) sowie die Türkei, Kirgisistan und Kasachstan (Getreideprodukten). Mitte Mai verbot Indien die Ausfuhr von Weizen, nachdem die Preise gestiegen waren und eine Hitzewelle die Ernten beschädigt hatte.
Ein weiterer Trend kommt hinzu, der den Welthandel mittel- bis langfristig deutlich verändern könnte. Die jüngsten Ereignisse haben westlichen Ländern schmerzvoll vor Augen geführt, wie problematisch hohe, einseitige Abhängigkeiten bei kritischen Waren sein können. Großmachtpolitik, ein Wettbewerb der Ideen und Systeme, kalte und heiße Konflikte sowie Kriege drohen die Welt in neue Blöcke zu spalten – große Autokratien auf der einen und liberale Demokratien auf der anderen Seite.
Der Handel wird mehr und mehr unter dem Aspekt der Sicherheit gesehen: als Quelle nationaler Schwachstellen einerseits und als strategisches Zwangsinstrument andererseits. Dies wird sich massiv auf die Handelsströme auswirken und die Re-Regionalisierung und Re-Nationalisierung von Wertschöpfungsketten beschleunigen.
Mehr denn je ist eine starke WTO gefragt, um die Länder durch diese schwierigen Zeiten zu führen. Die multilaterale Organisation befindet sich jedoch in der schwersten Krise seit ihrer Gründung. Alle drei Säulen der Organisation – 1. die Liberalisierung des Handels und die Festlegung von Regeln, 2. die Überwachung der Handelspolitiken und 3. die Streitbeilegung – stehen vor großen Herausforderungen. Der Appetit für neue Marktöffnung ist seit Jahren gering. Zudem ist das Regelwerk der WTO nicht mehr fit für den Handel des 21. Jahrhunderts. Es hat wenig zu bieten in Bezug auf den digitalen Handel und ist schwach in puncto Industriesubventionen.
Auch in Bezug auf Arbeits- und Umweltfragen ist das WTO-Regelwerk schwach. Besonders problematisch: Seit Ende 2019 funktioniert der Streitbeilegungsmechanismus der Organisation nicht mehr. Die USA blockieren nach wie vor die Ernennung neuer Mitglieder des Berufungsgremiums (AB). Ohne ein funktionierendes Berufungsgremium landen angefochtene Panel-Entscheidungen im Limbo. Die Durchsetzung von WTO-Verpflichtungen wird so auf unbestimmte Zeit verzögert und folglich die Wirksamkeit der WTO deutlich geschwächt.
Was heißt dies nun für die anstehende Ministerkonferenz? Die WTO-Mitglieder müssen sich sowohl den kurzfristigen als auch den langfristigen Herausforderungen stellen. Sie sollten sich gemeinsam gegen Ausfuhrbeschränkungen für Nahrungsmittel und Medizinprodukte aussprechen. Zudem sollten sie sich endlich auf einen Kompromiss über Fischereisubventionen verständigen. Ein Nichtzustandekommen eines Abkommens wäre nicht nur aus ökologischer Sicht problematisch, sondern würde auch die Glaubwürdigkeit der WTO weiter untergraben.
Auch beim Thema Handel und Gesundheit muss es Fortschritte geben. Ein besonders kritisches Thema ist hier der Patentschutz für Covid-Impfstoffe. Wo ein gemeinsames Vorgehen aller 164 Mitglieder nicht möglich ist, bieten die plurilateralen Initiativen wie beispielsweise zum digitalen Handel eine Möglichkeit, das Regelwerk zumindest in Teilen zu modernisieren. Mit großen Reformbeschlüssen ist sicherlich nicht zu rechnen. Zumindest sollten sich die WTO-Mitglieder auf einen Reformfahrplan bis zur nächsten Ministerkonferenz verständigen.
Einfach wird dies alles nicht, da Entscheidungen im Konsens getroffen werden. Nicht nur werden die Verhandlungen dadurch erschwert, dass Russland nach wie vor mit am Verhandlungstisch sitzt. Die großen Handelsnationen sind sich in vielen Themen alles andere als einig. Wenn die WTO-Mitglieder jedoch weiterhin tatenlos zusehen oder Reformen aktiv blockieren, wird die Organisation weiter an Einfluss verlieren. Die Gefahr ist dann groß, dass im internationalen Handel zukünftig nicht mehr die Rechtsstaatlichkeit, sondern die Macht regiert – und das ginge zulasten aller.
nach der umstrittenen Entscheidung der EU-Kommission, Gas und Atomkraft in die Taxonomie aufzunehmen und somit als grün einzustufen, dreht sich die Diskussion nun um den Bergbau. Um Lieferschwierigkeiten vorzubeugen, müssten europäische Bergbauprojekte gefördert werden, heißt es. Umweltverbände sind aber skeptisch, schreibt Leonie Düngefeld.
Es wird eine knappe Abstimmung heute im EU-Parlament. Die Abgeordneten entscheiden über wichtige Teile des Fit-for-55-Pakets, darunter über ein mögliches De-facto-Verbot für Verbrennermotoren ab 2035. Bei den Dossiers zum ETS, dem CBAM und den Flottengrenzwerten zeichnen sich noch keine eindeutigen Kompromisse ab. Die Stimmen der Renew-Abgeordneten dürften hier entscheidend sein, analysiert Lukas Scheid.
Einigungen zwischen den Mitgliedstaaten und dem EU-Parlament gab es dafür gestern in gleich drei anderen wichtigen Bereichen: So ist ab 2024 Schluss mit dem Kabelsalat, die USB-C-Ladebuchse wird sich durchsetzen. Einen Kompromiss gab es auch bei einheitlichen Standards für Mindestlöhne in der EU und nicht zuletzt bei der Geschlechterquote in den Leitungspositionen börsennotierter Unternehmen.
Die Weltwirtschaft steckt in der Krise und die 12. Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation, die am Sonntag in Genf beginnt, steht vor einer Mammutaufgabe. Nicht nur muss sie Antworten auf die Krisen finden, sondern sich auch damit beschäftigen, wie sie selbst zukunftsfit wird, schreibt Stormy-Annika Mildner, Leiterin des Aspen Institute Germany, im Gastbeitrag.
Vor einer Abstimmung im Plenum des EU-Parlaments sind die Positionen der verschiedenen Parteien und Fraktionen meist hinlänglich bekannt. Die eigentlichen Verhandlungen fanden bereits im Vorfeld des vorangegangenen Votums in den Ausschüssen statt, sodass Kompromisslinien oft bereits gefunden wurden, bevor ein Dossier im Plenum landet. Doch Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel und deshalb kann es bei besonders kontroversen Themen auch ganz anders kommen. Einige Gesetzesvorschläge des Fit-for-55-Pakets gehören zu dieser Kategorie.
Und so mahnte der niederländische Sozialdemokrat und CBAM-Berichterstatter Mohammed Chahim bei der Parlamentsdebatte zum Klimapaket gestern, man habe noch einen Tag Zeit, um Kompromisse zu finden. Das bedeutet, es wird noch immer um gemeinsame Positionen gerungen. Chahims im Umweltausschuss (ENVI) erstrittener Kompromiss, den CO2-Grenzausgleichsmechanismus schon 2030 als Carbon-Leakage-Schutz vollumfänglich einzuführen und die Ausgabe kostenloser CO2-Zertifikate an die Industrie zu beenden (Europe.Table berichtete), steht vor dem Aus.
Es fehlt die Mehrheit, da die EVP den ITRE-Kompromiss bevorzugt, der 2034 als Ende der freien Zuteilungen vorsieht. Auch die Renew-Abgeordneten im ENVI stimmten dem Chahim-Bericht zur zähneknirschend zu. Im Plenum galt deren Zustimmung von Beginn an als nahezu utopisch. Und auch einige S&D-Mitglieder halten 2030 als Enddatum freier Industrie-Zertifikate für verfrüht.
Deshalb steht auch noch ein dritter Vorschlag zur Wahl, der die beiden Positionen zusammenbringt. S&D und Renew einigten sich auf das Jahr 2032 (Europe.Table berichtete). Diesen Kompromiss werden die Grünen im EU-Parlament größtenteils unterstützen. Ganz nach dem Motto: Wenn wir 2030 nicht bekommen, nehmen wir lieber 2032 statt 2034. Ob diese Position mehrheitsfähig ist, hängt auch davon ab, ob die Linken und die französischen Grünen mitgehen oder auf 2030 beharren. Deren Positionen sind noch offen.
Offen ist auch, wie es um die Export-Regelung im CBAM bestellt ist. Viele Industrievertreter äußern nach wie vor große Sorge, dass in Europa klimafreundlich produzierte Ware auf dem Weltmarkt nicht mehr konkurrenzfähig ist. S&D und Grüne unterstützen einen Vorschlag, der für nachhaltig produzierte Exportware weiterhin kostenlose CO2-Zertifikate vorsieht (Europe.Table berichtete). Unter EVP- und Renew-Abgeordneten ist dies umstritten, da bislang nicht eindeutig geregelt ist, wie überprüft wird, was nachhaltig hergestellt wurde und für den Export vorgesehen ist und was nicht.
Die Reform des europäischen Emissionshandelssystems bot seit der Vorstellung des Kommissionsvorschlags vergangenen Juli reichlich Diskussionsstoff (Europe.Table berichtete) – und sie tut es bis heute. Um die Reduktionswirkung des ETS zu beschleunigen und die Ambitionen der europäischen Klimapolitik zu erhöhen, hatte die Kommission eine einmalige Löschung von rund 110 Millionen Zertifikaten im Jahr 2024 vorgeschlagen. Die EVP befürchtet, dass dies zu einem schlagartigen Preisanstieg im ETS und disruptiven Marktentwicklungen führen könnte. Ihre Alternative: 2024 werden zunächst nur 70 Millionen CO2-Zertifikate vom Markt genommen, aber dafür 2026 noch einmal 50 Millionen, um größere Preisschocks zu verhindern. Diese Idee fand Anklang innerhalb der Renew-Fraktion, obwohl diese im ENVI noch die deutlich ambitioniertere einmalige Löschung von über 200 Millionen CO2-Zertifikaten mitgetragen hatte.
Im Sinne eines Kompromisses sind Grüne und Sozialdemokraten nun zurück beim Ausgangsvorschlag der Kommission und hoffen, auf diese Weise die Renew-Abgeordneten zurückzugewinnen. Aus Parlamentskreisen hat Europe.Table erfahren, dass zumindest ein Teil der Renew-Fraktion diesem Kompromiss nicht abgeneigt ist. Wie groß dieser Teil ist, entscheidet schlussendlich darüber, wessen Änderungsantrag die Mehrheit erhält.
Ähnlich ist die Situation bei den CO2-Flottengrenzwerten für Pkw (Europe.Table berichtete) und leichte Nutzfahrzeuge. Obwohl der ENVI-Bericht aus der Feder des Renew-Politikers Jan Huitema stammt (Europe.Table berichtete), bekam der Vorschlag für ambitioniertere Zwischenziele aufgrund fehlender Stimmen aus der eigenen Fraktion keine Mehrheit. Stattdessen stimmten zwei Renew-Abgeordnete (darunter FDP-Mann Andreas Glück) für Änderungsanträge der EVP. Diese sehen kein Verbrenner-Aus für 2035 vor, sondern ein Flottenziel von 90 Prozent, um so die Möglichkeit für die Nutzung von E-Fuels offenzulassen.
Neue Kompromisse gibt es hier allerdings keine. Daher wird es zu einer enorm knappen Abstimmung zwischen dem EVP-Vorschlag und dem Kommissionsvorschlag (Verbrenner-Aus 2035) kommen. Ausschlaggebend wird abermals sein, wie sich die Renew-Abgeordneten entscheiden. Bei einer Presseveranstaltung vergangene Woche versicherte Huitema auf Nachfrage von Europe.Table, seine Fraktion sei geschlossen. Sollte das der Fall sein, dürfte es auf eine Mehrheit für den Kommissionsvorschlag zum Fit-for-55-Paket hinauslaufen.
Mit großer Anstrengung versuchen europäische Bergbauunternehmen zurzeit, ihr Image einer schmutzigen Industrie abzulegen. Auch die Politik hat Interesse daran, schließlich will Europa sich von anderen Rohstoffexporteuren unabhängiger machen. Die EU-Kommission will deshalb eine Gesetzesinitiative vorbereiten, die unter anderem die Aufnahme von Bergbau- und Veredelungsprojekten in die Taxonomie umfasst. Das würde bedeuten: Diese Projekte gelten als nachhaltig und Investitionen werden in diesen Sektor gelenkt.
Viele sehen dies als einzige Möglichkeit, die Versorgung mit kritischen Rohstoffen zu sichern. “Europäische Bergbauprojekte nicht in die Taxonomie aufzunehmen, würde Stillstand bedeuten”, sagte Philippe Varin, Leiter der französischen Regierungsmission für kritische Materialien. Der russische Krieg in der Ukraine gebe Anlass zur Sorge um die Versorgung mit wichtigen Metallen wie Titan, Palladium, Nickel oder Neon. Auch bei Importen aus China gibt es immer wieder Lieferverzögerungen.
Die Platform on Sustainable Finance (PSF), welche die Kommission in der Weiterentwicklung der Taxonomie berät, beginnt zurzeit, technische Prüfkriterien für Bergbau und Veredelung zu entwickeln. Im September plant sie, diese der Kommission zu präsentieren. Dies war eigentlich bereits für Juni geplant, jedoch habe man aufgrund von Datenmangel über die Bergbauaktivitäten noch keinen Konsens erreicht, erklärt Marzia Traverso, Berichterstatterin der technischen Arbeitsgruppe der PSF. Es sei wahrscheinlich, dass Bergbau in die Taxonomie aufgenommen werde, jedoch sei noch nicht sicher, in welchem der noch ausstehenden delegierten Rechtsakte.
Die Europäische Vereinigung der Geologen (EFG) forderte bereits im vergangenen Jahr die Annahme der EU-Taxonomie für umwelt- und sozialverträgliche Bergbauaktivitäten: Europa habe ein nachgewiesenes Potenzial für die Erschließung von Ressourcen – jedoch gelte die Region für die Industrie als nicht investitionsfreundlich, heißt es in einem Positionspapier der NGO. Diese Wahrnehmung müsse die EU ändern.
Bergbauprojekte von der Taxonomie auszuschließen könnte dazu führen, dass Investitionen in nachhaltigen Bergbau in Europa abnehmen. “Dies käme dann einer weniger nachhaltigen Produktion in anderen Teilen der Welt zugute”, sagte eine Sprecherin des schwedischen Bergbauverbands SveMin. Die schwedische Bergbauindustrie habe in den vergangenen Jahren Milliarden investiert, um auf eine fossilfreie und nachhaltige Produktion von Rohstoffen umzustellen. Sie will Vorreiter im nachhaltigen Bergbau werden, zum Beispiel mit dem groß angelegten Projekt “Mining with Nature”: Bis 2030 sollen die Unternehmen die biologische Vielfalt vergrößern – in allen Regionen, in denen ihre Aktivitäten stattfinden.
“Es ist bemerkenswert, dass dies jetzt geschieht, wo die Taxonomie entwickelt wird”, sagt Diego Marin vom European Environmental Bureau (EEB). “Freiwillige Bemühungen werden jedoch niemals an verbindliche Vorschriften herankommen.” Aus den aktuellen Daten gehe hervor, dass es derzeit kaum Beweise für einen verantwortungsvollen Bergbau gibt. In der Theorie könnte die Taxonomie ein Mittel sein, um die Bergbauindustrie dazu zu bringen, sich weniger umweltschädlich und verantwortungsbewusster zu verhalten, sagt Marin. Der Teufel stecke am Ende jedoch im Detail.
Die Responsible Mining Foundation (RFM) definiert verantwortungsvollen Bergbau als “einen Bergbau, der nachweislich die Interessen der Menschen und der Umwelt respektiert und schützt und einen erkennbaren und fairen Beitrag zur allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung des Förderlandes leistet.” Alle zwei Jahre veröffentlicht RFM den Responsible Mining Index, in welchem sie Bergbauprojekte rund um die Welt auf ihre Performance hinsichtlich Umwelt-, Sozial- und Governance-Prinzipien (ESG) bewertet. Die Ergebnisse zeigen: In den letzten Jahren wurden bei den meisten klimabedingten Auswirkungen des Bergbaus kaum Fortschritte erzielt. Lediglich einzelne Unternehmen hätten sich verbessert.
Fortschritte gab es vor allem in der Bekämpfung von Bestechung und Korruption, beim Thema Menschenrechte, verantwortungsvoller Beschaffung und der Offenlegung von Zahlungen an Regierungen. “Dies kann zumindest teilweise auf externe Faktoren zurückgeführt werden, da die Themen in die Gesetzgebung, die Anforderungen und/oder den Berichtsrahmen aufgenommen wurden”, erklärt Pierre de Pasquale von der Responsible Mining Foundation.
RMF unterstützt deshalb die Aufnahme des Bergbaus in die Taxonomie. Sie sieht jedoch die Gefahr des “carbon-washing”, sollte die Umbenennung der Bergbauunternehmen in “grün” und “zukunftsfähig” nur durch die bisherigen Klimaschutzmaßnahmen untermauert bleiben, erklärt Pierre de Pasquale – wenn die Klimaschutzmaßnahmen der Unternehmen bei einer kohlenstoffarmen Produktion vor Ort enden und andere dringende klimabezogene Auswirkungen unbeachtet bleiben. Unternehmen, Finanziers, Versicherer und Regierungen müssen deshalb sicherstellen, dass die klimabedingten Auswirkungen des Bergbaus erkannt und angegangen werden, so de Pasquale.
Die Unterhändler der EU-Institutionen haben sich darauf verständigt, für das Laden von Smartphones und zahlreichen anderen Elektrogeräten ab Mitte 2024 einheitliche Schnittstellen vorzuschreiben. Hersteller von Geräten aus 15 Kategorien müssen in der EU gemäß dem Trilog-Ergebnis USB-C als Standard-Ladebuchse verbauen. Aus der Industrie kommt scharfe Kritik.
Die Regelung gilt etwa für Mobiltelefone, Tablets, Digitalkameras, Kopfhörer, Headsets und tragbare Videospielkonsolen. Das Europaparlament setzte durch (Europe.Table berichtete), dass auch E-Reader, Tastaturen und Computer-Mäuse, Navigationsgeräte, Smartwatches und elektronisches Spielzeug einbezogen werden – solange die Geräte groß genug für einen entsprechenden Anschluss sind. Auch Laptops sollen einbezogen werden, allerdings bekommen die Hersteller hier 16 Monate länger Zeit für die Umstellung. Das Parlament hatte sich dafür eingesetzt, die einheitlichen Ladebuchsen insgesamt schneller vorzuschreiben, konnte sich damit aber nicht gegen den Rat durchsetzen.
“Das bedeutet das Ende des Kabelsalats in unseren Schubladen und deutlich weniger Ressourcenverbrauch“, sagte die Vorsitzende des Binnenmarktausschusses, Anna Cavazzini (Grüne). Laut EU-Kommission könnten durch die Regelung knapp 1000 Tonnen Elektroschrott eingespart werden (Europe.Table berichtete). Derzeit fielen jährlich geschätzt 11.000 Tonnen Elektroabfall durch entsorgte und nicht benutzte Ladegeräte an.
Die Unternehmen werden zudem verpflichtet, ihre Geräte auch ohne Ladekabel anzubieten. Die Kunden sollen selbst entscheiden können, ob sie ein neues Ladegerät brauchen. Unter anderem die Grünen hatten darauf gedrungen, die Trennung vorzuschreiben, konnten sich damit aber nicht durchsetzen. Stattdessen einigten sich die Unterhändler darauf, die verbindliche Entflechtung nach vier Jahren erneut zu prüfen.
Um das wachsende Segment des kabellosen Ladens ebenfalls erfassen zu können, soll die Kommission einen einheitlichen Standard auf den Weg bringen. Die Behörde soll die Normungsorganisationen damit beauftragen, binnen 24 Monaten die technischen Spezifikationen auszuarbeiten.
Die IT-Branche kritisiert die Vorgaben. Natürlich müsse der Elektroschrott weltweit drastisch reduziert werden, die neue Regulierung zahle auf dieses wichtige Ziel allerdings kaum ein, sagte Bitkom-Hauptgeschäftsführer Bernhard Rohleder. Bei Smartphones und Tablets gebe es ohnehin nur noch drei Standards, neben USB-C noch Micro-USB und die Lightning-Technologie von Apple. “Die unzähligen echten Ladebuchsen, die von anderen Elektrokleingeräten genutzt werden, sind hingegen gar nicht berührt und dort wird es weiterhin eine unüberschaubare Vielfalt geben”, so Rohleder. Zudem setze sich bereits induktives, kabelloses Laden auf Basis des Qi-Standards immer weiter durch.
Auch Apple hatte wiederholt kritisiert, die Regulierung behindere den Wettbewerb um Innovationen. Binnenmarktkommissar Thierry Breton widersprach: Die Vorgaben könnten angepasst werden, wenn neue Technologien dies erforderten. Auch die Liste von erfassten Gerätekategorien soll regelmäßig überprüft werden, das erste Mal in drei Jahren, dann alle fünf Jahre. tho
EU-Staaten und Europaparlament haben sich auf einheitliche Standards für Mindestlöhne in der Europäischen Union geeinigt. Nach Angaben des Verhandlungsführers des Parlaments, Dennis Radtke (CDU), beinhaltet der Kompromiss Standards, wie gesetzliche Mindestlöhne festgelegt, aktualisiert und durchgesetzt werden sollen. Zudem sehe das Gesetzesvorhaben vor, dass EU-Länder Aktionspläne festlegen müssen, um die Tarifbindung zu steigern, wenn deren Quote unter 80 Prozent liege, sagte er gestern. Die Regelung werde EU-weit rund 24 Millionen Beschäftigte betreffen, sagte Co-Berichterstatterin Agnes Jongerius (S&D).
Laut dem Rat sollen gesetzliche Mindestlöhne künftig mindestens alle zwei Jahre aktualisiert werden. Eine Ausnahme gebe es für Länder, die einen automatischen Indexierungsmechanismus anwenden – etwa wenn Gehälter automatisch mit der Inflation steigen. Hier gelte eine Frist von vier Jahren. Die Sozialpartner müssen den Angaben zufolge an den Verfahren zur Festlegung und Aktualisierung der Mindestlöhne beteiligt werden.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil bezeichnete das 80-Prozent-Ziel als ehrgeizigen Plan. “Aber wir haben Instrumente, die das möglich machen – etwa ein Tariftreuegesetz des Bundes, damit öffentliche Aufträge an Unternehmen gehen, die Tariflohn zahlen”, sagte der SPD-Politiker. Die Bundesregierung hatte jüngst beschlossen, den Mindestlohn vom 1. Oktober an auf zwölf Euro zu erhöhen. Damit hat Deutschland einen der höchsten Mindestlöhne in der EU. Jedoch liegt die Tarifbindungsquote laut Statistischem Bundesamt mit 44 Prozent deutlich unter den nun angestrebten 80 Prozent.
Die EU-Verträge setzen den Eingriffsmöglichkeiten Brüssels hier enge Grenzen: Die Europäische Union darf keine konkreten Lohnhöhen vorgeben, sondern nur Leitlinien erlassen. Vor allem nordische Länder sind kritisch, die zwar keinen gesetzlichen Mindestlohn haben, aber eine verhältnismäßig hohe Tarifbindung. Sie fürchten, dass sich Brüssel zu sehr in nationale Angelegenheiten einmischt.
Sozialkommissar Nicolas Schmit beteuerte zwar, die dortigen Systeme würden durch die Richtlinie “nicht berührt”. Dänemarks Arbeitsminister Peter Hummelgaard kritisierte aber, sein Land habe ein EU-Gesetz zu Mindestlöhnen nie gewollt. Man werde sich die Einigung nun genau ansehen, so der Minister. Kritik äußerte auch der deutsche Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger: “Europäische Kriterien zur Angemessenheit von nationalen Mindestlöhnen werden die Lohnfestsetzung weiter gefährlich politisieren.” Er forderte Deutschland auf, gegen das Gesetzesvorhaben zu stimmen.
Rat und Parlament müssen den Kompromiss noch formell bestätigen. Dann haben die EU-Länder zwei Jahre Zeit, die Richtlinie in nationales Recht zu übertragen. Jongerius zeigte sich zuversichtlich, dass die Sozialminister der Mitgliedstaaten beim EPSCO-Rat am 16. Juni die nötige qualifizierte Mehrheit erzielen – notfalls auch ohne die Zustimmung Dänemarks und Schwedens.
Nicht durchsetzen konnte sich das EU-Parlament in den Verhandlungen mit der Forderung, die Höhe von Mindestlöhnen anhand von Durchschnittswerten festzulegen. “Wir haben jetzt eine Cola light, aber mit sehr viel Geschmack”, sagte Radtke. Man gebe eine sehr klare Empfehlung an die EU-Staaten. Diese sei, dass Mindestlöhne fair und gerecht seien, wenn sie 60 Prozent des Median-Einkommens und 50 Prozent des Durchschnittseinkommens abbilden.
Der Median wird auch mittlerer Lohn genannt und ist eine Rechengröße: 50 Prozent der Arbeitnehmer verdienen mehr, 50 Prozent weniger. Mit einem Mindestlohn von zwölf Euro kommt man nach Angaben des Arbeitsministeriums auf 2064 Euro – zum Vergleich: Die Hälfte des Durchschnittslohns in Deutschland sind demnach rund 1988 Euro, 60 Prozent des Medians sind etwa 2056 Euro. dpa/tho
Nach jahrelanger Blockade haben sich Unterhändler der EU-Länder und des EU-Parlaments auf verbindliche Frauenquoten in der EU für Leitungspositionen börsennotierter Unternehmen geeinigt. Konkret sollen die Staaten bis 2026 zwischen zwei Modellen wählen können. Entweder sollen mindestens 40 Prozent der Mitglieder von nicht geschäftsführenden Aufsichtsratsmitgliedern Frauen sein, wie die Vize-Präsidentin des EU-Parlaments Evelyn Regner am Dienstagabend mitteilte. Die andere Möglichkeit sehe vor, eine durchschnittliche Frauenquote von 33 Prozent für Aufsichtsräte und Vorstände zu erreichen. Wer sich nicht an die Regeln halte, müsse zahlen.
Eine solche Vorgabe sei längst überfällig: “Nach Schätzungen des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen sind derzeit nur 30,6 Prozent der Aufsichtsratsmitglieder weiblich und nur 8,5 Prozent der Vorstände in der EU mit Frauen besetzt”, so die als Chefverhandlerin an den Verhandlungen beteiligte Sozialdemokratin.
Das Vorhaben ist geschlechtsneutral. Sprich: Wenn in einem entsprechenden Gremium mehr Frauen als Männer säßen, profitierten auch Männer von der Regelung. Formell müssen EU-Staaten und Europaparlament der Einigung noch zustimmen.
Maßgeblich für die nun gefundene Einigung war auch der Regierungswechsel in Deutschland. Unter Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) stand Deutschland einer Einigung noch im Weg. Bereits vor rund zehn Jahren hatte die EU-Kommission versucht, verbindliche Regeln einzuführen. Unter der damaligen EU-Justizkommissarin Viviane Reding gab einen entsprechenden Vorstoß, der jedoch auch von der Bundesregierung unter Merkel abgelehnt wurde. Damals waren in Deutschland nur 15,6 Prozent der Aufsichtsräte weiblich.
Das Projekt wurde von Kommissionschefin Ursula von der Leyen Anfang des Jahres – also kurz nach der Vereidigung der neuen Bundesregierung – wieder auf die Agenda gesetzt. Als die deutsche Regierung seinerzeit unter Merkel das Vorhaben blockiert hatte, war die CDU-Politikerin Arbeitsministerin.
In Deutschland gibt es seit 2015 eine Frauenquote für Aufsichtsräte – 30 Prozent für besonders große Unternehmen. Zudem einigte sich die frühere große Koalition aus Union und SPD vergangenes Jahr auf eine Quote für Vorstände. Es gibt jedoch Kritik daran, dass Unternehmen diese Quote durch eine Umwandlung in eine Europäische Aktiengesellschaft umgehen können. dpa
Bundesfinanzminister Christian Lindner schließt die Vorlage eines Gesetzentwurfs zur Besteuerung sogenannter Übergewinne aus, die bei manchen Unternehmen und Branchen durch den Krieg in der Ukraine mutmaßlich anfallen. “Selbstverständlich nein”, sagte der FDP-Chef am Dienstag in Berlin auf eine entsprechende Frage nach einem Gesetzentwurf.
Dies würde das Steuerrecht willkürlich, undurchschaubarer und noch bürokratischer machen. Diesen Geist könne man dann nicht mehr einfangen. “In Deutschland gibt es eine Besteuerung von Gewinnen, aber keine Diskriminierung einzelner Branchen.” Das wäre eine fundamentale Veränderung des Steuerrechts, die es mit ihm nicht geben werde.
“Wir wissen nicht, ob es Übergewinne gibt”, ergänzte Lindner. Es sei eine gefährliche Diskussion, die ohnehin schon hohe Inflation müsse bekämpft werden. “Die Politik darf doch jetzt das nicht noch zusätzlich anheizen.” Sonst hätten die Verbraucher am Ende an der Zapfsäule den Schaden und die Preise würden noch weiter steigen. Weil Deutschland keine eigenen Ölquellen habe, könnten die bestehenden Knappheiten durch höhere Steuern noch größer werden.
Andere Länder haben sich hingegen für Sondersteuern entschieden, um sogenannte Windfall profits abzuschöpfen. Spanien hat eine solche Steuer bereits eingeführt, in Italien ist sie beschlossen. Die britische Regierung plant ebenfalls eine Sondersteuer, die rund fünf Milliarden Pfund im Jahr einbringen soll. Auch in den USA wird darüber diskutiert. Das Europaparlament hat sich in einer Resolution für Übergewinnsteuern ausgesprochen, auch die EU-Kommission hält diese unter bestimmten Bedingungen für gerechtfertigt. rtr/tho
Bundeskanzler Olaf Scholz hat seine Telefonate mit Russlands Präsident Wladimir Putin gegen Kritik verteidigt. Diese seien wichtig, um Wladimir Putin immer wieder klar zu machen, dass seine Strategie des Angriffs auf die Ukraine nicht aufgehe, sagte Olaf Scholz am Montag in der litauischen Stadt Vilnius nach einem Treffen mit den Regierungschefs der drei baltischen Staaten. “Es wird nicht funktionieren”, fügte er mit Blick auf mögliche Hoffnungen Putins hinzu, die Grenzen in der Ukraine nach den Angriffen zu verschieben. Erneut wiederholte er, dass Russland den Krieg nicht gewinnen dürfe.
Die baltischen Staats- und Regierungschefs äußerten sich deutlich kritischer. “Unser Ziel ist eindeutig: Russland muss diesen Krieg verlieren und die Ukraine muss ihn gewinnen”, sagte der lettische Ministerpräsident Krisjanis Karins. Wie auch der litauische Präsident Gitanas Nauseda kritisierte er eine Bemerkung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, dass man Russland nicht demütigen dürfe.
“Wir werden Russland im Sinne Macrons erniedrigen, sowohl militärisch als auch wirtschaftlich”, sagte er. “Russland hat sich selbst erniedrigt mit diesem Krieg”, sagte Nauseda. In Anspielung auf die Gespräche mit Putin fügte er hinzu, es sei sehr kompliziert, mit einem Diktator zu verhandeln. Auch die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas hatte zuvor die Telefonate etwa von deutscher und französischer Seite mit dem russischen Präsidenten kritisiert.
Die baltischen Staaten machten sich nachdrücklich dafür stark, die Ukraine zügig zum EU-Beitrittskandidaten zu machen. “Eine wichtige politische Botschaft, die wir so schnell wie möglich senden müssen, ist die Zuerkennung des EU-Kandidatenstatus für die Ukraine. Es ist an der Zeit klarzustellen, dass die Ukraine in die Europäische Union gehört”, sagte Nauseda am Dienstag nach Gesprächen mit Scholz in Vilnius. “Wir haben kein moralisches Recht, diesen Augenblick zu verpassen. Die Ukraine verteidigt dieses Recht mit ihrem Blut.”
Auch die Regierungschefs von Lettland und Estland forderten nach dem Treffen mit Scholz und Nauseda eine klare europäische Perspektive für die Ukraine. “Wir, die baltischen Länder, vor allem Lettland, wissen immer noch sehr gut, wie ein positives Signal aus der EU an uns gesendet wurde. Und wie dieses Signal – der künftige Beitritt zur EU – fruchtbare Reformen ausgelöst hat”, betonte Karins. Scholz äußerte sich nicht zu der Frage, bei der sich die Bundesregierung bislang noch nicht festgelegt hat. rtr/dpa
Getreide, Ölsaaten, Pflanzenöl: Die Agrarexporte der Ukraine sind im Mai in die Höhe geschnellt, bleiben aber weiter unter dem vor der russischen Invasion erreichten Niveau. Sie wuchsen um 80 Prozent im Vergleich zum Vormonat auf 1,743 Millionen Tonnen, wie das Landwirtschaftsministerium am Dienstag in Kiew mitteilte. Auch künftig könnten maximal zwei Millionen Tonnen pro Monat ins Ausland geliefert werden, sollte Russland die Schwarzmeerhäfen weiter blockieren, sagte der stellvertretende Landwirtschaftsminister Taras Wisotzkij. Vor dem Einmarsch Russlands exportierte die Ukraine monatlich bis zu sechs Millionen Tonnen Getreide.
Im vergangenen Monat wurden 959.000 Tonnen Mais und 202.650 Tonnen Sonnenblumenöl ins Ausland geschickt. Zum Vergleich: Im Mai 2021 waren es noch 2,245 Millionen Tonnen Mais und 501.800 Tonnen Sonnenblumenöl. Die Ukraine ist ein bedeutender Agrarproduzent, der früher den Großteil der Waren über die Seehäfen in alle Welt transportiert hat. Seit der am 24. Februar begonnenen russischen Invasion ist das Land aber gezwungen, die Güter per Zug über die Westgrenze oder über die kleinen Donauhäfen zu exportieren.
Die Vereinten Nationen (UN) bemühen sich angesichts weltweit gestiegener Lebensmittelpreise um die Wiederaufnahme der Getreide-Exporte aus Russland und der Ukraine. Ziel ist es, weltweit die Versorgung mit Lebensmitteln sicher zu stellen. Russlands Krieg hat eine weltweite Nahrungsmittelkrise ausgelöst, in deren Folge die Preise für Getreide, Speiseöl, Treibstoff und Düngemittel in die Höhe schossen. Auf Russland und die Ukraine entfällt fast ein Drittel der weltweiten Weizenlieferungen. Russland ist zudem ein wichtiger Exporteur von Düngemitteln, die Ukraine von Mais und Sonnenblumenöl. Die Regierung in Moskau macht westliche Sanktionen für die Lieferengpässe verantwortlich.
Die Türkei arbeitet nach eigenen Angaben eng mit der Ukraine und Russland zusammen, um einen Plan für die Wiederaufnahme der ukrainischen Getreideexporte zu vereinbaren. Der Plan wird von den Vereinten Nationen vorangetrieben und beinhaltet einen Korridor im Schwarzen Meer, durch den per Schiff das von armen Ländern dringend benötigte Getreide aus der Ukraine geliefert werden soll. Es gehe unter anderem um die Beseitigung von Minen vor dem Hafen von Odessa und anderen Orten entlang der ukrainischen Küste, sagte der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar. Eine Frage sei, wer die Minen räumen und den geschaffenen Korridor schützen solle. Die Türkei hat im Schwarzen Meer eine Seegrenze mit den beiden Kriegsparteien. rtr
Der Ausblick für die Weltwirtschaft ist alles andere als rosig. Die Welt steht vor einer dreifachen Krise: einer Energiepreiskrise, einer Nahrungsmittelkrise und einer Finanzkrise. Diese dreifache Krise kommt zusätzlich zur Gesundheitskrise und Klimakrise. Sie alle verstärken sich gegenseitig. Die Weltbank erwartet, dass die Energiepreise im Jahr 2022 um mehr als 50 Prozent steigen werden. Der Nahrungsmittelpreisindex der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) erreichte im März seinen höchsten Stand seit seiner Einführung. Die Düngemittelpreise sind seit Anfang 2022 um fast 30 Prozent gestiegen, nachdem sie im letzten Jahr um 80 Prozent zugelegt hatten.
Besonders betroffen sind die armen Länder und die ärmeren Bevölkerungsschichten. Schon bevor Russland die Ukraine angegriffen hat, war die Zahl der hungernden Menschen weltweit aufgrund von Klimawandel, Kriegen und den Folgen der Corona-Pandemie stetig gestiegen. Nun warnt das World Food Programm vor einer neuen Hungerkatastrophe. In vielen, von der Covid-19-Pandemie besonders gebeutelten Ländern, ist der Spielraum für fiskalpolitische Stützmaßnahmen eng. Aufgrund der hohen Inflation müssen zudem viele Zentralbanken die geldpolitische Bremse ziehen. Dies dämpft die Konjunktur weiter.
Die WTO hat ihre Wachstumsprognose für den Welthandel für 2022 deutlich nach unten revidiert, von 4,7 Prozent auf 3 Prozent. Neben Russlands Krieg gegen die Ukraine tun Corona-Lockdowns in China, Engpässe gerade bei der Container-Schifffahrt, hohe Transportkosten und ein Arbeitskräftemangel ihr übriges, um den Welthandel zu bremsen. Hinzu kommt – wie schon zu Beginn der Covid-19-Pandemie – ein weiteres Problem: Seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine ist die Zahl der Länder, die Ausfuhrbeschränkungen für Lebensmittel verhängen, von 3 auf 16 gestiegen (April 2022).
Die Gesamtmenge der von den Beschränkungen betroffenen Ausfuhren entspricht etwa 17 Prozent der weltweit gehandelten Kalorienmenge. Zu den Ländern, die Ausfuhrbeschränkungen verhängen, gehören Russland (Weizen), Indonesien (Palmöl), Argentinien (Rindfleisch) sowie die Türkei, Kirgisistan und Kasachstan (Getreideprodukten). Mitte Mai verbot Indien die Ausfuhr von Weizen, nachdem die Preise gestiegen waren und eine Hitzewelle die Ernten beschädigt hatte.
Ein weiterer Trend kommt hinzu, der den Welthandel mittel- bis langfristig deutlich verändern könnte. Die jüngsten Ereignisse haben westlichen Ländern schmerzvoll vor Augen geführt, wie problematisch hohe, einseitige Abhängigkeiten bei kritischen Waren sein können. Großmachtpolitik, ein Wettbewerb der Ideen und Systeme, kalte und heiße Konflikte sowie Kriege drohen die Welt in neue Blöcke zu spalten – große Autokratien auf der einen und liberale Demokratien auf der anderen Seite.
Der Handel wird mehr und mehr unter dem Aspekt der Sicherheit gesehen: als Quelle nationaler Schwachstellen einerseits und als strategisches Zwangsinstrument andererseits. Dies wird sich massiv auf die Handelsströme auswirken und die Re-Regionalisierung und Re-Nationalisierung von Wertschöpfungsketten beschleunigen.
Mehr denn je ist eine starke WTO gefragt, um die Länder durch diese schwierigen Zeiten zu führen. Die multilaterale Organisation befindet sich jedoch in der schwersten Krise seit ihrer Gründung. Alle drei Säulen der Organisation – 1. die Liberalisierung des Handels und die Festlegung von Regeln, 2. die Überwachung der Handelspolitiken und 3. die Streitbeilegung – stehen vor großen Herausforderungen. Der Appetit für neue Marktöffnung ist seit Jahren gering. Zudem ist das Regelwerk der WTO nicht mehr fit für den Handel des 21. Jahrhunderts. Es hat wenig zu bieten in Bezug auf den digitalen Handel und ist schwach in puncto Industriesubventionen.
Auch in Bezug auf Arbeits- und Umweltfragen ist das WTO-Regelwerk schwach. Besonders problematisch: Seit Ende 2019 funktioniert der Streitbeilegungsmechanismus der Organisation nicht mehr. Die USA blockieren nach wie vor die Ernennung neuer Mitglieder des Berufungsgremiums (AB). Ohne ein funktionierendes Berufungsgremium landen angefochtene Panel-Entscheidungen im Limbo. Die Durchsetzung von WTO-Verpflichtungen wird so auf unbestimmte Zeit verzögert und folglich die Wirksamkeit der WTO deutlich geschwächt.
Was heißt dies nun für die anstehende Ministerkonferenz? Die WTO-Mitglieder müssen sich sowohl den kurzfristigen als auch den langfristigen Herausforderungen stellen. Sie sollten sich gemeinsam gegen Ausfuhrbeschränkungen für Nahrungsmittel und Medizinprodukte aussprechen. Zudem sollten sie sich endlich auf einen Kompromiss über Fischereisubventionen verständigen. Ein Nichtzustandekommen eines Abkommens wäre nicht nur aus ökologischer Sicht problematisch, sondern würde auch die Glaubwürdigkeit der WTO weiter untergraben.
Auch beim Thema Handel und Gesundheit muss es Fortschritte geben. Ein besonders kritisches Thema ist hier der Patentschutz für Covid-Impfstoffe. Wo ein gemeinsames Vorgehen aller 164 Mitglieder nicht möglich ist, bieten die plurilateralen Initiativen wie beispielsweise zum digitalen Handel eine Möglichkeit, das Regelwerk zumindest in Teilen zu modernisieren. Mit großen Reformbeschlüssen ist sicherlich nicht zu rechnen. Zumindest sollten sich die WTO-Mitglieder auf einen Reformfahrplan bis zur nächsten Ministerkonferenz verständigen.
Einfach wird dies alles nicht, da Entscheidungen im Konsens getroffen werden. Nicht nur werden die Verhandlungen dadurch erschwert, dass Russland nach wie vor mit am Verhandlungstisch sitzt. Die großen Handelsnationen sind sich in vielen Themen alles andere als einig. Wenn die WTO-Mitglieder jedoch weiterhin tatenlos zusehen oder Reformen aktiv blockieren, wird die Organisation weiter an Einfluss verlieren. Die Gefahr ist dann groß, dass im internationalen Handel zukünftig nicht mehr die Rechtsstaatlichkeit, sondern die Macht regiert – und das ginge zulasten aller.