der 08.05. markiert das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa, in Moskau war um 23:01 Berliner Zeit damals bereits der 09.05. angebrochen, weshalb die Feierlichkeiten an unterschiedlichen Daten stattfinden. Olaf Scholz hat in einer Fernsehansprache am Sonntag die Leitlinien seiner Regierung dargelegt: Keine Alleingänge, kein Kriegseintritt der NATO, Verteidigungsfähigkeit des eigenen Landes muss erhalten bleiben – und keine Maßnahmen, die Deutschland oder seinen Partnern mehr schadeten als Russland. Die Messlatte für das, was kommen mag, hat er ebenfalls definiert: Weder die Ukraine noch ihre Partner würden einen Diktatfrieden Russlands akzeptieren.
Unterdessen haben sich die Verhandler noch nicht auf das genaue Procedere des nächsten Sanktionspakets, zu dem dann auch das Ölembargo gehören soll, einigen können. Wo genau die Uneinigkeiten liegen, hat Stephan Israel in den News aufbereitet.
Welche Maßnahmen wann kommen sollten, das beschäftigt auch Luc Frieden. Der neue Eurochambres-Präsident frühere luxemburgische Finanzminister drängt im Interview mit Till Hoppe auf genau austarierte Maßnahmen und befürchtet andernfalls schwere wirtschaftliche und soziale Verwerfungen.
Der Weg zum wirksamen europäischen Emissionshandel ist lang – insbesondere der sogenannte ETS 2 sorgt weiter für Diskussionen. Am Dienstag will sich der Umweltausschuss des Europaparlaments auf Positionen einigen. Doch dass dies gelingt, ist angesichts der noch offenen Fragen keineswegs garantiert, analysiert Lukas Scheid.
Heute beginnt ihre entscheidende Phase, und auch die Konferenz zur Zukunft Europas hat ihren Charakter durch die Ereignisse in der Ukraine verändert, analysiert Eric Bonse. Die Erwartungen sind sehr divers – politisch, sozial und wirtschaftlich.
Vielleicht wäre es hilfreicher, statt auf punktuelle Konferenzen auf andere Wege zu setzen, um ein europäisches Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen? Andre Wilkens (Europäische Kulturstiftung) und Paweł Zerka (ECFR) legen in ihrem Gastbeitrag Alternativen dar.
Kommen Sie gut in die Woche!
Herr Frieden, die europäische Wirtschaft wächst kaum noch, die Preise steigen schnell. Befürchten Sie eine neue Rezession, gar eine Stagflation?
Die Lage ist schwierig. Der Krieg in der Ukraine dauert länger als ursprünglich erwartet. Inzwischen kommen mehrere Faktoren zusammen: die hohen Preise für Rohstoffe, insbesondere Gas und Öl, die Verwerfungen in den Lieferketten, die hohe Inflation. Das ist ein Mix, der vielen Unternehmen Sorgen bereitet.
Neben dem Krieg verschärft China über seine Null-Covid-Politik noch das Chaos in den Lieferketten.
Ich würde nicht von Chaos sprechen, auch wenn viele Unternehmen die Folgen spüren. Es ist oft schwierig für sie, ihren Kunden ein verbindliches Lieferdatum zu nennen. Bei allen Problemen darf man aber nicht vergessen, dass wir in Europa einen stabilen Binnenmarkt haben. Nach der Pandemie ist die Nachfrage stark. Einige Sektoren wie die Reisebranche sind deshalb bislang wenig betroffen und können sich erholen. Auch im Nahrungsmittelsektor schlagen die Folgen noch nicht so stark durch. Die Rohstoffpreise steigen zwar, aber die Nachfrage ist hoch.
Viele Produzenten können höhere Kosten an die Verbraucher weitergeben, aber die hohe Teuerung bremst bereits den Konsum.
Die steigenden Preise sind momentan vor allem ein soziales Problem, das die Politik wo möglich abfedern sollte. Je länger die Situation andauert, desto schwieriger wird es aber auch für die Firmen. Vieles hängt davon ab, wie lang der Krieg andauert.
Sollte die Europäische Zentralbank mehr gegen die hohe Inflation tun?
Die EZB hat die Aufgabe, das Inflationsziel von zwei Prozent mittelfristig zu garantieren. Ich gehe davon aus, dass sie das erreichen kann, wenn sie einerseits die Stützungsmaßnahmen aus der Pandemie fortsetzt und andererseits die Zinsen leicht anhebt. Die hohe Inflation ist vor allem ein Resultat der abklingenden Pandemie, weniger des Krieges in der Ukraine. Daher gehe ich davon aus, dass sie zeitlich begrenzt sein wird.
Sie glauben, dass sich die Lage schnell normalisieren wird?
Es wird sicherlich dauern, bis die ukrainische Wirtschaft wieder ins Rollen kommt. Aber international werden sich Handel und Lieferketten relativ schnell erholen, wenn Krieg und Pandemie vorbei sind, weil die Strukturen dahinter nicht zerstört sind. Das ist ein Unterschied zur Finanzkrise. Dort haben wir noch jahrelang die Nachwirkungen gespürt.
Die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland werden aber auch nach einem Ende der Kampfhandlungen kaum die alten sein.
Ich glaube, dass es auch ein Russland nach diesem Krieg und nach Putin geben wird. Es wird in der Tat schwierig sein, mit dieser Führungsriege zusammenzuarbeiten. Aber Russland und das Regime sind nicht dasselbe. Wir werden mit dem Nachbarn Russland in Zukunft wieder wirtschaftliche Beziehungen pflegen müssen – vorausgesetzt natürlich, dass es die Regeln der internationalen Ordnung respektiert.
Die EU will ein Ölembargo verhängen, ein Gasembargo könnte später folgen. Der richtige Weg?
Sanktionen sollten keinen enormen sozialen Schaden bei uns anrichten. Deshalb sind wir sehr zurückhaltend gegenüber Sanktionen, die Öl und Gas einschließen. Wir befürchten, dass es Tausende, wenn nicht Millionen Arbeitslose geben könnte. Wenn es doch dazu kommt, müssen die Folgen abgefedert werden. Unsere Unternehmen und Mitarbeiter sind nicht schuld an diesem Krieg.
Befürchten Sie, dass Moskau auf ein Ölembargo mit einem breiter angelegten Gaslieferstopp reagiert?
Das ist schwer vorherzusagen. Wir sollten in jedem Fall versuchen, unsere Energiequellen geografisch zu diversifizieren und schneller zu erneuerbaren Energien überzugehen. Das ist leichter gesagt als getan, aber die Wirtschaft sollte die Energiewende beschleunigen und der Staat sollte sie dabei unterstützen.
Sie plädieren also dafür, das Tempo im Green Deal noch zu erhöhen?
Ja. Es gibt aber Grenzen des technisch Möglichen. Nicht alle Lkw werden morgen mit Batterie fahren, nicht alle Flugzeuge mit klimafreundlichem Kerosin fliegen können. Solche sektoralen Bedingungen sollten berücksichtigt werden.
Sollte die EU-Ziele für den Ausbau der erneuerbaren Energien und die Verbesserung der Energieeffizienz noch einmal erhöht werden, wie derzeit diskutiert wird?
Die Ziele sind schon jetzt sehr ambitioniert. Wir sollten uns darauf konzentrieren, diese auch zu erreichen. Und dabei darauf achten, die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in diesem schwierigen Umfeld zu erhalten.
Konkret?
Es geht etwa um den Emissionshandel und den geplanten CO2-Grenzausgleich. Wir sollten das System der Gratiszuteilungen für die Industrie noch ein bisschen länger beibehalten. Der CBAM ist ein intellektuell interessantes System, aber ist das jetzt der richtige Zeitpunkt? Unsere Position ist: Die Ziele sind richtig, aber das Timing sollten wir angesichts der akuten Energiekrise überprüfen.
Die Nachhaltigkeitsagenda der EU-Kommission bringt etliche neue Berichtspflichten für die Industrie. Ist es auch dafür der falsche Zeitpunkt?
Die Ziele der Vorhaben sind legitim, aber wir sollten den Weg dorthin überprüfen. Nehmen Sie das Lieferkettengesetz: Es ist eine Frage der wirtschaftlichen Ethik, dass die Menschenrechte in den Produktionsbeziehungen geachtet werden. Wir müssen aber vermeiden, das überbürokratisch und für Mittelständler kaum umsetzbar zu gestalten. Wir werden darauf hinwirken, hier im Rat und Europaparlament noch nachzubessern.
Kommissionspräsidentin von der Leyen hat gelobt, nach dem One-in-One-out-Prinzip Unternehmen an anderer Stelle für neue Gesetze zu entlasten. Sehen Sie, dass das gelebt würde?
Es fällt mir jedenfalls schwer, dafür Beispiele zu finden.
Die Kommission hat noch immer keinen KMU-Beauftragten ernannt. Fühlen Sie Sie sich genug gewürdigt?
Ich denke schon, dass die Kommission und die anderen Institutionen die Kraft der kleinen und mittleren Unternehmen würdigen. Wir haben ein offenes Ohr gefunden.
Die wichtigste Nachricht: Auch Grünen-Schattenberichterstatter Michael Bloss gab sich am Freitag zuversichtlich, dass man “irgendeine Form des ETS 2” hinbekommt. Die Befürchtung vieler, dass der zweite Emissionshandel für Straßenverkehr und das Heizen von Gebäuden im EU-Parlament begraben wird, ist damit einigermaßen entschärft. Näher an einer Einigung, wie und wann der ETS 2 kommt, ist man dadurch allerdings nicht.
Die Enttäuschung, keinen konsensfähigen Kompromiss zu finden (Europe.Table berichtete), sitzt sowohl im konservativen als auch im grünen Lager tief. Bloss beklagt sich über die “Sturheit” der EVP-Verhandler um den hauptverantwortlichen Berichterstatter Peter Liese. Seiner Ansicht nach bremst Liese den Klimaschutz aus, indem er die Ambitionen des Instruments EU-Emissionshandel reduziere, beispielsweise bei der Löschung überschüssiger Zertifikate und der Reduzierung der kostenlosen Zertifikate für die Industrie.
Zur Erinnerung: Überschüssige Zertifikate will Liese über den Linear Reduction Factor (LRF) schneller reduzieren, statt sie einmalig in größerem Umfang zu löschen. Kostenlose Zertifikate will Liese ab 2028 schrittweise reduzieren und durch den CBAM ersetzen. Die Zertifikate sollen aber nicht gelöscht, sondern in eine Carbon-Leakage-Reserve gehen, falls der CBAM seine Wirkung nicht entfaltet. Frühestens 2033 soll es schließlich nur noch den CBAM als Carbon-Leakage-Schutz geben. Grüne, Sozialdemokraten, Liberale und Linke wollen schon 2026 mit der Abschmelzung der kostenlosen Zuteilungen beginnen und den CBAM 2030 vollumfänglich eingeführt sehen. Damit hätten Sie voraussichtlich eine knappe Mehrheit im Umweltausschuss.
In Bezug auf den ETS 2 sähe Bloss lieber stärkere ordnungsrechtliche Maßnahmen, wie strengere CO2-Flottengrenzwerte für Pkw (Europe.Table berichtete), statt des CO2-Preises für Straßenverkehr. Liese wiederum ist fassungslos, dass die deutschen Grünen und SPD-Abgeordneten im EU-Parlament sich so vehement gegen den zweiten Emissionshandel wehren, wo doch die Position der Ampel-Koalition in Berlin seiner entspreche. Er beruft sich auf ein Positionspapier der aktuellen Bundesregierung zum ETS 2, welches Europe.Table vorliegt. Tatsächlich wird dort ein Modell umschrieben, wie Liese es ebenfalls unterstützt. Die Bundesregierung argumentiert, ohne den ETS 2 stünden auch keine Einnahmen für den sozialen Ausgleich zur Verfügung. Aus Sicht von Liese fallen ihm die Abgeordneten der Grünen und SPD auf europäischer Ebene in den Rücken.
Liese sieht seine Kompromissvorschläge darüber hinaus auch von Umweltverbänden gestützt. NGOs wie Germanwatch, WWF oder T&E zeigten sich in einem Brief an die Abgeordneten des Umweltausschusses vom März besorgt, dass der ETS 2 scheitern könnte und forderten explizit, diesen nicht scheitern zu lassen. Auch sie fordern einen Maximalpreis für den ETS 2, wie ihn auch Liese vorgeschlagen hat, um Haushalte vor zu hohen Preisen zu schützen. Anders als der Parlamentarier wollen die NGOs allerdings auch einen Mindestpreis sowie einen jährlich ansteigenden Maximalpreis.
Den Mindestpreis – sowohl für ETS 1 als auch ETS 2 – sähe auch Michael Bloss gerne. Allerdings fordert der Grüne, dass dieser sozial gerecht sein müsse und schwache Haushalte nicht zusätzlich belasten dürfe. Das Problem seiner Partei im EU-Parlament: Ein CO2-Preis für fossile Kraftstoffe im Straßenverkehr und zum Heizen belaste vor allem private Haushalte statt der Industrie.
Um die sozialen Auswirkungen abzufedern und den CO2-Preis stattdessen bei der kommerziellen Nutzung von Brennstoffen zu einem wirkungsvollen Instrument zu machen, gibt es verschiedene Ideen. Schon länger im Gespräch ist der Klimasozialfonds (Europe.Table berichtete). Liese hatte in einem Kompromiss vorgeschlagen, dessen Einführung zwei Jahre vorzuziehen (Europe.Table berichtete). Das bedeutet, dass der Ausgleich für steigende CO2-Preise noch vor der eigentlichen Preissteigerung käme. Die Grünen hatten fünf Jahre “Frontloading” des Fonds gefordert. Am Freitag sagte Bloss, er könne auch mit drei Jahren leben. Ein Kompromiss hier wäre also in Aussicht.
Eine weitere Möglichkeit: Ein Verbot für Mineralölunternehmen, die gesamten Kosten der steigenden Preise durch Einführung des ETS 2 auf die Endkonsumenten abwälzen zu können. Liese hatte vorgeschlagen, dass maximal 50 Prozent weitergegeben werden dürfen. Grüne sowie Sozialdemokraten wollen, dass Mineralölhersteller die Kosten in voller Höhe selbst tragen müssen. Eine Einigung ist nach wie vor fraglich.
Alternativ wird mittlerweile auch darüber diskutiert, ob man den ETS 2 für Verbraucher erst zu einem späteren Zeitpunkt einführt als für die kommerzielle Nutzung von Brennstoffen. Hier stellt sich nur die Frage, wie man zwischen den beiden Nutzarten unterscheidet. Die liberale Renew-Berichterstatterin Emma Wiesner hat einen Vorschlag eingebracht, wonach Kraftstofflieferanten für die Gebäudebeheizung zwischen B2B- und B2C-Lieferverträgen unterscheiden und die Kosten eines CO2-Preises entsprechend verbuchen könnten. So sollen beispielsweise geschäftlich genutzte Bürogebäude einbezogen werden, Privathaushalte jedoch nicht.
Beim Straßenverkehr könnte die Unterscheidung bei der Größe des Fahrzeugs gemacht werden. Kraftstoffe für Schwerlastfahrzeuge, die größtenteils im kommerziellen Bereich eingesetzt werden, würden demnach schon 2025 (ein Jahr früher als von der Kommission geplant) in den ETS 2 einbezogen werden, während Pkw und leichte Nutzfahrzeuge zunächst außen vor bleiben würden. Erfasst werden könnte die unterschiedliche Nutzungsart der Kraftstoffe über die Düse der Zapfsäule. Die Düsen für Pkw und Schwerlastfahrzeuge seien unterschiedlich und passten nicht in die jeweils andere Fahrzeuggattung, sodass man an dieser Stelle “verwaltungstechnisch und physisch” zwischen der Kraftstoffnutzung unterscheiden könnte, heißt es in dem Renew-Vorschlag.
Peter Liese ist allerdings skeptisch. Diese Unterscheidungen zwischen kommerzieller und privater Nutzung möge vielleicht in Frankreich durchführbar sein, möglicherweise aber nicht in Griechenland oder Bulgarien, befürchtet er. Deshalb sei er eigentlich auch gegen diesen Vorschlag. Ohnehin: Unter den Mitgliedstaaten würde dieser Kompromiss überhaupt nicht diskutiert werden, so Liese. Es könnte also sein, dass derartiger Kompromiss im Trilog schnell auch wieder kassiert wird.
Dennoch sieht sein letzter Kompromissvorschlag von Mitte vergangener Woche ein solches Modell für den ETS 2 vor: ab 2025 für kommerzielle Nutzung, ab 2027 dann auch für private Haushalte. Mitgliedstaaten sollen jedoch die Möglichkeit haben, private Haushalte auch schon früher in den ETS 2 einzubeziehen – ein sogenannter “Opt-In”.
Am morgigen Dienstag findet das vorerst letzte Shadow-Meeting statt. Es dürfte die letzte Möglichkeit sein, einen Kompromiss zu finden. In der kommenden Woche wird im Umweltausschuss abgestimmt. Trotz der Differenzen geben sich nach außen alle Seiten bemüht und gewillt, bis dahin eine Einigung zu erzielen.
Coronavirus, Krieg und geringes Publikumsinteresse: Lange Zeit führte die “Konferenz zur Zukunft Europas” ein Schattendasein. Die vier Bürgerpanels mit 800 zufällig ausgewählten Teilnehmern aus den 27 EU-Ländern mussten wegen der Pandemie überwiegend online tagen. Die ersten Arbeitsergebnisse gingen im Getöse des Ukrainekriegs unter. Und eine eigens eingerichtete Online-Plattform fand selbst bei EU-Profis in Brüssel kaum Beachtung.
Doch nun soll alles besser werden: Am heutigen Montag beginnt mit der Vorlage des Abschlussberichts die zweite und entscheidende Phase der Konferenz zur Zukunft Europas. Auf einer symbolträchtigen Feier im Europaparlament in Straßburg wollen Parlamentspräsidentin Roberta Metsola, EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und der amtierende EU-Ratspräsident Emmanuel Macron verraten, wie es weiter geht – und ob die Vorschläge in Reformen umgesetzt werden.
Die Erwartungen sind hoch, womöglich zu hoch. Plötzlich geht es nicht mehr nur um mehr Demokratie und Bürgernähe – wie zu Beginn der Konferenz, als die EU versprach, aus den Fehlern der Europawahl 2019 zu lernen und das System der Spitzenkandidaten zu reformieren. Das steht zwar weiter auf dem Programm. Doch der Krieg in der Ukraine hat die Prioritäten verschoben. Nun geht es nicht mehr nur um die Reform der EU, sondern um ihre Selbstbehauptung.
Vorschläge wie die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in der Außenpolitik, die Schaffung einer EU-Armee oder die Verringerung der Abhängigkeit in der Energieversorgung rücken in den Vordergrund – und rufen nach zügiger Umsetzung. Insgesamt hat das Plenum der Konferenz zur Zukunft Europas 49 Vorschläge mit mehr als 200 Maßnahmen angenommen. Neben der Außenpolitik geht es auch um Klima, Digitales, Gesundheit und die Wirtschafts- und Sozialpolitik.
Viele Vorschläge können schnell umgesetzt werden, heißt es in der EU-Kommission. Einige erforderten aber auch Vertragsänderungen. Die Brüsseler Behörde will nun prüfen, wie eine reibungslose Implementierung gelingen kann. Man dürfe keine Wunder erwarten, auch wenn die Vorschläge von hoher Qualität seinen, sagte ein Behördenvertreter. Bei einem “Feedback-Meeting” im Herbst will die EU-Kommission eine erste Rückmeldung geben.
Mehr Druck macht das Europaparlament. Dort wird schon die Forderung nach einem Reformkonvent laut. Für einen Konvent engagieren sich vor allem deutsche Abgeordnete wie Sven Simon (CDU), Gaby Bischoff (SPD) oder Daniel Freund (Grüne). “Es wird jetzt darauf ankommen, dass sich Macron an seine Sorbonne-Rede erinnert und einen Konvent einberuft”, sagt Simon. Auch die Bundesregierung müsse sich für Vertragsänderungen einsetzen, fordert er.
Aus Berlin kommen durchaus ermunternde Signale. Die Bundesregierung sei für Vertragsänderungen offen, heißt es dort. Allerdings ließen sich 90 Prozent der Vorschläge auch ohne Änderung am Primärrecht umsetzen. Zu beachten sei aber, dass es im Rat derzeit keine Mehrheit für einen Konvent gebe. Man wolle sich daher auf “pragmatische Lösungen” konzentrieren. Es gehe darum, Europa handlungsfähiger, demokratischer und effizienter zu machen.
Zurückhaltend gibt sich der VDMA. “Inhaltlich stimmen wir zwar nicht allen 300 Maßnahmen zu”, sagte Hauptgeschäftsführer Thilo Brodtmann. Einige der Vorschläge seien zu detailliert, andere gingen auch in die falsche Richtung – etwa die zur Rolle von Handelsabkommen für Nachhaltigkeit. “Aber die Empfehlungen adressieren die richtigen Themenbereiche und viele Ideen unterstützen wir ausdrücklich. Dies gilt vor allem für die Forderungen zur Vertiefung des Binnenmarkts und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der EU-Unternehmen.”
Auch Business Europe erinnert die politisch Verantwortlichen daran, dass die Zukunft Europas und der geschätzte europäische Lebensstil auch von der eigenen wirtschaftlichen Stärke und Wettbewerbsfähigkeit abhinge. Markus J. Beyrer, Generaldirektor des Verbandes, legt den Fokus daher auf einige von ihm als Grundvoraussetzungen definierte Bereiche: “Die Vorschläge zur Wettbewerbsfähigkeit, eine effizientere Entscheidungsfindung in der Außenpolitik, die Verteidigung regelbasierten multilateralen Handels und ein stärkerer EU-Binnenmarkt maßgeblich für eine blühende, gemeinsame Zukunft.”
Die Botschafter der EU-Staaten werden ihre Gespräche über das sechste Sanktionspaket Montag oder spätestens Dienstag wieder aufnehmen. Ungarn, Tschechien und die Slowakei drängten am Wochenende auf deutlich längere Übergangsfristen und Garantien beim geplanten Embargo für Öl aus Russland.
Die Mitgliedstaaten seien sich zwar einig, dass das sechste Sanktionspaket nötig sei, so ein EU-Diplomat. Auch Ungarn sei nicht grundsätzlich gegen ein Ölembargo. Budapest habe nicht mit dem Veto gedroht. Die Gespräche seien konstruktiv, und wichtige Fortschritte seien erzielt worden, so EU-Diplomaten. Mit Blick auf besonders von russischem Öl abhängige Mitgliedstaaten seien aber weitere Garantien nötig.
Die EU-Kommission hatte beim Rohöl den Ausstieg innerhalb von sechs Monaten und bei Diesel beziehungsweise Benzin bis Ende Jahr vorgeschlagen. Ungarn und die Slowakei sollten bis Ende 2023 Zeit haben. Ministerpräsident Viktor Orban hatte am Freitag den Vorschlag der EU-Kommission als “Atombombe” bezeichnet, die auf die ungarische Wirtschaft abgeworfen werde.
Die Slowakei fordert eine Frist für den Ausstieg bis 2025. Auch Bulgarien drängt auf eine Ausnahmeregelung. Die Binnenländer Ungarn, Tschechien und die Slowakei sind stark von russischem Öl abhängig, das über den Südstrang der Pipeline “Druschba” (Freundschaft) geliefert wird. Tschechien bezieht nach eigenen Angaben 50 Prozent des Öls aus Russland. Bei Ungarn sind es 65 Prozent und im Fall der Slowakei sogar 100 Prozent.
Bundeskanzler Olaf Scholz betonte am Sonntagabend in einer Fernsehansprache erneut: “Wir unternehmen nichts, was uns und unseren Partnern mehr schadet als Russland.” EU-Kommission und der französische EU-Ratsvorsitz hatten am Wochenende längere Übergangsfristen angeboten. Das Zugeständnis ging den betroffenen Ländern, die zudem finanzielle Unterstützung einfordern, aber nicht weit genug.
Teil des sechsten Sanktionspakets ist auch das Verbot von drei weiteren russischen TV-Sendern (Rossija 1, NTV und Perwij Kanal). Hier sahen die Niederlande und Deutschland noch Klärungsbedarf. So soll hier klargestellt werden, dass es sich nicht um Medien, sondern um Instrumente der russischen Propaganda handelt. Zypern und Griechenland äußerten Vorbehalte bei den geplanten Konten und Reisesperren für den russischen Patriarchen Kyril.
Griechenland hatte zudem Bedenken angesichts des geplanten Verbots von Dienstleistungen im Zusammenhang mit dem Transport von russischem Öl: Etwa 70 Prozent der weltweiten Öltransportkapazität hängt allein von griechischen Reedern ab, hier soll es nun eine dreimonatige Übergangsfrist geben. EU-Diplomaten zeigten sich am Sonntag optimistisch, in den nächsten Tagen eine Lösung und die Zustimmung aller 27 Mitgliedstaaten zu finden.
Unterdessen verschärften die USA noch einmal die Sanktionen im Dienstleistungssektor: US-Bürgern wird unabhängig vom Aufenthaltsort per Präsidial-Dekret untersagt, Buchhaltungs- oder Treuhanddienstleistungen zu erbringen oder Unternehmensgründungen zu unterstützen. Auch gegen bestimmte Transportunternehmen, die für das Militär der Russischen Föderation tätig sind, wurden weitere US-Sanktionen erlassen. sti
Die Bundesregierung habe die letzten zwei Monate dran gearbeitet, die Raffinerien in Schwedt und Leuna aus Quellen in anderen Ländern zu versorgen, sagte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) dem Fernsehsender Welt. “Die Raffinerien sollen erhalten bleiben, und wir wissen jetzt, wie es gehen kann.” Dies sei jedoch erstmal ein Konzept. “Solange Rosneft sagt: ‘Das ist alles unseres’ kommen wir erstmal nicht weiter.” Schiffe und Ölmengen zu bestellen, sei ohne Mitwirkung von Rosneft derzeit nicht möglich.
Dieses Problem versucht die Bundesregierung derzeit über die Neufassung des Energiesicherungsgesetzes zu lösen (Europe.Table berichtete), das im Eilverfahren als Formulierungshilfe den Bundestagsfraktionen übersandt wurde und von den Regierungskoalitionen Ende April eingebracht wurde. Der Entwurf sieht unter anderem in §18 die Möglichkeit einer Treuhandverwaltung und einer Enteignung zur Sicherung der Energieversorgung im Ausnahmefall vor.
“In dem Moment, in dem das gelöst ist, können wir das gute politische Konzept umsetzen in die Tat”, so Habeck. Dies könne, so der Bundeswirtschaftsminister, im Übergang “zu Rumpeleien führen”. Es gebe aber eine gute Chance, dass die PCK-Raffinerie Schwedt erhalten bleiben könne und eine “Raffinerie der Zukunft” werden könne, insbesondere mit Blick auf Wasserstoff und die Anbindung an den Hafen Rostock. fst
Die Regierung des Vereinigten Königreichs kündigte am Freitag an, gesetzliche Reformen zum Wettbewerb in digitalen Märkten auf den Weg zu bringen. Damit wolle man der Dominanz der größten Firmen begegnen, so die Ankündigung.
Man könne, nachdem man die EU verlassen habe, einen eigenen, verhältnismäßigen und innovationsfreundlichen Ansatz suchen, der für das Vereinigte Königreich funktioniere. Dieses solle ein “flexibleres und gezielteres” im Vergleich zu anderen, sich abzeichnenden internationalen regulatorischen Regimes werden, heißt es im gemeinsamen Text der zuständigen Secretaries of State Nadine Dorries (Digitales) und Kwasi Kwarteng (Wirtschaft, Industrie und Energie). Die Tory-Regierung will damit offenkundig zum einen mit dem Digital Markets Act (DMA) der EU auf Augenhöhe bleiben, zugleich aber Unterschiede betonen.
Mit der Reform soll die Wettbewerbsaufsicht Competition and Markets Authority (CMA), die bereits eine Sonderabteilung für Digitale Märkte hat, weitere Befugnisse erhalten. Insbesondere bei Fusionen und Übernahmen sollen Firmen, die in einem oder mehreren Märkten einen sogenannten strategischen Marktstatus innehätten, frühzeitiger und umfassender die CMA informieren müssen. Bei Verstößen soll die CMA künftig zudem Bußgelder in Höhe von bis zu 10 Prozent des weltweiten Jahresumsatzes verhängen dürfen. fst
Die Konferenz zur Zukunft Europas neigt sich dem Ende zu. Am heutigen Europatag wird ihr Abschlussbericht veröffentlicht und dem Präsidenten der EU-Institutionen übergeben – das Ergebnis von mehr als einem Jahr an Beratungen mit über 50.000 europäischen Bürger:innen. Zu den 49 weitreichenden Vorschlägen gehören unter anderen die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips, die Einführung transnationaler Listen für die Europawahl und die Schaffung einer europäischen Armee.
Dies könnte sich als nützliche Initiative erweisen – oder nur als PR-Übung entpuppen, die schnell vergessen ist. Vieles wird von der tatsächlichen Annahme und Umsetzung der Vorschläge abhängen. Doch wenn die Konferenz zur Zukunft Europas zum Ziel hatte, öffentliches Engagement bei der Gestaltung der Union zu fördern, so ist sie diesem nicht gerecht geworden, und zwar hauptsächlich aus zwei Gründen.
Erstens stellt die Konferenz nur eine von vielen Strategien dar, die zur Belebung des europäischen Gemeinschaftsgefühls eingesetzt werden können. Sie entspricht dem, was der niederländische Historiker Luuk van Middelaar eine “griechische Strategie” nennt, die darin besteht, der Öffentlichkeit eine Stimme zu geben – was ja bereits bei den Direktwahlen zum Europäischen Parlament der Fall ist. In den vergangenen Jahrzehnten hat diese Strategie mit anderen politischen Strategien koexistiert, wie etwa der Förderung einer gemeinsamen kulturellen und historischen Identität oder dem Appell an die Vorteile der europäischen Integration. Ein europäisches Gemeinschaftsgefühl entsteht jedoch nicht unbedingt aufgrund solcher dezidierten Strategien – es kann auch durch plötzliche Ereignisse getriggert werden. Dies scheint insbesondere jetzt der Fall zu sein, da der Krieg auf den europäischen Kontinent zurückgekehrt ist.
Zweitens fand der größte Teil der Konferenz vor eben jenem Krieg in der Ukraine statt. Dieses eine Ereignis aber wurde zur Quelle mehrerer Dilemmas, mit denen sich die EU derzeit auseinandersetzen muss: von Energiesouveränität über die Realisierbarkeit ihrer Klimaziele bis hin zur Bereitschaft für eine weitere Runde finanzieller Unterstützung, zur entschlossenen Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten. All diese Punkte kommen nun auf die ohnehin schon lange Liste von Problemen, die durch die Coronavirus-Pandemie deutlicher hervortraten. Der Krieg in der Ukraine konfrontiert die Europäer:innen mit einigen neuen und schwierigen Fragen über sich selbst. Zum Beispiel sind sie heute viel solidarischer mit ukrainischen Migrant:innen als mit den syrischen vor sieben Jahren. Wie ist das zu interpretieren?
Der European Sentiment Compass – ein neues Datentool inklusive Essay, das heute vom European Council on Foreign Relations und der Europäischen Kulturstiftung veröffentlicht wurde – deckt die verschiedenen Aspekte auf, unter denen die obengenannten Themen derzeit in der EU27 diskutiert werden. So weckt die Klimapolitik der EU in einigen Mitgliedstaaten Hoffnungen, in anderen hingegen Ängste. Dasselbe gilt für den Aktivismus der EU im Bereich Rechtsstaatlichkeit. Es wird auch analysiert, ob diese Themen die Einstellung der Menschen in den jeweiligen Mitgliedsstaaten zu Europa verbessern oder verschlechtern würden. Hierbei wurde festgestellt, dass bei allen Themen das Gefühl vorherrscht, dass sie die Europäer:innen eher näher zusammenbringen als auseinandertreiben könnten – doch hängt dies stark von den Entscheidungen ab, die die Europäer:innen treffen.
Gleichzeitig wurde die Rolle der Medien und des Kultursektors für die Bildung eines europäischen Gemeinschaftsgefühls in den EU-Ländern untersucht. Es wird deutlich, dass dieser Prozess, selbst wenn äußere Umstände günstig sind, nicht ohne unabhängige Medien und kultureller Freiheit erfolgreich sein kann. Die Übersetzung von Ereignissen in gemeinsame Erinnerungen und Bedeutungssphären muss ungehindert geschehen können. Dies ist allerdings in mehreren EU-Mitgliedstaaten nicht der Fall.
Ein offenkundiges Beispiel ist Ungarn, wo die kulturellen Institutionen nationalistischen Diskursen untergeordnet sind. Und die Medien von einer illiberalen Regierung so stark kontrolliert werden, dass kaum zu erwarten ist, dass die Pandemie oder der Krieg den Ungarn das Gefühl geben könnten, in einer Erfahrungsgemeinschaft mit den übrigen Europäer:innen zu sein.
Doch das Problem mit den Medien betrifft nicht nur die schwache Pressefreiheit in Ländern wie Bulgarien, Ungarn, Malta und Griechenland oder die geringe Medienkompetenz in einer ähnlichen Ländergruppe. Es geht auch um die Unterwanderung durch russische Medien und Interessen anderswo und die Selbstgefälligkeit gegenüber dieser ausländischen Einmischung. Zu den jüngsten Beispielen gehören ein italienischer Fernsehsender, der Sergej Lawrow die Hauptsendezeit für seine antisemitischen Anschuldigungen zur Verfügung stellte. Ein großer französischer Privatfernsehsender, der ein Interview mit einem Kreml-Sprecher führte. Oder die britische Zeitung The Guardian, die einen Meinungsbeitrag eines ehemaligen Kreml-Beraters akzeptierte, der sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ausspricht.
Was den Kultursektor betrifft, so besteht das Problem nicht nur in der öffentlichen Förderung nationalistischer Diskurse in Ländern wie Ungarn oder Polen, sondern vor allem in dessen besorgniserregender wirtschaftlichen Lage nach der Corona-Pandemie. Aus einigen Studien geht hervor, dass Kultur zu den am stärksten betroffenen Sektoren in der EU gehört: gleichauf mit dem Luftverkehr und noch vor Tourismus. Trotz einer Kampagne der Zivilgesellschaft, dem Culture Deal for Europe, die die Mitgliedstaaten dazu aufforderte, zwei Prozent ihrer nationalen Konjunkturprogramme für Kultur bereitzustellen, haben nur zwei Länder – Frankreich und Italien – dies tatsächlich getan.
Heute stehen Kunst und Kultur – von der Biennale in Venedig bis zum Eurovision Song Contest – in vorderster Reihe bei der europäischen Reaktion auf den Krieg in der Ukraine. Auch während und nach der Pandemie hat Kultur eine entscheidende Rolle gespielt: Sie hat Menschen zusammengebracht, Solidarität sichtbar gemacht sowie Einzelpersonen und Gruppen dabei geholfen, all Geschehnissen zu verarbeiten. Es stellt sich jedoch die Frage, ob der Kultursektor in allen EU-Ländern über ausreichende Ressourcen und die nötige Freiheit verfügt, um diese wichtigen Aufgaben weiterhin zu erfüllen.
Es gibt einige positive Anzeichen für eine wachsende Wertschätzung von Kultur und Medien in ihrer Rolle bei der Gestaltung des europäischen Gemeinschaftsgefühls. Ursula von der Leyen hat kürzlich anerkannt, dass “Europa ohne einen florierenden Kultursektor nicht Europa sein kann”. Mit dem Konjunkturfonds haben die EU-Institutionen zum ersten Mal eine außerordentliche Unterstützung für den Kultur- und Kreativsektor mobilisiert. In demselben Sinne und in der Erkenntnis, dass der Krieg des Kremls in erster Linie ein Krieg gegen die grundlegenden europäischen Werte, Träume, Ideale und Kultur ist, müssen unsere Antworten eine starke kulturelle Dimension beinhalten.
Der in Kürze einzurichtende Treuhandfonds für die Ukraine sollte daher Kultur mit zu seinen Prioritäten zählen. Medienpluralismus ist bereits Teil der jährlichen Rechtsstaatlichkeits-Berichte der Europäischen Kommission, in denen wichtige Entwicklungen zur Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedsstaaten beobachtet werden. Gleichzeitig wird erwartet, dass die Europäische Kommission noch in diesem Jahr eine neue Verordnung vorschlägt, die sich mit der Unabhängigkeit der Medien befasst. Im Bereich der Kulturpolitik fehlt jedoch ein entsprechender Überwachungsmechanismus.
Zur Bewältigung ihrer aktuellen Herausforderungen – von Sicherheitsbedenken über Klimawandel bis hin zu Migration – braucht die EU ein Ökosystem, das es ermöglicht, diese Themen in der gesamten Union und in der europäischen Öffentlichkeit permanent zu diskutieren und gemeinsame Schlussfolgerungen und Konzepte ungestört entstehen können. Freie Medien und Kultur müssen als fester und notwendiger Bestandteil dieses Ökosystems betrachtet werden, die den Europäer:innen helfen, ihre Zukunft eigenhändig zu gestalten. Sie sind somit auch für die Sicherheit und Handlungsfähigkeit des Kontinents von entscheidender Bedeutung.
Initiativen wie die Konferenz zur Zukunft Europas sind lobenswerte Experimente – aber sie sind zu punktuell, werden zu sehr von oben gesteuert und es mangelt ihnen deshalb an Legitimität. Es wäre gefährlich anzunehmen, dass sie allein ausreichen könnten, um die Europäer:innen zusammenzubringen. Ein europäisches Gefühl der Zugehörigkeit muss wachsen und gepflegt werden. Nicht durch sporadisch stattfindende Konferenzen, sondern auf bewusste, strategische und nachhaltige Weise. Andernfalls machen wir uns zu sehr angreifbar für jedwede Form von politischen Ereignissen.
der 08.05. markiert das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa, in Moskau war um 23:01 Berliner Zeit damals bereits der 09.05. angebrochen, weshalb die Feierlichkeiten an unterschiedlichen Daten stattfinden. Olaf Scholz hat in einer Fernsehansprache am Sonntag die Leitlinien seiner Regierung dargelegt: Keine Alleingänge, kein Kriegseintritt der NATO, Verteidigungsfähigkeit des eigenen Landes muss erhalten bleiben – und keine Maßnahmen, die Deutschland oder seinen Partnern mehr schadeten als Russland. Die Messlatte für das, was kommen mag, hat er ebenfalls definiert: Weder die Ukraine noch ihre Partner würden einen Diktatfrieden Russlands akzeptieren.
Unterdessen haben sich die Verhandler noch nicht auf das genaue Procedere des nächsten Sanktionspakets, zu dem dann auch das Ölembargo gehören soll, einigen können. Wo genau die Uneinigkeiten liegen, hat Stephan Israel in den News aufbereitet.
Welche Maßnahmen wann kommen sollten, das beschäftigt auch Luc Frieden. Der neue Eurochambres-Präsident frühere luxemburgische Finanzminister drängt im Interview mit Till Hoppe auf genau austarierte Maßnahmen und befürchtet andernfalls schwere wirtschaftliche und soziale Verwerfungen.
Der Weg zum wirksamen europäischen Emissionshandel ist lang – insbesondere der sogenannte ETS 2 sorgt weiter für Diskussionen. Am Dienstag will sich der Umweltausschuss des Europaparlaments auf Positionen einigen. Doch dass dies gelingt, ist angesichts der noch offenen Fragen keineswegs garantiert, analysiert Lukas Scheid.
Heute beginnt ihre entscheidende Phase, und auch die Konferenz zur Zukunft Europas hat ihren Charakter durch die Ereignisse in der Ukraine verändert, analysiert Eric Bonse. Die Erwartungen sind sehr divers – politisch, sozial und wirtschaftlich.
Vielleicht wäre es hilfreicher, statt auf punktuelle Konferenzen auf andere Wege zu setzen, um ein europäisches Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen? Andre Wilkens (Europäische Kulturstiftung) und Paweł Zerka (ECFR) legen in ihrem Gastbeitrag Alternativen dar.
Kommen Sie gut in die Woche!
Herr Frieden, die europäische Wirtschaft wächst kaum noch, die Preise steigen schnell. Befürchten Sie eine neue Rezession, gar eine Stagflation?
Die Lage ist schwierig. Der Krieg in der Ukraine dauert länger als ursprünglich erwartet. Inzwischen kommen mehrere Faktoren zusammen: die hohen Preise für Rohstoffe, insbesondere Gas und Öl, die Verwerfungen in den Lieferketten, die hohe Inflation. Das ist ein Mix, der vielen Unternehmen Sorgen bereitet.
Neben dem Krieg verschärft China über seine Null-Covid-Politik noch das Chaos in den Lieferketten.
Ich würde nicht von Chaos sprechen, auch wenn viele Unternehmen die Folgen spüren. Es ist oft schwierig für sie, ihren Kunden ein verbindliches Lieferdatum zu nennen. Bei allen Problemen darf man aber nicht vergessen, dass wir in Europa einen stabilen Binnenmarkt haben. Nach der Pandemie ist die Nachfrage stark. Einige Sektoren wie die Reisebranche sind deshalb bislang wenig betroffen und können sich erholen. Auch im Nahrungsmittelsektor schlagen die Folgen noch nicht so stark durch. Die Rohstoffpreise steigen zwar, aber die Nachfrage ist hoch.
Viele Produzenten können höhere Kosten an die Verbraucher weitergeben, aber die hohe Teuerung bremst bereits den Konsum.
Die steigenden Preise sind momentan vor allem ein soziales Problem, das die Politik wo möglich abfedern sollte. Je länger die Situation andauert, desto schwieriger wird es aber auch für die Firmen. Vieles hängt davon ab, wie lang der Krieg andauert.
Sollte die Europäische Zentralbank mehr gegen die hohe Inflation tun?
Die EZB hat die Aufgabe, das Inflationsziel von zwei Prozent mittelfristig zu garantieren. Ich gehe davon aus, dass sie das erreichen kann, wenn sie einerseits die Stützungsmaßnahmen aus der Pandemie fortsetzt und andererseits die Zinsen leicht anhebt. Die hohe Inflation ist vor allem ein Resultat der abklingenden Pandemie, weniger des Krieges in der Ukraine. Daher gehe ich davon aus, dass sie zeitlich begrenzt sein wird.
Sie glauben, dass sich die Lage schnell normalisieren wird?
Es wird sicherlich dauern, bis die ukrainische Wirtschaft wieder ins Rollen kommt. Aber international werden sich Handel und Lieferketten relativ schnell erholen, wenn Krieg und Pandemie vorbei sind, weil die Strukturen dahinter nicht zerstört sind. Das ist ein Unterschied zur Finanzkrise. Dort haben wir noch jahrelang die Nachwirkungen gespürt.
Die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland werden aber auch nach einem Ende der Kampfhandlungen kaum die alten sein.
Ich glaube, dass es auch ein Russland nach diesem Krieg und nach Putin geben wird. Es wird in der Tat schwierig sein, mit dieser Führungsriege zusammenzuarbeiten. Aber Russland und das Regime sind nicht dasselbe. Wir werden mit dem Nachbarn Russland in Zukunft wieder wirtschaftliche Beziehungen pflegen müssen – vorausgesetzt natürlich, dass es die Regeln der internationalen Ordnung respektiert.
Die EU will ein Ölembargo verhängen, ein Gasembargo könnte später folgen. Der richtige Weg?
Sanktionen sollten keinen enormen sozialen Schaden bei uns anrichten. Deshalb sind wir sehr zurückhaltend gegenüber Sanktionen, die Öl und Gas einschließen. Wir befürchten, dass es Tausende, wenn nicht Millionen Arbeitslose geben könnte. Wenn es doch dazu kommt, müssen die Folgen abgefedert werden. Unsere Unternehmen und Mitarbeiter sind nicht schuld an diesem Krieg.
Befürchten Sie, dass Moskau auf ein Ölembargo mit einem breiter angelegten Gaslieferstopp reagiert?
Das ist schwer vorherzusagen. Wir sollten in jedem Fall versuchen, unsere Energiequellen geografisch zu diversifizieren und schneller zu erneuerbaren Energien überzugehen. Das ist leichter gesagt als getan, aber die Wirtschaft sollte die Energiewende beschleunigen und der Staat sollte sie dabei unterstützen.
Sie plädieren also dafür, das Tempo im Green Deal noch zu erhöhen?
Ja. Es gibt aber Grenzen des technisch Möglichen. Nicht alle Lkw werden morgen mit Batterie fahren, nicht alle Flugzeuge mit klimafreundlichem Kerosin fliegen können. Solche sektoralen Bedingungen sollten berücksichtigt werden.
Sollte die EU-Ziele für den Ausbau der erneuerbaren Energien und die Verbesserung der Energieeffizienz noch einmal erhöht werden, wie derzeit diskutiert wird?
Die Ziele sind schon jetzt sehr ambitioniert. Wir sollten uns darauf konzentrieren, diese auch zu erreichen. Und dabei darauf achten, die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in diesem schwierigen Umfeld zu erhalten.
Konkret?
Es geht etwa um den Emissionshandel und den geplanten CO2-Grenzausgleich. Wir sollten das System der Gratiszuteilungen für die Industrie noch ein bisschen länger beibehalten. Der CBAM ist ein intellektuell interessantes System, aber ist das jetzt der richtige Zeitpunkt? Unsere Position ist: Die Ziele sind richtig, aber das Timing sollten wir angesichts der akuten Energiekrise überprüfen.
Die Nachhaltigkeitsagenda der EU-Kommission bringt etliche neue Berichtspflichten für die Industrie. Ist es auch dafür der falsche Zeitpunkt?
Die Ziele der Vorhaben sind legitim, aber wir sollten den Weg dorthin überprüfen. Nehmen Sie das Lieferkettengesetz: Es ist eine Frage der wirtschaftlichen Ethik, dass die Menschenrechte in den Produktionsbeziehungen geachtet werden. Wir müssen aber vermeiden, das überbürokratisch und für Mittelständler kaum umsetzbar zu gestalten. Wir werden darauf hinwirken, hier im Rat und Europaparlament noch nachzubessern.
Kommissionspräsidentin von der Leyen hat gelobt, nach dem One-in-One-out-Prinzip Unternehmen an anderer Stelle für neue Gesetze zu entlasten. Sehen Sie, dass das gelebt würde?
Es fällt mir jedenfalls schwer, dafür Beispiele zu finden.
Die Kommission hat noch immer keinen KMU-Beauftragten ernannt. Fühlen Sie Sie sich genug gewürdigt?
Ich denke schon, dass die Kommission und die anderen Institutionen die Kraft der kleinen und mittleren Unternehmen würdigen. Wir haben ein offenes Ohr gefunden.
Die wichtigste Nachricht: Auch Grünen-Schattenberichterstatter Michael Bloss gab sich am Freitag zuversichtlich, dass man “irgendeine Form des ETS 2” hinbekommt. Die Befürchtung vieler, dass der zweite Emissionshandel für Straßenverkehr und das Heizen von Gebäuden im EU-Parlament begraben wird, ist damit einigermaßen entschärft. Näher an einer Einigung, wie und wann der ETS 2 kommt, ist man dadurch allerdings nicht.
Die Enttäuschung, keinen konsensfähigen Kompromiss zu finden (Europe.Table berichtete), sitzt sowohl im konservativen als auch im grünen Lager tief. Bloss beklagt sich über die “Sturheit” der EVP-Verhandler um den hauptverantwortlichen Berichterstatter Peter Liese. Seiner Ansicht nach bremst Liese den Klimaschutz aus, indem er die Ambitionen des Instruments EU-Emissionshandel reduziere, beispielsweise bei der Löschung überschüssiger Zertifikate und der Reduzierung der kostenlosen Zertifikate für die Industrie.
Zur Erinnerung: Überschüssige Zertifikate will Liese über den Linear Reduction Factor (LRF) schneller reduzieren, statt sie einmalig in größerem Umfang zu löschen. Kostenlose Zertifikate will Liese ab 2028 schrittweise reduzieren und durch den CBAM ersetzen. Die Zertifikate sollen aber nicht gelöscht, sondern in eine Carbon-Leakage-Reserve gehen, falls der CBAM seine Wirkung nicht entfaltet. Frühestens 2033 soll es schließlich nur noch den CBAM als Carbon-Leakage-Schutz geben. Grüne, Sozialdemokraten, Liberale und Linke wollen schon 2026 mit der Abschmelzung der kostenlosen Zuteilungen beginnen und den CBAM 2030 vollumfänglich eingeführt sehen. Damit hätten Sie voraussichtlich eine knappe Mehrheit im Umweltausschuss.
In Bezug auf den ETS 2 sähe Bloss lieber stärkere ordnungsrechtliche Maßnahmen, wie strengere CO2-Flottengrenzwerte für Pkw (Europe.Table berichtete), statt des CO2-Preises für Straßenverkehr. Liese wiederum ist fassungslos, dass die deutschen Grünen und SPD-Abgeordneten im EU-Parlament sich so vehement gegen den zweiten Emissionshandel wehren, wo doch die Position der Ampel-Koalition in Berlin seiner entspreche. Er beruft sich auf ein Positionspapier der aktuellen Bundesregierung zum ETS 2, welches Europe.Table vorliegt. Tatsächlich wird dort ein Modell umschrieben, wie Liese es ebenfalls unterstützt. Die Bundesregierung argumentiert, ohne den ETS 2 stünden auch keine Einnahmen für den sozialen Ausgleich zur Verfügung. Aus Sicht von Liese fallen ihm die Abgeordneten der Grünen und SPD auf europäischer Ebene in den Rücken.
Liese sieht seine Kompromissvorschläge darüber hinaus auch von Umweltverbänden gestützt. NGOs wie Germanwatch, WWF oder T&E zeigten sich in einem Brief an die Abgeordneten des Umweltausschusses vom März besorgt, dass der ETS 2 scheitern könnte und forderten explizit, diesen nicht scheitern zu lassen. Auch sie fordern einen Maximalpreis für den ETS 2, wie ihn auch Liese vorgeschlagen hat, um Haushalte vor zu hohen Preisen zu schützen. Anders als der Parlamentarier wollen die NGOs allerdings auch einen Mindestpreis sowie einen jährlich ansteigenden Maximalpreis.
Den Mindestpreis – sowohl für ETS 1 als auch ETS 2 – sähe auch Michael Bloss gerne. Allerdings fordert der Grüne, dass dieser sozial gerecht sein müsse und schwache Haushalte nicht zusätzlich belasten dürfe. Das Problem seiner Partei im EU-Parlament: Ein CO2-Preis für fossile Kraftstoffe im Straßenverkehr und zum Heizen belaste vor allem private Haushalte statt der Industrie.
Um die sozialen Auswirkungen abzufedern und den CO2-Preis stattdessen bei der kommerziellen Nutzung von Brennstoffen zu einem wirkungsvollen Instrument zu machen, gibt es verschiedene Ideen. Schon länger im Gespräch ist der Klimasozialfonds (Europe.Table berichtete). Liese hatte in einem Kompromiss vorgeschlagen, dessen Einführung zwei Jahre vorzuziehen (Europe.Table berichtete). Das bedeutet, dass der Ausgleich für steigende CO2-Preise noch vor der eigentlichen Preissteigerung käme. Die Grünen hatten fünf Jahre “Frontloading” des Fonds gefordert. Am Freitag sagte Bloss, er könne auch mit drei Jahren leben. Ein Kompromiss hier wäre also in Aussicht.
Eine weitere Möglichkeit: Ein Verbot für Mineralölunternehmen, die gesamten Kosten der steigenden Preise durch Einführung des ETS 2 auf die Endkonsumenten abwälzen zu können. Liese hatte vorgeschlagen, dass maximal 50 Prozent weitergegeben werden dürfen. Grüne sowie Sozialdemokraten wollen, dass Mineralölhersteller die Kosten in voller Höhe selbst tragen müssen. Eine Einigung ist nach wie vor fraglich.
Alternativ wird mittlerweile auch darüber diskutiert, ob man den ETS 2 für Verbraucher erst zu einem späteren Zeitpunkt einführt als für die kommerzielle Nutzung von Brennstoffen. Hier stellt sich nur die Frage, wie man zwischen den beiden Nutzarten unterscheidet. Die liberale Renew-Berichterstatterin Emma Wiesner hat einen Vorschlag eingebracht, wonach Kraftstofflieferanten für die Gebäudebeheizung zwischen B2B- und B2C-Lieferverträgen unterscheiden und die Kosten eines CO2-Preises entsprechend verbuchen könnten. So sollen beispielsweise geschäftlich genutzte Bürogebäude einbezogen werden, Privathaushalte jedoch nicht.
Beim Straßenverkehr könnte die Unterscheidung bei der Größe des Fahrzeugs gemacht werden. Kraftstoffe für Schwerlastfahrzeuge, die größtenteils im kommerziellen Bereich eingesetzt werden, würden demnach schon 2025 (ein Jahr früher als von der Kommission geplant) in den ETS 2 einbezogen werden, während Pkw und leichte Nutzfahrzeuge zunächst außen vor bleiben würden. Erfasst werden könnte die unterschiedliche Nutzungsart der Kraftstoffe über die Düse der Zapfsäule. Die Düsen für Pkw und Schwerlastfahrzeuge seien unterschiedlich und passten nicht in die jeweils andere Fahrzeuggattung, sodass man an dieser Stelle “verwaltungstechnisch und physisch” zwischen der Kraftstoffnutzung unterscheiden könnte, heißt es in dem Renew-Vorschlag.
Peter Liese ist allerdings skeptisch. Diese Unterscheidungen zwischen kommerzieller und privater Nutzung möge vielleicht in Frankreich durchführbar sein, möglicherweise aber nicht in Griechenland oder Bulgarien, befürchtet er. Deshalb sei er eigentlich auch gegen diesen Vorschlag. Ohnehin: Unter den Mitgliedstaaten würde dieser Kompromiss überhaupt nicht diskutiert werden, so Liese. Es könnte also sein, dass derartiger Kompromiss im Trilog schnell auch wieder kassiert wird.
Dennoch sieht sein letzter Kompromissvorschlag von Mitte vergangener Woche ein solches Modell für den ETS 2 vor: ab 2025 für kommerzielle Nutzung, ab 2027 dann auch für private Haushalte. Mitgliedstaaten sollen jedoch die Möglichkeit haben, private Haushalte auch schon früher in den ETS 2 einzubeziehen – ein sogenannter “Opt-In”.
Am morgigen Dienstag findet das vorerst letzte Shadow-Meeting statt. Es dürfte die letzte Möglichkeit sein, einen Kompromiss zu finden. In der kommenden Woche wird im Umweltausschuss abgestimmt. Trotz der Differenzen geben sich nach außen alle Seiten bemüht und gewillt, bis dahin eine Einigung zu erzielen.
Coronavirus, Krieg und geringes Publikumsinteresse: Lange Zeit führte die “Konferenz zur Zukunft Europas” ein Schattendasein. Die vier Bürgerpanels mit 800 zufällig ausgewählten Teilnehmern aus den 27 EU-Ländern mussten wegen der Pandemie überwiegend online tagen. Die ersten Arbeitsergebnisse gingen im Getöse des Ukrainekriegs unter. Und eine eigens eingerichtete Online-Plattform fand selbst bei EU-Profis in Brüssel kaum Beachtung.
Doch nun soll alles besser werden: Am heutigen Montag beginnt mit der Vorlage des Abschlussberichts die zweite und entscheidende Phase der Konferenz zur Zukunft Europas. Auf einer symbolträchtigen Feier im Europaparlament in Straßburg wollen Parlamentspräsidentin Roberta Metsola, EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und der amtierende EU-Ratspräsident Emmanuel Macron verraten, wie es weiter geht – und ob die Vorschläge in Reformen umgesetzt werden.
Die Erwartungen sind hoch, womöglich zu hoch. Plötzlich geht es nicht mehr nur um mehr Demokratie und Bürgernähe – wie zu Beginn der Konferenz, als die EU versprach, aus den Fehlern der Europawahl 2019 zu lernen und das System der Spitzenkandidaten zu reformieren. Das steht zwar weiter auf dem Programm. Doch der Krieg in der Ukraine hat die Prioritäten verschoben. Nun geht es nicht mehr nur um die Reform der EU, sondern um ihre Selbstbehauptung.
Vorschläge wie die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in der Außenpolitik, die Schaffung einer EU-Armee oder die Verringerung der Abhängigkeit in der Energieversorgung rücken in den Vordergrund – und rufen nach zügiger Umsetzung. Insgesamt hat das Plenum der Konferenz zur Zukunft Europas 49 Vorschläge mit mehr als 200 Maßnahmen angenommen. Neben der Außenpolitik geht es auch um Klima, Digitales, Gesundheit und die Wirtschafts- und Sozialpolitik.
Viele Vorschläge können schnell umgesetzt werden, heißt es in der EU-Kommission. Einige erforderten aber auch Vertragsänderungen. Die Brüsseler Behörde will nun prüfen, wie eine reibungslose Implementierung gelingen kann. Man dürfe keine Wunder erwarten, auch wenn die Vorschläge von hoher Qualität seinen, sagte ein Behördenvertreter. Bei einem “Feedback-Meeting” im Herbst will die EU-Kommission eine erste Rückmeldung geben.
Mehr Druck macht das Europaparlament. Dort wird schon die Forderung nach einem Reformkonvent laut. Für einen Konvent engagieren sich vor allem deutsche Abgeordnete wie Sven Simon (CDU), Gaby Bischoff (SPD) oder Daniel Freund (Grüne). “Es wird jetzt darauf ankommen, dass sich Macron an seine Sorbonne-Rede erinnert und einen Konvent einberuft”, sagt Simon. Auch die Bundesregierung müsse sich für Vertragsänderungen einsetzen, fordert er.
Aus Berlin kommen durchaus ermunternde Signale. Die Bundesregierung sei für Vertragsänderungen offen, heißt es dort. Allerdings ließen sich 90 Prozent der Vorschläge auch ohne Änderung am Primärrecht umsetzen. Zu beachten sei aber, dass es im Rat derzeit keine Mehrheit für einen Konvent gebe. Man wolle sich daher auf “pragmatische Lösungen” konzentrieren. Es gehe darum, Europa handlungsfähiger, demokratischer und effizienter zu machen.
Zurückhaltend gibt sich der VDMA. “Inhaltlich stimmen wir zwar nicht allen 300 Maßnahmen zu”, sagte Hauptgeschäftsführer Thilo Brodtmann. Einige der Vorschläge seien zu detailliert, andere gingen auch in die falsche Richtung – etwa die zur Rolle von Handelsabkommen für Nachhaltigkeit. “Aber die Empfehlungen adressieren die richtigen Themenbereiche und viele Ideen unterstützen wir ausdrücklich. Dies gilt vor allem für die Forderungen zur Vertiefung des Binnenmarkts und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der EU-Unternehmen.”
Auch Business Europe erinnert die politisch Verantwortlichen daran, dass die Zukunft Europas und der geschätzte europäische Lebensstil auch von der eigenen wirtschaftlichen Stärke und Wettbewerbsfähigkeit abhinge. Markus J. Beyrer, Generaldirektor des Verbandes, legt den Fokus daher auf einige von ihm als Grundvoraussetzungen definierte Bereiche: “Die Vorschläge zur Wettbewerbsfähigkeit, eine effizientere Entscheidungsfindung in der Außenpolitik, die Verteidigung regelbasierten multilateralen Handels und ein stärkerer EU-Binnenmarkt maßgeblich für eine blühende, gemeinsame Zukunft.”
Die Botschafter der EU-Staaten werden ihre Gespräche über das sechste Sanktionspaket Montag oder spätestens Dienstag wieder aufnehmen. Ungarn, Tschechien und die Slowakei drängten am Wochenende auf deutlich längere Übergangsfristen und Garantien beim geplanten Embargo für Öl aus Russland.
Die Mitgliedstaaten seien sich zwar einig, dass das sechste Sanktionspaket nötig sei, so ein EU-Diplomat. Auch Ungarn sei nicht grundsätzlich gegen ein Ölembargo. Budapest habe nicht mit dem Veto gedroht. Die Gespräche seien konstruktiv, und wichtige Fortschritte seien erzielt worden, so EU-Diplomaten. Mit Blick auf besonders von russischem Öl abhängige Mitgliedstaaten seien aber weitere Garantien nötig.
Die EU-Kommission hatte beim Rohöl den Ausstieg innerhalb von sechs Monaten und bei Diesel beziehungsweise Benzin bis Ende Jahr vorgeschlagen. Ungarn und die Slowakei sollten bis Ende 2023 Zeit haben. Ministerpräsident Viktor Orban hatte am Freitag den Vorschlag der EU-Kommission als “Atombombe” bezeichnet, die auf die ungarische Wirtschaft abgeworfen werde.
Die Slowakei fordert eine Frist für den Ausstieg bis 2025. Auch Bulgarien drängt auf eine Ausnahmeregelung. Die Binnenländer Ungarn, Tschechien und die Slowakei sind stark von russischem Öl abhängig, das über den Südstrang der Pipeline “Druschba” (Freundschaft) geliefert wird. Tschechien bezieht nach eigenen Angaben 50 Prozent des Öls aus Russland. Bei Ungarn sind es 65 Prozent und im Fall der Slowakei sogar 100 Prozent.
Bundeskanzler Olaf Scholz betonte am Sonntagabend in einer Fernsehansprache erneut: “Wir unternehmen nichts, was uns und unseren Partnern mehr schadet als Russland.” EU-Kommission und der französische EU-Ratsvorsitz hatten am Wochenende längere Übergangsfristen angeboten. Das Zugeständnis ging den betroffenen Ländern, die zudem finanzielle Unterstützung einfordern, aber nicht weit genug.
Teil des sechsten Sanktionspakets ist auch das Verbot von drei weiteren russischen TV-Sendern (Rossija 1, NTV und Perwij Kanal). Hier sahen die Niederlande und Deutschland noch Klärungsbedarf. So soll hier klargestellt werden, dass es sich nicht um Medien, sondern um Instrumente der russischen Propaganda handelt. Zypern und Griechenland äußerten Vorbehalte bei den geplanten Konten und Reisesperren für den russischen Patriarchen Kyril.
Griechenland hatte zudem Bedenken angesichts des geplanten Verbots von Dienstleistungen im Zusammenhang mit dem Transport von russischem Öl: Etwa 70 Prozent der weltweiten Öltransportkapazität hängt allein von griechischen Reedern ab, hier soll es nun eine dreimonatige Übergangsfrist geben. EU-Diplomaten zeigten sich am Sonntag optimistisch, in den nächsten Tagen eine Lösung und die Zustimmung aller 27 Mitgliedstaaten zu finden.
Unterdessen verschärften die USA noch einmal die Sanktionen im Dienstleistungssektor: US-Bürgern wird unabhängig vom Aufenthaltsort per Präsidial-Dekret untersagt, Buchhaltungs- oder Treuhanddienstleistungen zu erbringen oder Unternehmensgründungen zu unterstützen. Auch gegen bestimmte Transportunternehmen, die für das Militär der Russischen Föderation tätig sind, wurden weitere US-Sanktionen erlassen. sti
Die Bundesregierung habe die letzten zwei Monate dran gearbeitet, die Raffinerien in Schwedt und Leuna aus Quellen in anderen Ländern zu versorgen, sagte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) dem Fernsehsender Welt. “Die Raffinerien sollen erhalten bleiben, und wir wissen jetzt, wie es gehen kann.” Dies sei jedoch erstmal ein Konzept. “Solange Rosneft sagt: ‘Das ist alles unseres’ kommen wir erstmal nicht weiter.” Schiffe und Ölmengen zu bestellen, sei ohne Mitwirkung von Rosneft derzeit nicht möglich.
Dieses Problem versucht die Bundesregierung derzeit über die Neufassung des Energiesicherungsgesetzes zu lösen (Europe.Table berichtete), das im Eilverfahren als Formulierungshilfe den Bundestagsfraktionen übersandt wurde und von den Regierungskoalitionen Ende April eingebracht wurde. Der Entwurf sieht unter anderem in §18 die Möglichkeit einer Treuhandverwaltung und einer Enteignung zur Sicherung der Energieversorgung im Ausnahmefall vor.
“In dem Moment, in dem das gelöst ist, können wir das gute politische Konzept umsetzen in die Tat”, so Habeck. Dies könne, so der Bundeswirtschaftsminister, im Übergang “zu Rumpeleien führen”. Es gebe aber eine gute Chance, dass die PCK-Raffinerie Schwedt erhalten bleiben könne und eine “Raffinerie der Zukunft” werden könne, insbesondere mit Blick auf Wasserstoff und die Anbindung an den Hafen Rostock. fst
Die Regierung des Vereinigten Königreichs kündigte am Freitag an, gesetzliche Reformen zum Wettbewerb in digitalen Märkten auf den Weg zu bringen. Damit wolle man der Dominanz der größten Firmen begegnen, so die Ankündigung.
Man könne, nachdem man die EU verlassen habe, einen eigenen, verhältnismäßigen und innovationsfreundlichen Ansatz suchen, der für das Vereinigte Königreich funktioniere. Dieses solle ein “flexibleres und gezielteres” im Vergleich zu anderen, sich abzeichnenden internationalen regulatorischen Regimes werden, heißt es im gemeinsamen Text der zuständigen Secretaries of State Nadine Dorries (Digitales) und Kwasi Kwarteng (Wirtschaft, Industrie und Energie). Die Tory-Regierung will damit offenkundig zum einen mit dem Digital Markets Act (DMA) der EU auf Augenhöhe bleiben, zugleich aber Unterschiede betonen.
Mit der Reform soll die Wettbewerbsaufsicht Competition and Markets Authority (CMA), die bereits eine Sonderabteilung für Digitale Märkte hat, weitere Befugnisse erhalten. Insbesondere bei Fusionen und Übernahmen sollen Firmen, die in einem oder mehreren Märkten einen sogenannten strategischen Marktstatus innehätten, frühzeitiger und umfassender die CMA informieren müssen. Bei Verstößen soll die CMA künftig zudem Bußgelder in Höhe von bis zu 10 Prozent des weltweiten Jahresumsatzes verhängen dürfen. fst
Die Konferenz zur Zukunft Europas neigt sich dem Ende zu. Am heutigen Europatag wird ihr Abschlussbericht veröffentlicht und dem Präsidenten der EU-Institutionen übergeben – das Ergebnis von mehr als einem Jahr an Beratungen mit über 50.000 europäischen Bürger:innen. Zu den 49 weitreichenden Vorschlägen gehören unter anderen die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips, die Einführung transnationaler Listen für die Europawahl und die Schaffung einer europäischen Armee.
Dies könnte sich als nützliche Initiative erweisen – oder nur als PR-Übung entpuppen, die schnell vergessen ist. Vieles wird von der tatsächlichen Annahme und Umsetzung der Vorschläge abhängen. Doch wenn die Konferenz zur Zukunft Europas zum Ziel hatte, öffentliches Engagement bei der Gestaltung der Union zu fördern, so ist sie diesem nicht gerecht geworden, und zwar hauptsächlich aus zwei Gründen.
Erstens stellt die Konferenz nur eine von vielen Strategien dar, die zur Belebung des europäischen Gemeinschaftsgefühls eingesetzt werden können. Sie entspricht dem, was der niederländische Historiker Luuk van Middelaar eine “griechische Strategie” nennt, die darin besteht, der Öffentlichkeit eine Stimme zu geben – was ja bereits bei den Direktwahlen zum Europäischen Parlament der Fall ist. In den vergangenen Jahrzehnten hat diese Strategie mit anderen politischen Strategien koexistiert, wie etwa der Förderung einer gemeinsamen kulturellen und historischen Identität oder dem Appell an die Vorteile der europäischen Integration. Ein europäisches Gemeinschaftsgefühl entsteht jedoch nicht unbedingt aufgrund solcher dezidierten Strategien – es kann auch durch plötzliche Ereignisse getriggert werden. Dies scheint insbesondere jetzt der Fall zu sein, da der Krieg auf den europäischen Kontinent zurückgekehrt ist.
Zweitens fand der größte Teil der Konferenz vor eben jenem Krieg in der Ukraine statt. Dieses eine Ereignis aber wurde zur Quelle mehrerer Dilemmas, mit denen sich die EU derzeit auseinandersetzen muss: von Energiesouveränität über die Realisierbarkeit ihrer Klimaziele bis hin zur Bereitschaft für eine weitere Runde finanzieller Unterstützung, zur entschlossenen Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten. All diese Punkte kommen nun auf die ohnehin schon lange Liste von Problemen, die durch die Coronavirus-Pandemie deutlicher hervortraten. Der Krieg in der Ukraine konfrontiert die Europäer:innen mit einigen neuen und schwierigen Fragen über sich selbst. Zum Beispiel sind sie heute viel solidarischer mit ukrainischen Migrant:innen als mit den syrischen vor sieben Jahren. Wie ist das zu interpretieren?
Der European Sentiment Compass – ein neues Datentool inklusive Essay, das heute vom European Council on Foreign Relations und der Europäischen Kulturstiftung veröffentlicht wurde – deckt die verschiedenen Aspekte auf, unter denen die obengenannten Themen derzeit in der EU27 diskutiert werden. So weckt die Klimapolitik der EU in einigen Mitgliedstaaten Hoffnungen, in anderen hingegen Ängste. Dasselbe gilt für den Aktivismus der EU im Bereich Rechtsstaatlichkeit. Es wird auch analysiert, ob diese Themen die Einstellung der Menschen in den jeweiligen Mitgliedsstaaten zu Europa verbessern oder verschlechtern würden. Hierbei wurde festgestellt, dass bei allen Themen das Gefühl vorherrscht, dass sie die Europäer:innen eher näher zusammenbringen als auseinandertreiben könnten – doch hängt dies stark von den Entscheidungen ab, die die Europäer:innen treffen.
Gleichzeitig wurde die Rolle der Medien und des Kultursektors für die Bildung eines europäischen Gemeinschaftsgefühls in den EU-Ländern untersucht. Es wird deutlich, dass dieser Prozess, selbst wenn äußere Umstände günstig sind, nicht ohne unabhängige Medien und kultureller Freiheit erfolgreich sein kann. Die Übersetzung von Ereignissen in gemeinsame Erinnerungen und Bedeutungssphären muss ungehindert geschehen können. Dies ist allerdings in mehreren EU-Mitgliedstaaten nicht der Fall.
Ein offenkundiges Beispiel ist Ungarn, wo die kulturellen Institutionen nationalistischen Diskursen untergeordnet sind. Und die Medien von einer illiberalen Regierung so stark kontrolliert werden, dass kaum zu erwarten ist, dass die Pandemie oder der Krieg den Ungarn das Gefühl geben könnten, in einer Erfahrungsgemeinschaft mit den übrigen Europäer:innen zu sein.
Doch das Problem mit den Medien betrifft nicht nur die schwache Pressefreiheit in Ländern wie Bulgarien, Ungarn, Malta und Griechenland oder die geringe Medienkompetenz in einer ähnlichen Ländergruppe. Es geht auch um die Unterwanderung durch russische Medien und Interessen anderswo und die Selbstgefälligkeit gegenüber dieser ausländischen Einmischung. Zu den jüngsten Beispielen gehören ein italienischer Fernsehsender, der Sergej Lawrow die Hauptsendezeit für seine antisemitischen Anschuldigungen zur Verfügung stellte. Ein großer französischer Privatfernsehsender, der ein Interview mit einem Kreml-Sprecher führte. Oder die britische Zeitung The Guardian, die einen Meinungsbeitrag eines ehemaligen Kreml-Beraters akzeptierte, der sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ausspricht.
Was den Kultursektor betrifft, so besteht das Problem nicht nur in der öffentlichen Förderung nationalistischer Diskurse in Ländern wie Ungarn oder Polen, sondern vor allem in dessen besorgniserregender wirtschaftlichen Lage nach der Corona-Pandemie. Aus einigen Studien geht hervor, dass Kultur zu den am stärksten betroffenen Sektoren in der EU gehört: gleichauf mit dem Luftverkehr und noch vor Tourismus. Trotz einer Kampagne der Zivilgesellschaft, dem Culture Deal for Europe, die die Mitgliedstaaten dazu aufforderte, zwei Prozent ihrer nationalen Konjunkturprogramme für Kultur bereitzustellen, haben nur zwei Länder – Frankreich und Italien – dies tatsächlich getan.
Heute stehen Kunst und Kultur – von der Biennale in Venedig bis zum Eurovision Song Contest – in vorderster Reihe bei der europäischen Reaktion auf den Krieg in der Ukraine. Auch während und nach der Pandemie hat Kultur eine entscheidende Rolle gespielt: Sie hat Menschen zusammengebracht, Solidarität sichtbar gemacht sowie Einzelpersonen und Gruppen dabei geholfen, all Geschehnissen zu verarbeiten. Es stellt sich jedoch die Frage, ob der Kultursektor in allen EU-Ländern über ausreichende Ressourcen und die nötige Freiheit verfügt, um diese wichtigen Aufgaben weiterhin zu erfüllen.
Es gibt einige positive Anzeichen für eine wachsende Wertschätzung von Kultur und Medien in ihrer Rolle bei der Gestaltung des europäischen Gemeinschaftsgefühls. Ursula von der Leyen hat kürzlich anerkannt, dass “Europa ohne einen florierenden Kultursektor nicht Europa sein kann”. Mit dem Konjunkturfonds haben die EU-Institutionen zum ersten Mal eine außerordentliche Unterstützung für den Kultur- und Kreativsektor mobilisiert. In demselben Sinne und in der Erkenntnis, dass der Krieg des Kremls in erster Linie ein Krieg gegen die grundlegenden europäischen Werte, Träume, Ideale und Kultur ist, müssen unsere Antworten eine starke kulturelle Dimension beinhalten.
Der in Kürze einzurichtende Treuhandfonds für die Ukraine sollte daher Kultur mit zu seinen Prioritäten zählen. Medienpluralismus ist bereits Teil der jährlichen Rechtsstaatlichkeits-Berichte der Europäischen Kommission, in denen wichtige Entwicklungen zur Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedsstaaten beobachtet werden. Gleichzeitig wird erwartet, dass die Europäische Kommission noch in diesem Jahr eine neue Verordnung vorschlägt, die sich mit der Unabhängigkeit der Medien befasst. Im Bereich der Kulturpolitik fehlt jedoch ein entsprechender Überwachungsmechanismus.
Zur Bewältigung ihrer aktuellen Herausforderungen – von Sicherheitsbedenken über Klimawandel bis hin zu Migration – braucht die EU ein Ökosystem, das es ermöglicht, diese Themen in der gesamten Union und in der europäischen Öffentlichkeit permanent zu diskutieren und gemeinsame Schlussfolgerungen und Konzepte ungestört entstehen können. Freie Medien und Kultur müssen als fester und notwendiger Bestandteil dieses Ökosystems betrachtet werden, die den Europäer:innen helfen, ihre Zukunft eigenhändig zu gestalten. Sie sind somit auch für die Sicherheit und Handlungsfähigkeit des Kontinents von entscheidender Bedeutung.
Initiativen wie die Konferenz zur Zukunft Europas sind lobenswerte Experimente – aber sie sind zu punktuell, werden zu sehr von oben gesteuert und es mangelt ihnen deshalb an Legitimität. Es wäre gefährlich anzunehmen, dass sie allein ausreichen könnten, um die Europäer:innen zusammenzubringen. Ein europäisches Gefühl der Zugehörigkeit muss wachsen und gepflegt werden. Nicht durch sporadisch stattfindende Konferenzen, sondern auf bewusste, strategische und nachhaltige Weise. Andernfalls machen wir uns zu sehr angreifbar für jedwede Form von politischen Ereignissen.