Olaf Scholz meint es ernst – jedenfalls damit, Zeit zu gewinnen. Vor Mittwochabend, so heißt es aus Koalitionskreisen, wird es trotz der heftigen Spannungen keine Entscheidung über die Zukunft der Ampel geben. In einer Woche der Entscheidungen wird sich am Abend nach der US-Wahl der Koalitionsausschuss treffen – und dann wohl über alles reden. Auch über das eigene Weiterleben. Bis dahin hat der Kanzler also Zeit gewonnen, um mit Christian Lindner und Robert Habeck zu sprechen. Lindner soll bereits am Sonntagabend kurzfristig zu einem Treffen mit Scholz ins Kanzleramt gekommen sein; an diesem Montag sollen alle drei zusammentreffen, heißt es.
Der Kanzler sieht noch immer eine Chance zum Brückenbau. Und das, obwohl die Liberalen ein Papier vorgelegt haben, das eher wie der Versuch wirkt, Brücken niederzureißen. Auf 18 Seiten kombiniert der FDP-Finanzminister darin eigene Ideen zur Rettung der Wirtschaft mit einer scharfen Ablehnung sozial- und klimapolitischer Überzeugungen seiner Koalitionspartner. Lindner fühlt sich damit in einer Reihe mit Habeck, der vor wenigen Tagen einen großen Investitionsvorschlag unterbreitete. Deshalb wehrt sich der Finanzminister auch gegen die Kritik, er wolle nur das Ende der Koalition heraufbeschwören. Und doch gibt es einen Unterschied zu Habecks Vorstoß: Der Grünen-Minister listete auch Dinge auf, die ihm und seinen Grünen weh tun, aber in der Ampel bei der Konsensfindung helfen könnten. Lindner dagegen formuliert vor allem Ziele, die FDP-Überzeugungen widerspiegeln. Überzeugungen, die konträr sind zu den wirtschaftspolitischen Ideen von SPD und Grünen.
Im Umfeld Lindners wird darauf hingewiesen, dass man das Papier vertraulich nur an das Kanzleramt und an das Wirtschaftsministerium geschickt habe, um auf dieser Grundlage zu beraten. Denn: Die Vorschläge seien mit konkreten Finanzierungsideen hinterlegt. Vor allem das Regulierungsmoratorium, die Reduktion der EU-Berichtspflichten und eine breite Steuersenkung für kleine und mittlere Unternehmen durch die vollständige Abschaffung des Soli seien Lindner wichtig, hieß es. Die Unternehmenssteuern in Deutschland seien „unerträglich hoch“. Ifo-Chef Clemens Fuest lobte, das Papier enthalte notwendige Schritte, um wieder auf Wachstumskurs zu kommen.
Beim Klima stellt Lindner die bisherige Politik der Ampel komplett infrage. Das Ziel der Klimaneutralität, das schon die Groko für 2045 festgelegt hat, will er auf 2050 verschieben, die nationalen Zwischenziele und die Sektorziele komplett streichen. Die Vorgaben für klimafreundliche Heizungen, um die die Koalition lange gerungen hatte, sollen deutlich aufgeweicht werden und die sozial gestaffelte Förderung für neue Wärmepumpen komplett gestrichen – ebenso wie die EEG-Vergütung für neue Ökostrom-Anlagen und die Klimaschutzverträge, die bei der Industrie auf große Zustimmung gestoßen sind. Das alles sei aufgrund des Emissionshandels künftig nicht mehr nötig, argumentiert Lindner. Auf EU-Ebene fordert das Papier die Abschaffung der Flottengrenzwerte und der Effizienzziele.
Das sorgt nicht nur bei Umweltverbänden für Entsetzen. Die Vorschläge seien „eine Kampfansage an die deutsche Wirtschaft, die sich schon längst auf den Weg Richtung klimaneutrale Zukunft gemacht hat und Planungssicherheit braucht“, meint etwa Umwelthilfe-Geschäftsführer Sascha Müller-Kraenner. Die Klimaneutralität im Jahr 2045 aufzugeben, geht auch dem stellvertretenden CDU-Vorsitzenden Andreas Jung zu weit. Korrigiert werden müssen der „falsche Weg“ beim Klimaschutz, „nicht das Klimaziel“, sagte er Table.Briefings. „Der Klimaschutz bleibt dringlich, muss aber mit einer starken Wirtschaft und mit sozialer Akzeptanz zusammengebracht werden.“
Doch so sehr sich Lindner von den Grünen abgrenzt – den Kanzler braucht er für die Fortsetzung einer Koalition. Aber auch für Scholz macht Lindner Kompromisse schwer, denn das Papier stellt das Tariftreuegesetz ebenso in Frage wie die bisherigen Rentenpläne. Zwei Themen, die von der SPD-Spitze als unverzichtbar erklärt wurden. Entsprechend erwartbar war das laute Nein aus der Parteiführung, was die FDP nicht überrascht hat. Für Scholz macht all das den Spielraum für eine Einigung schwer.
Die Ampel geht in eine Woche, in der nur der FDP-Chef in den eigenen Reihen unangefochten ist. Und es spricht viel dafür, dass Lindner genau das einkalkuliert hat. Er weiß darum, wie sehr Habeck und die Grünen noch um Aufstellung und Ziele ringen. Und er kann voraussehen, welche Debatten um ganz neue Investitionspakete und Waffenhilfen für die Ukraine ausbrechen, sollte in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch Donald Trump noch einmal US-Präsident werden. Seine Position wollte Lindner deshalb vorher platzieren. Politisch hat das nur einen Haken: Der Finanzminister hat sich so deutlich festgelegt, dass schon kleine Abstriche von seiner Analyse schwer zu erklären sein werden.