Table.Briefing: China

Ruth Schimanowski + Inflationsängste + 6. Plenum

  • Interview mit Ruth Schimanowski vom DAAD Peking
  • Hohe Gemüsepreise treiben Inflationsängste
  • Xis Absichten auf ZK-Plenum
  • PwC-Studie: Zahl der E-Autos in China übersteigt zugelassene Fahrzeuge in Deutschland
  • Handels-Rekord im Oktober
  • Stromkrise entspannt sich
  • Shaanxi stellt Mütter länger frei
  • Immobilien-Krise trifft nun auch Kaisa
  • EU-Parlamentarier in Taiwan
  • Standpunkt zu COP26: Chinas Versprechen zum Kohleausstieg im Ausland
  • Im Portrait: Kai Müller von der International Campaign for Tibet 
Liebe Leserin, lieber Leser,

in China gelten Wissenschaft, Innovation und Forschung als die entscheidenden Triebkräfte des wirtschaftlichen Fortschritts. Ruth Schimanowski vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) fordert, Deutschland solle davon lernen. Im CEO-Talk mit Frank Sieren plädiert sie für den Aufbau von China-Kompetenz in der Bundesrepublik. Auch die akademische Kooperation zwischen den beiden Staaten müsse gestärkt werden. Allerdings bremse Chinas “No-Covid”-Strategie und das häufig bürokratische Vorgehen chinesischer Hochschulen den akademischen Austausch, sagt Schimanowski, die seit 20 Jahren in China lebt. Schimanowski spricht sich zudem für mehr China-Kompetenz auch außerhalb der Sinologie aus.

Für China-Watcher ist ein Plenum des Zentralkomitees jedes Jahr ein kleines Fest. Schon der Klang des Wortes bestätigt uns, dass wir es weiterhin mit einem System zu tun haben, dessen Strukturen einst Lenin geprägt hat. Bei aller Undurchsichtigkeit der politischen Vorgänge des Landes gibt das etwas Sicherheit. Wenn das ZK sich zu bedeutenden Beschlüssen trifft, dann sind auch bedeutende Beschlüsse zu erwarten. Seit gestern tagt das sechste Plenum des aktuellen ZKs. Michael Radunski analysiert, welche Signale sich für die ideologische Ausrichtung Chinas deuten lassen. Xi Jinping fällt dabei nicht durch ausgeprägte Bescheidenheit auf.

Das sechste Plenum fällt in innenpolitisch angespannte Zeiten – das Schreckgespenst Inflation macht die Runde. Ning Wang hat sich die Situation genauer angeschaut und zeigt, unter welch großem Druck die Regierung in Peking steht. Schnell wird klar: Als weltweit größter Exporteur haben die steigenden Preise auch Auswirkungen auf ausländische Unternehmen in China. Sind gar die internationalen Lieferketten von der Inflations-Gefahr in China betroffen?

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Ihre
Amelie Richter
Bild von Amelie  Richter

Interview

“Wir brauchen China-Kompetenz auch abseits der Sinologie”

Ruth Schimanoski über mehr China-Kompetenz in Deutschland
Ruth Schimanowski leitet die DAAD-Außenstelle in Peking

Ruth Schimanowski hat einen großen Teil ihrer Kindheit in Afrika verbracht. Erst mit 15 kehrte sie nach Deutschland zurück und machte dort das Abitur. Danach zog es sie gleich wieder raus – nach Taipeh, um dort Mandarin zu lernen. Dann wieder zurück nach Berlin, wo sie ein Physikstudium und mehreren Stationen im Ausland absolvierte: Nach Peking kam sie erstmals als DAAD-Stipendiatin. Zwischendurch ging sie nach New Orleans für biophysikalische Experimente. Heute lebt sie jedoch schon seit über 20 Jahren in der chinesischen Hauptstadt.

Nicht nur Schimanowskis Lebensmittelpunkte im Laufe der Jahre, sondern auch ihre beruflichen Abschnitte sind vielfältig: Sie hat bei dem Pharmariesen Boehringer Ingelheim und im Kulturreferat der Deutschen Botschaft Peking gearbeitet. Sie war Leiterin des Verbindungsbüros des bischöflichen Hilfswerks Misereor in China und Geschäftsführerin des German Centre Beijing der LBBW. Inzwischen leitet sie die drei DAAD-Büros in China. Das Interview können Sie in voller Länger als Video ansehen.

Was sollten chinesische und deutsche Akademiker voneinander lernen?

Eine ganze Menge. Deutsche Akademiker können von chinesischen Akademikern lernen, sich schnell auf neue Situationen einzustellen. Wir haben hier eine unheimliche Dynamik. Das, was ich gestern gelernt habe, gilt heute nicht mehr. Man ist hier viel öfter gezwungen, auf Basis einer dünnen, intransparenten Faktenlage Entscheidungen zu treffen, die sich dann wiederum schnell überholen. Wenn ich hier etwas gelernt habe, dann zügig und instinktsicher zu entscheiden, worüber zuvor noch nie entschieden werden musste. Wenn man das kann, wächst der Optimismus, das Vertrauen in die Zukunft. Nach dem Motto: Zwar stand noch kein anderer zuvor vor dieser Herausforderung, aber wir finden eine Lösung. Dieses neue Selbstvertrauen prägt dieses Land. 

Aber derzeit ist auch sehr viel im Argen in China. Wie kann man dabei optimistisch bleiben?

Aus der Sicht der meisten Menschen hier ist der Entwicklungsstand heute trotz aller Probleme sehr viel besser als das, was sie von ihren Eltern und ihren Großeltern gehört oder noch selbst erlebt haben. Viele meiner chinesischen Freunde sagen zum Beispiel heute: Ich heirate nicht. Das ist ihre Freiheit und war noch vor 20 Jahren undenkbar. Und davor konnte man sich nicht einmal aussuchen, wen man heiratet. Die Chinesen können ins Ausland gehen, mit neuen Eindrücken zurückkehren und dann entscheiden, so oder so möchte ich leben.

Und was bedeutet das für den akademischen Austausch?

Das gesellschaftliche Umfeld färbt selbstverständlich auch auf die Wissenschaft ab. In China ist der Mut und die Notwendigkeit größer, bekannte Wege zu verlassen, Neues zu denken und es auszuprobieren.

Wie wichtig sind für solche Wissenschaftler die deutschen, weltweit renommierten Forschungsstationen, wie Helmholtz, Fraunhofer oder Max Planck, die im Zweifel in der Grundlagenforschung viel weiter sind.  

Sie erhöhen mit ihrer Offenheit, ihrer Neugier und ihrem Lerneifer die Vielfalt unserer Forschungslandschaft und das ist wichtig für uns. Man ist zusammen besser, wenn man unterschiedliche Denkansätze und Mentalitäten kombiniert. Wir denken noch zu sehr in Wettbewerbskategorien: Die oder wir? Wer ist schneller? Dabei sind wir gemeinsam am besten. Der Kampf gegen den Klimawandel ist ein gutes Beispiel dafür.

Was lernen Chinesen von uns?

Sehr viel, zumal der akademische Austausch ja schon seit über 40 Jahren läuft. Sehr lange hatte der Knowhow-Transfer eine klare Richtung: Die alte Dame Bundesrepublik hat Stipendien vergeben und damit einen großen Beitrag zur Entwicklung Chinas geleistet. Ich spüre bis heute eine große Dankbarkeit gegenüber Deutschland und auch dem DAAD dafür, gerade bei den chinesischen Deutschland-Alumni. 

Warum kommen sie zu uns?

Sie kommen zu uns, weil unsere Universitäten und Forschungsstätten international ein gutes Renommee haben. Einer unserer größten Vorteile ist neben praxisorientierter Hochschulbildung die enge Verzahnung zwischen Wirtschaft und Forschung. Daraus sind unsere Hidden Champions hervorgegangen. 

Sind Stipendien heute eigentlich noch wichtig? 

Wir haben noch sehr vielen Stipendienprogramme, aber es ist nicht mehr so wichtig, dass der DAAD den Aufenthalt bezahlt. Anders als früher werden wir heutzutage fast überrannt von sogenannten Selbstzahlern, also Chinesen, die nach Deutschland gehen wollen und das Studium komplett selber bezahlen. Das bedeutet, sie sind nicht mehr auf unsere Stipendien angewiesen. Damit ändert sich auch unser Fokus. Viel wichtiger als früher sind inzwischen die Deutschland-Alumni. Wir finanzieren Konferenzen oder Publikationen, sorgen dafür, dass die Alumni weiter in engem Austausch bleiben. In 40 Jahren ist so ein ziemlich beeindruckendes Netzwerk entstanden. 

Wie steht es mit Deutsch als Fremdsprache in China? Darum kümmert sich der DAAD ja auch. Ist das ein Auslaufmodell? 

Im Gegenteil. Bei der jüngsten Deutschlernerhebung, die das Goethe-Institut und der DAAD gemeinsam mit der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen alle fünf Jahre durchführen, ist der Anteil der Deutschlerner in den Schulen in den letzten fünf Jahren um 33 Prozent gewachsen. Das ist sehr ermutigend und bedeutet auch mehr potenzielle Mitarbeiter für deutsche Firmen. 

Das ist überraschend. Woran liegt das neue Interesse an Deutsch?

Ich würde jetzt gerne antworten, weil die Deutschen so toll Fußball spielen oder unsere Autos und deutschen Firmen so attraktiv sind. Der eigentliche Grund ist jedoch ein anderer: Die chinesische Regierung hat die Mehrsprachigkeit an den Schulen eingeführt, also nicht nur Englisch, sondern auch kleinere Sprachen. Dazu gehören Japanisch, Deutsch, Französisch, und Russisch. Das heißt, man kann an chinesischen Schulen nun eine zweite Fremdsprache lernen.

Warum hat man das gemacht?

Man will womöglich die Abhängigkeit vom angelsächsischen Raum verringern. Und: Bei uns ist es auch üblich, dass die Kinder zwei und mehr Fremdsprachen lernen. Mit dieser Entwicklung ist die Nachfrage nach Deutschlehrerinnen und Deutschlehrern stark gestiegen. Dem begegnen wir mit entsprechenden Programmen.

Allerdings ist der persönliche Austausch mit Deutschland durch die Corona-Strategie Pekings praktisch komplett zum Erliegen gekommen. Wann öffnet sich das Land wieder? 

Die Einreisesperre ist tatsächlich eine Katastrophe für uns, digitaler Austausch ist nicht mit einem Aufenthalt im Land zu vergleichen. Wenn ein junger Mensch an eine ausländische Universität geht, will er dort nicht nur studieren, sondern zum Beispiel eine Megametropole wie Schanghai erleben, Menschen und fremde Kulturen kennenlernen. Leider sehe ich derzeit überhaupt keinen Grund für Optimismus. China hält eisern an seiner Null-Infektionen-Strategie fest. Für Studierende rechne ich frühestens für das Wintersemester 2022/23 mit einer Entspannung. Immerhin können Chinesen nach Deutschland reisen. In dieser Richtung funktioniert der Austausch weiterhin. 

Auf dem gleichen Niveau?

Nein. Vor allem die Kurzzeit-Aufenthalte unter 90 Tage fallen weg. Und viele Austauschprogramme wurden eingestellt oder verschoben. Generell ist allerdings unser Eindruck, dass durch die Spannungen zwischen China und den USA, Europa und insbesondere Deutschland wieder stärker in den Fokus für Auslandsstudien gerückt sind. Wir sehen eine steigende Nachfrage nach den Studien- und Forschungsaufenthalten in Deutschland. Es waren zum WS 2019/20 rund 45.000 chinesische Studierende an deutschen Universitäten eingeschrieben. Die Zahl wird wegen Corona sicherlich ein wenig zurückgehen, aber langfristig eher steigen als fallen. 

Das bedeutet, es interessieren sich mehr Chinesen für Deutschland als Deutsche für China.

Wir brauchen sicherlich mehr China-Kompetenz. Allerdings sind die Zahlen nicht so schlecht wie oft vermutet wird: 2018 waren laut Angaben des chinesischen Bildungsministeriums sogar rund 8.000 deutsche Studierende in China. Das ist schon eine beachtliche Zahl für die wenigen 80 Millionen Einwohner, die Deutschland im Vergleich zu China hat. Damit ist die Volksrepublik das zweitbeliebteste außereuropäische Gastland für deutsche Studierende, direkt hinter den USA.

Die klassische deutsche Sinologie hat allerdings immer weniger Zulauf.

Die Sinologie ist an vielen Universitäten ein Orchideenfach. Nichts gegen Tang-Gedichte. Aber wir brauchen China-Kompetenz in den Ingenieurwissenschaften, BWL oder in den Politikwissenschaftlern. Mehr Nicht-Sinologen müssen in China leben, ein wenig Chinesisch lernen und in ihrem Bereich weiter forschen und arbeiten. 

Sie haben Physik studiert und sind in Afrika aufgewachsen, da liegt es ja nicht nahe, nach China zu gehen und 20 Jahre zu bleiben?

Ich muss zugeben, es war nicht von Anfang an geplant, so lange zu bleiben. Ich wollte eigentlich nur ein wenig Chinesisch lernen und habe dann zufällig meinen Mann in Peking kennengelernt. Ein begeisterter Halb-Sinologe und dann sind wir eben hiergeblieben. Für die Kinder war es ja durchaus ein Vorteil zweisprachig aufzuwachsen, obwohl wir beide Deutsche sind. Sie haben als Kinder erst Chinesisch gesprochen und danach Deutsch. Was sie aber durchaus geprägt hat, ist der chinesische Optimismus. Das finde ich sehr schön. Denn der ist ja auch außerhalb Chinas nützlich. 

Dieser Optimismus hängt ja auch eng mit einer Neugier auf die Zukunft zusammen. Hat Wissenschaft deshalb in China eine andere Bedeutung? 

Für die Politik und Staatsführung jedenfalls eine größere als in Deutschland. Wenn man sich Chinas 14. Fünfjahresplan anschaut, wird klar: Wissenschaft gilt als zentraler Treiber des wirtschaftlichen Wachstums und der Innovationskraft. Dafür ist Geld und politische Gestaltungskraft da. In dieser Frage müssen wir in Deutschland nachbessern. Um enger miteinander kooperieren zu können, müssen administrativen Hürden, die das erschweren, abgebaut werden. In China ebenso wie in Deutschland.

Ein Beispiel für solche Hürden in China?

Es hat Fälle gegeben, da verlangt eine Universität, dass der deutsche Gastdozent erst einen Arbeitsvertrag bekommt, wenn er im universitätseigenen Krankenhaus untersucht wurde. Er bekommt jedoch nur ein Visum, um nach China einzureisen, wenn er einen Arbeitsvertrag hat. Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Das Verrückte dabei: Diese Uni will gar nicht verhindern, dass deutsche Wissenschaftler kommen, aber sie kann ihre unsinnigen Regeln nicht umgehen. Wir haben eine ganze Reihe ähnlich gelagerte Fälle. 

Und es gibt auch ideologische Hürden. Wie verhält man sich in dieser Wissenslandschaft, in der der Staat einerseits zu höherem Tempo bei Innovation antreibt und andererseits mehr kontrolliert, zensiert und ideologisch im Gleichschritt laufen lässt?

Erst einmal müssen wir verstehen, dass die Rolle einer Universität in China und auch die Rolle der Forschung eine andere ist. Die Forschung ist kein Selbstzweck, sondern sie soll der Entwicklung der Gesellschaft und am Ende den Interessen der Kommunistischen Partei dienen. In vielen Fällen ist das kein Problem, wenn es beispielsweise darum geht, E-Auto-Batterien zu entwickeln. In manchen Fällen kann sich das aber nicht mit unseren Vorstellungen wissenschaftlicher Freiheit decken, weil es darum geht, Patriotismus und vor allem die Ideologie der Partei bis in den letzten Winkel zu tragen und umzusetzen.

Was ist, wenn deutsche Forscher zwar in China, aber nicht in einem solchen, ideologischen Umfeld arbeiten wollen

Dann müssten sie woanders arbeiten. Die Ideologie macht vor der Wissenschaft nicht halt. Dabei darf man nicht vergessen, dass Ausländer an den Universitäten meistens mehr Freiheiten haben als ihre chinesischen Kollegen. Sie unterliegen einer anderen Kontrollnorm und genießen eine Art Narrenfreiheit, die in Zeiten schrumpfender Freiräume das allgemeine Klima durchaus beleben kann. Da gibt es Freiräume, die wir ausfüllen sollten. Aber wir dürfen uns dabei auch nicht überschätzen. Von oben herab erreichen wir in China nichts mehr. Unsere Deutungshoheit wird immer schwächer. Das müssen wir vielleicht doch ein wenig realistischer einschätzen. 

Aber können Sie anderseits auch nachvollziehen, dass Wissenschaftler sagen: Angesichts der Entwicklungen in Hongkong, Xinjiang, der Zensur, möchte ich in dem Land nicht arbeiten?

Das kann ich nachvollziehen. Nur andererseits: Etwas ändern können wir nur im Dialog und nicht dadurch, dass wir uns von China abwenden. Wenn wir von Werten wie Rechtsstaatlichkeit, Wissenschaftsfreiheit oder Zivilgesellschaft überzeugt sind, und das bin ich, sollten wir eine Debatte darüber selbstbewusst führen. Eines muss dabei wie gesagt klar sein: Wir können China zu nichts mehr zwingen, aber wir können überzeugende Argumente liefern, die China motivieren sich aus sich selbst heraus zu ändern. 

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    Für Xi wird es auf dem 6. Plenum historisch

    Diese Woche wird historisch. Und das nicht nur im übertragenen Sinne, sondern wortwörtlich. Denn seit Montag tritt das 6. Plenum des 19. Zentralkomitees in Peking zusammen. Die 370 Delegierten sollen unter anderem eine “historische Resolution” verabschieden. Was genau in diesem Beschluss von Präsident Xi Jinping drin stehen wird, ist zwar noch nicht bekannt, in den chinesischen Medien wird allerdings schon seit Tagen berichtet, dass damit “die großen Erfolge und historischen Errungenschaften der Partei in ihrem 100-jährigen Kampf” gefeiert werden sollen.

    Das 6. Plenum vom 8. bis 11. November wäre sicherlich der geeignete Anlass für eine Verlautbarung von epischer Tragweite. In China werden die Treffen der jeweils amtierenden Zentralkomitees durchnummeriert. Besondere Aufmerksamkeit erhalten dabei üblicherweise das 3. Plenum und das 6. Plenum: Während auf dem 3. Plenum besondere Reformprojekte bekannt gegeben werden, werden auf dem 6. Plenum als finalem Treffen vor dem Parteitag weitreichende Grundsatzentscheidungen getroffen, die für Jahrzehnte nachwirken. Auch dieses Mal soll es eine “historische Resolution” geben.

    Xi nimmt sich viel vor. Beschlüsse, die das Etikett einer “historischen Resolution” erhalten, sind sehr selten und stehen aus der Flut der Parteiverlautbarungen deutlich heraus. In 100 Jahren Parteigeschichte gab es solche Resolutionen erst zweimal:

    • im Jahr 1945 unter Mao Zedong die “Resolution on Certain Historical Questions” (关于若干历史问题的决议) und
    • im Jahr 1981 unter Deng Xiaoping die “Resolution on Certain Questions in Party History since the Founding of the People’s Republic of China” (关于建国以来党的若干历史问题的决议).

    Die Gleichstellung mit Mao und Deng verdeutlicht bereits, auf welcher Stufe sich Staatspräsident Xi Jinping wähnt.

    Historische Resolutionen – Rückblick und Vorausschau

    Doch derartige Resolutionen haben nicht nur einen hohen Symbolwert, sie sind zudem ein wichtiges Instrument in der chinesischen Politik. Im Grunde erfüllen sie zwei praktische Funktionen: Zum einen wird mit ihnen eine Bewertung vergangener Ereignisse vorgenommen. Xi reklamiert mit der “historischen Resolution” also die Deutungshoheit über die Geschichte. Er entscheidet, wie vergangene Geschehnisse zu bewerten sind, was gut und was schlecht für das chinesische Volk ist. Zum anderen gibt die Führung mit derartigen Resolutionen die zukünftige Richtung für die Partei und das Land vor.

    Die “historischen Resolutionen” von Mao und Deng folgten ganz diesem Muster. Sie waren geprägt von kritischem Rückblick und ideologischer Vorausschau. Mao rief 1945 zur “Korrektur-Bewegung” auf, was im Grunde vor allem eines bedeutete: die Abrechnung mit seinen innerparteilichen Gegnern. Sie wurden gezwungen, mittels harscher Selbstkritiken eigene Fehler einzugestehen. Am Ende stand Mao als unumstrittener Führer an der Spitze von Partei und Land.

    Deng Xiaopings historische Revolution hatte genau die gegenteilige Stoßrichtung. Er griff 1981 zu diesem Mittel, um mit den Fehlern der Mao-Zeit abzurechnen, vor allem mit der Kulturrevolution und ihren Folgen. Dabei gelang es Deng, eine feine Unterscheidung einzuführen zwischen Maos Erfolgen – vor allem rund um die Gründung der Volksrepublik – und Maos Fehlern, die Deng vor allem in den Jahren vor Maos Tod verortete. Als Vorausschau legte Deng damals die ideologische Grundlage für seine folgende Öffnungs- und Reformpolitik.

    Eine Hierarchie der Führer

    Eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit – sei es mit Maos Kulturrevolution oder gar mit den Ereignissen rund um den Tian’anmen-Platz 1989 – wird es in Xis “historischer Resolution” wohl nicht geben. Im Gegenteil. Es werde vor allem um Lob und Selbstlob gehen, schreibt der abtrünnige Partei-Chronist Deng Yuwen auf der Internetseite Yibao.

    In welchem Tonfall die Verkündigung der Resolution ablaufen wird, lässt ein Blick in den letzten Report des Politbüros von Mitte Oktober erahnen. Dort heißt es: “Die Kommunistische Partei Chinas hat alle ethnischen Gruppen des Landes in den vergangenen 100 Jahren zu bedeutsamen Errungenschaften in der menschlichen Entwicklung geführt.” Chinas Bevölkerung sei unterworfen und tyrannisiert worden. Doch nun sei man aufgestanden. Unter der Führung von Xi Jinping befinde sich das Land auf dem Weg hin zu gemeinsamem Wohlstand und spiritueller und nationaler Verjüngung. Kurz: Die 100 Jahre seit Gründung der KP China 1921 in Shanghai sind eine einzige Erfolgsgeschichte, und Xi Jinping der richtige Mann für China.

    Es wird deutlich, was Xi auf dem 6. Plenum erreichen will: Mit dem Formulieren einer “historischen Resolution” unterstreicht er abermals seine herausgehobene Stellung in der chinesischen Geschichte. Er steht damit auf einer Stufe mit Mao und Deng. Mindestens. Denn Xi trachtet danach, die beiden Partei-Ikonen noch zu übertreffen, in dem er auf dem 6. Plenum eine Hierarchie der chinesischen Führer installieren will.

    An der Spitze stehen dann nur noch er und Mao. In einigem Abstand folgen demnach Deng Xiaoping, dann Jiang Zemin und Hu Jintao. Geht es nach Xi, soll von nun an die Geschichte der Kommunistischen Partei in drei Perioden unterteilt werden können: eine erste Phase unter Mao, dann eine weniger wichtige Zwischenzeit und schließlich die Ära Xi. Der große Reformer Deng Xiaoping wird so zur bloßen Episode.

    Eine Kulturrevolution 2.0

    Diese klare Rangordnung ist aus zwei Gründen für Xi wichtig: aufgrund seines Führungsstils und aufgrund seiner Ziele. Denn Xis Führungsstil stellt eine klare Abkehr von Deng Xiaoping dar. Deng war es, der nach den Irrungen der Mao-Zeit samt Hungerkatastrophe und Kulturrevolution eindringlich davor warnte, jemals wieder eine einzige Person derart mächtig werden zu lassen. In Chinas politischer Kultur endete der Personenkult. Die Amtszeiten der chinesischen Staatspräsidenten waren vor Xi auf zwei Perioden zu je fünf Jahren begrenzt. Xi hat beides einkassiert.

    Und auch inhaltlich wandelt Xi auf den Spuren Maos. Aus Sicht vieler Beobachter verordnet Xi dem Land derzeit nicht weniger als eine Art Kulturrevolution 2.0. Zunächst wurde mit äußerster Schärfe gegen korrupte und anderweitig missliebige Kader vorgegangen, nicht wenige Beobachter sprachen in Anlehnung an die Mao-Zeit von einer “Säuberung” der Parteireihen. Auch die Bereiche Wirtschaft (Crackdown gegen große Technologie-Konzerne) und Bildung (neue Lehrpläne an Schulen und Universitäten, Verbote für private Bildungsanbieter) werden völlig umstrukturiert. Alles gepaart mit einer starken Re-Ideologisierung der Gesellschaft (hin zu alten Werten, weg vom Ausland).

    Wie weitreichend diese Vorgänge auch innerhalb Chinas wahrgenommen werden, verdeutlichte vor wenigen Wochen der einflussreiche Blogger Li Guangman (李光满) mit seinem Aufsatz “Jeder einzelne kann spüren, dass grundlegende Veränderungen geschehen” (每个人都能感受到,一场深刻的变革正在进行.) Li veröffentlichte den Aufsatz zunächst auf seinem WeChat-Konto, doch innerhalb kürzester Zeit wurde seine Zeilen von der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua, der Zeitung People’s Daily und dem Fernsehsender CCTV aufgegriffen.

    Li lobt darin, wie es vulgären, geldversessenen Individuen endlich an den Kragen gehe – ähnlich wie bei einer Revolution. Das Motiv jener Revolution unter Xi sei es, die auf Geld und Profit fokussierte Gesellschaft zu verändern hin zu einer Gemeinschaft, in der der Mensch und das Gemeinwohl wieder im Zentrum stehen. Es sei die Rückkehr zu den wahren Intentionen (初心) und der Quintessenzen (本质) der KPCh sowie des wahren chinesischen Sozialismus.

    Es sind diese Ideen und Schlagworte, mit denen Xi Jinping in den kommenden Jahren die Politik Chinas bestimmen will – und die deshalb wohl auch die “historische Resolution” auf dem 6. Plenum prägen werden.

    Xi will seine Position festigen

    Doch warum bedarf es dann noch einer “historische Resolution”? Eine oft gehörte Begründung lautet: So stark Xi Jinping nach außen auch wirken mag, innerhalb Chinas sind sowohl sein Führungsstil als auch seine inhaltlichen Ziele umstritten. Doch nur selten zeigen sich Risse im nach außen oft monolithisch wirkenden Gebilde der KP. Aber es gibt sie: Zweifel, Unzufriedenheit, manchmal Misstöne und mitunter gar Kritik. Wie beispielsweise von Zhang Weiying (张维迎). Der Wirtschaftsprofessor der Peking-Universität stellte Anfang September das Konzept des “gemeinschaftlichen Wohlstands” (common prosperity) in Frage. Der Ansatz widerspreche den Grundsätzen einer Marktwirtschaft und könne gar in “gemeinschaftliche Armut” (common poverty) enden.

    Und so geht es für Xi auf dem 6. Plenum mit einer “historischen Resolution” um Dreierlei:

    • historisch seinen Platz weit oben in der Parteihierarchie zu festigen;
    • machtpolitisch die Reihen angesichts wirtschaftlicher, pandemischer und internationaler Herausforderungen zu schließen;
    • und mit den “Xi Jinping Ideen des Sozialismus chinesischer Prägung im neuen Zeitalter” (习近平新时代中国特色社会主义思想) ideologisches Fundament für den Weg die Zukunft zu weisen.

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      Chinas Angst vor Inflation

      Es ist nur Gemüse, könnte man meinen. Vor allem für Blumenkohl und Brokkoli sind die Preise zuletzt enorm gestiegen. Laut dem Handelsministerium in Peking sind es etwa 50 Prozent mehr, die die Verbraucher nun für das Blütengemüse zahlen müssen. Auch Spinat hat sich um fast 160 Prozent verteuert, so die Berechnungen der Nachrichtenagentur Bloomberg. Damit liegen die Preise für Gemüse gleichauf mit einem Pfund Schweine- oder Hühnerfleisch. Grund sind Ernteausfälle. Verursacht etwa durch starke Regenfälle und Überschwemmungen in der Region Shandong, einem der größten Gemüseanbaugebiete im Land.

      Vor gut einer Woche veröffentlichte das Handelsministerium eine “Mitteilung über gute Arbeit bei der Aufrechterhaltung des Angebots und der Stabilisierung der Preise für Gemüse und andere Güter des täglichen Bedarfs auf dem Markt für den Winter und Frühling”. Eigentlich sind derartige Mitteilungen an die lokalen Behörden nichts Ungewöhnliches, doch der Aufruf vor gut einer Woche kam zu einem ungünstigen Zeitpunkt: Die Menschen plagt die Angst vor Versorgungsengpässen, vielerorts kommt es zu langen Schlangen vor den Supermärkten, in einigen Gegenden gar zu panikartigen Hamsterkäufen. Die Lage ist ohnehin angespannt.

      Zuletzt war die Zahl der Corona-Neuinfektionen im Land wieder angestiegen, was dazu führte, dass viele strengere Ausgangs- und Reisebeschränkungen innerhalb des Landes befürchteten. Der aktuelle Aufruf des Handelsministeriums brachte für manchen das Fass zum Überlaufen: Online wurden wilde Spekulationen und Gerüchte verbreitet, die nur noch mehr Unsicherheit schürten.  

      Staatsmedien rudern zurück

      Nachdem die Mitteilung zur Preisstabilität innerhalb von 24 Stunden mehr als 46 Millionen Mal gelesen wurde, versuchte sich ein Beamter des Handelsministeriums in Schadensbegrenzung: “Die Versorgung mit Dingen für den täglichen Bedarf ist überall ausreichend und sollte vollständig gewährleistet sein”, sagte Zhu Xiaoliang in einem Interview mit dem staatlichen Fernsehsender CCTV.

      Selbst Staatsmedien wie die als Sprachrohr der Partei bekannte Global Times waren bemüht, die angespannte Stimmung zu besänftigen. Prominent wurde berichtet, dass die Regale in den Supermärkten wie gewohnt gefüllt seien und es nicht zu Panikkäufen komme. Im Grunde ist es eine Nicht-Berichterstattung – und sie zeigt, wie besorgt die chinesische Führung über steigende Preise und die damit verbundenen Folgen für die Stabilität in der Gesellschaft ist.

      Dass die Preise für Gemüse derart stark steigen, wirft einen Schatten auf das in dieser Woche stattfindende 6. Plenum des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas. Dort will Staats- und Parteichef Xi Jinping seine Position innerhalb der Partei weiter stärken (China.Table berichtete). Doch nicht nur der Preisanstieg sorgt für Unbehagen unter den Delegierten. Im Oktober sind Chinas Fabrikaktivitäten stärker gefallen, als erwartet. Der offizielle Einkaufsmanagerindex für das verarbeitende Gewerbe lag bei 49,2 Prozentpunkte – und fiel damit unter die Marke von 50, die wirtschaftliches Wachstum von Schrumpfung trennt.

      Zhang Zhiwei, Chefökonom bei Pinpoint Asset Management, sagte dem US-Finanzsender CNBC zufolge, der Index sei damit auf den niedrigsten Stand seit seiner Veröffentlichung im Jahr 2005 gefallen (ausgenommen sind die globale Finanzkrise 2008 und der Ausbruch der Covid-19-Pandemie im Februar vergangenen Jahres).

      Lis Warnung vor Abwärtsdruck

      Ministerpräsident Li Keqiang warnte denn auch zuletzt vor einem neuen “Abwärtsdruck” für die chinesische Wirtschaft. Auch wenn Li keine Details zu den Ursachen nannte, sind diese doch klar zu erkennen: Seit Ausbruch der Corona-Pandemie verfolgt die Regierung eine strikte “Null-Covid”-Strategie, deren Maßnahmen immer wieder Teile der Wirtschaft lahmlegen. Im September kam eine Stromkrise hinzu. Die Energieknappheit führte in rund 20 Provinzen dazu, dass die Industrieproduktion merklich gedrosselt werden musste.

      Gemeinsam mit den zuletzt gestiegenen Rohstoffpreisen sorgt das für große Inflationsängste innerhalb der Bevölkerung. Der Druck auf die Politik ist derart groß, dass der Staatsrat zuletzt ankündigte, gegen “bösartige Spekulationen” vorzugehen, um die rasant gestiegenen Rohstoffpreise wieder zu senken.

      Dass die Folgen der Stromkrise und der Pandemie auch ausländische Unternehmen in China hart getroffen hat, zeigt die aktuelle “Business Outlook”-Umfrage der Deutschen Industrie- und Handelskammer zusammen mit den Auslandshandelskammern (China.Table berichtete): Während im Frühjahr noch 70 Prozent der deutschen Unternehmen in China von einem positiven Konjunkturtrend ausgingen, sind es aktuell nur noch 36 Prozent. Zum Vergleich: In den USA sinkt dieser Wert derzeit von 74 auf 50 Prozent, so das Papier. “Die Unternehmen sehen mit Sorge, dass in den beiden Weltkonjunktur-Lokomotiven der letzten Monate offenbar die Luft dünner wird”, kommentiert DIHK-Außenwirtschaftschef Volker Treier die Zahlen. “Für den wirtschaftlichen Aufholprozess nach der Corona-Krise sind das keine guten Vorzeichen”, meint Treier.

      China exportiert keine Inflation

      Davon könnten auch die weltweiten Lieferketten in Mitleidenschaft gezogen werden, fürchtet Louis Kuijs, China-Kenner und Asien-Ökonom von Oxford Economics. “Wenn die Stromknappheit und die Produktionskürzungen anhalten, könnten sie zu einem weiteren Faktor werden, der globale angebotsseitige Probleme verursacht, insbesondere wenn sie die Produktion von Exportprodukten beeinträchtigen.”

      Die am Sonntag veröffentlichten Wirtschaftsdaten zeigen zwar, dass Pekings Außenhandel im Oktober boomt (China.Table berichtete). Allerdings wird auch weniger importiert. Dass China als weltweit größter Exporteur nun gar eine globale Inflation auslösen könnte, fürchten die Experten jedoch nicht. Denn die steigenden Verbraucherpreise basieren mehr auf lokal produzierten Dienstleistungen als auf Konsumgütern. “Nachgelagerte Sektoren schlucken weiterhin höhere Inputkosten, da die Nachfrage schwach bleibt”, sagte Alicia García-Herrero, Chefökonomin für den asiatisch-pazifischen Raum bei Natixis SA, in einem Twitter-Beitrag: “Die Welt wird in absehbarer Zeit keine Inflation aus China importieren.”

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        Mehr E-Autos in China zugelassen als in Deutschland Fahrzeuge insgesamt

        Die Elektromobilität ist weiter auf dem Vormarsch – weltweit, aber vor allem in China. Das zeigen die Ergebnisse des aktuellen “Electric Vehicle Sales Review” von PwC Autofacts und Strategy, der Strategieberatung von PricewaterhouseCoopers. Demnach sind in den weltweit 14 ausgewählten Märkten die Neuzulassungen von reinen Batterieautos (BEV) im dritten Quartal 2021 um 123 Prozent gegenüber dem entsprechenden Vorjahresquartal angestiegen.

        China war mit einem Absatz von 782.000 BEV-Einheiten im dritten Quartal 2021 führend, was einem Wachstum von 190 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Damit sind in China mehr E-Autos neu auf den Straßen unterwegs als im gleichen Zeitraum Fahrzeuge aller Antriebsarten in Deutschland zugelassen wurden (626.672).

        “Die beispiellose Produktoffensive neuer E-Modelle der großen Hersteller trägt weltweit Früchte. Zugleich setzen immer mehr Autofahrer:innen Vertrauen in die neue Antriebstechnologie, was den rasanten Boom zusätzlich befeuert”, urteilt Felix Kuhnert, Global Automotive Leader bei PwC. Ohne die weltweite Chipkrise, die zu erheblichen Produktionseinschränkungen und längeren Wartezeiten bei der Auslieferung vieler Fahrzeuge führt, wäre der Zuwachs an E-Autos zweifellos noch höher ausgefallen, meint Kuhnert. Seine Empfehlung: Die Automobil-Ausrüster sollten möglichst enge Partnerschaften mit Halbleiterherstellern suchen, um den weiter wachsenden Bedarf an Chips zu sichern. rad

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          China meldet Handels-Rekord

          China hat im Oktober einen Rekord-Handelsüberschuss verzeichnet. Die Exporte wuchsen im Oktober mit 27,1 Prozent auf 300,2 Milliarden US-Dollar (259,3 Milliarden Euro) im Vergleich zum Vorjahresmonat stärker als erwartet, wie Reuters berichtet. Als Ursachen werden die steigende weltweite Nachfrage zur Weihnachtssaison, die nachlassende Stromknappheit und weniger Unterbrechungen in den Lieferketten angeführt. Die Importe der Volksrepublik lagen hingegen mit einem Plus von 20,6 Prozent fast fünf Prozentpunkte hinter den Erwartungen. Dafür wird die generelle Schwache der inländischen Nachfrage angeführt. Der Handelsüberschuss Chinas lag im Oktober bei 84,5 Milliarden US-Dollar und somit gut 18 Milliarden Dollar über dem September-Wert. nib

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            Strom in den meisten Provinzen zurück

            Die Stromkrise in China beginnt sich zu entspannen. Nur noch fünf Provinzen in der Volksrepublik haben mit größeren Stromausfällen zu kämpfen, wie Bloomberg berichtet. Mitte Oktober wurde der Strom noch in 20 Provinzen rationiert und es kam mitunter zu stundenlangen Stromabschaltungen (China.Table berichtete). Nachdem die Zentralregierung Kohlebergwerke angewiesen hatte, die Produktion zu erhöhen, konnte Kraftwerke und große industrielle Stromverbraucher ihre Kohlelager wieder auffüllen.

            Chinas tägliche Kohleproduktion ist demnach in den letzten Wochen um mehr als eine Million Tonnen auf zuletzt fast 11,7 Millionen Tonnen gestiegen. Analysten zufolge übertrifft der Produktionsanstieg die Erwartungen. “Die Stromknappheit hat sich gelockert. Alle fahren ihre Kohleproduktion hoch. Das Tempo ist ziemlich beeindruckend”, sagt Michelle Leung von Bloomberg Intelligence. Doch in einigen Industriezweigen mit hohem Energieverbrauch würde die Stromversorgung weiterhin eingeschränkt. Und durch die staatliche Liberalisierung der Strompreise müssen diese Sektoren mit erheblich höheren Stromkosten rechnen (China.Table berichtete). Noch sei einer Analystin zufolge unklar, ob die Stromversorgung über den ganzen Winter sichergestellt werden kann.

            Auch der größte Netzbetreiber des Landes State Grid signalisiert Entspannung. Der Stromengpass habe sich dem Unternehmen nach signifikant reduziert. Allerdings werde sich das Stromnetz im Winter und Frühling in einer “insgesamt angespannten Balance mit teilweisen Lücken” befinden, so State Grid, dessen Netz laut Firmenangaben 1,1 Milliarden Menschen versorgt und 88 Prozent des chinesischen Territoriums abdeckt. nib

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              Shaanxi will ein Jahr Mutterschaftsurlaub einführen

              Die Provinz Shaanxi verfolgt Pläne, den bezahlten Mutterschaftsurlaub auf knapp ein Jahr auszuweiten. Der Vorschlag soll die Geburtenrate erhöhen. Bisher haben Mütter Anspruch auf 168 Tage Mutterschaftsurlaub. Die Ausweitung um ein weiteres halbes Jahr würde den Standard in Shaanxi auf eine Ebene mit Deutschland und Norwegen heben, berichtet Reuters. Die Provinz verfolge demnach auch Pläne, den Vaterschaftsurlaub beim dritten Kind auf 30 Tage zu verdoppeln.

              Im Mai hatte China Paaren erlaubt, drei Kinder zu bekommen (China.Table berichtete). Schon damals gab es Zweifel, ob die Einführung der Drei-Kind-Politik allein zu mehr Geburten führen würden. In vielen Städten sind die Lebenshaltungskosten so hoch, dass sich Paare kaum Kinder leisten können. Schon damals gab es Forderungen nach unterstützenden Maßnahmen für Familien. nib

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                Immobilien-Krise greift auf Kaisa über

                Die Aktien des chinesischen Immobilienkonzerns Kaisa Group sowie von drei Tochterunternehmen wurden am Freitag vom Handel ausgesetzt. Kaisa teilte mit, es stehe aufgrund des schwierigen Immobilienmarktes und der Herabstufung seines Kredit-Ratings unter beispiellosem Liquiditätsdruck, wie Reuters berichtet. Der Konzern hatte wie andere Immobilienentwickler Vermögensprodukte aufgelegt und konnte in diesem Zusammenhang eine fällige Zahlung nicht leisten.

                Kaisa muss innerhalb des nächsten Jahres umgerechnet mehr als 2,7 Milliarden Euro an Auslandsanleihen bedienen. Nach dem ebenfalls in Finanzproblemen steckenden Evergrande ist Kaisa der am meisten im Ausland verschuldete chinesische Immobilienentwickler, so Reuters. Um die Vermögensprodukte ablösen zu können, sollen demnach bis Ende 2022 Vermögenswerte in Höhe von umgerechnet elf Milliarden Euro veräußert werden. Der Großteil bestehe aus Einzelhandels- und Gewerbeimmobilien. Nach Hausverkäufen gemessen, liegtder chinesische Immobilienkonzern auf Rang 25 der größten Immobilienentwickler Chinas. nib

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                  EU-Abgeordnete beenden Taiwan-Besuch

                  Eine Delegation von EU-Abgeordneten hat einen viel beachteten Besuch in Taipeh beendet (China.Table berichtet). Bei einer Pressekonferenz betonten die Europa-Politiker, dass die Reise keine Provokation in Richtung Peking sei. “Wir definieren unsere Politik nicht gegen irgendjemanden, sondern unterstützen unsere Freunde und unsere Prinzipien”, sagte Delegationsleiter Raphaël Glucksmann. Der Franzose betonte, dass in den kommenden Monaten “immer mehr hochrangige Partnerschaften und Kooperationen” zwischen der Europäischen Union und Taipeh zu erwarten seien. Auch der griechische EU-Abgeordnete Georgios Kyrtsos erklärte: “Wir provozieren niemanden. Wir sind nicht gegen China, wir sind für Taiwan.” Das Interesse der Delegation gelte der Wirtschaft Taiwans und seiner Rolle beim digitalen Wandel, so Kyrtsos.

                  Die Europa-Politiker hatten zuvor Taiwans Digitalministerin Audrey Tang getroffen. Sie habe sich über eine Einladung nach Brüssel gefreut und diese angenommen, schrieb Tang auf Twitter. Die Delegation und Tang sprachen demnach über die Bekämpfung von Desinformation. Die EU könne in dieser Hinsicht viel von Taiwan lernen, erklärten die Europa-Abgeordneten. Auch ein informeller jährlicher EU-Taiwan-Dialog sei besprochen worden, sagte der litauische Politiker Andrius Kubilius. Sein Heimatland erfährt seit der Entscheidung, in Vilnius ein “Taiwan”-Büro einzurichten, wirtschaftlichen Druck aus Peking. Dieser werde das Vorhaben Litauens aber nicht ändern, sagte Kubilius.

                  Die tschechische EU-Abgeordnete Markéta Gregorová sprach sich für ein Umdenken in der EU-Taiwan-Politik aus: “Es ist an der Zeit, Taiwan als Taiwan zu betrachten, nicht durch die Linse EU-China, und uns darauf zu konzentrieren, was wir voneinander wollen.” Das bedeute nicht, die “One-China-Politik” Brüssels abzuschaffen, so Gregorová.

                  Der Besuch der Abgeordneten in Taiwan war der erste einer offiziellen Delegation des Europaparlaments. Die EU-Politiker sind Mitglieder des Sonderausschusses für ausländische Einflussnahme auf demokratische Prozesse (INGE). Das EU-Parlament hat bereits im Oktober für eine engere Beziehung zu Taiwan gestimmt – die offizielle Linie Brüssels wird jedoch primär von der EU-Kommission und dem EU-Rat bestimmt. ari

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                    Standpunkt

                    Kohleausstieg außerhalb Chinas – was ändert sich jetzt?

                    Von Nora Sausmikat
                    Sinologin Nora Sausmikat, Expertin für Chinas Klimapolitik bei urgewald e.V. über den Kohleausstieg Chinas
                    Sinologin Nora Sausmikat, Expertin für Chinas Klimapolitik bei urgewald e.V.

                    Auf der jüngsten UN-Vollversammlung am 21. September kündigte Chinas Präsident Xi Jinping an, den Bau von neuen Kohleprojekten in Übersee einzustellen. “China will step up support for other developing countries in developing green and low-carbon energy, and will not build new coal-fired power projects abroad.” (englische und chinesische Version der Rede)

                    Ganz überraschend kam diese Ankündigung nicht. Doch noch am gleichen Tag ging der Sturm von Fragen los: Was genau hat der Präsident damit gemeint? Schließt das die Finanzierung und Versicherung mit ein? Und den Kohlebergbau? Welche Unternehmen und Banken sind davon betroffen?

                    Das offizielle China blieb zwar vorerst die Antworten schuldig. Die Ankündigung war jedoch durchaus intern und extern koordiniert. Hinter den Kulissen wurden bilaterale Gespräche geführt. Chinas Kohleindustrie und Kohlefinanzierer waren in den letzten zwei Jahren nicht nur durch die globale Klimaschutzbewegung unter Druck geraten. Das Leuchtturmprojekt BRI schien in ernsthafte Reputationsengpässe zu kommen. Gerade im Vorfeld des Weltklimagipfels musste nun auch offiziell reagiert werden.

                    Alok Sharma, der Präsident des 26. Weltklimagipfels, traf sich mit dem Chef einer der größten Banken Chinas, der Zentralbank (People’s Bank of China), sowie der nationalen Planungskommission und der nationalen Energiebehörde (NEA). Es ging um die Finanzierung von Kohle weltweit. Wenige Monate zuvor hatten Japan und Südkorea Pläne für den Ausstieg aus der öffentlichen Finanzierung von Kohleprojekten verkündet. Seit 2013 haben diese beiden Länder zusammen mit China 95 Prozent der öffentlichen Gelder für Kohleprojekte außerhalb ihrer eigenen Grenzen ausgegeben – China allerdings das meiste Geld, insgesamt 50 Milliarden USD und rund 56 GW der installierten Kapazität.

                    Was ändert sich jetzt, wo Präsident Xi Jinping medienwirksam den Kohleausstieg außerhalb Chinas verkündet hat?

                    In Planung befinden sich 60 Gigawatt Kohleverstromung in 20 Ländern, finanziert von öffentlichen chinesischen Banken. Es ist bis heute noch nicht klar, wie viele der geplanten neuen Kohlebergwerke (zum Beispiel in Russland und Pakistan) wirklich gestrichen werden.

                    Volksrepublik baut weltweit am meisten Kohlekraftwerke

                    Expansionisten – das sind die absoluten Klimakiller, aus Sicht von urgewald. Laut der gerade erst im Oktober 2021 von urgewald und NGO Partnern veröffentlichten Global Coal Exit Liste (GCEL) 2021 gehören chinesische Unternehmen derzeit nach wie vor zu den größten Expansionisten bei Kohlekraftwerken auf der ganzen Welt: Von den 503 Unternehmen mit Plänen für neue Anlagen sind 26 Prozent chinesische Unternehmen, im Vergleich zu elf Prozent aus Indien, dem zweitgrößten Expansionisten.

                    Dennoch-es gilt jetzt zu erfassen, wieviel der sich in Planung befindlichen Kohlekraft schon den Finanzabschluss erreicht hat (nicht als “neu” definiert, und damit wohl nicht adressiert werden), und was mit denen passiert, die sich in Vorbereitung zum Bau befinden (dies könnte zum Beispiel zwei der fünf sich im Bau befindlichen Kraftwerke in Kambodscha betreffen). Urgewald untersucht gemeinsam mit Kolleg*Innen weltweit, welche und wieviel Kohleinvestitionen im Ausland erfasst werden könnten.

                    Es ist recht klar: Die Ankündigung war auch ein Test. Sie hatte zwei Teile. Verbunden mit dem Angebot, in großem Stil Low-Carbon-Technologie in den Ländern der BRI zu fördern, werden nun bis zur COP 26 Wunschlisten eingeholt, wie die Kohlepläne “umgewandelt” werden können. Hier geht es auch um die Konkurrenz, wer am Ende in Südostasien, Lateinamerika und Afrika am meisten Gelder für Low-Carbon bereitstellen wird.

                    Ein fossiler Brennstoff ersetzt den anderen

                    Was wir weltweit beobachten ist, dass der eine fossile Brennstoff durch einen anderen ersetzt wird. Etwa ein Drittel der zwischen 2011 und 2019 in den USA “stillgelegten” Kohlekraftwerke wurde tatsächlich auf Gas umgestellt. Und Länder wie Bangladesch, welches ein Drittel seiner geplanten Kohlekraftwerke gestrichen hat, oder die Philippinen, die mehr als die Hälfte der neuen Kohlekraftwerke in ihrer Projektpipeline gestrichen haben, steuern nun auf einen massiven Ausbau von Flüssigerdgas-Terminals (LNG) und gasbefeuerten Anlagen zu.

                    Diese Pläne müssen gestoppt werden, wenn wir das 1,5-Gradziel einhalten wollen. Gerade erst im Oktober 2021 einigten sich die OECD-Länder und damit u.a. Japan, Australien und die Türkei, auf die Einstellung von Exportkrediten für neue Kohlekraftwerke, die keine Carbon Capture, (Utilization) and Storage (CCUS/CCS) anwenden. Obwohl dies die erste international verbindliche Vereinbarung ist, die die Exportunterstützung für internationale Kohleprojekte bis Ende 2021 beendet, stützt sie sich auf falsche Lösungen. Es gibt keine “sauberen” Kohlekraftwerke. Auch wenn Emissionen “eingefangen/gespeichert” werden können, hängt an der Kohleindustrie die schmutzige Kohleproduktion, der Kohlebergbau. CCS legitimiert die Fortführung fossiler Industrien. Die Verfahren sind energieintensiv, kostspielig, und bergen neue Risiken.

                    Auch China wird aber genau diesen Weg gehen: Umstellung auf Gas und Flüssiggas (LNG), und CCS/CCUS. Atomenergie und Staudämme sind die anderen beiden “klimafreundlichen” Technologien, die auf der COP26 angepriesen werden. Gas kann keine Brückentechnologie sein, in die nun massiv investiert wird. Bei der Verbrennung entsteht zwar weniger CO2 pro kWh, dafür entweicht bei Förderung und Transport des fossilen Gases das noch viel klimaschädlichere Methan.

                    Warnung vor Scheinlösungen

                    Wir wollen verhindern, dass diese Technologien Eingang in die europäische Taxonomie finden. Sie zählen zu den “falschen Lösungen”. Eine weitere Scheinlösung stellen ETM-Schemata (Energy Transition Mechanism) dar, im Rahmen derer den Kraftwerken Entschädigungssummen für das frühere Abschalten gezahlt werden. So soll es geschehen bei dem deutschen Braunkohleausstieg (dies wird seit 2021 allerdings noch in der EU-Kommission geprüft).

                    Auf der COP26 wird dieses Schema als goldener Weg von der Asiatischen Entwicklungsbank (ADB) angepriesen werden (3. November 2021). Ein Gutachten auf europäischer Ebene hat gezeigt, dass diese ETMs de facto eine Verlängerung der Laufzeit ermöglichen. Auch in China und Asien sind diese Lösungen Scheinlösungen. Die ADB, die dann Eigentümer von Kohlekraftwerken würde, trotz ihrer “Kohleausstiegsstrategie”, erklärt die “Verringerung der Laufzeit auf 15 Jahre”. Dies kann angesichts des neuen IPCC Berichts vom 9. August 2021 keine wirkliche Lösung sein. Außerdem sollen diese Buy-out-Pläne zusammen mit Investoren geschehen, die mit zu den größten Expansionisten gehören, wie Blackrock, HSBC und Citigroup Inc.

                    In einer großen Koalition von Gleichgesinnten setzen wir uns für die Abkehr von solchen Scheinlösungen ein. Aber abgesehen davon: China interne Kohleexpansionspläne allein, immerhin 250 Gigawatt neue Kohlekraftwerkskapazität, könnten jedoch das Pariser Klimaabkommen kippen. Der Bau des Riesenstaudammes in Tibet oder die Mega-Solarkraftwerke in der Wüste werden mit der neuen Kohlekraft um das Netz konkurrieren. Eine grundlegende Aussage zum Kohleausstieg innerhalb China ist dringender denn je.

                    Nora Sausmikat ist Leiterin des China Desk der Umwelt- und Menschenrechtsorganisation urgewald e.V.

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                      Portrait

                      Kai Müller – Für Tibet und gegen den Trend

                      Geschäftsführer der International Campaign for Tibet (ICT) in Deutschland

                      In den vergangenen zehn Jahren ist es vergleichsweise still geworden um Tibet und den Dalai Lama. Das geistige Oberhaupt der Tibeter reiste einst um die Welt, um auf das Schicksal seines Volkes aufmerksam zu machen. Auch nach Deutschland kam er, traf die Bundeskanzlerin oder war zu Gast in TV-Talkshows.

                      Doch die Zeiten haben sich geändert. Der Dalai Lama ist einerseits nicht mehr der Jüngste. Aber vor allem sind es die Drohungen aus der Volksrepublik China, die große Teil der Welt dazu veranlassen, auf Distanz zu ihm zu gehen. Peking stellt ihn als gewalttätigen Separatisten dar, der aus dem Exil Aufstände organisiert. Wer das anders sieht, gilt als Feind des chinesischen Volkes. Deshalb lautet die universelle Formel: Je enger eine Nation wirtschaftlich an China heranrückt, desto weiter entfernt sie sich vom Dalai Lama.

                      Kai Müller gehört zu denjenigen, die gegen diesen Trend arbeiten. Er ist Geschäftsführer der International Campaign for Tibet (ICT) in Deutschland und sorgt dafür, dass die Fakten nicht vergessen werden: Seit 70 Jahren wird Tibet von der Volksrepublik China besetzt. Seit mehr als 60 Jahren schon lebt der Dalai Lama im Exil. Die Menschenrechtslage in der Region ist bedrückend. Unabhängige UN-Experten weisen immer wieder auf Fälle inhaftierter Tibeter hin. Die deutsche Bundesregierung bezeichnet die Menschenrechtslage in Tibet als “besonders kritisch”.

                      Trotz fehlendem Zugang nach Tibet setzt sich die ICT als internationale Nichtregierungsorganisation für die unterdrückte Region ein und schafft Öffentlichkeit für Fälle inhaftierter oder verfolgter Tibeter:innen. Müller sagt, mit seiner Arbeit haben sein Team und er seit 2005 in Deutschland knapp 15.000 Unterstützer gewonnen.

                      Und dennoch konnte auch der studierte Jurist und Sozialwissenschaftler, der bis 2005 im deutschen Bundesvorstand von Amnesty International tätig war, nicht verhindern, dass sich die Lage der Tibeter in den vergangenen Jahren drastisch verschlechtert hat. “Tibet wird mit jedem Tag immer totalitärer. Ein Überwachungsstaat, der von der Außenwelt abgeschottet ist”, so Müller.

                      Mehr als 150 Tibeter:innen haben sich seit 2009 aus Protest gegen die chinesische Besatzung selbst angezündet. Eine für Müller erschütternde Zahl, auf die international aber wenig Reaktionen und keine Taten folgten. Ebenso tragisch seien die blutigen Proteste vor den Olympischen in Peking 2008 gewesen. Dass im kommenden Februar die Olympischen Winterspiele ebenfalls in Peking stattfinden, sei ein der Fehler, sagt Müller: “Nach den Spielen 2008 ist die Karawane weitergezogen, ohne dass es eine Aufarbeitung der Ereignisse in Tibet gegeben hat”. Er plädiert für einen Boykott der Winterspiele.

                      Menschenrechtsverbrechen sind in Tibet weiterhin bitterer Alltag. Doch die wirtschaftlichen Beziehungen zur Volksrepublik und die Angst vor Konsequenzen sorgen vielerorts dafür, dass nicht so genau hingeschaut wird. “Tibeter:innen verschwinden, werden in chinesische Arbeitsprogramme gezwungen oder willkürlich inhaftiert.” Folter und Tod in Haft kämen nicht selten vor, sagt Müller.

                      Bereits ein friedliches Eintreten für die tibetische Kultur reiche aus, um verfolgt und zu langen Haftstrafen verurteilt zu werden. Müller und die ICT fordern deshalb freien Zugang nach Tibet für unabhängige Medien, UN-Vertreter, Diplomaten und die Zivilgesellschaft. Peking müsse seine Politik ändern, und die Weltgemeinschaft stärker für die Rechte der Tibeter eintreten.

                      Einzelne Fälle verfolgter Tibeter bringt die ICT vor den UN-Menschenrechtsrat. Trotz oder gerade wegen ihrer Bemühungen wird der Organisation allerdings meist die Akkreditierung bei internationalen Konferenzen verwehrt. Oft würden andere Gründe vorgeschoben. Bei der Klimakonferenz in Glasgow war die Organisation zwar vertreten, aber offiziell nicht akkreditiert. Und dies trotz ihrer jahrelangen Arbeit zu Umwelt und Menschenrechten. Müller erkennt dahinter den wachsenden Einfluss der chinesischen Regierung, die Zivilgesellschaft systematisch einzuschränken, insbesondere bei den Vereinten Nationen. Tibet-Organisationen wie die ICT bekämen dies als erste zu spüren.

                      Müller kritisiert auch die “Schieflage” bei den Vereinten Nationen was Kritik an Peking und anderen Staaten angehe. So gebe es im Menschenrechtsrat keine Resolution zur Menschenrechtslage in China. “Ein Menschenrechtsrat sollte die wichtigen Menschenrechtsthemen besprechen und nicht verschweigen. Stattdessen sind in ihm die schlimmsten Menschenrechtsverletzer vertreten. Es ist dann nicht überraschend, dass Länder wie China Kritik an ihrer Politik unterbinden können.”

                      Unterdessen verfolge die Kommunistische Partei ihre aggressive Politik, Tibet ihrer Ideologie anzupassen, den nächsten Dalai Lama selbst zu bestimmen, Bodenschätze, Wasser und strategischen Zugang in der Region zu sichern. Viele nähmen die Narrative hin, die die KP im Westen und weltweit platziere. “Hinter der sogenannten Armutsbekämpfung, Umwelt – und Entwicklungspolitik der KP, verbergen sich andere Ziele.” Die KP handele aus purem Machtkalkül und nicht als altruistisch, wie es die Partei gerne darstelle. “Eine ganze Kultur wird assimiliert. Eine Religion verliert ihren Wesenskern. Eine Sprache stirbt aus,” so Müller. Lisa Marie Jordan

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                      China.Table Redaktion

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                      Licenses:
                        • Interview mit Ruth Schimanowski vom DAAD Peking
                        • Hohe Gemüsepreise treiben Inflationsängste
                        • Xis Absichten auf ZK-Plenum
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                        • Handels-Rekord im Oktober
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                        • Shaanxi stellt Mütter länger frei
                        • Immobilien-Krise trifft nun auch Kaisa
                        • EU-Parlamentarier in Taiwan
                        • Standpunkt zu COP26: Chinas Versprechen zum Kohleausstieg im Ausland
                        • Im Portrait: Kai Müller von der International Campaign for Tibet 
                        Liebe Leserin, lieber Leser,

                        in China gelten Wissenschaft, Innovation und Forschung als die entscheidenden Triebkräfte des wirtschaftlichen Fortschritts. Ruth Schimanowski vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) fordert, Deutschland solle davon lernen. Im CEO-Talk mit Frank Sieren plädiert sie für den Aufbau von China-Kompetenz in der Bundesrepublik. Auch die akademische Kooperation zwischen den beiden Staaten müsse gestärkt werden. Allerdings bremse Chinas “No-Covid”-Strategie und das häufig bürokratische Vorgehen chinesischer Hochschulen den akademischen Austausch, sagt Schimanowski, die seit 20 Jahren in China lebt. Schimanowski spricht sich zudem für mehr China-Kompetenz auch außerhalb der Sinologie aus.

                        Für China-Watcher ist ein Plenum des Zentralkomitees jedes Jahr ein kleines Fest. Schon der Klang des Wortes bestätigt uns, dass wir es weiterhin mit einem System zu tun haben, dessen Strukturen einst Lenin geprägt hat. Bei aller Undurchsichtigkeit der politischen Vorgänge des Landes gibt das etwas Sicherheit. Wenn das ZK sich zu bedeutenden Beschlüssen trifft, dann sind auch bedeutende Beschlüsse zu erwarten. Seit gestern tagt das sechste Plenum des aktuellen ZKs. Michael Radunski analysiert, welche Signale sich für die ideologische Ausrichtung Chinas deuten lassen. Xi Jinping fällt dabei nicht durch ausgeprägte Bescheidenheit auf.

                        Das sechste Plenum fällt in innenpolitisch angespannte Zeiten – das Schreckgespenst Inflation macht die Runde. Ning Wang hat sich die Situation genauer angeschaut und zeigt, unter welch großem Druck die Regierung in Peking steht. Schnell wird klar: Als weltweit größter Exporteur haben die steigenden Preise auch Auswirkungen auf ausländische Unternehmen in China. Sind gar die internationalen Lieferketten von der Inflations-Gefahr in China betroffen?

                        Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre!

                        Ihre
                        Amelie Richter
                        Bild von Amelie  Richter

                        Interview

                        “Wir brauchen China-Kompetenz auch abseits der Sinologie”

                        Ruth Schimanoski über mehr China-Kompetenz in Deutschland
                        Ruth Schimanowski leitet die DAAD-Außenstelle in Peking

                        Ruth Schimanowski hat einen großen Teil ihrer Kindheit in Afrika verbracht. Erst mit 15 kehrte sie nach Deutschland zurück und machte dort das Abitur. Danach zog es sie gleich wieder raus – nach Taipeh, um dort Mandarin zu lernen. Dann wieder zurück nach Berlin, wo sie ein Physikstudium und mehreren Stationen im Ausland absolvierte: Nach Peking kam sie erstmals als DAAD-Stipendiatin. Zwischendurch ging sie nach New Orleans für biophysikalische Experimente. Heute lebt sie jedoch schon seit über 20 Jahren in der chinesischen Hauptstadt.

                        Nicht nur Schimanowskis Lebensmittelpunkte im Laufe der Jahre, sondern auch ihre beruflichen Abschnitte sind vielfältig: Sie hat bei dem Pharmariesen Boehringer Ingelheim und im Kulturreferat der Deutschen Botschaft Peking gearbeitet. Sie war Leiterin des Verbindungsbüros des bischöflichen Hilfswerks Misereor in China und Geschäftsführerin des German Centre Beijing der LBBW. Inzwischen leitet sie die drei DAAD-Büros in China. Das Interview können Sie in voller Länger als Video ansehen.

                        Was sollten chinesische und deutsche Akademiker voneinander lernen?

                        Eine ganze Menge. Deutsche Akademiker können von chinesischen Akademikern lernen, sich schnell auf neue Situationen einzustellen. Wir haben hier eine unheimliche Dynamik. Das, was ich gestern gelernt habe, gilt heute nicht mehr. Man ist hier viel öfter gezwungen, auf Basis einer dünnen, intransparenten Faktenlage Entscheidungen zu treffen, die sich dann wiederum schnell überholen. Wenn ich hier etwas gelernt habe, dann zügig und instinktsicher zu entscheiden, worüber zuvor noch nie entschieden werden musste. Wenn man das kann, wächst der Optimismus, das Vertrauen in die Zukunft. Nach dem Motto: Zwar stand noch kein anderer zuvor vor dieser Herausforderung, aber wir finden eine Lösung. Dieses neue Selbstvertrauen prägt dieses Land. 

                        Aber derzeit ist auch sehr viel im Argen in China. Wie kann man dabei optimistisch bleiben?

                        Aus der Sicht der meisten Menschen hier ist der Entwicklungsstand heute trotz aller Probleme sehr viel besser als das, was sie von ihren Eltern und ihren Großeltern gehört oder noch selbst erlebt haben. Viele meiner chinesischen Freunde sagen zum Beispiel heute: Ich heirate nicht. Das ist ihre Freiheit und war noch vor 20 Jahren undenkbar. Und davor konnte man sich nicht einmal aussuchen, wen man heiratet. Die Chinesen können ins Ausland gehen, mit neuen Eindrücken zurückkehren und dann entscheiden, so oder so möchte ich leben.

                        Und was bedeutet das für den akademischen Austausch?

                        Das gesellschaftliche Umfeld färbt selbstverständlich auch auf die Wissenschaft ab. In China ist der Mut und die Notwendigkeit größer, bekannte Wege zu verlassen, Neues zu denken und es auszuprobieren.

                        Wie wichtig sind für solche Wissenschaftler die deutschen, weltweit renommierten Forschungsstationen, wie Helmholtz, Fraunhofer oder Max Planck, die im Zweifel in der Grundlagenforschung viel weiter sind.  

                        Sie erhöhen mit ihrer Offenheit, ihrer Neugier und ihrem Lerneifer die Vielfalt unserer Forschungslandschaft und das ist wichtig für uns. Man ist zusammen besser, wenn man unterschiedliche Denkansätze und Mentalitäten kombiniert. Wir denken noch zu sehr in Wettbewerbskategorien: Die oder wir? Wer ist schneller? Dabei sind wir gemeinsam am besten. Der Kampf gegen den Klimawandel ist ein gutes Beispiel dafür.

                        Was lernen Chinesen von uns?

                        Sehr viel, zumal der akademische Austausch ja schon seit über 40 Jahren läuft. Sehr lange hatte der Knowhow-Transfer eine klare Richtung: Die alte Dame Bundesrepublik hat Stipendien vergeben und damit einen großen Beitrag zur Entwicklung Chinas geleistet. Ich spüre bis heute eine große Dankbarkeit gegenüber Deutschland und auch dem DAAD dafür, gerade bei den chinesischen Deutschland-Alumni. 

                        Warum kommen sie zu uns?

                        Sie kommen zu uns, weil unsere Universitäten und Forschungsstätten international ein gutes Renommee haben. Einer unserer größten Vorteile ist neben praxisorientierter Hochschulbildung die enge Verzahnung zwischen Wirtschaft und Forschung. Daraus sind unsere Hidden Champions hervorgegangen. 

                        Sind Stipendien heute eigentlich noch wichtig? 

                        Wir haben noch sehr vielen Stipendienprogramme, aber es ist nicht mehr so wichtig, dass der DAAD den Aufenthalt bezahlt. Anders als früher werden wir heutzutage fast überrannt von sogenannten Selbstzahlern, also Chinesen, die nach Deutschland gehen wollen und das Studium komplett selber bezahlen. Das bedeutet, sie sind nicht mehr auf unsere Stipendien angewiesen. Damit ändert sich auch unser Fokus. Viel wichtiger als früher sind inzwischen die Deutschland-Alumni. Wir finanzieren Konferenzen oder Publikationen, sorgen dafür, dass die Alumni weiter in engem Austausch bleiben. In 40 Jahren ist so ein ziemlich beeindruckendes Netzwerk entstanden. 

                        Wie steht es mit Deutsch als Fremdsprache in China? Darum kümmert sich der DAAD ja auch. Ist das ein Auslaufmodell? 

                        Im Gegenteil. Bei der jüngsten Deutschlernerhebung, die das Goethe-Institut und der DAAD gemeinsam mit der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen alle fünf Jahre durchführen, ist der Anteil der Deutschlerner in den Schulen in den letzten fünf Jahren um 33 Prozent gewachsen. Das ist sehr ermutigend und bedeutet auch mehr potenzielle Mitarbeiter für deutsche Firmen. 

                        Das ist überraschend. Woran liegt das neue Interesse an Deutsch?

                        Ich würde jetzt gerne antworten, weil die Deutschen so toll Fußball spielen oder unsere Autos und deutschen Firmen so attraktiv sind. Der eigentliche Grund ist jedoch ein anderer: Die chinesische Regierung hat die Mehrsprachigkeit an den Schulen eingeführt, also nicht nur Englisch, sondern auch kleinere Sprachen. Dazu gehören Japanisch, Deutsch, Französisch, und Russisch. Das heißt, man kann an chinesischen Schulen nun eine zweite Fremdsprache lernen.

                        Warum hat man das gemacht?

                        Man will womöglich die Abhängigkeit vom angelsächsischen Raum verringern. Und: Bei uns ist es auch üblich, dass die Kinder zwei und mehr Fremdsprachen lernen. Mit dieser Entwicklung ist die Nachfrage nach Deutschlehrerinnen und Deutschlehrern stark gestiegen. Dem begegnen wir mit entsprechenden Programmen.

                        Allerdings ist der persönliche Austausch mit Deutschland durch die Corona-Strategie Pekings praktisch komplett zum Erliegen gekommen. Wann öffnet sich das Land wieder? 

                        Die Einreisesperre ist tatsächlich eine Katastrophe für uns, digitaler Austausch ist nicht mit einem Aufenthalt im Land zu vergleichen. Wenn ein junger Mensch an eine ausländische Universität geht, will er dort nicht nur studieren, sondern zum Beispiel eine Megametropole wie Schanghai erleben, Menschen und fremde Kulturen kennenlernen. Leider sehe ich derzeit überhaupt keinen Grund für Optimismus. China hält eisern an seiner Null-Infektionen-Strategie fest. Für Studierende rechne ich frühestens für das Wintersemester 2022/23 mit einer Entspannung. Immerhin können Chinesen nach Deutschland reisen. In dieser Richtung funktioniert der Austausch weiterhin. 

                        Auf dem gleichen Niveau?

                        Nein. Vor allem die Kurzzeit-Aufenthalte unter 90 Tage fallen weg. Und viele Austauschprogramme wurden eingestellt oder verschoben. Generell ist allerdings unser Eindruck, dass durch die Spannungen zwischen China und den USA, Europa und insbesondere Deutschland wieder stärker in den Fokus für Auslandsstudien gerückt sind. Wir sehen eine steigende Nachfrage nach den Studien- und Forschungsaufenthalten in Deutschland. Es waren zum WS 2019/20 rund 45.000 chinesische Studierende an deutschen Universitäten eingeschrieben. Die Zahl wird wegen Corona sicherlich ein wenig zurückgehen, aber langfristig eher steigen als fallen. 

                        Das bedeutet, es interessieren sich mehr Chinesen für Deutschland als Deutsche für China.

                        Wir brauchen sicherlich mehr China-Kompetenz. Allerdings sind die Zahlen nicht so schlecht wie oft vermutet wird: 2018 waren laut Angaben des chinesischen Bildungsministeriums sogar rund 8.000 deutsche Studierende in China. Das ist schon eine beachtliche Zahl für die wenigen 80 Millionen Einwohner, die Deutschland im Vergleich zu China hat. Damit ist die Volksrepublik das zweitbeliebteste außereuropäische Gastland für deutsche Studierende, direkt hinter den USA.

                        Die klassische deutsche Sinologie hat allerdings immer weniger Zulauf.

                        Die Sinologie ist an vielen Universitäten ein Orchideenfach. Nichts gegen Tang-Gedichte. Aber wir brauchen China-Kompetenz in den Ingenieurwissenschaften, BWL oder in den Politikwissenschaftlern. Mehr Nicht-Sinologen müssen in China leben, ein wenig Chinesisch lernen und in ihrem Bereich weiter forschen und arbeiten. 

                        Sie haben Physik studiert und sind in Afrika aufgewachsen, da liegt es ja nicht nahe, nach China zu gehen und 20 Jahre zu bleiben?

                        Ich muss zugeben, es war nicht von Anfang an geplant, so lange zu bleiben. Ich wollte eigentlich nur ein wenig Chinesisch lernen und habe dann zufällig meinen Mann in Peking kennengelernt. Ein begeisterter Halb-Sinologe und dann sind wir eben hiergeblieben. Für die Kinder war es ja durchaus ein Vorteil zweisprachig aufzuwachsen, obwohl wir beide Deutsche sind. Sie haben als Kinder erst Chinesisch gesprochen und danach Deutsch. Was sie aber durchaus geprägt hat, ist der chinesische Optimismus. Das finde ich sehr schön. Denn der ist ja auch außerhalb Chinas nützlich. 

                        Dieser Optimismus hängt ja auch eng mit einer Neugier auf die Zukunft zusammen. Hat Wissenschaft deshalb in China eine andere Bedeutung? 

                        Für die Politik und Staatsführung jedenfalls eine größere als in Deutschland. Wenn man sich Chinas 14. Fünfjahresplan anschaut, wird klar: Wissenschaft gilt als zentraler Treiber des wirtschaftlichen Wachstums und der Innovationskraft. Dafür ist Geld und politische Gestaltungskraft da. In dieser Frage müssen wir in Deutschland nachbessern. Um enger miteinander kooperieren zu können, müssen administrativen Hürden, die das erschweren, abgebaut werden. In China ebenso wie in Deutschland.

                        Ein Beispiel für solche Hürden in China?

                        Es hat Fälle gegeben, da verlangt eine Universität, dass der deutsche Gastdozent erst einen Arbeitsvertrag bekommt, wenn er im universitätseigenen Krankenhaus untersucht wurde. Er bekommt jedoch nur ein Visum, um nach China einzureisen, wenn er einen Arbeitsvertrag hat. Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Das Verrückte dabei: Diese Uni will gar nicht verhindern, dass deutsche Wissenschaftler kommen, aber sie kann ihre unsinnigen Regeln nicht umgehen. Wir haben eine ganze Reihe ähnlich gelagerte Fälle. 

                        Und es gibt auch ideologische Hürden. Wie verhält man sich in dieser Wissenslandschaft, in der der Staat einerseits zu höherem Tempo bei Innovation antreibt und andererseits mehr kontrolliert, zensiert und ideologisch im Gleichschritt laufen lässt?

                        Erst einmal müssen wir verstehen, dass die Rolle einer Universität in China und auch die Rolle der Forschung eine andere ist. Die Forschung ist kein Selbstzweck, sondern sie soll der Entwicklung der Gesellschaft und am Ende den Interessen der Kommunistischen Partei dienen. In vielen Fällen ist das kein Problem, wenn es beispielsweise darum geht, E-Auto-Batterien zu entwickeln. In manchen Fällen kann sich das aber nicht mit unseren Vorstellungen wissenschaftlicher Freiheit decken, weil es darum geht, Patriotismus und vor allem die Ideologie der Partei bis in den letzten Winkel zu tragen und umzusetzen.

                        Was ist, wenn deutsche Forscher zwar in China, aber nicht in einem solchen, ideologischen Umfeld arbeiten wollen

                        Dann müssten sie woanders arbeiten. Die Ideologie macht vor der Wissenschaft nicht halt. Dabei darf man nicht vergessen, dass Ausländer an den Universitäten meistens mehr Freiheiten haben als ihre chinesischen Kollegen. Sie unterliegen einer anderen Kontrollnorm und genießen eine Art Narrenfreiheit, die in Zeiten schrumpfender Freiräume das allgemeine Klima durchaus beleben kann. Da gibt es Freiräume, die wir ausfüllen sollten. Aber wir dürfen uns dabei auch nicht überschätzen. Von oben herab erreichen wir in China nichts mehr. Unsere Deutungshoheit wird immer schwächer. Das müssen wir vielleicht doch ein wenig realistischer einschätzen. 

                        Aber können Sie anderseits auch nachvollziehen, dass Wissenschaftler sagen: Angesichts der Entwicklungen in Hongkong, Xinjiang, der Zensur, möchte ich in dem Land nicht arbeiten?

                        Das kann ich nachvollziehen. Nur andererseits: Etwas ändern können wir nur im Dialog und nicht dadurch, dass wir uns von China abwenden. Wenn wir von Werten wie Rechtsstaatlichkeit, Wissenschaftsfreiheit oder Zivilgesellschaft überzeugt sind, und das bin ich, sollten wir eine Debatte darüber selbstbewusst führen. Eines muss dabei wie gesagt klar sein: Wir können China zu nichts mehr zwingen, aber wir können überzeugende Argumente liefern, die China motivieren sich aus sich selbst heraus zu ändern. 

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                          Analyse

                          Für Xi wird es auf dem 6. Plenum historisch

                          Diese Woche wird historisch. Und das nicht nur im übertragenen Sinne, sondern wortwörtlich. Denn seit Montag tritt das 6. Plenum des 19. Zentralkomitees in Peking zusammen. Die 370 Delegierten sollen unter anderem eine “historische Resolution” verabschieden. Was genau in diesem Beschluss von Präsident Xi Jinping drin stehen wird, ist zwar noch nicht bekannt, in den chinesischen Medien wird allerdings schon seit Tagen berichtet, dass damit “die großen Erfolge und historischen Errungenschaften der Partei in ihrem 100-jährigen Kampf” gefeiert werden sollen.

                          Das 6. Plenum vom 8. bis 11. November wäre sicherlich der geeignete Anlass für eine Verlautbarung von epischer Tragweite. In China werden die Treffen der jeweils amtierenden Zentralkomitees durchnummeriert. Besondere Aufmerksamkeit erhalten dabei üblicherweise das 3. Plenum und das 6. Plenum: Während auf dem 3. Plenum besondere Reformprojekte bekannt gegeben werden, werden auf dem 6. Plenum als finalem Treffen vor dem Parteitag weitreichende Grundsatzentscheidungen getroffen, die für Jahrzehnte nachwirken. Auch dieses Mal soll es eine “historische Resolution” geben.

                          Xi nimmt sich viel vor. Beschlüsse, die das Etikett einer “historischen Resolution” erhalten, sind sehr selten und stehen aus der Flut der Parteiverlautbarungen deutlich heraus. In 100 Jahren Parteigeschichte gab es solche Resolutionen erst zweimal:

                          • im Jahr 1945 unter Mao Zedong die “Resolution on Certain Historical Questions” (关于若干历史问题的决议) und
                          • im Jahr 1981 unter Deng Xiaoping die “Resolution on Certain Questions in Party History since the Founding of the People’s Republic of China” (关于建国以来党的若干历史问题的决议).

                          Die Gleichstellung mit Mao und Deng verdeutlicht bereits, auf welcher Stufe sich Staatspräsident Xi Jinping wähnt.

                          Historische Resolutionen – Rückblick und Vorausschau

                          Doch derartige Resolutionen haben nicht nur einen hohen Symbolwert, sie sind zudem ein wichtiges Instrument in der chinesischen Politik. Im Grunde erfüllen sie zwei praktische Funktionen: Zum einen wird mit ihnen eine Bewertung vergangener Ereignisse vorgenommen. Xi reklamiert mit der “historischen Resolution” also die Deutungshoheit über die Geschichte. Er entscheidet, wie vergangene Geschehnisse zu bewerten sind, was gut und was schlecht für das chinesische Volk ist. Zum anderen gibt die Führung mit derartigen Resolutionen die zukünftige Richtung für die Partei und das Land vor.

                          Die “historischen Resolutionen” von Mao und Deng folgten ganz diesem Muster. Sie waren geprägt von kritischem Rückblick und ideologischer Vorausschau. Mao rief 1945 zur “Korrektur-Bewegung” auf, was im Grunde vor allem eines bedeutete: die Abrechnung mit seinen innerparteilichen Gegnern. Sie wurden gezwungen, mittels harscher Selbstkritiken eigene Fehler einzugestehen. Am Ende stand Mao als unumstrittener Führer an der Spitze von Partei und Land.

                          Deng Xiaopings historische Revolution hatte genau die gegenteilige Stoßrichtung. Er griff 1981 zu diesem Mittel, um mit den Fehlern der Mao-Zeit abzurechnen, vor allem mit der Kulturrevolution und ihren Folgen. Dabei gelang es Deng, eine feine Unterscheidung einzuführen zwischen Maos Erfolgen – vor allem rund um die Gründung der Volksrepublik – und Maos Fehlern, die Deng vor allem in den Jahren vor Maos Tod verortete. Als Vorausschau legte Deng damals die ideologische Grundlage für seine folgende Öffnungs- und Reformpolitik.

                          Eine Hierarchie der Führer

                          Eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit – sei es mit Maos Kulturrevolution oder gar mit den Ereignissen rund um den Tian’anmen-Platz 1989 – wird es in Xis “historischer Resolution” wohl nicht geben. Im Gegenteil. Es werde vor allem um Lob und Selbstlob gehen, schreibt der abtrünnige Partei-Chronist Deng Yuwen auf der Internetseite Yibao.

                          In welchem Tonfall die Verkündigung der Resolution ablaufen wird, lässt ein Blick in den letzten Report des Politbüros von Mitte Oktober erahnen. Dort heißt es: “Die Kommunistische Partei Chinas hat alle ethnischen Gruppen des Landes in den vergangenen 100 Jahren zu bedeutsamen Errungenschaften in der menschlichen Entwicklung geführt.” Chinas Bevölkerung sei unterworfen und tyrannisiert worden. Doch nun sei man aufgestanden. Unter der Führung von Xi Jinping befinde sich das Land auf dem Weg hin zu gemeinsamem Wohlstand und spiritueller und nationaler Verjüngung. Kurz: Die 100 Jahre seit Gründung der KP China 1921 in Shanghai sind eine einzige Erfolgsgeschichte, und Xi Jinping der richtige Mann für China.

                          Es wird deutlich, was Xi auf dem 6. Plenum erreichen will: Mit dem Formulieren einer “historischen Resolution” unterstreicht er abermals seine herausgehobene Stellung in der chinesischen Geschichte. Er steht damit auf einer Stufe mit Mao und Deng. Mindestens. Denn Xi trachtet danach, die beiden Partei-Ikonen noch zu übertreffen, in dem er auf dem 6. Plenum eine Hierarchie der chinesischen Führer installieren will.

                          An der Spitze stehen dann nur noch er und Mao. In einigem Abstand folgen demnach Deng Xiaoping, dann Jiang Zemin und Hu Jintao. Geht es nach Xi, soll von nun an die Geschichte der Kommunistischen Partei in drei Perioden unterteilt werden können: eine erste Phase unter Mao, dann eine weniger wichtige Zwischenzeit und schließlich die Ära Xi. Der große Reformer Deng Xiaoping wird so zur bloßen Episode.

                          Eine Kulturrevolution 2.0

                          Diese klare Rangordnung ist aus zwei Gründen für Xi wichtig: aufgrund seines Führungsstils und aufgrund seiner Ziele. Denn Xis Führungsstil stellt eine klare Abkehr von Deng Xiaoping dar. Deng war es, der nach den Irrungen der Mao-Zeit samt Hungerkatastrophe und Kulturrevolution eindringlich davor warnte, jemals wieder eine einzige Person derart mächtig werden zu lassen. In Chinas politischer Kultur endete der Personenkult. Die Amtszeiten der chinesischen Staatspräsidenten waren vor Xi auf zwei Perioden zu je fünf Jahren begrenzt. Xi hat beides einkassiert.

                          Und auch inhaltlich wandelt Xi auf den Spuren Maos. Aus Sicht vieler Beobachter verordnet Xi dem Land derzeit nicht weniger als eine Art Kulturrevolution 2.0. Zunächst wurde mit äußerster Schärfe gegen korrupte und anderweitig missliebige Kader vorgegangen, nicht wenige Beobachter sprachen in Anlehnung an die Mao-Zeit von einer “Säuberung” der Parteireihen. Auch die Bereiche Wirtschaft (Crackdown gegen große Technologie-Konzerne) und Bildung (neue Lehrpläne an Schulen und Universitäten, Verbote für private Bildungsanbieter) werden völlig umstrukturiert. Alles gepaart mit einer starken Re-Ideologisierung der Gesellschaft (hin zu alten Werten, weg vom Ausland).

                          Wie weitreichend diese Vorgänge auch innerhalb Chinas wahrgenommen werden, verdeutlichte vor wenigen Wochen der einflussreiche Blogger Li Guangman (李光满) mit seinem Aufsatz “Jeder einzelne kann spüren, dass grundlegende Veränderungen geschehen” (每个人都能感受到,一场深刻的变革正在进行.) Li veröffentlichte den Aufsatz zunächst auf seinem WeChat-Konto, doch innerhalb kürzester Zeit wurde seine Zeilen von der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua, der Zeitung People’s Daily und dem Fernsehsender CCTV aufgegriffen.

                          Li lobt darin, wie es vulgären, geldversessenen Individuen endlich an den Kragen gehe – ähnlich wie bei einer Revolution. Das Motiv jener Revolution unter Xi sei es, die auf Geld und Profit fokussierte Gesellschaft zu verändern hin zu einer Gemeinschaft, in der der Mensch und das Gemeinwohl wieder im Zentrum stehen. Es sei die Rückkehr zu den wahren Intentionen (初心) und der Quintessenzen (本质) der KPCh sowie des wahren chinesischen Sozialismus.

                          Es sind diese Ideen und Schlagworte, mit denen Xi Jinping in den kommenden Jahren die Politik Chinas bestimmen will – und die deshalb wohl auch die “historische Resolution” auf dem 6. Plenum prägen werden.

                          Xi will seine Position festigen

                          Doch warum bedarf es dann noch einer “historische Resolution”? Eine oft gehörte Begründung lautet: So stark Xi Jinping nach außen auch wirken mag, innerhalb Chinas sind sowohl sein Führungsstil als auch seine inhaltlichen Ziele umstritten. Doch nur selten zeigen sich Risse im nach außen oft monolithisch wirkenden Gebilde der KP. Aber es gibt sie: Zweifel, Unzufriedenheit, manchmal Misstöne und mitunter gar Kritik. Wie beispielsweise von Zhang Weiying (张维迎). Der Wirtschaftsprofessor der Peking-Universität stellte Anfang September das Konzept des “gemeinschaftlichen Wohlstands” (common prosperity) in Frage. Der Ansatz widerspreche den Grundsätzen einer Marktwirtschaft und könne gar in “gemeinschaftliche Armut” (common poverty) enden.

                          Und so geht es für Xi auf dem 6. Plenum mit einer “historischen Resolution” um Dreierlei:

                          • historisch seinen Platz weit oben in der Parteihierarchie zu festigen;
                          • machtpolitisch die Reihen angesichts wirtschaftlicher, pandemischer und internationaler Herausforderungen zu schließen;
                          • und mit den “Xi Jinping Ideen des Sozialismus chinesischer Prägung im neuen Zeitalter” (习近平新时代中国特色社会主义思想) ideologisches Fundament für den Weg die Zukunft zu weisen.

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                            Chinas Angst vor Inflation

                            Es ist nur Gemüse, könnte man meinen. Vor allem für Blumenkohl und Brokkoli sind die Preise zuletzt enorm gestiegen. Laut dem Handelsministerium in Peking sind es etwa 50 Prozent mehr, die die Verbraucher nun für das Blütengemüse zahlen müssen. Auch Spinat hat sich um fast 160 Prozent verteuert, so die Berechnungen der Nachrichtenagentur Bloomberg. Damit liegen die Preise für Gemüse gleichauf mit einem Pfund Schweine- oder Hühnerfleisch. Grund sind Ernteausfälle. Verursacht etwa durch starke Regenfälle und Überschwemmungen in der Region Shandong, einem der größten Gemüseanbaugebiete im Land.

                            Vor gut einer Woche veröffentlichte das Handelsministerium eine “Mitteilung über gute Arbeit bei der Aufrechterhaltung des Angebots und der Stabilisierung der Preise für Gemüse und andere Güter des täglichen Bedarfs auf dem Markt für den Winter und Frühling”. Eigentlich sind derartige Mitteilungen an die lokalen Behörden nichts Ungewöhnliches, doch der Aufruf vor gut einer Woche kam zu einem ungünstigen Zeitpunkt: Die Menschen plagt die Angst vor Versorgungsengpässen, vielerorts kommt es zu langen Schlangen vor den Supermärkten, in einigen Gegenden gar zu panikartigen Hamsterkäufen. Die Lage ist ohnehin angespannt.

                            Zuletzt war die Zahl der Corona-Neuinfektionen im Land wieder angestiegen, was dazu führte, dass viele strengere Ausgangs- und Reisebeschränkungen innerhalb des Landes befürchteten. Der aktuelle Aufruf des Handelsministeriums brachte für manchen das Fass zum Überlaufen: Online wurden wilde Spekulationen und Gerüchte verbreitet, die nur noch mehr Unsicherheit schürten.  

                            Staatsmedien rudern zurück

                            Nachdem die Mitteilung zur Preisstabilität innerhalb von 24 Stunden mehr als 46 Millionen Mal gelesen wurde, versuchte sich ein Beamter des Handelsministeriums in Schadensbegrenzung: “Die Versorgung mit Dingen für den täglichen Bedarf ist überall ausreichend und sollte vollständig gewährleistet sein”, sagte Zhu Xiaoliang in einem Interview mit dem staatlichen Fernsehsender CCTV.

                            Selbst Staatsmedien wie die als Sprachrohr der Partei bekannte Global Times waren bemüht, die angespannte Stimmung zu besänftigen. Prominent wurde berichtet, dass die Regale in den Supermärkten wie gewohnt gefüllt seien und es nicht zu Panikkäufen komme. Im Grunde ist es eine Nicht-Berichterstattung – und sie zeigt, wie besorgt die chinesische Führung über steigende Preise und die damit verbundenen Folgen für die Stabilität in der Gesellschaft ist.

                            Dass die Preise für Gemüse derart stark steigen, wirft einen Schatten auf das in dieser Woche stattfindende 6. Plenum des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas. Dort will Staats- und Parteichef Xi Jinping seine Position innerhalb der Partei weiter stärken (China.Table berichtete). Doch nicht nur der Preisanstieg sorgt für Unbehagen unter den Delegierten. Im Oktober sind Chinas Fabrikaktivitäten stärker gefallen, als erwartet. Der offizielle Einkaufsmanagerindex für das verarbeitende Gewerbe lag bei 49,2 Prozentpunkte – und fiel damit unter die Marke von 50, die wirtschaftliches Wachstum von Schrumpfung trennt.

                            Zhang Zhiwei, Chefökonom bei Pinpoint Asset Management, sagte dem US-Finanzsender CNBC zufolge, der Index sei damit auf den niedrigsten Stand seit seiner Veröffentlichung im Jahr 2005 gefallen (ausgenommen sind die globale Finanzkrise 2008 und der Ausbruch der Covid-19-Pandemie im Februar vergangenen Jahres).

                            Lis Warnung vor Abwärtsdruck

                            Ministerpräsident Li Keqiang warnte denn auch zuletzt vor einem neuen “Abwärtsdruck” für die chinesische Wirtschaft. Auch wenn Li keine Details zu den Ursachen nannte, sind diese doch klar zu erkennen: Seit Ausbruch der Corona-Pandemie verfolgt die Regierung eine strikte “Null-Covid”-Strategie, deren Maßnahmen immer wieder Teile der Wirtschaft lahmlegen. Im September kam eine Stromkrise hinzu. Die Energieknappheit führte in rund 20 Provinzen dazu, dass die Industrieproduktion merklich gedrosselt werden musste.

                            Gemeinsam mit den zuletzt gestiegenen Rohstoffpreisen sorgt das für große Inflationsängste innerhalb der Bevölkerung. Der Druck auf die Politik ist derart groß, dass der Staatsrat zuletzt ankündigte, gegen “bösartige Spekulationen” vorzugehen, um die rasant gestiegenen Rohstoffpreise wieder zu senken.

                            Dass die Folgen der Stromkrise und der Pandemie auch ausländische Unternehmen in China hart getroffen hat, zeigt die aktuelle “Business Outlook”-Umfrage der Deutschen Industrie- und Handelskammer zusammen mit den Auslandshandelskammern (China.Table berichtete): Während im Frühjahr noch 70 Prozent der deutschen Unternehmen in China von einem positiven Konjunkturtrend ausgingen, sind es aktuell nur noch 36 Prozent. Zum Vergleich: In den USA sinkt dieser Wert derzeit von 74 auf 50 Prozent, so das Papier. “Die Unternehmen sehen mit Sorge, dass in den beiden Weltkonjunktur-Lokomotiven der letzten Monate offenbar die Luft dünner wird”, kommentiert DIHK-Außenwirtschaftschef Volker Treier die Zahlen. “Für den wirtschaftlichen Aufholprozess nach der Corona-Krise sind das keine guten Vorzeichen”, meint Treier.

                            China exportiert keine Inflation

                            Davon könnten auch die weltweiten Lieferketten in Mitleidenschaft gezogen werden, fürchtet Louis Kuijs, China-Kenner und Asien-Ökonom von Oxford Economics. “Wenn die Stromknappheit und die Produktionskürzungen anhalten, könnten sie zu einem weiteren Faktor werden, der globale angebotsseitige Probleme verursacht, insbesondere wenn sie die Produktion von Exportprodukten beeinträchtigen.”

                            Die am Sonntag veröffentlichten Wirtschaftsdaten zeigen zwar, dass Pekings Außenhandel im Oktober boomt (China.Table berichtete). Allerdings wird auch weniger importiert. Dass China als weltweit größter Exporteur nun gar eine globale Inflation auslösen könnte, fürchten die Experten jedoch nicht. Denn die steigenden Verbraucherpreise basieren mehr auf lokal produzierten Dienstleistungen als auf Konsumgütern. “Nachgelagerte Sektoren schlucken weiterhin höhere Inputkosten, da die Nachfrage schwach bleibt”, sagte Alicia García-Herrero, Chefökonomin für den asiatisch-pazifischen Raum bei Natixis SA, in einem Twitter-Beitrag: “Die Welt wird in absehbarer Zeit keine Inflation aus China importieren.”

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                              Mehr E-Autos in China zugelassen als in Deutschland Fahrzeuge insgesamt

                              Die Elektromobilität ist weiter auf dem Vormarsch – weltweit, aber vor allem in China. Das zeigen die Ergebnisse des aktuellen “Electric Vehicle Sales Review” von PwC Autofacts und Strategy, der Strategieberatung von PricewaterhouseCoopers. Demnach sind in den weltweit 14 ausgewählten Märkten die Neuzulassungen von reinen Batterieautos (BEV) im dritten Quartal 2021 um 123 Prozent gegenüber dem entsprechenden Vorjahresquartal angestiegen.

                              China war mit einem Absatz von 782.000 BEV-Einheiten im dritten Quartal 2021 führend, was einem Wachstum von 190 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Damit sind in China mehr E-Autos neu auf den Straßen unterwegs als im gleichen Zeitraum Fahrzeuge aller Antriebsarten in Deutschland zugelassen wurden (626.672).

                              “Die beispiellose Produktoffensive neuer E-Modelle der großen Hersteller trägt weltweit Früchte. Zugleich setzen immer mehr Autofahrer:innen Vertrauen in die neue Antriebstechnologie, was den rasanten Boom zusätzlich befeuert”, urteilt Felix Kuhnert, Global Automotive Leader bei PwC. Ohne die weltweite Chipkrise, die zu erheblichen Produktionseinschränkungen und längeren Wartezeiten bei der Auslieferung vieler Fahrzeuge führt, wäre der Zuwachs an E-Autos zweifellos noch höher ausgefallen, meint Kuhnert. Seine Empfehlung: Die Automobil-Ausrüster sollten möglichst enge Partnerschaften mit Halbleiterherstellern suchen, um den weiter wachsenden Bedarf an Chips zu sichern. rad

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                                China meldet Handels-Rekord

                                China hat im Oktober einen Rekord-Handelsüberschuss verzeichnet. Die Exporte wuchsen im Oktober mit 27,1 Prozent auf 300,2 Milliarden US-Dollar (259,3 Milliarden Euro) im Vergleich zum Vorjahresmonat stärker als erwartet, wie Reuters berichtet. Als Ursachen werden die steigende weltweite Nachfrage zur Weihnachtssaison, die nachlassende Stromknappheit und weniger Unterbrechungen in den Lieferketten angeführt. Die Importe der Volksrepublik lagen hingegen mit einem Plus von 20,6 Prozent fast fünf Prozentpunkte hinter den Erwartungen. Dafür wird die generelle Schwache der inländischen Nachfrage angeführt. Der Handelsüberschuss Chinas lag im Oktober bei 84,5 Milliarden US-Dollar und somit gut 18 Milliarden Dollar über dem September-Wert. nib

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                                  Strom in den meisten Provinzen zurück

                                  Die Stromkrise in China beginnt sich zu entspannen. Nur noch fünf Provinzen in der Volksrepublik haben mit größeren Stromausfällen zu kämpfen, wie Bloomberg berichtet. Mitte Oktober wurde der Strom noch in 20 Provinzen rationiert und es kam mitunter zu stundenlangen Stromabschaltungen (China.Table berichtete). Nachdem die Zentralregierung Kohlebergwerke angewiesen hatte, die Produktion zu erhöhen, konnte Kraftwerke und große industrielle Stromverbraucher ihre Kohlelager wieder auffüllen.

                                  Chinas tägliche Kohleproduktion ist demnach in den letzten Wochen um mehr als eine Million Tonnen auf zuletzt fast 11,7 Millionen Tonnen gestiegen. Analysten zufolge übertrifft der Produktionsanstieg die Erwartungen. “Die Stromknappheit hat sich gelockert. Alle fahren ihre Kohleproduktion hoch. Das Tempo ist ziemlich beeindruckend”, sagt Michelle Leung von Bloomberg Intelligence. Doch in einigen Industriezweigen mit hohem Energieverbrauch würde die Stromversorgung weiterhin eingeschränkt. Und durch die staatliche Liberalisierung der Strompreise müssen diese Sektoren mit erheblich höheren Stromkosten rechnen (China.Table berichtete). Noch sei einer Analystin zufolge unklar, ob die Stromversorgung über den ganzen Winter sichergestellt werden kann.

                                  Auch der größte Netzbetreiber des Landes State Grid signalisiert Entspannung. Der Stromengpass habe sich dem Unternehmen nach signifikant reduziert. Allerdings werde sich das Stromnetz im Winter und Frühling in einer “insgesamt angespannten Balance mit teilweisen Lücken” befinden, so State Grid, dessen Netz laut Firmenangaben 1,1 Milliarden Menschen versorgt und 88 Prozent des chinesischen Territoriums abdeckt. nib

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                                    Shaanxi will ein Jahr Mutterschaftsurlaub einführen

                                    Die Provinz Shaanxi verfolgt Pläne, den bezahlten Mutterschaftsurlaub auf knapp ein Jahr auszuweiten. Der Vorschlag soll die Geburtenrate erhöhen. Bisher haben Mütter Anspruch auf 168 Tage Mutterschaftsurlaub. Die Ausweitung um ein weiteres halbes Jahr würde den Standard in Shaanxi auf eine Ebene mit Deutschland und Norwegen heben, berichtet Reuters. Die Provinz verfolge demnach auch Pläne, den Vaterschaftsurlaub beim dritten Kind auf 30 Tage zu verdoppeln.

                                    Im Mai hatte China Paaren erlaubt, drei Kinder zu bekommen (China.Table berichtete). Schon damals gab es Zweifel, ob die Einführung der Drei-Kind-Politik allein zu mehr Geburten führen würden. In vielen Städten sind die Lebenshaltungskosten so hoch, dass sich Paare kaum Kinder leisten können. Schon damals gab es Forderungen nach unterstützenden Maßnahmen für Familien. nib

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                                      Immobilien-Krise greift auf Kaisa über

                                      Die Aktien des chinesischen Immobilienkonzerns Kaisa Group sowie von drei Tochterunternehmen wurden am Freitag vom Handel ausgesetzt. Kaisa teilte mit, es stehe aufgrund des schwierigen Immobilienmarktes und der Herabstufung seines Kredit-Ratings unter beispiellosem Liquiditätsdruck, wie Reuters berichtet. Der Konzern hatte wie andere Immobilienentwickler Vermögensprodukte aufgelegt und konnte in diesem Zusammenhang eine fällige Zahlung nicht leisten.

                                      Kaisa muss innerhalb des nächsten Jahres umgerechnet mehr als 2,7 Milliarden Euro an Auslandsanleihen bedienen. Nach dem ebenfalls in Finanzproblemen steckenden Evergrande ist Kaisa der am meisten im Ausland verschuldete chinesische Immobilienentwickler, so Reuters. Um die Vermögensprodukte ablösen zu können, sollen demnach bis Ende 2022 Vermögenswerte in Höhe von umgerechnet elf Milliarden Euro veräußert werden. Der Großteil bestehe aus Einzelhandels- und Gewerbeimmobilien. Nach Hausverkäufen gemessen, liegtder chinesische Immobilienkonzern auf Rang 25 der größten Immobilienentwickler Chinas. nib

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                                        EU-Abgeordnete beenden Taiwan-Besuch

                                        Eine Delegation von EU-Abgeordneten hat einen viel beachteten Besuch in Taipeh beendet (China.Table berichtet). Bei einer Pressekonferenz betonten die Europa-Politiker, dass die Reise keine Provokation in Richtung Peking sei. “Wir definieren unsere Politik nicht gegen irgendjemanden, sondern unterstützen unsere Freunde und unsere Prinzipien”, sagte Delegationsleiter Raphaël Glucksmann. Der Franzose betonte, dass in den kommenden Monaten “immer mehr hochrangige Partnerschaften und Kooperationen” zwischen der Europäischen Union und Taipeh zu erwarten seien. Auch der griechische EU-Abgeordnete Georgios Kyrtsos erklärte: “Wir provozieren niemanden. Wir sind nicht gegen China, wir sind für Taiwan.” Das Interesse der Delegation gelte der Wirtschaft Taiwans und seiner Rolle beim digitalen Wandel, so Kyrtsos.

                                        Die Europa-Politiker hatten zuvor Taiwans Digitalministerin Audrey Tang getroffen. Sie habe sich über eine Einladung nach Brüssel gefreut und diese angenommen, schrieb Tang auf Twitter. Die Delegation und Tang sprachen demnach über die Bekämpfung von Desinformation. Die EU könne in dieser Hinsicht viel von Taiwan lernen, erklärten die Europa-Abgeordneten. Auch ein informeller jährlicher EU-Taiwan-Dialog sei besprochen worden, sagte der litauische Politiker Andrius Kubilius. Sein Heimatland erfährt seit der Entscheidung, in Vilnius ein “Taiwan”-Büro einzurichten, wirtschaftlichen Druck aus Peking. Dieser werde das Vorhaben Litauens aber nicht ändern, sagte Kubilius.

                                        Die tschechische EU-Abgeordnete Markéta Gregorová sprach sich für ein Umdenken in der EU-Taiwan-Politik aus: “Es ist an der Zeit, Taiwan als Taiwan zu betrachten, nicht durch die Linse EU-China, und uns darauf zu konzentrieren, was wir voneinander wollen.” Das bedeute nicht, die “One-China-Politik” Brüssels abzuschaffen, so Gregorová.

                                        Der Besuch der Abgeordneten in Taiwan war der erste einer offiziellen Delegation des Europaparlaments. Die EU-Politiker sind Mitglieder des Sonderausschusses für ausländische Einflussnahme auf demokratische Prozesse (INGE). Das EU-Parlament hat bereits im Oktober für eine engere Beziehung zu Taiwan gestimmt – die offizielle Linie Brüssels wird jedoch primär von der EU-Kommission und dem EU-Rat bestimmt. ari

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                                          Kohleausstieg außerhalb Chinas – was ändert sich jetzt?

                                          Von Nora Sausmikat
                                          Sinologin Nora Sausmikat, Expertin für Chinas Klimapolitik bei urgewald e.V. über den Kohleausstieg Chinas
                                          Sinologin Nora Sausmikat, Expertin für Chinas Klimapolitik bei urgewald e.V.

                                          Auf der jüngsten UN-Vollversammlung am 21. September kündigte Chinas Präsident Xi Jinping an, den Bau von neuen Kohleprojekten in Übersee einzustellen. “China will step up support for other developing countries in developing green and low-carbon energy, and will not build new coal-fired power projects abroad.” (englische und chinesische Version der Rede)

                                          Ganz überraschend kam diese Ankündigung nicht. Doch noch am gleichen Tag ging der Sturm von Fragen los: Was genau hat der Präsident damit gemeint? Schließt das die Finanzierung und Versicherung mit ein? Und den Kohlebergbau? Welche Unternehmen und Banken sind davon betroffen?

                                          Das offizielle China blieb zwar vorerst die Antworten schuldig. Die Ankündigung war jedoch durchaus intern und extern koordiniert. Hinter den Kulissen wurden bilaterale Gespräche geführt. Chinas Kohleindustrie und Kohlefinanzierer waren in den letzten zwei Jahren nicht nur durch die globale Klimaschutzbewegung unter Druck geraten. Das Leuchtturmprojekt BRI schien in ernsthafte Reputationsengpässe zu kommen. Gerade im Vorfeld des Weltklimagipfels musste nun auch offiziell reagiert werden.

                                          Alok Sharma, der Präsident des 26. Weltklimagipfels, traf sich mit dem Chef einer der größten Banken Chinas, der Zentralbank (People’s Bank of China), sowie der nationalen Planungskommission und der nationalen Energiebehörde (NEA). Es ging um die Finanzierung von Kohle weltweit. Wenige Monate zuvor hatten Japan und Südkorea Pläne für den Ausstieg aus der öffentlichen Finanzierung von Kohleprojekten verkündet. Seit 2013 haben diese beiden Länder zusammen mit China 95 Prozent der öffentlichen Gelder für Kohleprojekte außerhalb ihrer eigenen Grenzen ausgegeben – China allerdings das meiste Geld, insgesamt 50 Milliarden USD und rund 56 GW der installierten Kapazität.

                                          Was ändert sich jetzt, wo Präsident Xi Jinping medienwirksam den Kohleausstieg außerhalb Chinas verkündet hat?

                                          In Planung befinden sich 60 Gigawatt Kohleverstromung in 20 Ländern, finanziert von öffentlichen chinesischen Banken. Es ist bis heute noch nicht klar, wie viele der geplanten neuen Kohlebergwerke (zum Beispiel in Russland und Pakistan) wirklich gestrichen werden.

                                          Volksrepublik baut weltweit am meisten Kohlekraftwerke

                                          Expansionisten – das sind die absoluten Klimakiller, aus Sicht von urgewald. Laut der gerade erst im Oktober 2021 von urgewald und NGO Partnern veröffentlichten Global Coal Exit Liste (GCEL) 2021 gehören chinesische Unternehmen derzeit nach wie vor zu den größten Expansionisten bei Kohlekraftwerken auf der ganzen Welt: Von den 503 Unternehmen mit Plänen für neue Anlagen sind 26 Prozent chinesische Unternehmen, im Vergleich zu elf Prozent aus Indien, dem zweitgrößten Expansionisten.

                                          Dennoch-es gilt jetzt zu erfassen, wieviel der sich in Planung befindlichen Kohlekraft schon den Finanzabschluss erreicht hat (nicht als “neu” definiert, und damit wohl nicht adressiert werden), und was mit denen passiert, die sich in Vorbereitung zum Bau befinden (dies könnte zum Beispiel zwei der fünf sich im Bau befindlichen Kraftwerke in Kambodscha betreffen). Urgewald untersucht gemeinsam mit Kolleg*Innen weltweit, welche und wieviel Kohleinvestitionen im Ausland erfasst werden könnten.

                                          Es ist recht klar: Die Ankündigung war auch ein Test. Sie hatte zwei Teile. Verbunden mit dem Angebot, in großem Stil Low-Carbon-Technologie in den Ländern der BRI zu fördern, werden nun bis zur COP 26 Wunschlisten eingeholt, wie die Kohlepläne “umgewandelt” werden können. Hier geht es auch um die Konkurrenz, wer am Ende in Südostasien, Lateinamerika und Afrika am meisten Gelder für Low-Carbon bereitstellen wird.

                                          Ein fossiler Brennstoff ersetzt den anderen

                                          Was wir weltweit beobachten ist, dass der eine fossile Brennstoff durch einen anderen ersetzt wird. Etwa ein Drittel der zwischen 2011 und 2019 in den USA “stillgelegten” Kohlekraftwerke wurde tatsächlich auf Gas umgestellt. Und Länder wie Bangladesch, welches ein Drittel seiner geplanten Kohlekraftwerke gestrichen hat, oder die Philippinen, die mehr als die Hälfte der neuen Kohlekraftwerke in ihrer Projektpipeline gestrichen haben, steuern nun auf einen massiven Ausbau von Flüssigerdgas-Terminals (LNG) und gasbefeuerten Anlagen zu.

                                          Diese Pläne müssen gestoppt werden, wenn wir das 1,5-Gradziel einhalten wollen. Gerade erst im Oktober 2021 einigten sich die OECD-Länder und damit u.a. Japan, Australien und die Türkei, auf die Einstellung von Exportkrediten für neue Kohlekraftwerke, die keine Carbon Capture, (Utilization) and Storage (CCUS/CCS) anwenden. Obwohl dies die erste international verbindliche Vereinbarung ist, die die Exportunterstützung für internationale Kohleprojekte bis Ende 2021 beendet, stützt sie sich auf falsche Lösungen. Es gibt keine “sauberen” Kohlekraftwerke. Auch wenn Emissionen “eingefangen/gespeichert” werden können, hängt an der Kohleindustrie die schmutzige Kohleproduktion, der Kohlebergbau. CCS legitimiert die Fortführung fossiler Industrien. Die Verfahren sind energieintensiv, kostspielig, und bergen neue Risiken.

                                          Auch China wird aber genau diesen Weg gehen: Umstellung auf Gas und Flüssiggas (LNG), und CCS/CCUS. Atomenergie und Staudämme sind die anderen beiden “klimafreundlichen” Technologien, die auf der COP26 angepriesen werden. Gas kann keine Brückentechnologie sein, in die nun massiv investiert wird. Bei der Verbrennung entsteht zwar weniger CO2 pro kWh, dafür entweicht bei Förderung und Transport des fossilen Gases das noch viel klimaschädlichere Methan.

                                          Warnung vor Scheinlösungen

                                          Wir wollen verhindern, dass diese Technologien Eingang in die europäische Taxonomie finden. Sie zählen zu den “falschen Lösungen”. Eine weitere Scheinlösung stellen ETM-Schemata (Energy Transition Mechanism) dar, im Rahmen derer den Kraftwerken Entschädigungssummen für das frühere Abschalten gezahlt werden. So soll es geschehen bei dem deutschen Braunkohleausstieg (dies wird seit 2021 allerdings noch in der EU-Kommission geprüft).

                                          Auf der COP26 wird dieses Schema als goldener Weg von der Asiatischen Entwicklungsbank (ADB) angepriesen werden (3. November 2021). Ein Gutachten auf europäischer Ebene hat gezeigt, dass diese ETMs de facto eine Verlängerung der Laufzeit ermöglichen. Auch in China und Asien sind diese Lösungen Scheinlösungen. Die ADB, die dann Eigentümer von Kohlekraftwerken würde, trotz ihrer “Kohleausstiegsstrategie”, erklärt die “Verringerung der Laufzeit auf 15 Jahre”. Dies kann angesichts des neuen IPCC Berichts vom 9. August 2021 keine wirkliche Lösung sein. Außerdem sollen diese Buy-out-Pläne zusammen mit Investoren geschehen, die mit zu den größten Expansionisten gehören, wie Blackrock, HSBC und Citigroup Inc.

                                          In einer großen Koalition von Gleichgesinnten setzen wir uns für die Abkehr von solchen Scheinlösungen ein. Aber abgesehen davon: China interne Kohleexpansionspläne allein, immerhin 250 Gigawatt neue Kohlekraftwerkskapazität, könnten jedoch das Pariser Klimaabkommen kippen. Der Bau des Riesenstaudammes in Tibet oder die Mega-Solarkraftwerke in der Wüste werden mit der neuen Kohlekraft um das Netz konkurrieren. Eine grundlegende Aussage zum Kohleausstieg innerhalb China ist dringender denn je.

                                          Nora Sausmikat ist Leiterin des China Desk der Umwelt- und Menschenrechtsorganisation urgewald e.V.

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                                            Portrait

                                            Kai Müller – Für Tibet und gegen den Trend

                                            Geschäftsführer der International Campaign for Tibet (ICT) in Deutschland

                                            In den vergangenen zehn Jahren ist es vergleichsweise still geworden um Tibet und den Dalai Lama. Das geistige Oberhaupt der Tibeter reiste einst um die Welt, um auf das Schicksal seines Volkes aufmerksam zu machen. Auch nach Deutschland kam er, traf die Bundeskanzlerin oder war zu Gast in TV-Talkshows.

                                            Doch die Zeiten haben sich geändert. Der Dalai Lama ist einerseits nicht mehr der Jüngste. Aber vor allem sind es die Drohungen aus der Volksrepublik China, die große Teil der Welt dazu veranlassen, auf Distanz zu ihm zu gehen. Peking stellt ihn als gewalttätigen Separatisten dar, der aus dem Exil Aufstände organisiert. Wer das anders sieht, gilt als Feind des chinesischen Volkes. Deshalb lautet die universelle Formel: Je enger eine Nation wirtschaftlich an China heranrückt, desto weiter entfernt sie sich vom Dalai Lama.

                                            Kai Müller gehört zu denjenigen, die gegen diesen Trend arbeiten. Er ist Geschäftsführer der International Campaign for Tibet (ICT) in Deutschland und sorgt dafür, dass die Fakten nicht vergessen werden: Seit 70 Jahren wird Tibet von der Volksrepublik China besetzt. Seit mehr als 60 Jahren schon lebt der Dalai Lama im Exil. Die Menschenrechtslage in der Region ist bedrückend. Unabhängige UN-Experten weisen immer wieder auf Fälle inhaftierter Tibeter hin. Die deutsche Bundesregierung bezeichnet die Menschenrechtslage in Tibet als “besonders kritisch”.

                                            Trotz fehlendem Zugang nach Tibet setzt sich die ICT als internationale Nichtregierungsorganisation für die unterdrückte Region ein und schafft Öffentlichkeit für Fälle inhaftierter oder verfolgter Tibeter:innen. Müller sagt, mit seiner Arbeit haben sein Team und er seit 2005 in Deutschland knapp 15.000 Unterstützer gewonnen.

                                            Und dennoch konnte auch der studierte Jurist und Sozialwissenschaftler, der bis 2005 im deutschen Bundesvorstand von Amnesty International tätig war, nicht verhindern, dass sich die Lage der Tibeter in den vergangenen Jahren drastisch verschlechtert hat. “Tibet wird mit jedem Tag immer totalitärer. Ein Überwachungsstaat, der von der Außenwelt abgeschottet ist”, so Müller.

                                            Mehr als 150 Tibeter:innen haben sich seit 2009 aus Protest gegen die chinesische Besatzung selbst angezündet. Eine für Müller erschütternde Zahl, auf die international aber wenig Reaktionen und keine Taten folgten. Ebenso tragisch seien die blutigen Proteste vor den Olympischen in Peking 2008 gewesen. Dass im kommenden Februar die Olympischen Winterspiele ebenfalls in Peking stattfinden, sei ein der Fehler, sagt Müller: “Nach den Spielen 2008 ist die Karawane weitergezogen, ohne dass es eine Aufarbeitung der Ereignisse in Tibet gegeben hat”. Er plädiert für einen Boykott der Winterspiele.

                                            Menschenrechtsverbrechen sind in Tibet weiterhin bitterer Alltag. Doch die wirtschaftlichen Beziehungen zur Volksrepublik und die Angst vor Konsequenzen sorgen vielerorts dafür, dass nicht so genau hingeschaut wird. “Tibeter:innen verschwinden, werden in chinesische Arbeitsprogramme gezwungen oder willkürlich inhaftiert.” Folter und Tod in Haft kämen nicht selten vor, sagt Müller.

                                            Bereits ein friedliches Eintreten für die tibetische Kultur reiche aus, um verfolgt und zu langen Haftstrafen verurteilt zu werden. Müller und die ICT fordern deshalb freien Zugang nach Tibet für unabhängige Medien, UN-Vertreter, Diplomaten und die Zivilgesellschaft. Peking müsse seine Politik ändern, und die Weltgemeinschaft stärker für die Rechte der Tibeter eintreten.

                                            Einzelne Fälle verfolgter Tibeter bringt die ICT vor den UN-Menschenrechtsrat. Trotz oder gerade wegen ihrer Bemühungen wird der Organisation allerdings meist die Akkreditierung bei internationalen Konferenzen verwehrt. Oft würden andere Gründe vorgeschoben. Bei der Klimakonferenz in Glasgow war die Organisation zwar vertreten, aber offiziell nicht akkreditiert. Und dies trotz ihrer jahrelangen Arbeit zu Umwelt und Menschenrechten. Müller erkennt dahinter den wachsenden Einfluss der chinesischen Regierung, die Zivilgesellschaft systematisch einzuschränken, insbesondere bei den Vereinten Nationen. Tibet-Organisationen wie die ICT bekämen dies als erste zu spüren.

                                            Müller kritisiert auch die “Schieflage” bei den Vereinten Nationen was Kritik an Peking und anderen Staaten angehe. So gebe es im Menschenrechtsrat keine Resolution zur Menschenrechtslage in China. “Ein Menschenrechtsrat sollte die wichtigen Menschenrechtsthemen besprechen und nicht verschweigen. Stattdessen sind in ihm die schlimmsten Menschenrechtsverletzer vertreten. Es ist dann nicht überraschend, dass Länder wie China Kritik an ihrer Politik unterbinden können.”

                                            Unterdessen verfolge die Kommunistische Partei ihre aggressive Politik, Tibet ihrer Ideologie anzupassen, den nächsten Dalai Lama selbst zu bestimmen, Bodenschätze, Wasser und strategischen Zugang in der Region zu sichern. Viele nähmen die Narrative hin, die die KP im Westen und weltweit platziere. “Hinter der sogenannten Armutsbekämpfung, Umwelt – und Entwicklungspolitik der KP, verbergen sich andere Ziele.” Die KP handele aus purem Machtkalkül und nicht als altruistisch, wie es die Partei gerne darstelle. “Eine ganze Kultur wird assimiliert. Eine Religion verliert ihren Wesenskern. Eine Sprache stirbt aus,” so Müller. Lisa Marie Jordan

                                            • Menschenrechte
                                            • Olympia
                                            • Tibet
                                            • Vereinte Nationen

                                            China.Table Redaktion

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