Ties Rabe ist seit über elf Jahren Bildungssenator in Hamburg und damit Deutschlands dienstältester Kultusminister. Mein Kollege Moritz Baumann hat den SPD-Politiker zum Interview in seinem Büro getroffen. Da wir Ihnen das Gespräch in der Langfassung nicht vorenthalten möchten, finden Sie es in dieser Sonderausgabe. Rabe bezieht darin Stellung zu den neuen Lehrplänen in der Hansestadt, die Kritiker als pädagogischen Rückschritt betrachten. Er erklärt, wieso er den Protest als Bestätigung wertet – und seine Reform besonders Schüler aus bildungsfernen Familien helfen soll.
Gen Berlin übt der Senator scharfe Kritik an der Bundesbildungsministerin und dringt auf mehr Tempo beim Digitalpakt 2.0 und dem Startchancen-Programm. Für Mängel bei den Corona-Aufholprogrammen (lesen Sie HIER eine aktuelle Analyse) hat er dagegen Verständnis. Zuletzt beschreibt Rabe, wie einflussreiche Interessengruppen und eigenwillige Landesparlamente gemeinsame Beschlüsse in der KMK erschweren. Ein spannender Blick in den Maschinenraum der Bildungspolitik.
Schon bald könnte Microsoft 365 an vielen Schulen untersagt werden. Das hat Deutschlands oberster Bildungsdatenschützer, der thüringische Datenschutzbeauftragte, Lutz Hasse, im Table.Live-Briefing angekündigt. Am Mittwoch diskutierte Christian Füller mit ihm und dem Medienberater und Schuldatenschützer aus dem Kreis Olpe, Dirk Thiede. Die wichtigsten Ergebnisse hat er für Sie zusammengefasst. Hoffnungen auf einen baldigen App-TÜV machten beide Gäste nicht.
Abschließend zeigt der Blick nach Bayern, mit welchen Problemen der Freistaat am Montag in das neue Schuljahr startet. Aufgrund des Lehrermangels sollen Unterrichtsstunden wegfallen, der Freistaat sucht händeringend nach Personal.
Eine gewinnbringende Lektüre wünscht
Herr Rabe, Sie haben im März einen bildungspolitischen Sturm entfesselt – mit dem Versuch, die Hamburger Lehrpläne zu modernisieren. Was hat Sie in der Debatte überrascht?
Die Schärfe im Ton. In anderen Bundesländern wären unsere neuen Bildungspläne als fortschrittlich begrüßt worden. In Hamburg bricht ein Sturm im Wasserglas los. Mit den Plänen verhindern wir, dass Hamburgs Schülerinnen und Schülern den Anschluss an Bildungsziele verlieren, die in anderen Bundesländern längst gelten.
Bislang hat Hamburg in den Lehrplänen vor allem auf Kompetenzorientierung statt Faktenwissen gesetzt. Ist dieses Experiment gescheitert?
Keinesfalls. Die Kompetenzorientierung behalten wir bei. Hamburg hat allerdings 2010 einen Weg eingeschlagen, der in seiner Radikalität bundesweit einzigartig war: Wir haben nicht nur zu Recht die Kompetenzorientierung eingeführt, sondern leider auch die im Unterricht aufzugreifenden Inhalte und Themen weitgehend aus den Bildungsplänen gestrichen und in die freie Entscheidung der Lehrkräfte und Schulen gestellt. Für das Fach Mathematik hat uns eine Expertenkommission bestätigt: Die Bildungspläne sind derzeit zu willkürlich und zu unklar.
Nun wollen Sie mehr zentral vorgegebene Unterrichtsinhalte, mehr Prüfungen, lieber schriftliche Tests als Referate oder Projektarbeit. Ist das eine Absage an den reformpädagogischen Zeitgeist?
Es ist eine Absage an willkürliche Entscheidungen darüber, was Kinder lernen. Deshalb konkretisieren wir, mit welchen Themen die Kompetenzen erworben werden sollen. Wer beispielsweise Kindern im Geschichtsunterricht die Strukturen von Revolutionen nahebringen will, muss sich konkret mit einer Revolution – sei es die Französische oder die Römische – beschäftigen. Bislang lag diese inhaltliche Auswahl allein bei der Lehrkraft. Das ist nicht vernünftig, weil in jeder Schule und jeder Schulklasse etwas anderes gelernt wird. Natürlich haben unsere Lehrkräfte bei der Unterrichtsgestaltung – von Exkursionen, über Projekt- und Gruppenarbeit bis zu Referaten – auch künftig einen großen Spielraum. Nur legen wir als Behörde jetzt rund 50 Prozent der Unterrichtsinhalte zentral für alle Schulen fest.
Selbst Bayern hat gerade den Faust als Pflichtlektüre gestrichen. Und Sie wollen wieder zurück zu einem verpflichtenden Wissenskanon. Das überrascht.
Wir haben “Faust” auch nicht zur Pflichtlektüre gemacht. Wir wollen aber, dass alle Schülerinnen und Schüler wenigstens Werke der klassischen Literatur gelesen haben. Das kann Goethes Faust sein – oder ein anderes Werk. Denn dass Schülerinnen und Schüler in der Oberstufe überhaupt nicht mit klassischer Literatur in Berührung kommen, ist nicht vernünftig.
Und das kam an Hamburger Schulen vor?
Das war möglich, weil es keine Vorgaben gab.
Kam es auch vor?
In Hamburg kommt alles vor. Ich will Ihnen sagen, welche Entwicklung mich antreibt: Überall – ob bei der Bewerbung für eine Ausbildung, im Betrieb oder im Studium – werden von jungen Erwachsenen Lese-, Rechtschreib- und Mathematikkenntnisse sowie Grundkenntnisse über unsere Welt erwartet. Da geht es um konkretes Faktenwissen, das aber bisher kaum in unseren Bildungsplänen berücksichtigt ist – mit dem hanebüchenen Argument, das sei Pädagogik von gestern. Das Ergebnis ist ein Skandal: Natürlich verfügen Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern über dieses Faktenwissen. Aber wir haben in Hamburg 40 Prozent Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern, die dieses Privileg nicht haben. Es empört mich, dass privilegierte Milieus, die sich in der Bildungspolitik engagieren, das Faktenwissen in der Schule zurückdrängen wollen. Sie riskieren damit, dass Schüler aus bildungsfernen Familien nach der Schule weder ein Bewerbungsgespräch bestehen noch eine Nachrichtensendung verstehen.
Und den Pädagogen vor Ort vertrauen Sie nicht, dass sie diese Inhalte vermitteln?
Dieses Faktenwissen vermitteln einige Lehrer offenbar derzeit nicht. Anders ist mir der Protest gegen die neuen Bildungspläne kaum erklärlich.
Sie verteidigen Ihre Pläne oft mit dem Argument, die Schüler müssten das Schreiben von Klausuren üben. Da fragt man sich schon, welcher Bildungsbegriff Sie dabei leitet.
Das ist mir eine zu philosophische Frage. Wir wollen keinen Kulturwandel. Vor 15 Jahren schrieben Hamburgs Schülerinnen und Schüler zwischen Klasse fünf und Klasse 13 rund 400 Klausuren. Heute sind es nur noch rund 200 Klausuren. Das bleibt auch so. Aber die wenigen Klausuren sollen nicht auch noch wie bisher in großer Zahl durch Referate ersetzt werden können – zumal in anderen Lebensbereichen genau das Gegenteil passiert. Es ist unehrlich, an den Universitäten nach der Bologna-Reform die Zahl der Klausuren zu vervielfachen und gleichzeitig in der Schule zu streichen. Das passt nicht zusammen.
Themensprung. Bettina Stark-Watzinger tritt als neue Bundesbildungsministerin deutlich selbstbewusster auf als ihre Vorgängerinnen – teilen Sie den Eindruck?
Aha. Ich kenne viele selbstbewusste Minister. Entscheidend ist nicht der Auftritt, sondern der Erfolg.
Was ist Ihr Eindruck?
Ich sehe, dass sie es schwer hat, maßgebliche Vereinbarungen aus dem Koalitionsvertrag beim Finanzminister durchzusetzen. Da wünsche ich mir mehr Selbstbewusstsein. Im Koalitionsvertrag steht: Die Ampel verstetigt den Digitalpakt und bringt das Startchancen-Programm auf den Weg. Ich bin ehrlich besorgt, dass diese Programme nicht wie vereinbart umgesetzt werden. Uns läuft die Zeit weg.
Wo stehen wir beim Digitalpakt 2.0?
Die vier Programme des aktuellen Digitalpakts umfassen 6,5 Milliarden Euro über fünf Jahre, 1,3 Milliarden pro Jahr. Das ist die Mindestsumme, die verstetigt werden muss. In den Koalitionsverhandlungen hatten wir sogar über noch höhere Summen geredet. Jetzt deutet sich an, dass es deutlich weniger wird. Das ist besorgniserregend.
Welche Summe hören Sie denn, wenn Sie in Berlin Gespräche führen?
Man behauptet immer, dass nur einer der vier Digitalpakte verstetigt werden muss und dieser noch mit Abstrichen.
Nach Recherchen von Bildung.Table sind viele Länder unzufrieden, dass sie über Monate keine konkreten Informationen zum Startchancen-Programm vom BMBF erhalten haben. Gibt es überhaupt schon einen Entwurf oder ein Konzeptpapier?
Mir ist so etwas nicht bekannt. Es gab allerdings vom Bundestag die energische Forderung an die Bundesregierung, bis Ende September ein Konzept vorzulegen. Konkret geht es beim Startchancen-Programm um drei Säulen: die Förderung schulischer Sozialarbeit, Zuschüsse für Investitionen in Schulgebäude und Ausstattung und ein pädagogisches Budget.
Lesen Sie auch: Startchancen-Programm: “Wir sind total unzufrieden”
Herr Brandenburg hat in einem Interview angedeutet, das Geld dafür werde wohl wieder über den Königsteiner Schlüssel verteilt.
Das widerspricht den Besprechungen in den Ampel-Verhandlungen. Das Programm soll benachteiligten Schülern helfen und nicht mit der Gießkanne verteilt werden. Mindestens die Förderung der schulischen Sozialarbeit muss sich nach der konkreten Bedürftigkeit der Schüler richten – und nicht nach einem abstrakten Verteilschlüssel. Hier hätte das BMBF längst Details klären können. Passiert ist wenig. Mein Vorschlag: Wir wissen, dass es eine enge Korrelation gibt zwischen Bildungsbenachteiligung und Hartz-IV-Bezug. Dies könnte ein sinnvoller Maßstab für eine zielgenaue Förderung sein. Im Ergebnis wären Länder mit sehr vielen benachteiligten Kindern wie Bremen, Berlin und Nordrhein-Westfalen deutlich stärker begünstigt als Bayern und Baden-Württemberg. Das pädagogische Budget hingegen muss aus verfassungsrechtlichen Gründen wohl über Umsatzsteuerpunkte finanziert werden. Das hat den Effekt, dass wohlhabende Länder, in denen viel Umsatzsteuer gezahlt wird, den größten Ertrag haben.
Aber das führt doch zu einer Schieflage.
In der Tat. Das lässt sich aber kaum korrigieren, weil das Kooperationsverbot in der Verfassung uns hier keine Wahl lässt.
Frau Stark-Watzinger hat mehrfach darauf hingewiesen, dass sie auch die Länder in der Pflicht sieht, beim Startchancen-Programm in eine Kofinanzierung einzusteigen. Wären Sie dazu bereit – und in welcher Höhe?
Das Startchancen-Programm wird vermutlich – gemessen an den von den Ländern getragenen Gesamtkosten des Schulbereichs – eine Marge von ein bis zwei Prozent erreichen. Ich mache mir daher keine Sorgen, solange die Kofinanzierung nicht noch obendrauf kommen soll.
So lesen wir die Forderung von Frau Stark-Watzinger.
Das ist ehrlicherweise nicht zwingend. Wir haben auf Bundesebene einen Koalitionsvertrag geschlossen, der zusätzliches Engagement des Bundes vorsieht. Die Kultusminister sind nun nicht automatisch in der Pflicht, nachzuziehen. Umgekehrt zieht der Bund schließlich auch nicht mit. Hamburg hat in den letzten Jahren die Förderung benachteiligter Kinder um viele Millionen Euro erhöht – vom Bund gab es dafür keinen Cent.
Jetzt sind Sie aber geschickt der Frage ausgewichen, was am Ende in der Vereinbarung steht – prozentual.
Das muss man dann miteinander verhandeln.
Aber da haben Sie zumindest in den SPD-geführten A-Ländern doch sicherlich schon eine Vorstellung, oder?
Klar.
Und die wäre?
Das klärt man am Verhandlungstisch und nicht in meinem Büro mit Journalisten.
Wenn der Bund ein milliardenschweres Startchancen-Programm auf den Weg bringt, darf er dann auch inhaltlich mitmischen, wenn es um Kriterien für die Verwendung der Fördermittel geht?
Die Empfindlichkeit unter den Landesministern ist bei dieser Frage unterschiedlich. Ich kann da viel ertragen. Wenn der Bund Geld mitbringt, dann darf er auch mitbestimmen, wofür das Geld ausgegeben wird.
An welchen Bundesländern scheitert das dann?
An anderen, nicht an Hamburg.
Sie haben mehrfach öffentlich gefordert, dass die Bundesregierung das Corona-Aufholprogramm verlängert. Dem hat Frau Stark-Watzinger eine klare Absage erteilt – auch weil der Zwischenbericht offenbart hat, dass die Gelder in vielen Ländern offensichtlich ohne erkennbare Strategie, fast willkürlich, ausgegeben wurden. Muss die KMK hier Fehler einräumen?
Es passieren immer Fehler auf allen Seiten. Wenn wir ein Sofortprogramm starten, dann erwartet die Öffentlichkeit zu Recht eine sofortige Umsetzung. Jetzt wird den Ländern vorgeworfen, sie hätten erst eine wissenschaftliche Expertise über Ziel und Art der Förderung beauftragen sollen. Dann dauert es aber in der Regel drei bis fünf Jahre, ehe die Förderung an den Schulen beginnt. Da wäre die Öffentlichkeit genauso empört.
Bei allem Respekt, ein paar Beispiele: In Berlin lagen die meisten geförderten Schulen in Steglitz – ein besonders wohlhabender Bezirk. Hessen bezuschusst ein Robotik-Programm von Lego, Niedersachsen kauft Corona-Schutzausstattung und Sachsen überweist Geld an Privatschulen. Das ist alles dokumentiert. Und da sehen Sie keine Fehler?
Natürlich hat das Corona-Aufholprogramm aufgedeckt, dass es in vielen Ländern noch keine etablierten Förderstrukturen gibt, die man schnell hätte ausbauen können. Es geht aber nicht, dass die Bundesregierung wochenlange Schulschließungen verordnet und dann von den Kultusministern erwartet, in drei Wochen die Lernrückstände und sozialen Verwerfungen mit einem Wunderprogramm mal eben zu reparieren. Das ist kein fairer Umgang. Gute Förderstrukturen brauchen Zeit. Und wenn einige Länder zunächst ad-hoc-Maßnahmen auf den Weg bringen, die nicht alle genau das Ziel treffen, dann ist das der Tatsache geschuldet, dass es sonst sehr lange dauern würde.
Lesen Sie auch: Studie des WZB – Gruselige Bilanz bei Corona-Bildungshilfen
Wie weit oben auf Ihrer Agenda steht bei Ihnen eigentlich eine Reform der doch sehr schwerfälligen KMK-Strukturen?
Ich bin 2011 ins Amt gekommen. Wenn ich zurückblicke, haben wir heute eine ganz andere Kultusministerkonferenz.
Das müssen Sie erklären.
In den letzten Jahren haben wir in der KMK viel regelmäßiger aktuelle brisante Themen – wie die Corona-Pandemie oder die Energiekrise – kontrovers diskutiert und mit Beschlüssen in erstaunlicher Einigkeit begleitet. Vorher war das eine ritualisierte Sitzung, die teils Monate vorher geplant war. Diese politische Aktualität ist ein großer Gewinn – auch für die Diskussionskultur in der KMK. Dazu zählen auch neue Formate wie zum Beispiel der Kaminabend, wo nur die Ministerinnen und Minister ohne ihre Mitarbeiter offen diskutieren. Wir haben uns daneben entschlossen, klarere Beschlüsse zu fällen und uns weniger in Formelkompromisse zu flüchten. Ein Beispiel ist das ländergemeinsame Abitur mit identischen Abituraufgaben aus einem gemeinsamen Pool. So etwas hat es in den vergangenen 70 Jahren noch nie gegeben. Da sind wir erheblich weitergekommen.Dennoch braucht es eine Überarbeitung der KMK-Strukturen: Wir haben dort eine unübersichtliche Zahl von Gremien und Abläufen, bei der auch viele Minister den Überblick verlieren. Das ist ineffizient.
Wo genau wollen Sie die Strukturen entschlacken, damit es bei neuen Projekten nicht wieder Jahre und Jahrzehnte dauert?
Im Kreis der Kultusminister fällen wir Beschlüsse meist recht zügig. Ein Problem, das oft vergessen wird: In jedem Bundesland erschweren mächtige Interessensgruppen ländergemeinsame Positionen. Das kostet Zeit und unterminiert eine gemeinsame Linie in der Bildungspolitik.
Wäre da ein Staatsvertrag, ratifiziert durch die Länderparlamente, ein gutes Vehikel, um mehr Verbindlichkeit zu schaffen? Aktuell gibt es nur eine lose KMK-Vereinbarung zwischen den Landesregierungen.
Ein Staatsvertrag entfaltet in der Tat eine größere politische Kraft. Aber um diese Kraft zu gewinnen, braucht man 16 Parlamente. Nur wenige Optimisten in Deutschland glauben, dass 16 Landesparlamente in dem brisanten Thema der Schulpolitik gleichzeitig ein und demselben Staatsvertrag zustimmen würden. Es wäre verkürzt, umständliche und langsame Verhandlungen in der Schulpolitik nur den Kultusministern anzulasten.
Auf EU-Ebene werden regelmäßig Mehrheitsentscheidungen statt Einstimmigkeit gefordert. Wäre das nicht auch attraktiv für die KMK?
Haben Sie die Diskussion um die letzte Ferienregelung verfolgt? Bayern und Baden-Württemberg haben seit 70 Jahren das Privileg, sich die Ferienzeiten auszusuchen. Der Rest muss sich danach ausrichten. Viele Länder sind damit unzufrieden und haben fairere Regelungen angeregt. Sofort meldete sich der bayerische Ministerpräsident zu Wort und verkündete: “Wir machen nicht mit. Basta.” Das lässt tief blicken – und hat nichts mit der angeblich schwerfälligen Bürokratie der Kultusministerkonferenz zu tun.
Herr Rabe, vielen Dank für das Gespräch.
Seit über elf Jahren führt Ties Rabe die Hamburger Schulbehörde – und eckt dabei immer wieder mit klaren Positionen an. Der SPD-Politiker gilt als mächtiger Strippenzieher in der Kultusministerkonferenz, wo er die SPD-geführten Bundesländer koordiniert. Er studierte in Hamburg Religion, Deutsch und Geschichte auf Lehramt, arbeitete als Redakteur und Landesgeschäftsführer seiner Partei, bevor ihn Olaf Scholz 2011 zum Senator für Schule und Berufsbildung ernannte. Den Kontakt nach Berlin pflegt er weiter.
Es war ein Paukenschlag, der schon wenige Minuten nach Beginn des Table.Live-Briefings zum Thema Datenschutz ertönte. Lutz Hasse, Sprecher der “Arbeitsgemeinschaft Schule” der Datenschutzkonferenz, sagte zum Dauerthema Microsoft: “Die Datenschutzbeauftragten mehrerer Bundesländer wollen MS 365 verbieten.” Sie wollen dabei aber verhältnismäßig vorgehen und nicht so viel Staub aufwirbeln, so Hasse, der in Thüringen Landesdatenschutzbeauftragter ist. Seine Kollegen warteten nur noch auf den Office-365-Bericht einer AG Microsoft der Datenschutzkonferenz, um dann – je nach Votum – Maßnahmen zur Untersagung der Nutzung dieses Produkts zu ergreifen.
“Wenn sich bei den großen Playern wie Microsoft oder Google nichts ändert, wird es darauf hinauslaufen, dass in einigen Bundesländern für Schulen Ersatzprodukte von uns empfohlen oder auch angeordnet werden“, sagte Hasse weiter. Im Jahr 2020 war eine Abstimmung in der Datenschutzkonferenz mit 9:8 denkbar knapp ausgegangen. Neun Datenschützer aus Bundesländern hatten dafür votiert, dass eine datenschutzkonforme Verwendung von “Microsoft 365” derzeit nicht möglich sei, darunter der Präsident des Bayerischen Landesamts für Datenschutzaufsicht, das für die Microsoft Deutschland GmbH zuständig ist. Acht Landesdatenschutzbeauftragten waren anderer Ansicht. Hasse meinte nun, nach Lektüre und Diskussion des genannten Berichts “wird eine Abstimmung eindeutiger ausfallen.”
Dirk Thiede, der zweite Diskussionspartner beim Table.Live-Briefing, nannte dies eine typische Entscheidung der Datenschutzkonferenz, mit der Lehrer wenig anfangen könnten. Wenn nicht alle Landesdatenschützer die Produkte von Microsoft in Schulen untersagten, dann werde die Lehrerschaft Deutschlands weiter in Verwirrung zurückgelassen. Thiede, der selbst Lehrer und zugleich Datenschutzbeauftragter der Schulen für den Kreis Olpe ist, empfahl ein Modell wie in den Niederlanden. Dort hatte im Jahr 2018/-19 das Haager Justizministerium direkt mit Microsoft verhandelt – und Verbesserungen erzielt. Die Bundesregierung müsse mit Microsoft verhandeln, um so den Druck zu erhöhen.
Im Gespräch zwischen Hasse und Thiede wurde klar, dass es eine Zertifizierung von Clouds, Lernmanagement-Systemen und pädagogischen Anwendungen – den so genannten App-TÜV – so schnell nicht geben werde. “Wir könnten uns zusammensetzen, eine App basteln und sie dann vertickern”, sagte Hasse. Derzeit sei aber niemand in der Lage, diese Anwendung einer Vorabprüfung zu unterziehen. Allerdings gibt es das Projekt “Directions”, bei dem das KIT in Karlsruhe und die Universität Kassel zusammen eine Zertifizierung entwickeln. Lutz Hasse sagte, dass er bei Directions inzwischen beteiligt sei. Das BMBF fördert das Projekt, das bis 2027 läuft. Gleichzeitig verfolgen die Bundesländer ein Modell namens Educheck.Digital – das im Grunde das Gleiche macht.
Die Debatte über Datenschutz in der Schule geht auf Einladung von Lutz Hasse am 19. September in Erfurt weiter. Dort wird unter anderen Beth Havinga, die Direktorin der “European EdTech Alliance”, darüber sprechen, wie man mit Daten an Schulen künftig vernünftig umgehen kann. Christian Füller
In Bayern tritt nun ein, wovor bereits seit einiger Zeit Furcht herrscht: Lehrermangel. Wenige Tage vor Beginn des neuen Schuljahres reduzieren die Schulen Unterricht und Lehrangebot. Förderstunden sollen selbst in den Grundschulen für benachteiligte Schüler nicht mehr angeboten werden. Die Klassenleiter erteilen den Werkunterricht – damit dies nicht Fachlehrer tun müssen. Reihenweise werden Studierende und Pensionäre in die Klassenzimmer gerufen. Das berichtet Simone Fleischmann, die Präsidentin des BLLV. In einem Regierungsbezirk hätten 200 dorthin versetzte Lehrkräfte ihren Dienst nicht angetreten. “Die Situation ist wie in einem Streich-Konzert“, sagte Fleischmann. “Der Kultusminister hat zu Ferienbeginn einen Instrumentenkasten zur Verfügung gestellt, was alles zu streichen ist.”
Fleischmann sagte, es gehe noch nicht um ein flächendeckendes Problem. Gleichwohl gäbe es bestimmte Schulformen und Gegenden, in denen nur noch ein so genanntes Kernangebot an Fächern zu finden sei. Davon seien insbesondere Grundschulen und Mittelschulen (die früheren Hauptschulen) betroffen. “Bayern muss, wie andere Länder auch, die Unterrichtsversorgung zur Chefsache machen”, sagte Fleischmann. In einem Regierungsbezirk Bayerns habe bereits nach wenigen Tagen 80 Prozent der mobilen Reserve von Lehrkräften in den Unterricht gemusst. “Nur noch 40 Prozent der Lehrerschaft sind in manchen Schulen ausgebildete Profis“, sagte Fleischmann. Wenn Bayern seinem Anspruch als führendes Bildungsland in Zeiten des Lehrermangels halten wolle, müsse die Staatsregierung jetzt handeln.
Bereits im Juli berichtete Bildung.Table über interne Anweisungen an Schulämter, bei Unterricht, Förderkursen und AGs zu kürzen (“Die Mittelschule strauchelt“). “Solche Einschnitte haben Einfluss auf ganze Bildungsbiografien“, kritisiert nun die Landesvorsitzende der GEW Martina Borgendale. Warnende Worte der Bildungsverbände seien in den vergangenen Jahren “stets ungehört verhallt“.
Bis heute fehle der politische Wille, den Einstellungskorridor zu vergrößern und präventiv mehr Lehrer einzustellen. Das geht auch über die “Deckung des absoluten Basisbedarfes” hinaus. Trotz akuter Personalnot an Grund-, Mittel- und Förderschulen seien an Gymnasien von 1800 Bewerbern bis August nur 1200 eingestellt worden. “600 voll ausgebildete Gymnasiallehrkräfte stehen auf der Warteliste”, schreibt die GEW. Das sei fatal. Die Staatsregierung müsse allen Bewerbern sofort ein Angebot machen, um den problematischen “Zyklus aus Mangel und Überschuss” zu durchbrechen. Spätestens ab den Schuljahr 2025/2026, wenn das G9 in Bayern zurückkehrt, werde auch an den Gymnasien der Personalbedarf schlagartig steigen. Das weiß auch der Kultusminister. Christian Füller/Moritz Baumann
Ties Rabe ist seit über elf Jahren Bildungssenator in Hamburg und damit Deutschlands dienstältester Kultusminister. Mein Kollege Moritz Baumann hat den SPD-Politiker zum Interview in seinem Büro getroffen. Da wir Ihnen das Gespräch in der Langfassung nicht vorenthalten möchten, finden Sie es in dieser Sonderausgabe. Rabe bezieht darin Stellung zu den neuen Lehrplänen in der Hansestadt, die Kritiker als pädagogischen Rückschritt betrachten. Er erklärt, wieso er den Protest als Bestätigung wertet – und seine Reform besonders Schüler aus bildungsfernen Familien helfen soll.
Gen Berlin übt der Senator scharfe Kritik an der Bundesbildungsministerin und dringt auf mehr Tempo beim Digitalpakt 2.0 und dem Startchancen-Programm. Für Mängel bei den Corona-Aufholprogrammen (lesen Sie HIER eine aktuelle Analyse) hat er dagegen Verständnis. Zuletzt beschreibt Rabe, wie einflussreiche Interessengruppen und eigenwillige Landesparlamente gemeinsame Beschlüsse in der KMK erschweren. Ein spannender Blick in den Maschinenraum der Bildungspolitik.
Schon bald könnte Microsoft 365 an vielen Schulen untersagt werden. Das hat Deutschlands oberster Bildungsdatenschützer, der thüringische Datenschutzbeauftragte, Lutz Hasse, im Table.Live-Briefing angekündigt. Am Mittwoch diskutierte Christian Füller mit ihm und dem Medienberater und Schuldatenschützer aus dem Kreis Olpe, Dirk Thiede. Die wichtigsten Ergebnisse hat er für Sie zusammengefasst. Hoffnungen auf einen baldigen App-TÜV machten beide Gäste nicht.
Abschließend zeigt der Blick nach Bayern, mit welchen Problemen der Freistaat am Montag in das neue Schuljahr startet. Aufgrund des Lehrermangels sollen Unterrichtsstunden wegfallen, der Freistaat sucht händeringend nach Personal.
Eine gewinnbringende Lektüre wünscht
Herr Rabe, Sie haben im März einen bildungspolitischen Sturm entfesselt – mit dem Versuch, die Hamburger Lehrpläne zu modernisieren. Was hat Sie in der Debatte überrascht?
Die Schärfe im Ton. In anderen Bundesländern wären unsere neuen Bildungspläne als fortschrittlich begrüßt worden. In Hamburg bricht ein Sturm im Wasserglas los. Mit den Plänen verhindern wir, dass Hamburgs Schülerinnen und Schülern den Anschluss an Bildungsziele verlieren, die in anderen Bundesländern längst gelten.
Bislang hat Hamburg in den Lehrplänen vor allem auf Kompetenzorientierung statt Faktenwissen gesetzt. Ist dieses Experiment gescheitert?
Keinesfalls. Die Kompetenzorientierung behalten wir bei. Hamburg hat allerdings 2010 einen Weg eingeschlagen, der in seiner Radikalität bundesweit einzigartig war: Wir haben nicht nur zu Recht die Kompetenzorientierung eingeführt, sondern leider auch die im Unterricht aufzugreifenden Inhalte und Themen weitgehend aus den Bildungsplänen gestrichen und in die freie Entscheidung der Lehrkräfte und Schulen gestellt. Für das Fach Mathematik hat uns eine Expertenkommission bestätigt: Die Bildungspläne sind derzeit zu willkürlich und zu unklar.
Nun wollen Sie mehr zentral vorgegebene Unterrichtsinhalte, mehr Prüfungen, lieber schriftliche Tests als Referate oder Projektarbeit. Ist das eine Absage an den reformpädagogischen Zeitgeist?
Es ist eine Absage an willkürliche Entscheidungen darüber, was Kinder lernen. Deshalb konkretisieren wir, mit welchen Themen die Kompetenzen erworben werden sollen. Wer beispielsweise Kindern im Geschichtsunterricht die Strukturen von Revolutionen nahebringen will, muss sich konkret mit einer Revolution – sei es die Französische oder die Römische – beschäftigen. Bislang lag diese inhaltliche Auswahl allein bei der Lehrkraft. Das ist nicht vernünftig, weil in jeder Schule und jeder Schulklasse etwas anderes gelernt wird. Natürlich haben unsere Lehrkräfte bei der Unterrichtsgestaltung – von Exkursionen, über Projekt- und Gruppenarbeit bis zu Referaten – auch künftig einen großen Spielraum. Nur legen wir als Behörde jetzt rund 50 Prozent der Unterrichtsinhalte zentral für alle Schulen fest.
Selbst Bayern hat gerade den Faust als Pflichtlektüre gestrichen. Und Sie wollen wieder zurück zu einem verpflichtenden Wissenskanon. Das überrascht.
Wir haben “Faust” auch nicht zur Pflichtlektüre gemacht. Wir wollen aber, dass alle Schülerinnen und Schüler wenigstens Werke der klassischen Literatur gelesen haben. Das kann Goethes Faust sein – oder ein anderes Werk. Denn dass Schülerinnen und Schüler in der Oberstufe überhaupt nicht mit klassischer Literatur in Berührung kommen, ist nicht vernünftig.
Und das kam an Hamburger Schulen vor?
Das war möglich, weil es keine Vorgaben gab.
Kam es auch vor?
In Hamburg kommt alles vor. Ich will Ihnen sagen, welche Entwicklung mich antreibt: Überall – ob bei der Bewerbung für eine Ausbildung, im Betrieb oder im Studium – werden von jungen Erwachsenen Lese-, Rechtschreib- und Mathematikkenntnisse sowie Grundkenntnisse über unsere Welt erwartet. Da geht es um konkretes Faktenwissen, das aber bisher kaum in unseren Bildungsplänen berücksichtigt ist – mit dem hanebüchenen Argument, das sei Pädagogik von gestern. Das Ergebnis ist ein Skandal: Natürlich verfügen Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern über dieses Faktenwissen. Aber wir haben in Hamburg 40 Prozent Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern, die dieses Privileg nicht haben. Es empört mich, dass privilegierte Milieus, die sich in der Bildungspolitik engagieren, das Faktenwissen in der Schule zurückdrängen wollen. Sie riskieren damit, dass Schüler aus bildungsfernen Familien nach der Schule weder ein Bewerbungsgespräch bestehen noch eine Nachrichtensendung verstehen.
Und den Pädagogen vor Ort vertrauen Sie nicht, dass sie diese Inhalte vermitteln?
Dieses Faktenwissen vermitteln einige Lehrer offenbar derzeit nicht. Anders ist mir der Protest gegen die neuen Bildungspläne kaum erklärlich.
Sie verteidigen Ihre Pläne oft mit dem Argument, die Schüler müssten das Schreiben von Klausuren üben. Da fragt man sich schon, welcher Bildungsbegriff Sie dabei leitet.
Das ist mir eine zu philosophische Frage. Wir wollen keinen Kulturwandel. Vor 15 Jahren schrieben Hamburgs Schülerinnen und Schüler zwischen Klasse fünf und Klasse 13 rund 400 Klausuren. Heute sind es nur noch rund 200 Klausuren. Das bleibt auch so. Aber die wenigen Klausuren sollen nicht auch noch wie bisher in großer Zahl durch Referate ersetzt werden können – zumal in anderen Lebensbereichen genau das Gegenteil passiert. Es ist unehrlich, an den Universitäten nach der Bologna-Reform die Zahl der Klausuren zu vervielfachen und gleichzeitig in der Schule zu streichen. Das passt nicht zusammen.
Themensprung. Bettina Stark-Watzinger tritt als neue Bundesbildungsministerin deutlich selbstbewusster auf als ihre Vorgängerinnen – teilen Sie den Eindruck?
Aha. Ich kenne viele selbstbewusste Minister. Entscheidend ist nicht der Auftritt, sondern der Erfolg.
Was ist Ihr Eindruck?
Ich sehe, dass sie es schwer hat, maßgebliche Vereinbarungen aus dem Koalitionsvertrag beim Finanzminister durchzusetzen. Da wünsche ich mir mehr Selbstbewusstsein. Im Koalitionsvertrag steht: Die Ampel verstetigt den Digitalpakt und bringt das Startchancen-Programm auf den Weg. Ich bin ehrlich besorgt, dass diese Programme nicht wie vereinbart umgesetzt werden. Uns läuft die Zeit weg.
Wo stehen wir beim Digitalpakt 2.0?
Die vier Programme des aktuellen Digitalpakts umfassen 6,5 Milliarden Euro über fünf Jahre, 1,3 Milliarden pro Jahr. Das ist die Mindestsumme, die verstetigt werden muss. In den Koalitionsverhandlungen hatten wir sogar über noch höhere Summen geredet. Jetzt deutet sich an, dass es deutlich weniger wird. Das ist besorgniserregend.
Welche Summe hören Sie denn, wenn Sie in Berlin Gespräche führen?
Man behauptet immer, dass nur einer der vier Digitalpakte verstetigt werden muss und dieser noch mit Abstrichen.
Nach Recherchen von Bildung.Table sind viele Länder unzufrieden, dass sie über Monate keine konkreten Informationen zum Startchancen-Programm vom BMBF erhalten haben. Gibt es überhaupt schon einen Entwurf oder ein Konzeptpapier?
Mir ist so etwas nicht bekannt. Es gab allerdings vom Bundestag die energische Forderung an die Bundesregierung, bis Ende September ein Konzept vorzulegen. Konkret geht es beim Startchancen-Programm um drei Säulen: die Förderung schulischer Sozialarbeit, Zuschüsse für Investitionen in Schulgebäude und Ausstattung und ein pädagogisches Budget.
Lesen Sie auch: Startchancen-Programm: “Wir sind total unzufrieden”
Herr Brandenburg hat in einem Interview angedeutet, das Geld dafür werde wohl wieder über den Königsteiner Schlüssel verteilt.
Das widerspricht den Besprechungen in den Ampel-Verhandlungen. Das Programm soll benachteiligten Schülern helfen und nicht mit der Gießkanne verteilt werden. Mindestens die Förderung der schulischen Sozialarbeit muss sich nach der konkreten Bedürftigkeit der Schüler richten – und nicht nach einem abstrakten Verteilschlüssel. Hier hätte das BMBF längst Details klären können. Passiert ist wenig. Mein Vorschlag: Wir wissen, dass es eine enge Korrelation gibt zwischen Bildungsbenachteiligung und Hartz-IV-Bezug. Dies könnte ein sinnvoller Maßstab für eine zielgenaue Förderung sein. Im Ergebnis wären Länder mit sehr vielen benachteiligten Kindern wie Bremen, Berlin und Nordrhein-Westfalen deutlich stärker begünstigt als Bayern und Baden-Württemberg. Das pädagogische Budget hingegen muss aus verfassungsrechtlichen Gründen wohl über Umsatzsteuerpunkte finanziert werden. Das hat den Effekt, dass wohlhabende Länder, in denen viel Umsatzsteuer gezahlt wird, den größten Ertrag haben.
Aber das führt doch zu einer Schieflage.
In der Tat. Das lässt sich aber kaum korrigieren, weil das Kooperationsverbot in der Verfassung uns hier keine Wahl lässt.
Frau Stark-Watzinger hat mehrfach darauf hingewiesen, dass sie auch die Länder in der Pflicht sieht, beim Startchancen-Programm in eine Kofinanzierung einzusteigen. Wären Sie dazu bereit – und in welcher Höhe?
Das Startchancen-Programm wird vermutlich – gemessen an den von den Ländern getragenen Gesamtkosten des Schulbereichs – eine Marge von ein bis zwei Prozent erreichen. Ich mache mir daher keine Sorgen, solange die Kofinanzierung nicht noch obendrauf kommen soll.
So lesen wir die Forderung von Frau Stark-Watzinger.
Das ist ehrlicherweise nicht zwingend. Wir haben auf Bundesebene einen Koalitionsvertrag geschlossen, der zusätzliches Engagement des Bundes vorsieht. Die Kultusminister sind nun nicht automatisch in der Pflicht, nachzuziehen. Umgekehrt zieht der Bund schließlich auch nicht mit. Hamburg hat in den letzten Jahren die Förderung benachteiligter Kinder um viele Millionen Euro erhöht – vom Bund gab es dafür keinen Cent.
Jetzt sind Sie aber geschickt der Frage ausgewichen, was am Ende in der Vereinbarung steht – prozentual.
Das muss man dann miteinander verhandeln.
Aber da haben Sie zumindest in den SPD-geführten A-Ländern doch sicherlich schon eine Vorstellung, oder?
Klar.
Und die wäre?
Das klärt man am Verhandlungstisch und nicht in meinem Büro mit Journalisten.
Wenn der Bund ein milliardenschweres Startchancen-Programm auf den Weg bringt, darf er dann auch inhaltlich mitmischen, wenn es um Kriterien für die Verwendung der Fördermittel geht?
Die Empfindlichkeit unter den Landesministern ist bei dieser Frage unterschiedlich. Ich kann da viel ertragen. Wenn der Bund Geld mitbringt, dann darf er auch mitbestimmen, wofür das Geld ausgegeben wird.
An welchen Bundesländern scheitert das dann?
An anderen, nicht an Hamburg.
Sie haben mehrfach öffentlich gefordert, dass die Bundesregierung das Corona-Aufholprogramm verlängert. Dem hat Frau Stark-Watzinger eine klare Absage erteilt – auch weil der Zwischenbericht offenbart hat, dass die Gelder in vielen Ländern offensichtlich ohne erkennbare Strategie, fast willkürlich, ausgegeben wurden. Muss die KMK hier Fehler einräumen?
Es passieren immer Fehler auf allen Seiten. Wenn wir ein Sofortprogramm starten, dann erwartet die Öffentlichkeit zu Recht eine sofortige Umsetzung. Jetzt wird den Ländern vorgeworfen, sie hätten erst eine wissenschaftliche Expertise über Ziel und Art der Förderung beauftragen sollen. Dann dauert es aber in der Regel drei bis fünf Jahre, ehe die Förderung an den Schulen beginnt. Da wäre die Öffentlichkeit genauso empört.
Bei allem Respekt, ein paar Beispiele: In Berlin lagen die meisten geförderten Schulen in Steglitz – ein besonders wohlhabender Bezirk. Hessen bezuschusst ein Robotik-Programm von Lego, Niedersachsen kauft Corona-Schutzausstattung und Sachsen überweist Geld an Privatschulen. Das ist alles dokumentiert. Und da sehen Sie keine Fehler?
Natürlich hat das Corona-Aufholprogramm aufgedeckt, dass es in vielen Ländern noch keine etablierten Förderstrukturen gibt, die man schnell hätte ausbauen können. Es geht aber nicht, dass die Bundesregierung wochenlange Schulschließungen verordnet und dann von den Kultusministern erwartet, in drei Wochen die Lernrückstände und sozialen Verwerfungen mit einem Wunderprogramm mal eben zu reparieren. Das ist kein fairer Umgang. Gute Förderstrukturen brauchen Zeit. Und wenn einige Länder zunächst ad-hoc-Maßnahmen auf den Weg bringen, die nicht alle genau das Ziel treffen, dann ist das der Tatsache geschuldet, dass es sonst sehr lange dauern würde.
Lesen Sie auch: Studie des WZB – Gruselige Bilanz bei Corona-Bildungshilfen
Wie weit oben auf Ihrer Agenda steht bei Ihnen eigentlich eine Reform der doch sehr schwerfälligen KMK-Strukturen?
Ich bin 2011 ins Amt gekommen. Wenn ich zurückblicke, haben wir heute eine ganz andere Kultusministerkonferenz.
Das müssen Sie erklären.
In den letzten Jahren haben wir in der KMK viel regelmäßiger aktuelle brisante Themen – wie die Corona-Pandemie oder die Energiekrise – kontrovers diskutiert und mit Beschlüssen in erstaunlicher Einigkeit begleitet. Vorher war das eine ritualisierte Sitzung, die teils Monate vorher geplant war. Diese politische Aktualität ist ein großer Gewinn – auch für die Diskussionskultur in der KMK. Dazu zählen auch neue Formate wie zum Beispiel der Kaminabend, wo nur die Ministerinnen und Minister ohne ihre Mitarbeiter offen diskutieren. Wir haben uns daneben entschlossen, klarere Beschlüsse zu fällen und uns weniger in Formelkompromisse zu flüchten. Ein Beispiel ist das ländergemeinsame Abitur mit identischen Abituraufgaben aus einem gemeinsamen Pool. So etwas hat es in den vergangenen 70 Jahren noch nie gegeben. Da sind wir erheblich weitergekommen.Dennoch braucht es eine Überarbeitung der KMK-Strukturen: Wir haben dort eine unübersichtliche Zahl von Gremien und Abläufen, bei der auch viele Minister den Überblick verlieren. Das ist ineffizient.
Wo genau wollen Sie die Strukturen entschlacken, damit es bei neuen Projekten nicht wieder Jahre und Jahrzehnte dauert?
Im Kreis der Kultusminister fällen wir Beschlüsse meist recht zügig. Ein Problem, das oft vergessen wird: In jedem Bundesland erschweren mächtige Interessensgruppen ländergemeinsame Positionen. Das kostet Zeit und unterminiert eine gemeinsame Linie in der Bildungspolitik.
Wäre da ein Staatsvertrag, ratifiziert durch die Länderparlamente, ein gutes Vehikel, um mehr Verbindlichkeit zu schaffen? Aktuell gibt es nur eine lose KMK-Vereinbarung zwischen den Landesregierungen.
Ein Staatsvertrag entfaltet in der Tat eine größere politische Kraft. Aber um diese Kraft zu gewinnen, braucht man 16 Parlamente. Nur wenige Optimisten in Deutschland glauben, dass 16 Landesparlamente in dem brisanten Thema der Schulpolitik gleichzeitig ein und demselben Staatsvertrag zustimmen würden. Es wäre verkürzt, umständliche und langsame Verhandlungen in der Schulpolitik nur den Kultusministern anzulasten.
Auf EU-Ebene werden regelmäßig Mehrheitsentscheidungen statt Einstimmigkeit gefordert. Wäre das nicht auch attraktiv für die KMK?
Haben Sie die Diskussion um die letzte Ferienregelung verfolgt? Bayern und Baden-Württemberg haben seit 70 Jahren das Privileg, sich die Ferienzeiten auszusuchen. Der Rest muss sich danach ausrichten. Viele Länder sind damit unzufrieden und haben fairere Regelungen angeregt. Sofort meldete sich der bayerische Ministerpräsident zu Wort und verkündete: “Wir machen nicht mit. Basta.” Das lässt tief blicken – und hat nichts mit der angeblich schwerfälligen Bürokratie der Kultusministerkonferenz zu tun.
Herr Rabe, vielen Dank für das Gespräch.
Seit über elf Jahren führt Ties Rabe die Hamburger Schulbehörde – und eckt dabei immer wieder mit klaren Positionen an. Der SPD-Politiker gilt als mächtiger Strippenzieher in der Kultusministerkonferenz, wo er die SPD-geführten Bundesländer koordiniert. Er studierte in Hamburg Religion, Deutsch und Geschichte auf Lehramt, arbeitete als Redakteur und Landesgeschäftsführer seiner Partei, bevor ihn Olaf Scholz 2011 zum Senator für Schule und Berufsbildung ernannte. Den Kontakt nach Berlin pflegt er weiter.
Es war ein Paukenschlag, der schon wenige Minuten nach Beginn des Table.Live-Briefings zum Thema Datenschutz ertönte. Lutz Hasse, Sprecher der “Arbeitsgemeinschaft Schule” der Datenschutzkonferenz, sagte zum Dauerthema Microsoft: “Die Datenschutzbeauftragten mehrerer Bundesländer wollen MS 365 verbieten.” Sie wollen dabei aber verhältnismäßig vorgehen und nicht so viel Staub aufwirbeln, so Hasse, der in Thüringen Landesdatenschutzbeauftragter ist. Seine Kollegen warteten nur noch auf den Office-365-Bericht einer AG Microsoft der Datenschutzkonferenz, um dann – je nach Votum – Maßnahmen zur Untersagung der Nutzung dieses Produkts zu ergreifen.
“Wenn sich bei den großen Playern wie Microsoft oder Google nichts ändert, wird es darauf hinauslaufen, dass in einigen Bundesländern für Schulen Ersatzprodukte von uns empfohlen oder auch angeordnet werden“, sagte Hasse weiter. Im Jahr 2020 war eine Abstimmung in der Datenschutzkonferenz mit 9:8 denkbar knapp ausgegangen. Neun Datenschützer aus Bundesländern hatten dafür votiert, dass eine datenschutzkonforme Verwendung von “Microsoft 365” derzeit nicht möglich sei, darunter der Präsident des Bayerischen Landesamts für Datenschutzaufsicht, das für die Microsoft Deutschland GmbH zuständig ist. Acht Landesdatenschutzbeauftragten waren anderer Ansicht. Hasse meinte nun, nach Lektüre und Diskussion des genannten Berichts “wird eine Abstimmung eindeutiger ausfallen.”
Dirk Thiede, der zweite Diskussionspartner beim Table.Live-Briefing, nannte dies eine typische Entscheidung der Datenschutzkonferenz, mit der Lehrer wenig anfangen könnten. Wenn nicht alle Landesdatenschützer die Produkte von Microsoft in Schulen untersagten, dann werde die Lehrerschaft Deutschlands weiter in Verwirrung zurückgelassen. Thiede, der selbst Lehrer und zugleich Datenschutzbeauftragter der Schulen für den Kreis Olpe ist, empfahl ein Modell wie in den Niederlanden. Dort hatte im Jahr 2018/-19 das Haager Justizministerium direkt mit Microsoft verhandelt – und Verbesserungen erzielt. Die Bundesregierung müsse mit Microsoft verhandeln, um so den Druck zu erhöhen.
Im Gespräch zwischen Hasse und Thiede wurde klar, dass es eine Zertifizierung von Clouds, Lernmanagement-Systemen und pädagogischen Anwendungen – den so genannten App-TÜV – so schnell nicht geben werde. “Wir könnten uns zusammensetzen, eine App basteln und sie dann vertickern”, sagte Hasse. Derzeit sei aber niemand in der Lage, diese Anwendung einer Vorabprüfung zu unterziehen. Allerdings gibt es das Projekt “Directions”, bei dem das KIT in Karlsruhe und die Universität Kassel zusammen eine Zertifizierung entwickeln. Lutz Hasse sagte, dass er bei Directions inzwischen beteiligt sei. Das BMBF fördert das Projekt, das bis 2027 läuft. Gleichzeitig verfolgen die Bundesländer ein Modell namens Educheck.Digital – das im Grunde das Gleiche macht.
Die Debatte über Datenschutz in der Schule geht auf Einladung von Lutz Hasse am 19. September in Erfurt weiter. Dort wird unter anderen Beth Havinga, die Direktorin der “European EdTech Alliance”, darüber sprechen, wie man mit Daten an Schulen künftig vernünftig umgehen kann. Christian Füller
In Bayern tritt nun ein, wovor bereits seit einiger Zeit Furcht herrscht: Lehrermangel. Wenige Tage vor Beginn des neuen Schuljahres reduzieren die Schulen Unterricht und Lehrangebot. Förderstunden sollen selbst in den Grundschulen für benachteiligte Schüler nicht mehr angeboten werden. Die Klassenleiter erteilen den Werkunterricht – damit dies nicht Fachlehrer tun müssen. Reihenweise werden Studierende und Pensionäre in die Klassenzimmer gerufen. Das berichtet Simone Fleischmann, die Präsidentin des BLLV. In einem Regierungsbezirk hätten 200 dorthin versetzte Lehrkräfte ihren Dienst nicht angetreten. “Die Situation ist wie in einem Streich-Konzert“, sagte Fleischmann. “Der Kultusminister hat zu Ferienbeginn einen Instrumentenkasten zur Verfügung gestellt, was alles zu streichen ist.”
Fleischmann sagte, es gehe noch nicht um ein flächendeckendes Problem. Gleichwohl gäbe es bestimmte Schulformen und Gegenden, in denen nur noch ein so genanntes Kernangebot an Fächern zu finden sei. Davon seien insbesondere Grundschulen und Mittelschulen (die früheren Hauptschulen) betroffen. “Bayern muss, wie andere Länder auch, die Unterrichtsversorgung zur Chefsache machen”, sagte Fleischmann. In einem Regierungsbezirk Bayerns habe bereits nach wenigen Tagen 80 Prozent der mobilen Reserve von Lehrkräften in den Unterricht gemusst. “Nur noch 40 Prozent der Lehrerschaft sind in manchen Schulen ausgebildete Profis“, sagte Fleischmann. Wenn Bayern seinem Anspruch als führendes Bildungsland in Zeiten des Lehrermangels halten wolle, müsse die Staatsregierung jetzt handeln.
Bereits im Juli berichtete Bildung.Table über interne Anweisungen an Schulämter, bei Unterricht, Förderkursen und AGs zu kürzen (“Die Mittelschule strauchelt“). “Solche Einschnitte haben Einfluss auf ganze Bildungsbiografien“, kritisiert nun die Landesvorsitzende der GEW Martina Borgendale. Warnende Worte der Bildungsverbände seien in den vergangenen Jahren “stets ungehört verhallt“.
Bis heute fehle der politische Wille, den Einstellungskorridor zu vergrößern und präventiv mehr Lehrer einzustellen. Das geht auch über die “Deckung des absoluten Basisbedarfes” hinaus. Trotz akuter Personalnot an Grund-, Mittel- und Förderschulen seien an Gymnasien von 1800 Bewerbern bis August nur 1200 eingestellt worden. “600 voll ausgebildete Gymnasiallehrkräfte stehen auf der Warteliste”, schreibt die GEW. Das sei fatal. Die Staatsregierung müsse allen Bewerbern sofort ein Angebot machen, um den problematischen “Zyklus aus Mangel und Überschuss” zu durchbrechen. Spätestens ab den Schuljahr 2025/2026, wenn das G9 in Bayern zurückkehrt, werde auch an den Gymnasien der Personalbedarf schlagartig steigen. Das weiß auch der Kultusminister. Christian Füller/Moritz Baumann