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Erscheinungsdatum: 25. April 2025

Reiche: „Jede Kilowattstunde wird zur strategischen Ressource“

Mit dem Aufstieg von KI, Cloud-Diensten und datengetriebenen Geschäftsmodellen wachsen Datenmengen – und mit ihnen der Energiebedarf digitaler Infrastrukturen. Laut IEA wird sich der Stromverbrauch von Rechenzentren bis 2030 weltweit auf 945 Terawattstunden (TWh) verdoppeln – mehr als der Jahresbedarf Japans. In den USA übersteigt er dann den der gesamten Schwerindustrie. Auch in Deutschland steigt die digitale Last: Über 2.000 Rechenzentren sichern heute die digitale Wertschöpfung, ihr Bedarf könnte bis 2045 auf 80 TWh steigen – viermal so viel wie heute.

Dieser Trend trifft auf ein Energiesystem im Umbruch: Bis 2035 soll der Stromverbrauch auf 635 TWh steigen, während durch den Ausstieg aus Kohle und Kernenergie die gesicherte Leistung auf 71 GW sinkt – zu wenig, um die erwartete Spitzenlast von 125 GW zu decken. Rechenzentren laufen bis zu 8.300 Stunden im Jahr. Versorgungssicherheit ist an dieser Stelle keine Randnotiz, sondern Geschäftsgrundlage. Was Rechenzentren brauchen, ist mehr als ideologische Zielmarken – gefragt sind robuste, diversifizierte Versorgungskonzepte: moderne Brennstoffzellen für netzunabhängige Versorgung am Standort, ergänzt durch grundlastfähige Kraftwerke.

Das Energieeffizienzgesetz ab 2027 schreibt zwar vor, dass neue Rechenzentren bilanziell vollständig mit erneuerbarem Strom betrieben werden müssen. Doch gesetzgeberischer Anspruch darf nicht an physikalischer Realität scheitern: Grundlastbedarf lässt sich nicht beliebig flexibilisieren. Die Frage ist nicht, ob das Gesetz kommt – sondern wie es ausgestaltet wird. Nur ein flexibler, marktnaher Rahmen wird dem tatsächlichen Bedarf gerecht – in einem Umfeld, das Versorgung nicht nur fordert, sondern auch ermöglicht.

Doch genau diese Umsetzungsrealität bleibt oft zurück: Genehmigungsverfahren dauern Jahre, Netzausbauprojekte hinken Investitionsentscheidungen hinterher. Dabei sind Rechenzentren verlässliche und berechenbare Dauerverbraucher – ihr stabiler, planbarer Energiebedarf macht den Netzausbau kalkulierbarer und kann zur Netzstabilität beitragen. Auch in der Wärmepolitik klafft eine Lücke zwischen Anspruch und Realität: Die meisten Rechenzentren erzeugen Abwärme mit zu niedrigen Temperaturen für klassische Fernwärmenetze – und vielerorts fehlt die nötige Infrastruktur. Eine starre Nutzungspflicht verfehlt hier ihr Ziel. Zielführender wäre eine verpflichtende Wärmeabgabe dort, wo konkrete Nachfrage besteht. Das schafft Flexibilität – und ermöglicht realisierbare Projekte.

Infrastrukturpolitik muss also stärker vorausschauend denken – auch räumlich. Denn leistungsfähige Netze, verfügbare Flächen und die Nähe zu digitalen Knotenpunkten sind entscheidend. Regionen wie Nordrhein-Westfalen, das Rhein-Main-Gebiet oder Rheinhessen bieten diese Voraussetzungen. Über die Datenkorridore Amsterdam–Frankfurt und Stockholm–Paris sind mehr als 60 Millionen Menschen im 250-Kilometer-Radius erreichbar. Während klassische Hotspots wie Frankfurt an Netzgrenzen stoßen, entstehen andernorts neue Digitalcluster – dort, wo Infrastruktur, Nachfrage und Standortpotenzial zusammenfinden.

Deutschland will digitaler werden – und unabhängiger in seiner Energieversorgung. Doch Ambition allein reicht nicht. In einer Welt, in der Datenströme systemrelevant sind, wird jede Kilowattstunde zur strategischen Ressource. Die Energiewende ist längst kein reines Klimaprojekt mehr – sie ist ein Standortversprechen. Und sie entscheidet sich dort, wo digitale Infrastruktur auf ein verlässliches, zukunftsfähiges Energiesystem trifft.

Katherina Reiche wird Bundeswirtschaftsministerin im ersten Kabinett von Friedrich Merz. Die gebürtige Brandenburgerin war von 1998 bis 2015 Mitglied des Deutschen Bundestags, Fraktionsvize der CDU/CSU sowie Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesumwelt- und im Bundesverkehrsministerium. Nach ihrer politischen Karriere wechselte Reiche als Hauptgeschäftsführerin zum Verband kommunaler Unternehmen (VKU). Seit Januar 2020 ist sie Vorsitzende des Vorstands der Westenergie AG und seit Juni 2020 Vorsitzende des Nationalen Wasserstoffrats der Bundesregierung.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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