Analyse
Erscheinungsdatum: 16. Dezember 2024

Vertrauensfrage und Neuwahl: Warum der übliche Wahlkampf so verlockend und so problematisch ist

Der Kanzler hat die Vertrauensfrage erwartungsgemäß verloren, der Wahlkampf ist entbrannt. Was die Wenigsten in der hitzigen Plenardebatte bedacht haben: Die Neuwahl wird erneut ungleiche Partner zusammenführen, die sich irgendwie zusammenraufen müssen.

Der Bundeskanzler hat die Vertrauensfrage verloren, der Bundespräsident wird nun Neuwahlen ansetzen. So weit, so erwartungsgemäß. Die anschließende Debatte im Bundestag hat aber auch gezeigt, wie sehr sich die Parteien im aufziehenden Wahlkampf darin verfangen, worin sie seit Langem Übung haben: Sich selbst als Lösung aller Probleme anzubieten, alle anderen mit strenger Kritik zu belegen – und den Tag nach der Wahl am liebsten auszublenden. Ob Olaf Scholz oder Friedrich Merz, Christian Lindner,Alexander Dobrindt oder Anke Rehlinger, erst recht Alice Weidel und Sahra Wagenknecht: Sie alle stellten ihre politischen Ansätze in bestes Licht und attackierten den politischen Kontrahenten. Der Kanzler versprach, das Land vor politischen Hasardeuren zu schützen. Der Oppositionsführer warf der SPD vor, in 22 Jahren Regierungsjahren komplett versagt zu haben. Der FDP-Chef sprach der Restampel das Misstrauen aus und das Duo Wagenknecht/Weidel ließ sowieso kein gutes Haar an allen anderen.

Das Ergebnis: Kaum ein Redner ging darauf ein, dass dieser Tag auch das Scheitern einer Koalition der Mitte besiegelte. Einer Koalition, die unter schwierigen Bedingungen den Versuch unternommen hatte, sehr unterschiedliche Positionen zu überbrücken, um die Attacken von Populisten und Rechtsextremisten abzuwehren. Und nur zwei, Rolf Mützenich und Robert Habeck, erinnerten daran, dass die bevorstehende Wahl sehr wahrscheinlich zu Verhältnissen führen wird, die genau das noch einmal duplizieren könnten: eine Koalition ungleicher Partner, die sich doch wieder – und im Idealfall unbedingt besser – zusammenfinden müssen.

Stattdessen war die große Mehrheit der Redner mit dem Abriss von Brücken beschäftigt. Man konnte studieren, wie kommod sich alle Parteiführungen eingerichtet haben, frei von Koalitionszwängen das zu sagen, was sie selbst für absolut richtig und bei den anderen für absolut falsch halten. Dabei zeigte sich, dass der Bundestag anders als früher nicht mehr in zwei, sondern in drei Blöcke gespalten ist: Union und FDP, SPD und Grüne, und dazu BSW und AfD als populistisch-extremistische Kritiker von Links und Rechts. Wer genau hinsah, musste zur Kenntnis nehmen, wie tief verwurzelt die alte, wahlkampf-übliche Rhetorik ist. Nur dass sie mit einiger Wahrscheinlichkeit zu immer komplizierteren Konstellationen führt.

Merz ließ immerhin erkennen, dass er das nicht ganz vergessen hat. Nicht in der Debatte, aber bei einem Pressegespräch danach. Nimmt man die aktuellen Umfragen, nach denen er auch am 23. Februar vorne liegen könnte, wird es von Tag eins an zuallererst an ihm liegen, ob, wie und mit wem er eine neue Regierung bildet. Hohe Ansprüche dazu hat er schon formuliert: Die nächste Regierung, so sagte Merz mehrfach, müsse bis 2029 Erfolge liefern. Sonst stehe das Land vor ganz anderen Herausforderungen. Er meinte damit die Populisten.

Nachdenklichere Töne kamen ansonsten eher von den Hinterbänken. „Wir haben das beste politische System, das ich kennenlernen durfte“, sagte der in Kamerun geborene Armand Zorn (SPD), der unter anderem in Frankreich, Italien und China gelebt hat, „weil es für Versöhnung statt Polarisierung sorgt“. Dazu brauche es aber auch „eine stete, ehrliche Suche nach Gemeinsamkeiten“. Parteien müssten kooperieren, „was Zugeständnisse und Kompromisse erfordert“. Ähnlich äußerte sich der fraktionslose Stefan Seidler vom Südschleswigschen Wählerverband. Er sagte: „In schwierigen Zeiten liegt es an uns, vernünftige Lösungen über die politischen Gräben hinweg zu finden.” Auch er warb für einen pragmatischen, lösungsorientierten Diskurs: „Als demokratische Abgeordnete müssen wir immer kompromissfähig sein.“

Frank-Walter Steinmeier kann nach der verlorenen Vertrauensfrage nun das Parlament auflösen und Neuwahlen ansetzen. Er will vorher mit den Fraktionschefs des Bundestages sprechen – womöglich auch über deren Verantwortung am Tag nach der Bundestagswahl.

Noch 207 Abgeordnete sprachen Scholz in der namentlichen Abstimmung das Vertrauen aus. Alle anwesenden SPD-Abgeordneten stimmten für den Kanzler, dazu auch Verkehrs- und Justizminister Volker Wissing, die AfD-Abgeordneten Christina Baum, Edgar Naujok und Jürgen Pohl sowie die fraktionslosen ehemaligen AfDler Robert Farle und Thomas Seitz. Union, FDP, BSW und Linke stimmten geschlossen gegen Scholz. Die Grünen und Ex-AfD-Chef Alexander Gauland enthielten sich.

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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