Frau Laasi-Õige, ab September startet Estland mit dem Programm „AI Leap“ eine landesweite KI-Bildungsinitiative. Was ist das Ziel?
Mit „AI Leap” wollen wir unseren Schulen maßgeschneiderte KI-Lösungen bieten. Ursprünglich wollten wir dafür alle Zehnt- und Elftklässler und später weitere Klassen mit Tablets inklusive installierter Software versorgen. Von der Idee der 1:1-Ausstattung haben wir uns jetzt unter anderem wegen ökologischer Bedenken verabschiedet.
Woran wir festhalten, sind Fortbildungen und Workshops für alle Lehrkräfte. Außerdem gibt es in allen Kindergärten und Schulen Bildungstechnologen, also Lehrer mit IT-Ausbildung, die vor Ort unterstützen.
Ist es für Sie also auch denkbar, dass die Schüler ihre privaten Geräte verwenden?
Wir wollen gemeinsam mit den lokalen Behörden sicherstellen, dass alle Zugang zu Geräten haben. Das können Schulgeräte, aber auch private Geräte sein. Aktuell halten wir das für unproblematisch. Wir verschaffen uns aber gerade noch ein genaueres Bild, wo es noch Lücken gibt und welche Schüler bisher keinen Zugang zu Geräten haben.
Sollen KI-Kompetenzen künftig stärker Teil des Lehrplans werden?
Digitale Kompetenzen sind seit 2010 im Curriculum festgeschrieben. Digitale Bildung findet bereits in unseren Kindergärten statt und ist in unseren Schulen schon lange angekommen. In Kindergärten wird mit Robotik experimentiert und in Schulen wird darüber diskutiert, wie gutes Prompten in die Bewertung einfließen kann. Bisher haben wir das aber noch nicht auf staatlicher Ebene koordiniert.
AI Leap soll einen Mehrwert schaffen, indem KI-Anwendungen genau auf die Lehr- und Lernbedürfnisse angepasst sind. Das wollen wir mit Firmen wie Open AI und Google umsetzen.
Werden Sie Prüfungsformate angesichts von KI ändern?
Ich denke, viele Lehrer haben die Art und Weise, wie sie bewerten, bereits überdacht und sich etwa von schriftlichen Hausarbeiten verabschiedet.
Die große Abschlussprüfung am Ende der neunten Klasse findet bei uns aber immer noch auf recht altmodische Weise statt. Unser Ziel ist es, all diese Prüfungen innerhalb der nächsten zwei Jahre zu digitalisieren. Auch die Frage, wie wir bewerten und Prüfungen aufbauen, wollen wir überdenken.
Zum neuen Schuljahr startet nicht nur die KI-Initiative, auch viele andere Reformen treten in Kraft. Sowohl für die frühkindliche, die allgemeine als auch die berufliche Bildung gibt es neue nationale Bildungspläne. Was wollen Sie damit erreichen?
Wir versuchen die Lernergebnisse und den Zweck unterschiedlicher Bildungsstufen zu reformieren. Estnische Kinder und Jugendliche sollen mit allen Fähigkeiten ausgestattet werden, um aktiv an der Gesellschaft und dem Arbeitsmarkt teilhaben können. Dabei geht es uns sowohl um kognitive als auch um praktische Fähigkeiten, die ihnen helfen, ein erfolgreiches und würdevolles Leben zu leben.
Wie wollen Sie Kinder in Zukunft besser vorbereiten?
Es gibt vieles, auf das wir bereits bauen können: 89 Prozent aller Kinder besuchen den Kindergarten. Sie werden dort einerseits auf die Schule vorbereitet, lernen aber auch soziale und digitale Fähigkeiten. Mein Sohn geht in den Kindergarten und ich kann jeden Tag über ein digitales Tagebuch Fotos und Feedback sehen und womit er sich beschäftigt hat.
Mit der Reform steigen die Anforderungen an Vorschulbetreuer, um die Qualität weiter zu verbessern. Außerdem gibt es jetzt einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz in der Kommune der Familie. Wir stecken viel Geld in unsere frühkindliche Bildung, aber ich bin überzeugt, das zahlt sich aus.
Trotzdem hat Estland mehr NEETs, also junge Erwachsene weder in Ausbildung noch Arbeit, als der EU-Durchschnitt. Das Problem haben wir in Deutschland auch. Wie wollen Sie Jugendliche besser mitnehmen?
Schulbildung ist in Estland aktuell bis zur neunten Klasse oder bis zum 17. Lebensjahr verpflichtend. Wir sehen aber, dass ein wachsender Anteil an Schülern nach dieser verpflichtenden Schulzeit ihren Bildungsweg nicht fortsetzt. Und viele werden wegen ihres Alters entlassen, bevor sie einen Schulabschluss haben. Das wollen wir nicht länger als nationales Minimum für grundlegende Bildung akzeptieren. Ein Teil unserer Antwort darauf ist, die Schulpflicht bis zum 18. Lebensjahr zu verlängern.
Wir haben aber auch versucht, zu verstehen, warum unsere Basisbildung nicht für alle Schüler gleichermaßen passend ist. Eine Erkenntnis ist: Wir haben ein sehr stark standardisiertes Curriculum. Zwar gibt es in Estland inklusive Bildung mit spezieller Förderung. Aber alle anderen Schüler müssen das Gleiche machen. Es gibt keine individualisierten Bildungswege.
Und das soll sich ändern?
Ja. Viele Schüler gehen zur Schule ohne Fortschritte zu machen. Wir brauchen mehr Individualisierung basierend auf Interessen, Kompetenzen und Zielen. Wir sehen, dass unser System für Jungs nicht so passend ist wie für Mädchen.
Bis 2028 wollen wir ein neues Curriculum, unser „Zukunftscurriculum“ erarbeiten. Alle möglichen Stakeholder wie Schulen, Eltern, Schülervertretungen sind daran beteiligt. Sobald es einen fertigen Entwurf gibt, wird eine öffentliche Diskussion darüber stattfinden.
Wie sollen die Bildungswege individueller werden?
Wir wollen unter anderem die formale und die informelle Bildung stärker verbinden. Unsere Schüler können viele Hobby-Kurse besuchen. Wenn wir sehen, jemand ist besonders talentiert im Bereich MINT oder Robotik, sollte das berücksichtigt werden können.
Wollen Sie dafür stärker auf datengestützte Unterrichtsentwicklung setzen?
Ja, das ist etwas, was wir ausbauen möchten. Lehrkräfte sollten wissen, wie Schüler in den Hobby-Kursen abschneiden. Und auch die Kommunen brauchen mehr Daten über die Bildungsverläufe. Mit der längeren Schulpflicht haben sie künftig länger Verantwortung für die Schüler und müssen wissen, welche Anschlussangebote, für die jungen Erwachsenen passend sein könnten.
In Europa gilt Estland oft als Bildungsvorreiter. Überwiegen für Sie trotzdem die Reformbedarfe?
Natürlich sind wir sehr glücklich über unsere guten PISA-Ergebnisse. Aber wir können uns nicht auf dieser Erfolgsgeschichte ausruhen. Wir müssen auch auf die Faktoren achten, die uns Sorge bereiten. Zum Beispiel, wie glücklich unsere Schüler in der Schule sind.
Es geht um mehr Fähigkeiten als gute Mathematik-Kenntnisse. Wir wollen alle PISA-Ergebnisse berücksichtigen und Verbindungen erkennen. Nur so können wir in unseren starken Bereichen an der Spitze bleiben und in den schwächeren Kategorien stärker werden.
Das Interview in englischer Version finden Sie hier.