morgen ist es so weit: Der erste EU-Gipfel ohne Angela Merkel und mit Olaf Scholz steht an. Klar ist: Der Bundeskanzler wird in Brüssel unter besonderer Beobachtung stehen, denn so manche Pläne der neuen deutschen Regierung sorgten in den Nachbarstaaten für Irritationen – zuletzt die Weiterentwicklung der EU zu einem “föderalen europäischen Bundesstaat”. Till Hoppe analysiert, wie sich Scholz zu den drei prominentesten Themen des Gipfels – Energiepreise, Taxonomie und Ukrainekrise – verhalten dürfte.
Nachdem die Europäische Kommission bereits gestern ihre Vorschläge zur Modernisierung des Verkehrssektors vorgestellt hat – nachzulesen in den News – soll heute die Neufassung der Gasmarkt-Regularien folgen. Mit einem neuen Rechtsrahmen für Wasserstoff und andere “kohlenstoffarme Gase” will die Institution das europäische Gasnetz in Einklang mit den Green-Deal-Zielen bringen. Warum Umweltschützer überzeugt sind, dass das so nicht gelingen kann und wo die Streitpunkte liegen, hat Timo Landenberger analysiert.
Im Europäischen Parlament hat der niederländische Renew-Abgeordnete Jan Huitema seinen Berichtsentwurf für die Überarbeitung der CO₂-Flottengrenzwerte für Pkw vorgelegt. Die Verhandlungen im ENVI-Ausschuss sollen nächste Woche starten. Dass die Suche nach einem mehrheitsfähigen Kompromiss nicht leicht wird, zeigen die Reaktionen der anderen politischen Lager. Huitema will die CO₂-Reduktionsziele für Neuwagen verschärfen, Jens Gieseke von der EVP bezeichnet das als “realitätsfremd”. Lukas Scheid analysiert den Entwurf und zeigt Konfliktlinien auf.
Miteinander gesprochen haben Olaf Scholz und Mark Rutte bereits, am Montag beim Antrittstelefonat des neuen Bundeskanzlers. Am heutigen Mittwoch wird Scholz die Gelegenheit haben, seinen niederländischen Kollegen persönlich zu sprechen und ihm zur erfolgreichen Regierungsbildung zu gratulieren, nach dessen neunmonatigen Koalitionsgesprächen. Dann treffen der dienstjüngste und der dienstälteste Regierungschef in der EU in Brüssel zusammen: zunächst bei einem Gipfeltreffen mit den Staaten der Östlichen Partnerschaft, am Donnerstag dann zu einem regulären Europäischen Rat.
Es ist Olaf Scholz’ erster Auftritt im Kreis der EU-Staats- und Regierungschefs. Das Interesse am neuen deutschen Bundeskanzler nach 16 Jahren Angela Merkel dürfte groß sein. Auch, weil manche der Pläne der Ampel-Koalitionäre anderswo für Irritationen gesorgt haben. Das Plädoyer im Koalitionsvertrag für eine Weiterentwicklung der EU zu einem “föderalen europäischen Bundesstaat” (Europe.Table berichtete) sorgte nicht nur bei Scholz’ Antrittsbesuch in Polen für Fragen, sondern eben auch in den Niederlanden. Die Wähler dort hatten die geplante europäische Verfassung 2005 in einem Referendum abgelehnt, weitere Integrationsschritte sind bis heute schwer zu vermitteln.
Wie sehr sich Scholz bei seiner Premiere im Auftreten von seiner Vorgängerin unterscheidet, muss sich noch zeigen. An den deutschen Positionen, so viel ist absehbar, ändert sich vorerst wenig. Der Gipfel wurde weitgehend von dem erprobten Team vorbereitet. Jörg Kukies, der neue Wirtschafts- und Europa-Staatssekretär im Kanzleramt (Europe.Table berichtete), hat erst gestern Vormittag seine Berufungsurkunde erhalten. Auch der neue außenpolitische Berater Jens Plötner ist ganz frisch im Amt.
In der Diskussion um die hohen Energiepreise, absehbar eines der Hauptthemen des Gipfels, steht die Bundesregierung auf ihrem bekannten Standpunkt: Markteingriffe halte man “derzeit für nicht notwendig”, heißt es in Berliner Regierungskreisen. Die aktuell hohen Gaspreise hätten fundamentale Gründe, eine weltweit gestiegene Nachfrage und ein begrenztes Angebot. Untersuchungen der europäischen Aufsichtsbehörden Acer und ESMA hätten keine Hinweise auf Manipulationen an den Strommärkten oder im Europäischen Emissionshandelssystem ergeben. Auch hätten die russischen Erdgaslieferanten alle vertraglichen Vereinbarungen erfüllt.
Etliche andere Regierungen wollen die heftigen Preisanstiege hingegen nicht einfach hinnehmen. Frankreich und rund zehn weitere Mitgliedsstaaten sehen strukturelle Ursachen für die hohen Preise und verlangen entsprechende Änderungen, etwa am europäischen Strommarktdesign. Paris hatte dazu vor gut zwei Wochen konkrete Vorschläge eingereicht (Europe.Table berichtete), die vor allem Endkunden entlasten sollen.
Im Oktober hatten die Staats- und Regierungschefs schon einmal über das Thema diskutiert, ohne die Differenzen zwischen den beiden Lagern zu überbrücken. Viel ergiebiger dürfte die zweite Diskussion am Donnerstag kaum werden. Im Entwurf der Schlussfolgerungen wird die EU-Kommission beauftragt, “die Untersuchung der Funktionsweise der Strommärkte sowie die Überwachung des Handels im Rahmen des EU-EHS zu vertiefen und angemessene Folgemaßnahmen zu ergreifen”. Zudem wolle man die Lage beobachten und sich “gegebenenfalls erneut mit dieser Angelegenheit befassen”. Mit dem Ende der Heizperiode in Europa aber dürften nach Ansicht der meisten Experten auch die Preise wieder sinken.
Damit dürfte auch die Inflation nachlassen, die derzeit etlichen Mitgliedstaaten zu schaffen macht. Davon geht jedenfalls EZB-Chefin Christine Lagarde bislang aus, die die Gipfel-Teilnehmer direkt nach der Sitzung des EZB-Rates informieren wird. Doch auch unter den Regierungen breiten sich Zweifel aus, dass die hohen Teuerungsraten so vorübergehend sind wie zunächst angenommen.
Am Rande des Gipfels dürfte auch darüber diskutiert werden, wie Atomkraft und Erdgas in der EU-Taxonomie für nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten eingestuft werden sollen. Dass das Thema dort bilateral besprochen werden dürfte, wird in Berliner Regierungskreisen zwar nicht offiziell bestätigt. Aber Olaf Scholz und Co bemühen sich nach Berliner Lesart derzeit, “in sehr intensiven Gesprächen” mit Paris, anderen EU-Partnern und der EU-Kommission den ideologisch aufgeladenen Streit zu entschärfen.
Frankreich drängt darauf, dass die Kommission den entsprechenden delegierten Rechtsakt noch vor Jahresende vorlegt, inklusive eines grünen Labels für die Atomkraft. Der nationale Energiemix sei Sache der einzelnen Mitgliedstaaten, heißt es im Élysée-Palast, “und wir hoffen, dass Deutschland unsere Entscheidung für die Kernenergie nicht infrage stellt“. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen plant bislang, den Rechtsakt am 22. Dezember vorzustellen. Allerdings könnte der Termin wohl noch ins neue Jahr wandern, wenn die Verhandlungen sich hinziehen – denn von der Leyen würde es gerne vermeiden, Berlin oder Paris vor den Kopf zu stoßen (Europe.Table berichtete).
Kontinuität walten lässt Olaf Scholz auch bei einem anderen EU-Streitthema: Nord Stream 2. Der SPD-Politiker will das Thema heraushalten aus der Diskussion, wie die EU auf den Aufmarsch russischer Truppen an der Grenze zur Ukraine reagieren sollte. Jegliche Aggression Moskaus werde “sehr ernsthafte politische und wirtschaftliche Konsequenzen” zur Folge haben, heißt es zwar in Kreisen der Bundesregierung. Nord Stream 2 bezieht man dabei aber ausdrücklich nicht ein. Das Pipeline-Projekt des russischen Gazprom-Konzerns befinde sich in einem – derzeit ohnehin ausgesetzten – ordentlichen Genehmigungsverfahren, daher gebe es keinerlei politischen Entscheidungsbedarf.
Die Staats- und Regierungschefs dürften es beim Gipfel bei starken Worten in Richtung Moskau belassen: “Jede weitere militärische Aggression gegenüber der Ukraine wird massive Konsequenzen und erhebliche Kosten nach sich ziehen”, heißt es im Entwurf der Gipfelerklärung. Konkreter aber will man momentan nicht werden – laut Diplomaten sind derzeit keine Sanktionsbeschlüsse geplant.
Mit einer Neufassung der Gasmarktrichtlinie sowie der Netzzugangsverordnung will die EU-Kommission den europäischen Gasmarkt auf die Ziele des Green Deals ausrichten, die Versorgungssicherheit garantieren und die Importabhängigkeit verringern. Heute wird die Brüsseler Behörde ihre Pläne offiziell vorstellen. Die Entwürfe kursieren jedoch bereits seit einigen Tagen und sorgen für Kontroversen.
Mit dem Gaspaket will die Kommission den Weg zu einer klimafreundlicheren Energieversorgung ebnen, indem beispielsweise kohlenstoffarme Gase in den Netzen bessergestellt werden. Dafür sehen die Entwürfe die Einführung eines EU-weiten Zertifizierungssystems vor (Europe.Table berichtete). So sollen die Mitgliedstaaten verschiedene Optionen der Dekarbonisierung vergleichen und in ihrem Energiemix als praktikable Lösung in Betracht ziehen können. Der Fokus liegt bei der Klassifizierung als low carbon fuels auf blauem Wasserstoff. Blauer Wasserstoff wird zwar aus Erdgas hergestellt, das dabei entstehende Kohlendioxid wird jedoch aus der Luft abgeschieden und gespeichert (Carbon Capture and Storage, CCS).
Markus Pieper, energiepolitischer Sprecher der CDU/CSU im EU-Parlament begrüßt den Kommissionsvorschlag. Dass die Behörde low-carbon-Lösungen wie blauen Wasserstoff zulassen will, sei ein gutes Zeichen, sagte der Europaabgeordnete zu Europe.Table. Insbesondere für die Übergangszeit, bis ausreichend Erneuerbare Energien zur Verfügung stehen, sei der Einsatz von Erdgas-basierten Technologien unverzichtbar. Das gelte insbesondere für Deutschland, das gleichzeitig aus der Kohle- und Kernenergie aussteigen will. Daneben gelte es, möglichst schnell einen Markthochlauf für Wasserstoff zu generieren, wofür wiederum ausreichend davon verfügbar sein müsse. Das könne nur garantiert werden, wenn auf die verschiedenen Farben von Wasserstoff zurückgegriffen werde.
Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) hingegen kritisiert das Paket scharf. Dieses sehe weder einen Erdgas-Ausstieg noch eine klimafreundliche Wasserstoff-Infrastruktur vor und stehe deshalb im Widerspruch zu den EU-Klimazielen. DUH-Geschäftsführer Sascha Müller-Kraenner nennt die Vorschläge ein “frühes Weihnachtsgeschenk an die Gasindustrie”. Auch für Michael Bloss, klimapolitischer Sprecher der Grünen im EU-Parlament, ist der “Hype ums Gas brandgefährlich”. Mit den Kommissionsvorschlägen werde das fossile Zeitalter verlängert und Anreize zu Fehlinvestitionen würden geschaffen.
Der Europaabgeordnete kritisiert den Plan der Kommission, Beimischungen von Wasserstoff (sogenanntes blending) ins bestehende Erdgas-Netz zu ermöglichen. Was wie ein sinnvoller Beitrag zum Klimaschutz klingt – schließlich wird durch die Einspeisung von Wasserstoff in die Verteilernetze kohlenstoffarme Energie überall verfügbar gemacht – lässt Umweltschützer aufschrecken. Auch Müller-Kraenner bemängelt: dadurch werde der nur begrenzt verfügbare “Wasserstoff zur Beheizung von Gebäuden verschwendet, obwohl es hier günstige Alternativen wie Wärmepumpen gibt. Für den Klimaschutz bringt das fast nichts”.
Einer Studie des Thinktanks Agora Energiewende zufolge ist eine Beimischung von bis zu 20 Prozent möglich, ohne dass eine grundlegende Überholung des Gasnetzes und der Haushaltsgeräte nötig wird. Das sei aber deutlich zu wenig, um die EU-Klimaziele zu erreichen, würde die Emissionen lediglich um sieben Prozent reduzieren und für einen enormen Anstieg des Gaspreises sorgen. Nicht zuletzt, da die Gasindustrie die Mehrkosten auf die Konsumenten umlegen kann.
Müller-Kraenner bezeichnet es als “geradezu paradox, dass die Haushaltskunden die Wasserstoffnetze auch noch bezahlen sollen, obwohl sie außer hohen Kosten nichts davon haben.” Die DUH fordert deshalb den Aufbau einer separaten und dezentralen Infrastruktur für grünen Wasserstoff, um gezielt jene Sektoren zu dekarbonisieren, für die eine Elektrifizierung nicht möglich ist.
Der Bundesverband der deutschen Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) lehnt eine Konzentration der Anwendung auf die Industrie ab und begrüßt den Schritt der Kommission: “Nur ein möglichst breiter Ansatz garantiert einen umfassenden Markthochlauf, stetig wachsende Beiträge zum Erreichen der Klimaschutzziele sowie die Zukunftsfähigkeit der Gasinfrastruktur. Der Wärmebereich muss daher endlich vollumfänglich als Anwendungsfeld für Wasserstoff anerkannt werden”, sagt ein BDEW-Sprecher zu Europe.Table.
Michael Bloss hingegen spricht von neuen fossilen Abhängigkeiten, “die uns angesichts der explodierenden Energiepreise teuer zu stehen kommen”. Die Gaslieferanten der EU könnten “sich die Hände reiben” und ihre Staatskassen füllen. Dabei will die EU-Kommission mit dem neuen Gaspaket explizit auch dem Problem der Importabhängigkeit sowie der hohen Energiepreise begegnen. So sehen die Entwürfe vor, langfristige Erdgas-Importverträge nicht über das Jahr 2049 hinaus zu verlängern, was insbesondere den Hauptlieferanten Russland hart treffen dürfte.
Auch Maßnahmen zur Stärkung der Versorgungssicherheit sind vorgesehen, darunter Ansätze für die Gasspeicherung und zur Gewährleistung möglichst hoher Füllstände zu Beginn der Heizperioden. Daneben hatte die Kommission bereits angekündigt (Europe.Table berichtete), im Rahmen des Pakets gemeinsame strategische Gaseinkäufe auf freiwilliger Basis und durch regulierte Netzbetreiber ermöglichen zu wollen.
Berichterstatter:innen in den Ausschüssen des EU-Parlaments haben häufig eine enorm undankbare Aufgabe. Sie bereiten den Boden für eine Einigung zwischen Kommission und Parlament. Dabei müssen sie die Vorschläge der Kommission in einem eigenen Berichtsentwurf bewerten, kommentieren und gegebenenfalls korrigieren. Anschließend geraten sie allerdings nicht selten selbst ins Kreuzfeuer der Schattenberichterstatter:innen und deren Fraktionen, denen der Bericht meist zu weit oder nicht weit genug geht.
Dieser Aufgabe hat sich der niederländische Renew-Politiker Jan Huitema im Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (ENVI) für einen Verordnungsvorschlag mit besonders viel Zündstoff angenommen. Huitema ist Berichterstatter im federführenden ENVI-Ausschuss für die Überarbeitung der CO2-Grenzwerte für Pkw und Kleintransporter.
Im Sommer hatte die Kommission im Rahmen des Fit for 55-Pakets (Europe.Table berichtete) die neuen CO2-Grenzwerte ins Spiel gebracht. Der Vorschlag für die überarbeitete Verordnung ist der wichtigste Hebel der Kommission, um den noch immer steigenden Treibhausgasemissionen im Straßenverkehr Einhalt zu gebieten. Ab 2025 müssten die Emissionen der Neuwagenflotte 15 Prozent niedriger sein als im Vergleichsjahr 2021. 2030 müssten es 55 Prozent bei Pkw und 50 Prozent bei leichten Nutzfahrzeugen weniger sein. Ab 2035 dürften nur noch emissionsfreie Fahrzeuge zugelassen werden.
Huitema hat nun in seinem Berichtsentwurf vorgeschlagen, die Zwischenziele zu erhöhen und weitere hinzuzufügen:
Ab 2025: Reduzierung um
Ab 2027: Reduzierung um
Ab 2030: Reduzierung um
Das Ziel der Kommission, ab 2035 nur noch emissionsfreie Fahrzeuge zuzulassen, unterstützt er.
Huitema schlägt außerdem vor, bestimmte Anreize für Hersteller, emissionsfreie Fahrzeuge zu verkaufen, schon 2025 abzuschaffen. Die Kommission möchte, dass Hersteller bis 2030 über ein Crediting-System die Möglichkeit haben, ihre CO2-Emissionsreduktionsziele um bis zu fünf Prozent zu verringern, wenn sie sogenannte “Zero and low emission vehicles” (ZLEV) verkaufen. Das heißt: Besteht ein bestimmter Anteil von Neuwagenverkäufen aus E-Autos (BEV) oder Plug-in-Hybriden (PHEV), müssen Hersteller die Emissionen ihrer Neuwagenflotte im Durchschnitt weniger stark senken. Diese Anreize wurden von Umweltorganisationen als kontraproduktiv kritisiert: Sie würden die Wirkung von CO2-Grenzwerten schwächen, da sich Autohersteller den ZLEV-Bonus holen könnten und anschließend die Emissionen ihrer Neuwagen nicht so stark senken müssten.
Huitema teilt dieses Argument. Der Vorteil läge aus seiner Sicht darin, dass die Emissionen von PHEV in die Flottengrenzwerte miteinbezogen werden würden, statt dass ihre reine Verkaufszahl Hersteller zu einem ZLEV-Bonus verhilft. Huitema will außerdem die Betrachtung der Emissionen von PHEV überarbeiten: Die derzeitige Berechnung sei “irreführend”, da sie nicht auf repräsentativen Daten, sondern auf einer Schätzung beruht, wie groß der gefahrene Anteil im Batteriebetrieb ist. Huitema fordert, künftig das reale Fahrverhalten zugrunde zu legen. Hersteller wären dann angehalten, möglichst emissionsarme PHEV zu produzieren.
Mit dem Berichtsentwurf zur Verschärfung der CO2-Grenzwerte hat Huitema die Arbeitsgrundlage für den ENVI-Ausschuss geschaffen. Nun beginnt die Herausforderung, gemeinsam mit den Schattenberichterstatter:innen einen mehrheitsfähigen Bericht zum Kommissionsvorschlag zusammenzutragen. “Ein hartes Stück Arbeit”, prognostiziert Jens Gieseke von der EVP. Er bezeichnet Huitemas Entwurf als “realitätsfremd”. Mit scharfen Zwischenzielen ignoriere Huitema die “Entwicklungs- und Produktionszyklen der Hersteller und forciert ein schnelles Verbrenner-Aus”, so Gieseke zu Europe.Table. Er kritisiert zudem, dass sich sowohl Huitema als auch die Kommission in der Betrachtung von Emissionen nur auf das beschränken, was aus am Auspuff emittiert wird. Es müsse vielmehr um die Energieträger gehen, findet Gieseke und fordert, dass auch E-Fuels in einer technologieoffenen Betrachtung eine Rolle spielen sollten.
Bas Eickhout von den Grünen kommt von der anderen Seite des Meinungssprektrums. Ihm geht der Vorschlag nicht weit genug. Eine Verbrenner-Aus im Jahre 2035 passe nicht zum Klimaneutralitätsziel für 2050, wenn man zugrunde legt, dass fast die Hälfte der Autos länger als 15 Jahre auf der Straße bleiben. Zudem gebe es bereits mehrere Hersteller, die einen früheren Ausstieg anstreben. Die Verordnung sollte daher die “Vorreiter unterstützen und nicht die Nachzügler belohnen”, so Eickhout. “Wir werden uns daher für ein klares Null-Emissions-Ziel für neue Pkw und Kleintransporter im Jahr 2030 einsetzen, mit entsprechenden Zwischenzielen.”
Der Verkehrs- und Umwelt-Dachverband Transport and Environment (T&E) hatte eine realitätsnahe Betrachtung der PHEV-Emissionen gefordert, ebenso wie ein früheres Ende der ZLEV-Boni. Alex Keynes, Clean Vehicles-Manager bei T&E, begrüßt Huitemas Berichtsentwurf zur Verschärfung der CO2-Grenzwerte für Pkw und Kleintransporter deshalb. Jedoch bemängelt er, dass der Entwurf den Gewichtsanpassungsfaktor für das CO2-Ziel unangetastet lasse. Dieser gebe Autoherstellern geringere Ziele, wenn sie schwerere Fahrzeuge verkaufen, was den Absatz von emissionsintensiven SUVs und Plug-in-Hybriden fördert, so Keynes.
Der Verband der Automobilindustrie (VDA) dagegen ist gar nicht begeistert von Huitemas verschärften Zielen. Sie seien kontraproduktiv für die Planungssicherheit der Branche, erklärte ein VDA-Sprecher gegenüber Europe.Table: “Ziele zu verschärfen, ohne Rahmenbedingungen, Planbarkeit und Instrumente mitzudenken, wird den Herausforderungen der Transformation nicht gerecht.” Der große Anpassungsdruck bei den Automobilzulieferern und der notwendige Aufbau von Batterieproduktionen würden in Jan Huitemas Bericht nur “unzureichend adressiert”. Dass die EU die erforderlichen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen – darunter auch der Ausbau der Ladeinfrastruktur – mit den verschärften Zielen schaffen kann, sei nicht erkennbar. Besonders problematisch seien die angedachten zusätzlichen Zielverschärfungen noch vor und für das Jahr 2030, so der Sprecher.
Am 12. Januar soll der Entwurf im ENVI-Ausschuss diskutiert werden. Am 11. Mai folgt die Abstimmung im Ausschuss.
Das Europaparlament will große Digitalkonzerne dazu zwingen, Handynutzern Alternativen zu vorinstallierten Apps anzubieten. Die Abgeordneten stimmten am Dienstag mehrheitlich für einen entsprechenden Änderungsantrag zum Digital Marktes Act (DMA). Demnach könnte etwa Google dazu verpflichtet werden, den Nutzern nach der Inbetriebnahme eine Liste alternativer Suchmaschinen- oder E-Mail-Anbieter auf seinem Android-Betriebssystem anzuzeigen.
Das Europaparlament stimmt heute im Plenum über seine Verhandlungsposition für den anstehenden Trilog mit dem Rat zum Digital Markets Act ab. Bereits am Dienstag stimmten die Abgeordneten über Änderungsanträge zum Bericht von Berichterstatter Andreas Schwab (CDU) ab. Der vom Wirtschafts- und Währungsausschuss eingebrachte Antrag zur Ergänzung des Artikels 5 wurde dabei mehrheitlich angenommen.
Konkurrenten wie DuckDuckGo hatten darauf gedrungen, eine entsprechende Verpflichtung für sogenannte Gatekeeper-Plattformen in den Gesetzesakt aufzunehmen. Sie beklagen, dass Konzerne wie Google oder Apple eigene Anwendungen auf den Endgeräten vorinstallieren und damit die Konkurrenz benachteiligen. Nach dem Änderungsantrag zum Digital Markets Act sollen die Nutzer die vorinstallierten Apps auch später noch problemlos deinstallieren können. tho
Mehr E-Mobilität, eine bessere Rad-Infrastruktur und vor allem: schnellere und bessere Bahnverbindungen – insbesondere grenzüberschreitend. Am Dienstag hat die Europäische Kommission eine ganze Reihe an Vorschlägen und Zielen vorgestellt, um das Verkehrssystem der EU zu modernisieren. Zugreisen sollen attraktiver werden, nicht zuletzt durch die Vereinfachung des Fahrkartenkaufs bei mehreren Anbietern. Und auch der Gütertransport soll vermehrt auf Schiene und Wasserwege verlagert werden.
Daneben will die Kommission den Ausbau der Infrastruktur rund um E-Mobilität inklusive intelligenter Systeme beschleunigen. Ein weiterer Fokus liegt auf der Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs sowie der Infrastruktur für Fußgänger und Radfahrer in Städten. Mit ihren Vorschlägen will die Brüsseler Behörde dazu beitragen, die Emissionen im Verkehrssektor um 90 Prozent zu senken und in Einklang mit den Zielen des Green Deals zu bringen.
“Europas grüner und digitaler Wandel wird die Art und Weise, wie wir uns fortbewegen, stark verändern”, sagte Frans Timmermans, Vizepräsident der EU-Kommission, am Dienstag. Der Entwicklung will die Behörde Rechnung tragen und mit ihren Vorschlägen “die europäische Mobilität auf den Weg in eine nachhaltige Zukunft bringen”.
Dazu gehört die Überarbeitung der Richtlinie zu intelligenten Verkehrssystemen und die Modernisierung und Vervollständigung des transeuropäischen Verkehrsnetzes (TEN-T), das EU-weit grenzüberschreitende Verbindungen im Schienen- und Straßenverkehr sowie in der Schifffahrt umfasst. Begleitet wird der Vorschlag von einem Aktionsplan speziell für den Schienenpersonenverkehr. Der Marktanteil der Schiene liegt in der EU bei nur 7,8 Prozent des Gesamtverkehrs.
Demnach will die Kommission im kommenden Jahr einen Gesetzesentwurf vorlegen, der den Fahrkartenkauf erheblich erleichtern soll und auch die Prüfung einer EU-weiten Mehrwertsteuerbefreiung für Zugfahrkarten vorsieht. Außerdem will die Behörde Vorschläge zur Fahrplangestaltung und zum Kapazitätsmanagement erarbeiten, um schnelleren grenzüberschreitenden Schienenverkehr zu fördern.
Jens Gieseke, verkehrspolitischer Sprecher der CDU/CSU im EU-Parlament begrüßt die Pläne der Kommission. “Damit liegen nun fast alle Elemente auf dem Tisch, um die angestrebte Emissionsreduzierung im Verkehrsbereich nachhaltig, technologieneutral und sozial verträglich zu gestalten”, so der Europaabgeordnete, der als Berichterstatter im Transportausschuss den Initiativbericht des Parlaments zur Überarbeitung der TEN-T-Leitlinien verhandelt hat.
Auch die Fraktion der Grünen/EFA zeigt sich zufrieden, fordert jedoch weitere Schritte: “Der Aktionsplan darf nicht zum Papiertiger werden und muss mit konkreten Maßnahmen und Investitionen flankiert werden”, sagt die Europaabgeordnete Anna Deparnay-Grunenberg, Verhandlungsführerin des Parlaments für das “Jahr der Schiene”. til
Der Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz (IMCO) im Europaparlament hat am Dienstagmorgen mit großer Mehrheit seine Position zum Digital Services Act (DSA) verabschiedet. Dabei wurden alle Kompromissvorschläge der Berichterstatterin Christel Schaldemose (DK, S&D) angenommen.
Neben dem Kompromissvorschlag der Grünen/EFA, der Pornoplattformen besondere Sorgfaltspflichten auferlegen soll (Europe.Table berichtete), stimmten die Europaabgeordneten auch dem Änderungsantrag des Ausschusses für Industrie, Forschung und Energie (ITRE) zu. Dieser betrifft die Evaluation des DSA durch die Kommission (Artikel 73, Abs. 3), welche fünf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes vorgesehen ist. Der Ausschuss fordert, dass die Kommission bei der Bewertung “kleinen und mittleren Unternehmen sowie der Position von neuen Konkurrenten besondere Aufmerksamkeit schenkt”.
“Wir haben den Verbraucherschutz gegenüber dem Kommissionsvorschlag grundsätzlich gestärkt“, sagte Berichterstatterin Schaldemose nach der finalen Abstimmung zum Digital Services Act und verwies dabei unter anderem auf die zusätzlichen Sorgfaltspflichten für Online-Marktplätze. Verbraucherschützern geht das nicht weit genug. “Es ist ein wenig enttäuschend, dass der Ausschuss für Verbraucherschutz nicht mehr getan hat, um Verbraucher zu schützen”, teilt Ursula Pachl, stellvertretende Generaldirektorin des BEUC in einer Pressemitteilung mit.
Im Fokus der Kritik steht Artikel 16, der eine Ausnahmeregelung für Klein- und Kleinstunternehmen schaffen soll. Demnach könnten diese Unternehmen von der Pflicht ausgenommen werden, die Legalität von Anbietern und ihren Produkten überprüfen zu müssen (“Know Your Business Customer”-Prinzip). “Verbraucher sind beim Einkaufen auf kleinen Plattformen genauso gefährdet wie beim Einkaufen auf großen Plattformen”, so Pachl. koj
Die Entscheidung über den Standort der geplanten europäischen Chipfabrik von Intel zieht sich hin. “Wir planen, so bald wie möglich eine Ankündigung zu machen”, teilte eine Firmensprecherin der Nachrichtenagentur Reuters am Dienstag mit. “Gegenwärtig laufen die Verhandlungen noch und sind vertraulich.” Der ursprüngliche Plan von Intel-Chef Pat Gelsinger sah vor, einen Beschluss noch in diesem Jahr zu verkünden.
Deutschland rechnet sich gute Chancen auf den Zuschlag aus. Intel führt nach eigenen Angaben Gespräche mit Regierungsvertretern mehrerer EU-Länder. Letztlich will Gelsinger an einem Standort einen Komplex aus insgesamt acht Fabriken auf rund 500 Hektar bauen, wie er in einem Gespräch mit der “Frankfurter Allgemeine Zeitung” im September sagte. Jede einzelne der Chipfabriken kostet laut Intel-Chef Gelsinger zehn Milliarden Euro.
Als potenzielle Standorte in Deutschland wurden immer wieder Dresden, Penzing in Bayern und Magdeburg genannt. Das sächsische Wirtschaftsministerium wollte keine Stellung nehmen. Der Bürgermeister von Penzing, Peter Hammer, sagte, bislang habe Intel noch keinen Kontakt zu der Gemeinde aufgenommen. Als möglicher Standort in dem bayerischen Ort kommt ein Fliegerhorst infrage. Geklärt werden müsse der Platzbedarf von Intel, sagte Hammer: Der Fliegerhorst sei lediglich 270 Hektar groß. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder sagte, letztlich liege die Entscheidung bei dem Unternehmen. “Mir wäre es lieber, es geht nach Bayern.”
Für den Standort Eulenburg in Magdeburg stehen nach bisheriger Planung ebenfalls nur 350 Hektar zur Verfügung, zudem handelt es sich dort um wertvollen Ackerboden der besten Güteklasse. Allerdings wäre der Elbe-Standort bei den beiden wichtigen Punkten Energie- und Wasserverfügbarkeit besser aufgestellt als das bayerische Penzing und würde auf halber Strecke zwischen Wolfsburg und der neuen Tesla-Fabrik in Grünheide liegen.
Die EU-Kommission arbeitet gerade an einer Strategie, um die Unabhängigkeit der Union und die technologische Eigenständigkeit der hiesigen Chipbranche sicherzustellen und mit Subventionen zu fördern, im Rahmen sogenannter IPCEIs und dem für 2021 angekündigten Chips Act. Ähnlich verfahren auch die USA und China. Im Moment werden mehr als zwei Drittel aller modernen Halbleiter in Asien hergestellt. Neben dem US-Konzern Intel sind Taiwan Semiconductor Manufacturing Corporation (TSMC) und das koreanische Unternehmen Samsung Kandidaten für Chipfabriken in Europa. rtr/fst
Der schwedische Batteriehersteller Northvolt und die portugiesische Galp Energia wollen gemeinsam Bau und Betrieb einer Lithium-Ionen-Anlage in Portugal angehen. Mit einem Investitionsvolumen von rund 700 Millionen Euro soll die Fabrik 2026 in die kommerzielle Produktion gehen, wie Northvolt mitteilte.
Betrieben wird die Fertigung von dem Gemeinschaftsunternehmen Aurora, an dem Northvolt und Galp Energia jeweils 50 Prozent halten. Die Anlage mit rund 1500 Jobs soll mit einer anfänglichen Jahreskapazität von 35.000 Tonnen Lithiumhydroxid starten.
Northvolt, dessen größter Aktionär Volkswagen ist, kündigte an, das Werk in Portugal werde das größte seiner Art in Europa sein. Während China immer noch 80 Prozent der weltweiten Lithium-Ionen-Zellen produziert, will Northvolt es mit großen asiatischen Playern wie CATL und LG Chem aufnehmen. rtr
Ein vor kurzem veröffentlichter Bericht von Goldman Sachs kam zu einem überraschenden Ergebnis: In den letzten acht Jahren haben sich auf den Finanzmärkten die Kapitalkosten für groß angelegte, langfristige, CO2-intensive Investitionen in Sektoren wie Offshore-Öl und Flüssiggas erhöht. Bei Projekten im Bereich erneuerbare Energien weist die von Investoren geforderte Mindestrendite jedoch eine rückläufige Tendenz auf. Der Unterschied ist beträchtlich und entspricht implizit einem CO2-Preis von etwa 80 Dollar pro Tonne für neue Projekte im Erdöl-Bereich und 40 Dollar pro Tonne bei Flüssiggas-Projekten.
Die Kapitalmärkte scheinen – endlich – die Botschaft verstanden zu haben: CO2-intensive Investitionen sind mit einem erheblichen Risikoaufschlag behaftet. Diese Einsicht kam nicht aus heiterem Himmel. Sie ist vielmehr das Ergebnis jahrelanger eingehender wissenschaftlicher Untersuchungen, zielgerichteter Analysen von Denkfabriken wie Carbon Tracker und dem IEEFA-Institute, des Drucks von Investoren, knallharter NGO-Kampagnen, und den Entscheidungen von Stiftungen, Kirchen, Universitäten und Pensionsfonds, ihre Kapitalanlagen aus fossilen Geldanlagen abzuziehen (Divestment).
Politische Schritte haben diesen Sinneswandel auf den Kapitalmärkten verstärkt. Auf der Klimakonferenz der Vereinten Nationen (COP26) in Glasgow im vergangenen Monat verpflichteten sich fast 40 Länder und Institutionen, die öffentliche Finanzierung von Öl-, Gas- und Kohleprojekten in Drittländern einzustellen. Darüber hinaus standen Dänemark und Costa Rica an der Spitze einer Gruppe von 12 Ländern und Regionen, die die Beyond Oil and Gas Alliance ins Leben riefen.
Obwohl noch unvollständig und unzureichend, sind diese Bemühungen zu begrüßen, da sie ein Zeichen dafür sind, dass Finanzströme allmählich mit den Zielen des 2015 unterzeichneten Pariser Klimaabkommens in Einklang gebracht werden, wie es in Artikel 2 (1) c des Abkommens vorgesehen ist. Der von den Kapitalmärkten geforderte implizite CO2-Preis deckt jedoch bisher nur die Angebotsseite ab: Öl-, Gas- und Kohlefelder, Raffinerien sowie die Verkehrsinfrastruktur, über die fossile Brennstoffe in die Weltwirtschaft gelangen.
Leider sind ähnliche Fortschritte auf der Nachfrageseite bei Kohle, Öl und Gas ausgeblieben. Obwohl viel von einer grünen Erholung (“Recovery”) nach dem Covid-19-Schock die Rede ist, versäumten es die riesigen staatlichen Konjunkturprogramme weitgehend, zwischen grüner und umweltschädlicher Wirtschaftstätigkeit zu unterscheiden, wodurch sich die Weltwirtschaft auf dem alten fossilen Wachstumspfad stabilisierte.
Darüber hinaus haben diese staatlichen Interventionen aufgrund der damit verbundenen wirtschaftlichen Erholung zu erheblicher Nachfrage auf der Verbrauchsseite geführt. Bewegungsprofile deuten auf die verstärkte Nutzung von Autos und Flugzeugen hin, während energieintensive Branchen wie Zement, Stahl, Kunststoffe und Chemikalien erneut die Nachfrage nach Strom, Gas und Kohle anheizen. Insbesondere die wirtschaftlichen Anreize in China konzentrierten sich viel zu sehr auf den überaus CO2-intensiven Bausektor, anstatt die längst überfällige Neuausrichtung des chinesischen Wachstumsmodells hinsichtlich seiner Klimaziele in Angriff zu nehmen.
Der aktuelle Preisanstieg bei fossilen Energieträgern lässt sich auf eine Vielzahl höchst länderspezifischer Faktoren zurückführen. Dennoch könnte die derzeitige Situation durchaus Vorbote einer Zukunft sein, in der ein Missverhältnis zwischen angebots- und nachfrageseitiger Klimapolitik zu erheblichen Preisschwankungen führt.
Die Lobbies der fossilen Energien waren rasch zur Stelle, den jüngsten Preisanstieg bei fossilen Brennstoffen dafür zu nutzen, um sich für erneute staatliche Finanzierungen und Subventionen sowie eine bevorzugte regulatorische Behandlung ihrer Investitionen einzusetzen. Im Wesentlichen wird gefordert, dass die öffentliche Hand den Erzeugern fossiler Brennstoffe zu Hilfe kommt, während privates Kapital zu Recht vor Klimarisiken zurückschreckt und sich langsam aus dem Sektor zurückzieht.
Bemühungen zur Entschärfung der Energiekrise können und müssen mit der Lösung der Klimakrise in Einklang gebracht werden. Jedes gut isolierte Haus, jeder Windpark und jedes Solarpanel sorgt für rückläufigen Gasverbrauch. Die fahrrad- und fußgänger:innenfreundliche Gestaltung der Städte sowie der Ausbau des öffentlichen Verkehrs sind nicht nur gut für die öffentliche Gesundheit und Sicherheit, sondern sind zugleich auch eine Investition in die Abkehr vom teuren, unsere Erde zerstörenden Erdöl.
In ähnlicher Weise würde die sinkende Nachfrage nach Einweg-Plastikverpackungen den Bedarf an Rohstoffen aus der petrochemischen Industrie verringern. Und Innovationen wie Flugtaxis, Überschallflugzeuge und Reisen ins Weltall, die nur den Superreichen zugutekommen und eine neue, verschwendungsintensive Energienachfrage erzeugen, könnten leicht eingeschränkt oder sogar verboten werden, bevor sie auf breiter Front Fuß fassen.
Anstatt die angebotsseitige CO2-Politik zu lockern, wie es einige kurzfristig orientierte Stimmen fordern, müssen wir – auch in Zeiten hoher Energiepreise – das Hauptziel im Auge behalten. Das bedeutet, uns auf den unvermeidlichen, politisch gelenkten Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas und deren Substitution durch nachhaltige, saubere Energie zu konzentrieren. Das beste Mittel gegen hohe Energiepreise sind auf kurze Sicht nachfragesenkende Maßnahmen, wie etwa die strengen Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen, wie sie in einigen westlichen Ländern nach dem Ölpreisschock der 1970er Jahre eingeführt wurden.
Das Fazit lautet: Ein gerechter Strukturwandel weg von fossilen Brennstoffen erfordert, dass “mit beiden Scherenblättern geschnitten wird”. Das heißt, wie in den beiden im Vorfeld der COP26 erschienenen Berichten des UN-Umweltprogramms betont wird, müssen die enormen Lücken bei den Klimaschutzmaßnahmen zwischen dem, was für einen 1,5 Grad Pfad notwendig ist und dem, was aktuell getan und geplant wird, sowohl auf der Nachfrage- als auch der Angebotsseite von fossilen Brennstoffen geschlossen werden.
Trotz der überfälligen Fortschritte im Hinblick auf eine angemessene Bepreisung CO2-intensiver Investitionen sind diese Lücken immer noch viel zu groß. Nur wenn wir sie rasch und parallel schließen, können wir katastrophale Klimaveränderungen verhindern und die wirtschaftlichen Krisen abwenden, die aufgrund massiver Energiepreisschwankungen und umfangreicher verlorener Vermögenswerte (stranded assets) im Bereich fossiler Brennstoffe entstehen könnten.
In Kooperation mit Project Syndicate, 2021. Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier
morgen ist es so weit: Der erste EU-Gipfel ohne Angela Merkel und mit Olaf Scholz steht an. Klar ist: Der Bundeskanzler wird in Brüssel unter besonderer Beobachtung stehen, denn so manche Pläne der neuen deutschen Regierung sorgten in den Nachbarstaaten für Irritationen – zuletzt die Weiterentwicklung der EU zu einem “föderalen europäischen Bundesstaat”. Till Hoppe analysiert, wie sich Scholz zu den drei prominentesten Themen des Gipfels – Energiepreise, Taxonomie und Ukrainekrise – verhalten dürfte.
Nachdem die Europäische Kommission bereits gestern ihre Vorschläge zur Modernisierung des Verkehrssektors vorgestellt hat – nachzulesen in den News – soll heute die Neufassung der Gasmarkt-Regularien folgen. Mit einem neuen Rechtsrahmen für Wasserstoff und andere “kohlenstoffarme Gase” will die Institution das europäische Gasnetz in Einklang mit den Green-Deal-Zielen bringen. Warum Umweltschützer überzeugt sind, dass das so nicht gelingen kann und wo die Streitpunkte liegen, hat Timo Landenberger analysiert.
Im Europäischen Parlament hat der niederländische Renew-Abgeordnete Jan Huitema seinen Berichtsentwurf für die Überarbeitung der CO₂-Flottengrenzwerte für Pkw vorgelegt. Die Verhandlungen im ENVI-Ausschuss sollen nächste Woche starten. Dass die Suche nach einem mehrheitsfähigen Kompromiss nicht leicht wird, zeigen die Reaktionen der anderen politischen Lager. Huitema will die CO₂-Reduktionsziele für Neuwagen verschärfen, Jens Gieseke von der EVP bezeichnet das als “realitätsfremd”. Lukas Scheid analysiert den Entwurf und zeigt Konfliktlinien auf.
Miteinander gesprochen haben Olaf Scholz und Mark Rutte bereits, am Montag beim Antrittstelefonat des neuen Bundeskanzlers. Am heutigen Mittwoch wird Scholz die Gelegenheit haben, seinen niederländischen Kollegen persönlich zu sprechen und ihm zur erfolgreichen Regierungsbildung zu gratulieren, nach dessen neunmonatigen Koalitionsgesprächen. Dann treffen der dienstjüngste und der dienstälteste Regierungschef in der EU in Brüssel zusammen: zunächst bei einem Gipfeltreffen mit den Staaten der Östlichen Partnerschaft, am Donnerstag dann zu einem regulären Europäischen Rat.
Es ist Olaf Scholz’ erster Auftritt im Kreis der EU-Staats- und Regierungschefs. Das Interesse am neuen deutschen Bundeskanzler nach 16 Jahren Angela Merkel dürfte groß sein. Auch, weil manche der Pläne der Ampel-Koalitionäre anderswo für Irritationen gesorgt haben. Das Plädoyer im Koalitionsvertrag für eine Weiterentwicklung der EU zu einem “föderalen europäischen Bundesstaat” (Europe.Table berichtete) sorgte nicht nur bei Scholz’ Antrittsbesuch in Polen für Fragen, sondern eben auch in den Niederlanden. Die Wähler dort hatten die geplante europäische Verfassung 2005 in einem Referendum abgelehnt, weitere Integrationsschritte sind bis heute schwer zu vermitteln.
Wie sehr sich Scholz bei seiner Premiere im Auftreten von seiner Vorgängerin unterscheidet, muss sich noch zeigen. An den deutschen Positionen, so viel ist absehbar, ändert sich vorerst wenig. Der Gipfel wurde weitgehend von dem erprobten Team vorbereitet. Jörg Kukies, der neue Wirtschafts- und Europa-Staatssekretär im Kanzleramt (Europe.Table berichtete), hat erst gestern Vormittag seine Berufungsurkunde erhalten. Auch der neue außenpolitische Berater Jens Plötner ist ganz frisch im Amt.
In der Diskussion um die hohen Energiepreise, absehbar eines der Hauptthemen des Gipfels, steht die Bundesregierung auf ihrem bekannten Standpunkt: Markteingriffe halte man “derzeit für nicht notwendig”, heißt es in Berliner Regierungskreisen. Die aktuell hohen Gaspreise hätten fundamentale Gründe, eine weltweit gestiegene Nachfrage und ein begrenztes Angebot. Untersuchungen der europäischen Aufsichtsbehörden Acer und ESMA hätten keine Hinweise auf Manipulationen an den Strommärkten oder im Europäischen Emissionshandelssystem ergeben. Auch hätten die russischen Erdgaslieferanten alle vertraglichen Vereinbarungen erfüllt.
Etliche andere Regierungen wollen die heftigen Preisanstiege hingegen nicht einfach hinnehmen. Frankreich und rund zehn weitere Mitgliedsstaaten sehen strukturelle Ursachen für die hohen Preise und verlangen entsprechende Änderungen, etwa am europäischen Strommarktdesign. Paris hatte dazu vor gut zwei Wochen konkrete Vorschläge eingereicht (Europe.Table berichtete), die vor allem Endkunden entlasten sollen.
Im Oktober hatten die Staats- und Regierungschefs schon einmal über das Thema diskutiert, ohne die Differenzen zwischen den beiden Lagern zu überbrücken. Viel ergiebiger dürfte die zweite Diskussion am Donnerstag kaum werden. Im Entwurf der Schlussfolgerungen wird die EU-Kommission beauftragt, “die Untersuchung der Funktionsweise der Strommärkte sowie die Überwachung des Handels im Rahmen des EU-EHS zu vertiefen und angemessene Folgemaßnahmen zu ergreifen”. Zudem wolle man die Lage beobachten und sich “gegebenenfalls erneut mit dieser Angelegenheit befassen”. Mit dem Ende der Heizperiode in Europa aber dürften nach Ansicht der meisten Experten auch die Preise wieder sinken.
Damit dürfte auch die Inflation nachlassen, die derzeit etlichen Mitgliedstaaten zu schaffen macht. Davon geht jedenfalls EZB-Chefin Christine Lagarde bislang aus, die die Gipfel-Teilnehmer direkt nach der Sitzung des EZB-Rates informieren wird. Doch auch unter den Regierungen breiten sich Zweifel aus, dass die hohen Teuerungsraten so vorübergehend sind wie zunächst angenommen.
Am Rande des Gipfels dürfte auch darüber diskutiert werden, wie Atomkraft und Erdgas in der EU-Taxonomie für nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten eingestuft werden sollen. Dass das Thema dort bilateral besprochen werden dürfte, wird in Berliner Regierungskreisen zwar nicht offiziell bestätigt. Aber Olaf Scholz und Co bemühen sich nach Berliner Lesart derzeit, “in sehr intensiven Gesprächen” mit Paris, anderen EU-Partnern und der EU-Kommission den ideologisch aufgeladenen Streit zu entschärfen.
Frankreich drängt darauf, dass die Kommission den entsprechenden delegierten Rechtsakt noch vor Jahresende vorlegt, inklusive eines grünen Labels für die Atomkraft. Der nationale Energiemix sei Sache der einzelnen Mitgliedstaaten, heißt es im Élysée-Palast, “und wir hoffen, dass Deutschland unsere Entscheidung für die Kernenergie nicht infrage stellt“. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen plant bislang, den Rechtsakt am 22. Dezember vorzustellen. Allerdings könnte der Termin wohl noch ins neue Jahr wandern, wenn die Verhandlungen sich hinziehen – denn von der Leyen würde es gerne vermeiden, Berlin oder Paris vor den Kopf zu stoßen (Europe.Table berichtete).
Kontinuität walten lässt Olaf Scholz auch bei einem anderen EU-Streitthema: Nord Stream 2. Der SPD-Politiker will das Thema heraushalten aus der Diskussion, wie die EU auf den Aufmarsch russischer Truppen an der Grenze zur Ukraine reagieren sollte. Jegliche Aggression Moskaus werde “sehr ernsthafte politische und wirtschaftliche Konsequenzen” zur Folge haben, heißt es zwar in Kreisen der Bundesregierung. Nord Stream 2 bezieht man dabei aber ausdrücklich nicht ein. Das Pipeline-Projekt des russischen Gazprom-Konzerns befinde sich in einem – derzeit ohnehin ausgesetzten – ordentlichen Genehmigungsverfahren, daher gebe es keinerlei politischen Entscheidungsbedarf.
Die Staats- und Regierungschefs dürften es beim Gipfel bei starken Worten in Richtung Moskau belassen: “Jede weitere militärische Aggression gegenüber der Ukraine wird massive Konsequenzen und erhebliche Kosten nach sich ziehen”, heißt es im Entwurf der Gipfelerklärung. Konkreter aber will man momentan nicht werden – laut Diplomaten sind derzeit keine Sanktionsbeschlüsse geplant.
Mit einer Neufassung der Gasmarktrichtlinie sowie der Netzzugangsverordnung will die EU-Kommission den europäischen Gasmarkt auf die Ziele des Green Deals ausrichten, die Versorgungssicherheit garantieren und die Importabhängigkeit verringern. Heute wird die Brüsseler Behörde ihre Pläne offiziell vorstellen. Die Entwürfe kursieren jedoch bereits seit einigen Tagen und sorgen für Kontroversen.
Mit dem Gaspaket will die Kommission den Weg zu einer klimafreundlicheren Energieversorgung ebnen, indem beispielsweise kohlenstoffarme Gase in den Netzen bessergestellt werden. Dafür sehen die Entwürfe die Einführung eines EU-weiten Zertifizierungssystems vor (Europe.Table berichtete). So sollen die Mitgliedstaaten verschiedene Optionen der Dekarbonisierung vergleichen und in ihrem Energiemix als praktikable Lösung in Betracht ziehen können. Der Fokus liegt bei der Klassifizierung als low carbon fuels auf blauem Wasserstoff. Blauer Wasserstoff wird zwar aus Erdgas hergestellt, das dabei entstehende Kohlendioxid wird jedoch aus der Luft abgeschieden und gespeichert (Carbon Capture and Storage, CCS).
Markus Pieper, energiepolitischer Sprecher der CDU/CSU im EU-Parlament begrüßt den Kommissionsvorschlag. Dass die Behörde low-carbon-Lösungen wie blauen Wasserstoff zulassen will, sei ein gutes Zeichen, sagte der Europaabgeordnete zu Europe.Table. Insbesondere für die Übergangszeit, bis ausreichend Erneuerbare Energien zur Verfügung stehen, sei der Einsatz von Erdgas-basierten Technologien unverzichtbar. Das gelte insbesondere für Deutschland, das gleichzeitig aus der Kohle- und Kernenergie aussteigen will. Daneben gelte es, möglichst schnell einen Markthochlauf für Wasserstoff zu generieren, wofür wiederum ausreichend davon verfügbar sein müsse. Das könne nur garantiert werden, wenn auf die verschiedenen Farben von Wasserstoff zurückgegriffen werde.
Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) hingegen kritisiert das Paket scharf. Dieses sehe weder einen Erdgas-Ausstieg noch eine klimafreundliche Wasserstoff-Infrastruktur vor und stehe deshalb im Widerspruch zu den EU-Klimazielen. DUH-Geschäftsführer Sascha Müller-Kraenner nennt die Vorschläge ein “frühes Weihnachtsgeschenk an die Gasindustrie”. Auch für Michael Bloss, klimapolitischer Sprecher der Grünen im EU-Parlament, ist der “Hype ums Gas brandgefährlich”. Mit den Kommissionsvorschlägen werde das fossile Zeitalter verlängert und Anreize zu Fehlinvestitionen würden geschaffen.
Der Europaabgeordnete kritisiert den Plan der Kommission, Beimischungen von Wasserstoff (sogenanntes blending) ins bestehende Erdgas-Netz zu ermöglichen. Was wie ein sinnvoller Beitrag zum Klimaschutz klingt – schließlich wird durch die Einspeisung von Wasserstoff in die Verteilernetze kohlenstoffarme Energie überall verfügbar gemacht – lässt Umweltschützer aufschrecken. Auch Müller-Kraenner bemängelt: dadurch werde der nur begrenzt verfügbare “Wasserstoff zur Beheizung von Gebäuden verschwendet, obwohl es hier günstige Alternativen wie Wärmepumpen gibt. Für den Klimaschutz bringt das fast nichts”.
Einer Studie des Thinktanks Agora Energiewende zufolge ist eine Beimischung von bis zu 20 Prozent möglich, ohne dass eine grundlegende Überholung des Gasnetzes und der Haushaltsgeräte nötig wird. Das sei aber deutlich zu wenig, um die EU-Klimaziele zu erreichen, würde die Emissionen lediglich um sieben Prozent reduzieren und für einen enormen Anstieg des Gaspreises sorgen. Nicht zuletzt, da die Gasindustrie die Mehrkosten auf die Konsumenten umlegen kann.
Müller-Kraenner bezeichnet es als “geradezu paradox, dass die Haushaltskunden die Wasserstoffnetze auch noch bezahlen sollen, obwohl sie außer hohen Kosten nichts davon haben.” Die DUH fordert deshalb den Aufbau einer separaten und dezentralen Infrastruktur für grünen Wasserstoff, um gezielt jene Sektoren zu dekarbonisieren, für die eine Elektrifizierung nicht möglich ist.
Der Bundesverband der deutschen Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) lehnt eine Konzentration der Anwendung auf die Industrie ab und begrüßt den Schritt der Kommission: “Nur ein möglichst breiter Ansatz garantiert einen umfassenden Markthochlauf, stetig wachsende Beiträge zum Erreichen der Klimaschutzziele sowie die Zukunftsfähigkeit der Gasinfrastruktur. Der Wärmebereich muss daher endlich vollumfänglich als Anwendungsfeld für Wasserstoff anerkannt werden”, sagt ein BDEW-Sprecher zu Europe.Table.
Michael Bloss hingegen spricht von neuen fossilen Abhängigkeiten, “die uns angesichts der explodierenden Energiepreise teuer zu stehen kommen”. Die Gaslieferanten der EU könnten “sich die Hände reiben” und ihre Staatskassen füllen. Dabei will die EU-Kommission mit dem neuen Gaspaket explizit auch dem Problem der Importabhängigkeit sowie der hohen Energiepreise begegnen. So sehen die Entwürfe vor, langfristige Erdgas-Importverträge nicht über das Jahr 2049 hinaus zu verlängern, was insbesondere den Hauptlieferanten Russland hart treffen dürfte.
Auch Maßnahmen zur Stärkung der Versorgungssicherheit sind vorgesehen, darunter Ansätze für die Gasspeicherung und zur Gewährleistung möglichst hoher Füllstände zu Beginn der Heizperioden. Daneben hatte die Kommission bereits angekündigt (Europe.Table berichtete), im Rahmen des Pakets gemeinsame strategische Gaseinkäufe auf freiwilliger Basis und durch regulierte Netzbetreiber ermöglichen zu wollen.
Berichterstatter:innen in den Ausschüssen des EU-Parlaments haben häufig eine enorm undankbare Aufgabe. Sie bereiten den Boden für eine Einigung zwischen Kommission und Parlament. Dabei müssen sie die Vorschläge der Kommission in einem eigenen Berichtsentwurf bewerten, kommentieren und gegebenenfalls korrigieren. Anschließend geraten sie allerdings nicht selten selbst ins Kreuzfeuer der Schattenberichterstatter:innen und deren Fraktionen, denen der Bericht meist zu weit oder nicht weit genug geht.
Dieser Aufgabe hat sich der niederländische Renew-Politiker Jan Huitema im Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (ENVI) für einen Verordnungsvorschlag mit besonders viel Zündstoff angenommen. Huitema ist Berichterstatter im federführenden ENVI-Ausschuss für die Überarbeitung der CO2-Grenzwerte für Pkw und Kleintransporter.
Im Sommer hatte die Kommission im Rahmen des Fit for 55-Pakets (Europe.Table berichtete) die neuen CO2-Grenzwerte ins Spiel gebracht. Der Vorschlag für die überarbeitete Verordnung ist der wichtigste Hebel der Kommission, um den noch immer steigenden Treibhausgasemissionen im Straßenverkehr Einhalt zu gebieten. Ab 2025 müssten die Emissionen der Neuwagenflotte 15 Prozent niedriger sein als im Vergleichsjahr 2021. 2030 müssten es 55 Prozent bei Pkw und 50 Prozent bei leichten Nutzfahrzeugen weniger sein. Ab 2035 dürften nur noch emissionsfreie Fahrzeuge zugelassen werden.
Huitema hat nun in seinem Berichtsentwurf vorgeschlagen, die Zwischenziele zu erhöhen und weitere hinzuzufügen:
Ab 2025: Reduzierung um
Ab 2027: Reduzierung um
Ab 2030: Reduzierung um
Das Ziel der Kommission, ab 2035 nur noch emissionsfreie Fahrzeuge zuzulassen, unterstützt er.
Huitema schlägt außerdem vor, bestimmte Anreize für Hersteller, emissionsfreie Fahrzeuge zu verkaufen, schon 2025 abzuschaffen. Die Kommission möchte, dass Hersteller bis 2030 über ein Crediting-System die Möglichkeit haben, ihre CO2-Emissionsreduktionsziele um bis zu fünf Prozent zu verringern, wenn sie sogenannte “Zero and low emission vehicles” (ZLEV) verkaufen. Das heißt: Besteht ein bestimmter Anteil von Neuwagenverkäufen aus E-Autos (BEV) oder Plug-in-Hybriden (PHEV), müssen Hersteller die Emissionen ihrer Neuwagenflotte im Durchschnitt weniger stark senken. Diese Anreize wurden von Umweltorganisationen als kontraproduktiv kritisiert: Sie würden die Wirkung von CO2-Grenzwerten schwächen, da sich Autohersteller den ZLEV-Bonus holen könnten und anschließend die Emissionen ihrer Neuwagen nicht so stark senken müssten.
Huitema teilt dieses Argument. Der Vorteil läge aus seiner Sicht darin, dass die Emissionen von PHEV in die Flottengrenzwerte miteinbezogen werden würden, statt dass ihre reine Verkaufszahl Hersteller zu einem ZLEV-Bonus verhilft. Huitema will außerdem die Betrachtung der Emissionen von PHEV überarbeiten: Die derzeitige Berechnung sei “irreführend”, da sie nicht auf repräsentativen Daten, sondern auf einer Schätzung beruht, wie groß der gefahrene Anteil im Batteriebetrieb ist. Huitema fordert, künftig das reale Fahrverhalten zugrunde zu legen. Hersteller wären dann angehalten, möglichst emissionsarme PHEV zu produzieren.
Mit dem Berichtsentwurf zur Verschärfung der CO2-Grenzwerte hat Huitema die Arbeitsgrundlage für den ENVI-Ausschuss geschaffen. Nun beginnt die Herausforderung, gemeinsam mit den Schattenberichterstatter:innen einen mehrheitsfähigen Bericht zum Kommissionsvorschlag zusammenzutragen. “Ein hartes Stück Arbeit”, prognostiziert Jens Gieseke von der EVP. Er bezeichnet Huitemas Entwurf als “realitätsfremd”. Mit scharfen Zwischenzielen ignoriere Huitema die “Entwicklungs- und Produktionszyklen der Hersteller und forciert ein schnelles Verbrenner-Aus”, so Gieseke zu Europe.Table. Er kritisiert zudem, dass sich sowohl Huitema als auch die Kommission in der Betrachtung von Emissionen nur auf das beschränken, was aus am Auspuff emittiert wird. Es müsse vielmehr um die Energieträger gehen, findet Gieseke und fordert, dass auch E-Fuels in einer technologieoffenen Betrachtung eine Rolle spielen sollten.
Bas Eickhout von den Grünen kommt von der anderen Seite des Meinungssprektrums. Ihm geht der Vorschlag nicht weit genug. Eine Verbrenner-Aus im Jahre 2035 passe nicht zum Klimaneutralitätsziel für 2050, wenn man zugrunde legt, dass fast die Hälfte der Autos länger als 15 Jahre auf der Straße bleiben. Zudem gebe es bereits mehrere Hersteller, die einen früheren Ausstieg anstreben. Die Verordnung sollte daher die “Vorreiter unterstützen und nicht die Nachzügler belohnen”, so Eickhout. “Wir werden uns daher für ein klares Null-Emissions-Ziel für neue Pkw und Kleintransporter im Jahr 2030 einsetzen, mit entsprechenden Zwischenzielen.”
Der Verkehrs- und Umwelt-Dachverband Transport and Environment (T&E) hatte eine realitätsnahe Betrachtung der PHEV-Emissionen gefordert, ebenso wie ein früheres Ende der ZLEV-Boni. Alex Keynes, Clean Vehicles-Manager bei T&E, begrüßt Huitemas Berichtsentwurf zur Verschärfung der CO2-Grenzwerte für Pkw und Kleintransporter deshalb. Jedoch bemängelt er, dass der Entwurf den Gewichtsanpassungsfaktor für das CO2-Ziel unangetastet lasse. Dieser gebe Autoherstellern geringere Ziele, wenn sie schwerere Fahrzeuge verkaufen, was den Absatz von emissionsintensiven SUVs und Plug-in-Hybriden fördert, so Keynes.
Der Verband der Automobilindustrie (VDA) dagegen ist gar nicht begeistert von Huitemas verschärften Zielen. Sie seien kontraproduktiv für die Planungssicherheit der Branche, erklärte ein VDA-Sprecher gegenüber Europe.Table: “Ziele zu verschärfen, ohne Rahmenbedingungen, Planbarkeit und Instrumente mitzudenken, wird den Herausforderungen der Transformation nicht gerecht.” Der große Anpassungsdruck bei den Automobilzulieferern und der notwendige Aufbau von Batterieproduktionen würden in Jan Huitemas Bericht nur “unzureichend adressiert”. Dass die EU die erforderlichen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen – darunter auch der Ausbau der Ladeinfrastruktur – mit den verschärften Zielen schaffen kann, sei nicht erkennbar. Besonders problematisch seien die angedachten zusätzlichen Zielverschärfungen noch vor und für das Jahr 2030, so der Sprecher.
Am 12. Januar soll der Entwurf im ENVI-Ausschuss diskutiert werden. Am 11. Mai folgt die Abstimmung im Ausschuss.
Das Europaparlament will große Digitalkonzerne dazu zwingen, Handynutzern Alternativen zu vorinstallierten Apps anzubieten. Die Abgeordneten stimmten am Dienstag mehrheitlich für einen entsprechenden Änderungsantrag zum Digital Marktes Act (DMA). Demnach könnte etwa Google dazu verpflichtet werden, den Nutzern nach der Inbetriebnahme eine Liste alternativer Suchmaschinen- oder E-Mail-Anbieter auf seinem Android-Betriebssystem anzuzeigen.
Das Europaparlament stimmt heute im Plenum über seine Verhandlungsposition für den anstehenden Trilog mit dem Rat zum Digital Markets Act ab. Bereits am Dienstag stimmten die Abgeordneten über Änderungsanträge zum Bericht von Berichterstatter Andreas Schwab (CDU) ab. Der vom Wirtschafts- und Währungsausschuss eingebrachte Antrag zur Ergänzung des Artikels 5 wurde dabei mehrheitlich angenommen.
Konkurrenten wie DuckDuckGo hatten darauf gedrungen, eine entsprechende Verpflichtung für sogenannte Gatekeeper-Plattformen in den Gesetzesakt aufzunehmen. Sie beklagen, dass Konzerne wie Google oder Apple eigene Anwendungen auf den Endgeräten vorinstallieren und damit die Konkurrenz benachteiligen. Nach dem Änderungsantrag zum Digital Markets Act sollen die Nutzer die vorinstallierten Apps auch später noch problemlos deinstallieren können. tho
Mehr E-Mobilität, eine bessere Rad-Infrastruktur und vor allem: schnellere und bessere Bahnverbindungen – insbesondere grenzüberschreitend. Am Dienstag hat die Europäische Kommission eine ganze Reihe an Vorschlägen und Zielen vorgestellt, um das Verkehrssystem der EU zu modernisieren. Zugreisen sollen attraktiver werden, nicht zuletzt durch die Vereinfachung des Fahrkartenkaufs bei mehreren Anbietern. Und auch der Gütertransport soll vermehrt auf Schiene und Wasserwege verlagert werden.
Daneben will die Kommission den Ausbau der Infrastruktur rund um E-Mobilität inklusive intelligenter Systeme beschleunigen. Ein weiterer Fokus liegt auf der Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs sowie der Infrastruktur für Fußgänger und Radfahrer in Städten. Mit ihren Vorschlägen will die Brüsseler Behörde dazu beitragen, die Emissionen im Verkehrssektor um 90 Prozent zu senken und in Einklang mit den Zielen des Green Deals zu bringen.
“Europas grüner und digitaler Wandel wird die Art und Weise, wie wir uns fortbewegen, stark verändern”, sagte Frans Timmermans, Vizepräsident der EU-Kommission, am Dienstag. Der Entwicklung will die Behörde Rechnung tragen und mit ihren Vorschlägen “die europäische Mobilität auf den Weg in eine nachhaltige Zukunft bringen”.
Dazu gehört die Überarbeitung der Richtlinie zu intelligenten Verkehrssystemen und die Modernisierung und Vervollständigung des transeuropäischen Verkehrsnetzes (TEN-T), das EU-weit grenzüberschreitende Verbindungen im Schienen- und Straßenverkehr sowie in der Schifffahrt umfasst. Begleitet wird der Vorschlag von einem Aktionsplan speziell für den Schienenpersonenverkehr. Der Marktanteil der Schiene liegt in der EU bei nur 7,8 Prozent des Gesamtverkehrs.
Demnach will die Kommission im kommenden Jahr einen Gesetzesentwurf vorlegen, der den Fahrkartenkauf erheblich erleichtern soll und auch die Prüfung einer EU-weiten Mehrwertsteuerbefreiung für Zugfahrkarten vorsieht. Außerdem will die Behörde Vorschläge zur Fahrplangestaltung und zum Kapazitätsmanagement erarbeiten, um schnelleren grenzüberschreitenden Schienenverkehr zu fördern.
Jens Gieseke, verkehrspolitischer Sprecher der CDU/CSU im EU-Parlament begrüßt die Pläne der Kommission. “Damit liegen nun fast alle Elemente auf dem Tisch, um die angestrebte Emissionsreduzierung im Verkehrsbereich nachhaltig, technologieneutral und sozial verträglich zu gestalten”, so der Europaabgeordnete, der als Berichterstatter im Transportausschuss den Initiativbericht des Parlaments zur Überarbeitung der TEN-T-Leitlinien verhandelt hat.
Auch die Fraktion der Grünen/EFA zeigt sich zufrieden, fordert jedoch weitere Schritte: “Der Aktionsplan darf nicht zum Papiertiger werden und muss mit konkreten Maßnahmen und Investitionen flankiert werden”, sagt die Europaabgeordnete Anna Deparnay-Grunenberg, Verhandlungsführerin des Parlaments für das “Jahr der Schiene”. til
Der Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz (IMCO) im Europaparlament hat am Dienstagmorgen mit großer Mehrheit seine Position zum Digital Services Act (DSA) verabschiedet. Dabei wurden alle Kompromissvorschläge der Berichterstatterin Christel Schaldemose (DK, S&D) angenommen.
Neben dem Kompromissvorschlag der Grünen/EFA, der Pornoplattformen besondere Sorgfaltspflichten auferlegen soll (Europe.Table berichtete), stimmten die Europaabgeordneten auch dem Änderungsantrag des Ausschusses für Industrie, Forschung und Energie (ITRE) zu. Dieser betrifft die Evaluation des DSA durch die Kommission (Artikel 73, Abs. 3), welche fünf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes vorgesehen ist. Der Ausschuss fordert, dass die Kommission bei der Bewertung “kleinen und mittleren Unternehmen sowie der Position von neuen Konkurrenten besondere Aufmerksamkeit schenkt”.
“Wir haben den Verbraucherschutz gegenüber dem Kommissionsvorschlag grundsätzlich gestärkt“, sagte Berichterstatterin Schaldemose nach der finalen Abstimmung zum Digital Services Act und verwies dabei unter anderem auf die zusätzlichen Sorgfaltspflichten für Online-Marktplätze. Verbraucherschützern geht das nicht weit genug. “Es ist ein wenig enttäuschend, dass der Ausschuss für Verbraucherschutz nicht mehr getan hat, um Verbraucher zu schützen”, teilt Ursula Pachl, stellvertretende Generaldirektorin des BEUC in einer Pressemitteilung mit.
Im Fokus der Kritik steht Artikel 16, der eine Ausnahmeregelung für Klein- und Kleinstunternehmen schaffen soll. Demnach könnten diese Unternehmen von der Pflicht ausgenommen werden, die Legalität von Anbietern und ihren Produkten überprüfen zu müssen (“Know Your Business Customer”-Prinzip). “Verbraucher sind beim Einkaufen auf kleinen Plattformen genauso gefährdet wie beim Einkaufen auf großen Plattformen”, so Pachl. koj
Die Entscheidung über den Standort der geplanten europäischen Chipfabrik von Intel zieht sich hin. “Wir planen, so bald wie möglich eine Ankündigung zu machen”, teilte eine Firmensprecherin der Nachrichtenagentur Reuters am Dienstag mit. “Gegenwärtig laufen die Verhandlungen noch und sind vertraulich.” Der ursprüngliche Plan von Intel-Chef Pat Gelsinger sah vor, einen Beschluss noch in diesem Jahr zu verkünden.
Deutschland rechnet sich gute Chancen auf den Zuschlag aus. Intel führt nach eigenen Angaben Gespräche mit Regierungsvertretern mehrerer EU-Länder. Letztlich will Gelsinger an einem Standort einen Komplex aus insgesamt acht Fabriken auf rund 500 Hektar bauen, wie er in einem Gespräch mit der “Frankfurter Allgemeine Zeitung” im September sagte. Jede einzelne der Chipfabriken kostet laut Intel-Chef Gelsinger zehn Milliarden Euro.
Als potenzielle Standorte in Deutschland wurden immer wieder Dresden, Penzing in Bayern und Magdeburg genannt. Das sächsische Wirtschaftsministerium wollte keine Stellung nehmen. Der Bürgermeister von Penzing, Peter Hammer, sagte, bislang habe Intel noch keinen Kontakt zu der Gemeinde aufgenommen. Als möglicher Standort in dem bayerischen Ort kommt ein Fliegerhorst infrage. Geklärt werden müsse der Platzbedarf von Intel, sagte Hammer: Der Fliegerhorst sei lediglich 270 Hektar groß. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder sagte, letztlich liege die Entscheidung bei dem Unternehmen. “Mir wäre es lieber, es geht nach Bayern.”
Für den Standort Eulenburg in Magdeburg stehen nach bisheriger Planung ebenfalls nur 350 Hektar zur Verfügung, zudem handelt es sich dort um wertvollen Ackerboden der besten Güteklasse. Allerdings wäre der Elbe-Standort bei den beiden wichtigen Punkten Energie- und Wasserverfügbarkeit besser aufgestellt als das bayerische Penzing und würde auf halber Strecke zwischen Wolfsburg und der neuen Tesla-Fabrik in Grünheide liegen.
Die EU-Kommission arbeitet gerade an einer Strategie, um die Unabhängigkeit der Union und die technologische Eigenständigkeit der hiesigen Chipbranche sicherzustellen und mit Subventionen zu fördern, im Rahmen sogenannter IPCEIs und dem für 2021 angekündigten Chips Act. Ähnlich verfahren auch die USA und China. Im Moment werden mehr als zwei Drittel aller modernen Halbleiter in Asien hergestellt. Neben dem US-Konzern Intel sind Taiwan Semiconductor Manufacturing Corporation (TSMC) und das koreanische Unternehmen Samsung Kandidaten für Chipfabriken in Europa. rtr/fst
Der schwedische Batteriehersteller Northvolt und die portugiesische Galp Energia wollen gemeinsam Bau und Betrieb einer Lithium-Ionen-Anlage in Portugal angehen. Mit einem Investitionsvolumen von rund 700 Millionen Euro soll die Fabrik 2026 in die kommerzielle Produktion gehen, wie Northvolt mitteilte.
Betrieben wird die Fertigung von dem Gemeinschaftsunternehmen Aurora, an dem Northvolt und Galp Energia jeweils 50 Prozent halten. Die Anlage mit rund 1500 Jobs soll mit einer anfänglichen Jahreskapazität von 35.000 Tonnen Lithiumhydroxid starten.
Northvolt, dessen größter Aktionär Volkswagen ist, kündigte an, das Werk in Portugal werde das größte seiner Art in Europa sein. Während China immer noch 80 Prozent der weltweiten Lithium-Ionen-Zellen produziert, will Northvolt es mit großen asiatischen Playern wie CATL und LG Chem aufnehmen. rtr
Ein vor kurzem veröffentlichter Bericht von Goldman Sachs kam zu einem überraschenden Ergebnis: In den letzten acht Jahren haben sich auf den Finanzmärkten die Kapitalkosten für groß angelegte, langfristige, CO2-intensive Investitionen in Sektoren wie Offshore-Öl und Flüssiggas erhöht. Bei Projekten im Bereich erneuerbare Energien weist die von Investoren geforderte Mindestrendite jedoch eine rückläufige Tendenz auf. Der Unterschied ist beträchtlich und entspricht implizit einem CO2-Preis von etwa 80 Dollar pro Tonne für neue Projekte im Erdöl-Bereich und 40 Dollar pro Tonne bei Flüssiggas-Projekten.
Die Kapitalmärkte scheinen – endlich – die Botschaft verstanden zu haben: CO2-intensive Investitionen sind mit einem erheblichen Risikoaufschlag behaftet. Diese Einsicht kam nicht aus heiterem Himmel. Sie ist vielmehr das Ergebnis jahrelanger eingehender wissenschaftlicher Untersuchungen, zielgerichteter Analysen von Denkfabriken wie Carbon Tracker und dem IEEFA-Institute, des Drucks von Investoren, knallharter NGO-Kampagnen, und den Entscheidungen von Stiftungen, Kirchen, Universitäten und Pensionsfonds, ihre Kapitalanlagen aus fossilen Geldanlagen abzuziehen (Divestment).
Politische Schritte haben diesen Sinneswandel auf den Kapitalmärkten verstärkt. Auf der Klimakonferenz der Vereinten Nationen (COP26) in Glasgow im vergangenen Monat verpflichteten sich fast 40 Länder und Institutionen, die öffentliche Finanzierung von Öl-, Gas- und Kohleprojekten in Drittländern einzustellen. Darüber hinaus standen Dänemark und Costa Rica an der Spitze einer Gruppe von 12 Ländern und Regionen, die die Beyond Oil and Gas Alliance ins Leben riefen.
Obwohl noch unvollständig und unzureichend, sind diese Bemühungen zu begrüßen, da sie ein Zeichen dafür sind, dass Finanzströme allmählich mit den Zielen des 2015 unterzeichneten Pariser Klimaabkommens in Einklang gebracht werden, wie es in Artikel 2 (1) c des Abkommens vorgesehen ist. Der von den Kapitalmärkten geforderte implizite CO2-Preis deckt jedoch bisher nur die Angebotsseite ab: Öl-, Gas- und Kohlefelder, Raffinerien sowie die Verkehrsinfrastruktur, über die fossile Brennstoffe in die Weltwirtschaft gelangen.
Leider sind ähnliche Fortschritte auf der Nachfrageseite bei Kohle, Öl und Gas ausgeblieben. Obwohl viel von einer grünen Erholung (“Recovery”) nach dem Covid-19-Schock die Rede ist, versäumten es die riesigen staatlichen Konjunkturprogramme weitgehend, zwischen grüner und umweltschädlicher Wirtschaftstätigkeit zu unterscheiden, wodurch sich die Weltwirtschaft auf dem alten fossilen Wachstumspfad stabilisierte.
Darüber hinaus haben diese staatlichen Interventionen aufgrund der damit verbundenen wirtschaftlichen Erholung zu erheblicher Nachfrage auf der Verbrauchsseite geführt. Bewegungsprofile deuten auf die verstärkte Nutzung von Autos und Flugzeugen hin, während energieintensive Branchen wie Zement, Stahl, Kunststoffe und Chemikalien erneut die Nachfrage nach Strom, Gas und Kohle anheizen. Insbesondere die wirtschaftlichen Anreize in China konzentrierten sich viel zu sehr auf den überaus CO2-intensiven Bausektor, anstatt die längst überfällige Neuausrichtung des chinesischen Wachstumsmodells hinsichtlich seiner Klimaziele in Angriff zu nehmen.
Der aktuelle Preisanstieg bei fossilen Energieträgern lässt sich auf eine Vielzahl höchst länderspezifischer Faktoren zurückführen. Dennoch könnte die derzeitige Situation durchaus Vorbote einer Zukunft sein, in der ein Missverhältnis zwischen angebots- und nachfrageseitiger Klimapolitik zu erheblichen Preisschwankungen führt.
Die Lobbies der fossilen Energien waren rasch zur Stelle, den jüngsten Preisanstieg bei fossilen Brennstoffen dafür zu nutzen, um sich für erneute staatliche Finanzierungen und Subventionen sowie eine bevorzugte regulatorische Behandlung ihrer Investitionen einzusetzen. Im Wesentlichen wird gefordert, dass die öffentliche Hand den Erzeugern fossiler Brennstoffe zu Hilfe kommt, während privates Kapital zu Recht vor Klimarisiken zurückschreckt und sich langsam aus dem Sektor zurückzieht.
Bemühungen zur Entschärfung der Energiekrise können und müssen mit der Lösung der Klimakrise in Einklang gebracht werden. Jedes gut isolierte Haus, jeder Windpark und jedes Solarpanel sorgt für rückläufigen Gasverbrauch. Die fahrrad- und fußgänger:innenfreundliche Gestaltung der Städte sowie der Ausbau des öffentlichen Verkehrs sind nicht nur gut für die öffentliche Gesundheit und Sicherheit, sondern sind zugleich auch eine Investition in die Abkehr vom teuren, unsere Erde zerstörenden Erdöl.
In ähnlicher Weise würde die sinkende Nachfrage nach Einweg-Plastikverpackungen den Bedarf an Rohstoffen aus der petrochemischen Industrie verringern. Und Innovationen wie Flugtaxis, Überschallflugzeuge und Reisen ins Weltall, die nur den Superreichen zugutekommen und eine neue, verschwendungsintensive Energienachfrage erzeugen, könnten leicht eingeschränkt oder sogar verboten werden, bevor sie auf breiter Front Fuß fassen.
Anstatt die angebotsseitige CO2-Politik zu lockern, wie es einige kurzfristig orientierte Stimmen fordern, müssen wir – auch in Zeiten hoher Energiepreise – das Hauptziel im Auge behalten. Das bedeutet, uns auf den unvermeidlichen, politisch gelenkten Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas und deren Substitution durch nachhaltige, saubere Energie zu konzentrieren. Das beste Mittel gegen hohe Energiepreise sind auf kurze Sicht nachfragesenkende Maßnahmen, wie etwa die strengen Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen, wie sie in einigen westlichen Ländern nach dem Ölpreisschock der 1970er Jahre eingeführt wurden.
Das Fazit lautet: Ein gerechter Strukturwandel weg von fossilen Brennstoffen erfordert, dass “mit beiden Scherenblättern geschnitten wird”. Das heißt, wie in den beiden im Vorfeld der COP26 erschienenen Berichten des UN-Umweltprogramms betont wird, müssen die enormen Lücken bei den Klimaschutzmaßnahmen zwischen dem, was für einen 1,5 Grad Pfad notwendig ist und dem, was aktuell getan und geplant wird, sowohl auf der Nachfrage- als auch der Angebotsseite von fossilen Brennstoffen geschlossen werden.
Trotz der überfälligen Fortschritte im Hinblick auf eine angemessene Bepreisung CO2-intensiver Investitionen sind diese Lücken immer noch viel zu groß. Nur wenn wir sie rasch und parallel schließen, können wir katastrophale Klimaveränderungen verhindern und die wirtschaftlichen Krisen abwenden, die aufgrund massiver Energiepreisschwankungen und umfangreicher verlorener Vermögenswerte (stranded assets) im Bereich fossiler Brennstoffe entstehen könnten.
In Kooperation mit Project Syndicate, 2021. Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier