europäische Politiker sind derzeit in der ganzen Welt unterwegs, um im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zu vermitteln. Emmanuel Macron ist heute zu Gast bei Wladimir Putin in Moskau, Annalena Baerbock reist nach Kiew und Olaf Scholz fliegt zum Antrittsbesuch nach Washington zu Joe Biden.
Aus den USA kommt immer lauter die Forderung, Nord Stream 2 nicht in Betrieb zu nehmen, um Russland unter Druck zu setzen. Olaf Scholz deutete mittlerweile an, dass ein Stopp der Gaspipeline im Falle einer Eskalation des Konflikts nicht ausgeschlossen sei.
Europa ist ohnehin daran gelegen, die Abhängigkeit von russischem Erdgas zu reduzieren. Das ist der zweite Grund für zahlreiche Auslandsreisen europäische Politiker dieser Tage. So sind Energie-Kommissarin Kadri Simson und EU-Außenbeauftragter Josep Borrell heute ebenfalls in Washington. Sie werden beim Energierat EU-USA mit Außenminister Antony Blinken und Energieministerin Jennifer Granholm die Gespräche über die künftige Zusammenarbeit zur Energiesicherheit und die gemeinsame Verpflichtung zur Beschleunigung der Energiewende hin zur Klimaneutralität intensivieren.
Am Freitag war Simson bereits zu Gast in Baku, um für höhere Gasexporte aus Aserbaidschan nach Europa zu werben. Mehr zu Simsons Besuch lesen Sie in den News.
Neue Energielieferverträge zwischen Europa und anderen Ländern könnten jedoch auch neue Probleme mit sich bringen. Wenn die EU sich beispielsweise LNG aus China sichert, könnten Schwellenländer in Südostasien stattdessen in Energienot geraten, erklärt Andreas Goldthau im Interview mit Charlotte Wirth. Ärmere Länder wären nicht in der Lage, mit den Preisen, die Europa zahlen könnte, mitzuhalten. Das Problem würde sich laut dem Energieexperten auf andere verlagern.
Im EU-Parlament wird derzeit über die Verordnung für Künstliche Intelligenz verhandelt. Der Rat ist da schon deutlich weiter. Sowohl die slowenische als auch die französische Ratspräsidentschaft haben bereits eigene Vorschläge vorgebracht. Jasmin Kohl zeigt Konfliktlinien zwischen den Mitgliedstaaten sowie im Parlament auf. Uneinigkeit gibt es vor allem bei der Frage, welche Systeme als Hochrisiko-KI-Systeme klassifiziert werden sollen.
Herr Goldthau, für wie ernst halten Sie die Energiekrise in Europa?
Wir diskutieren momentan über Energiepreise und Versorgungssicherheit. Hier ist die Lage sicherlich ernst. Falls es wirklich zu Kriegshandlungen in der Ukraine kommt, haben wir aber ein Szenario, das weit darüber hinausgeht. Da ginge es um die Stabilität eines Landes, um humanitäre Krisen, Menschen werden nach Westen flüchten und versorgt werden müssen. Wir schauen in Deutschland sehr verengt darauf, ob wir morgen unser Erdgas noch haben und Nord Stream 2 zu halten ist. Unser Problem im Falle eines Krieges ist nicht die Gasversorgung, sondern der Krieg, der dann mitten in Europa tobt.
Könnte sich Russland einen Krieg und einen Stopp der Gaslieferungen wirtschaftlich überhaupt leisten?
Sieben oder acht Prozent des russischen Staatshaushalts werden aus den Erdgaseinnahmen gespeist, 30 Prozent aus Öl. Wenn die Gaseinnahmen wegfallen, wäre das zwar dramatisch. Es würde aber nicht den Staatsbankrott bedeuten. Gazprom hat jedoch eine weitere Rolle in Russland, es soll zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes beitragen. Es gäbe ganze Städte nicht mehr, würde Gazprom dort nicht Fußballstadien bauen, öffentliche Schwimmhallen und andere Infrastrukturen betreiben. Diesen Entwicklungsauftrag muss Gazprom refinanzieren, und das macht es über den Export. Ein Drittel des Gases geht in den Export, damit generiert das Unternehmen aber 100 Prozent seiner Einnahmen.
Also ist Gazprom hier verwundbar?
Einerseits ja. Anderseits würde der Ölpreis wohl durch die Decke gehen, wenn Russland in die Ukraine einmarschiert, und demnach auch die russischen Öleinnahmen. Wäre ich ein russischer Portfoliomanager im Staatsdienst, und wüsste, ob Russland einmarschiert, würde ich Optionen platzieren und den Effekt hebeln. Die Verluste aus den fehlenden Gasexporten refinanzierten sich so von selbst. Und die Russen sitzen auf einem großen Staatsfonds. Sie sind nicht mehr so verwundbar wie zur Annexion der Krim.
Ergeben Wirtschaftssanktionen gegen Russland mehr Sinn?
Sanktionen sind unvermeidbar, wenn es zu kriegerischen Handlungen kommt. Wir müssen aber bedenken, was dies bedeutet. Nehmen wir beispielsweise an, wir schalten Swift ab für die Russen: Wie wollen wir dann unser Gas zahlen? Darauf gilt es, sich vorzubereiten.
EU-Kommission und USA bereiten Europa auf eine Versorgungskrise vor. Wie dramatisch wäre diese, wenn Russland tatsächlich die Gaslieferungen drosselt?
Das hängt davon ab, wie lange die Situation anhalten wird. Wenn wir es mit einer kurzen Kriegshandlung in der Ostukraine zu tun hätten, ginge es wohl um eine überschaubare Unterbrechung. Wir könnten diese kurzfristig durchaus kompensieren, wir importieren derzeit bereits so viel Flüssiggas wie noch nie zuvor. Preislich würde das aber nicht schön. Wir stehen in harter Konkurrenz mit Asien.
Und bei einer mittelfristigen Lieferunterbrechung?
Es gibt noch Kapazitäten auf dem LNG-Markt, die nicht ausgeschöpft sind. Diese sind allerdings nicht besonders groß.
Von wo könnte das Flüssiggas kommen?
Wir sehen jetzt schon, dass sich LNG-Flüsse verändern. Chinesische Versorger etwa fangen an, LNG nach Europa zu schicken – das ist neu. Dies bedeutet allerdings auch, dass wir andere Länder aus dem Markt preisen. Das sind dann Schwellenländer, etwa in Südostasien, die nicht mehr in der Lage sind, aufgerufenen Preise für das Flüssiggas zu bezahlen. Dann kommt zwar das LNG zu uns, wir verlagern aber das Problem auf andere. Die Knappheit am Erdgasmarkt ist global, nicht nur bei uns.
Europa könnte verstärkt andere Brennstoffe einsetzen.
In Deutschland ist ein großer Teil der Kohlekraftwerke nicht ausgelastet, weitere sind bereits abgeschaltet. Die könnte man wieder hochfahren. Das ist eine strategische Reserve, mit der man kurzfristig einen Teil der Strom- oder Wärmelast abfangen kann, die sonst durch Gas gedeckt wird.
Klimapolitisch ist das allerdings problematisch.
Das wäre sicherlich eine Entscheidung, die im Falle von Force Majeure getroffen würde. Aber indem man die Kohlekraftwerke wieder zurückbringt, schiebt man natürlich die gesamte Dekarbonisierung nach hinten. Investitionsentscheidungen wären eventuell betroffen. Das wäre also keine einfache Versorgungsbrücke, sondern hätte möglicherweise systemische Auswirkungen.
Wird sich die Lage im Sommer verbessern?
Wir haben saisonale Nachfrageschwankungen: Man braucht im Sommer auch Gas, aber für andere Dinge. Sollte die Knappheit anhalten und russisches Gas bis in den nächsten Winter hinein ausfallen, könnte man die Energienachfrage anpassen, etwa indem man Teile der Industrie herunterfährt oder die Leute ins Homeoffice schickt. Die allerletzte Option wäre, die Wärmeversorgung der privaten Haushalte runterzuregeln, aber das wäre eine Notfallmaßnahme.
Was wäre ein langfristiges Szenario?
Die Menge an Gas, die die Russen nach Westen schicken, kann man nicht langfristig über LNG abfangen. Da müssten wir uns was anderes überlegen.
Frau von der Leyen verhandelt nun mit Staaten wie den USA und Katar. Was bringt das ihrer Meinung nach?
Kurzfristig gar nichts. Weder Frau von der Leyen noch der Emir von Katar oder Joe Biden können an der Angebotsschraube drehen. In den USA ist die Gaswirtschaft privatwirtschaftlich organisiert. Selbst wenn Biden mehr LNG nach Europa schicken wollte, kann er keine Cargoschiffe umleiten und keine Produktionskapazitäten erfinden, die nicht vorhanden sind. Viel der verfügbaren Menge an LNG ist zudem in Langfristverträgen gebunden, zum Beispiel mit Südostasien.
Und wenn Europa nun auch Langfristverträge abschließt?
Es ist schwierig, mit europäischen Importeuren Langfristverträge abzuschließen. Denn bestimmte Klauseln dürfen nicht mehr aufgenommen werden, da sie mit dem europäischen Energierecht nicht vereinbar sind. Es geht um die sogenannten Territorialitätsklauseln, die den Weiterverkauf verbieten. Die hat man abgeschafft, damit innerhalb der EU mit aus verschiedenen Richtungen anlandendem Gas gehandelt werden kann. Das ergibt aus Wettbewerbssicht Sinn. Allerdings kann es Konsequenzen auf der Angebotsseite haben. Als es 2018 zum Wettbewerbsfall gegen Qatar Petroleum kam, haben sich die Katari deshalb von Europa ab- und Südostasien zugewandt haben. Die EU-Kommission müsste also erstmal das Wettbewerbsverfahren beenden, wenn es sich die Katari noch einmal überlegen sollen.
Die Klimathematik scheint momentan in den Hintergrund zu geraten. Wird die Dekarbonisierung in der derzeitigen Krise noch mitgedacht?
Es handelt sich ja primär um eine Preiskrise. Da ist Feuerbekämpfung gefragt. Man muss den Effekt auf die betroffenen Familien und Wirtschaftssektoren abfedern, und das passiert ja bereits. Die größere Frage ist: Welche Lehren ziehen wir daraus? Es gibt einerseits starke Stimmen, die sagen, man dürfe mit Blick auf die Energiepreise nicht blind auf Dekarbonisierung setzen, auch da Deindustrialisierung droht. Andere sagen: jetzt erst recht! Dekarbonisierung bedeutet die Abkehr von den fossilen Brennstoffen, die Probleme machen.
Was sagen Sie?
Wir müssen mehr Resilienz ins System bringen, damit Ausschläge in der Nachfrage oder im Preis abgefedert werden können. Aber den gesamten Dekarbonisierungskurs zu überdenken, hieße, Infrastruktur zu schaffen, die irgendwann als Stranded Assets in den Büchern steht. Und man würde den wichtigen Impuls für Europas Wirtschaft in Richtung grünes Wachstumsmodell verpassen.
Während die Verhandlungen über die Verordnung für Künstliche Intelligenz (KI) im Europaparlament gerade erst begonnen haben (Europe.Table berichtete), ist der Rat schon ein wesentliches Stück weiter. Mitte Januar hat die französische Ratspräsidentschaft ihren ersten Kompromissvorschlag vorgelegt. Er betrifft die Anforderungen an Hochrisiko-KI-Systeme (Kapitel 2, Artikel 8-15 und Anhang 4).
Eine wesentliche Änderung zum Kommissionsvorschlag findet sich in Artikel 10 (3) über Daten und Daten-Governance: Die Kommission hatte darin gefordert, dass Trainings-, Validierungs- und Testdatensätze für Hochrisiko-KI-Systeme fehlerfrei und vollständig sein müssen. Viele Mitgliedstaaten hielten diese Anforderung jedoch für kaum erfüllbar. Die französische Ratspräsidentschaft nahm diesen Hinweis auf und plädiert dafür, dass diese Datensätze nur “im Rahmen der Möglichkeiten” fehlerfrei und vollständig sein müssen.
Bei der technischen Dokumentation eines Hochrisiko-KI-Systems (Artikel 11) sieht der französische Kompromissvorschlag mehr Flexibilität für Start-ups und KMU vor. Diese Unternehmen müssten demnach in der technischen Dokumentation der Systeme nicht alle Detail-Informationen aufführen, die in Anhang IV aufgelistet sind. Es reiche, wenn sie “gleichwertige” Informationen zur Verfügung stellen, die dasselbe Ziel haben: Nachweisbar machen, dass das Hochrisiko-KI-System die Anforderungen des Kapitels 2 erfüllt, wie zum Beispiel die Pflicht zur Protokollierung sowie die Einrichtung eines Risikomanagementsystems. Ob die Informationen tatsächlich gleichwertig sind, sollen die zuständigen Behörden feststellen.
Ein ambitionierteres Vorgehen fordert die französische Ratspräsidentschaft dagegen bei der Transparenz und Bereitstellung von Informationen für die Nutzer:innen (Artikel 13): Die Gebrauchsanweisung eines Hochrisiko-KI-Systems soll auch eine Beschreibung über den System-Mechanismus enthalten, die es den Nutzer:innen erlaubt, Protokolle ordentlich zu erfassen, zu speichern und zu interpretieren.
Kurz vor der Staffelübergabe an Frankreich hatte die slowenische Ratspräsidentschaft Ende November ihren Fortschrittsbericht veröffentlicht sowie einen ersten Kompromissvorschlag für die Artikel 1-7 und die Anhänge 1-4 der Verordnung. Mitte Januar haben ihn die Mitgliedstaaten-Vertreter:innen erstmals auf Arbeitsgruppen-Ebene diskutiert. Am Montag gab es einen weiteren Austausch. Die Reaktionen seien überwiegend positiv gewesen, aber viele Delegationen hätten noch nicht die Zeit gefunden, durch den gesamten Kompromissvorschlag zu gehen, berichtet ein Rats-Beamter. Tiefergehende Diskussionen zu diesen Artikeln auf Arbeitsgruppen-Ebene stünden also noch aus.
“Contexte” hat vergangene Woche als Erster Zugang zu Auszügen (Dokument 1 und Dokument 2) der Kommentare von 20 Mitgliedstaaten zu den ersten 29 Artikeln der KI-Verordnung bekommen. Die slowenische Ratspräsidentschaft hatte diese eingefordert, um ihren Kompromissvorschlag zu erarbeiten. Die Kommentare von Mitte November geben erste Einblicke in die Positionen der Mitgliedstaaten.
Die deutsche Position ist aus den Dokumenten nicht ersichtlich. Claudia Dörr-Voß, Staatssekretärin für Energie und Wirtschaft unter der alten Bundesregierung, hatte bei einer informellen Rats-Videokonferenz Mitte Oktober (Europe.Table berichtete) gesagt, dass die regierungsinterne Prüfung des Kommissionsvorschlags zur KI-Verordnung aufgrund seiner Komplexität noch nicht abgeschlossen sei und teilte diese Eckpunkte mit: Die Bundesregierung begrüße den horizontalen und risikobasierten Regulierungsansatz, sehe bei der Liste der verbotenen KI-Anwendungen sowie bei der Liste von Hochrisiko-KI-Anwendungen Nachbesserungsbedarf und halte die Unterstützung von KMU und Start-ups innerhalb der Verordnung für sehr wichtig.
Unklar ist, inwieweit die neue Bundesregierung weiter an dieser Position festhält oder sie überdenkt. Auf Anfrage von Europe.Table wollte sich das BMWK dazu nicht äußern und ließ auch die Frage, ob die Prüfung des Kommissionsvorschlags zur KI-Verordnung noch andauere, unbeantwortet.
In ihrem Kompromissentwurf hatte die slowenische Ratspräsidentschaft dafür plädiert, auch KI-Systeme, die zur Kontrolle von digitaler Infrastruktur oder als ihre Sicherheitskomponenten fungieren, als Hochrisiko-KI-Systeme (Anhang 3) einzustufen. Auch KI-Systeme, die Emissionen und Verschmutzung kontrollieren, sollen zu dieser Kategorie gehören. Die Forderung von Susana Solís Pérez (Renew), Berichterstatterin des mitberatenden Umwelt-Ausschusses im EU-Parlament (ENVI), gehen in diesem Punkt noch weiter: Sie will alle KI-Systeme im Bereich Umwelt als Hochrisiko-KI-Systeme einstufen (Europe.Table berichtete).
KI-Systeme, die von Strafverfolgungsbehörden zur Kriminalanalyse verwendet werden, sollen jedoch nicht als Hochrisiko-KI-Systeme eingestuft werden. Tschechien steht der Klassifizierung generell sehr skeptisch gegenüber, weil es grundsätzlich infrage stellt, dass Hochrisiko-KI-Systeme Schaden verursachen können. Sollte die Kommission dafür keinen Beweis vorlegen, sollten die Verweise auf diese Systeme also komplett aus dem Gesetzestext gestrichen werden, “da sie ungerechtfertigt sind”, kommentierte das Land im November.
Portugal spricht sich dafür aus, den Gesundheitsbereich in die Liste der Hochrisiko-KI-Systeme aufzunehmen. So würden KI-Systeme, die bei der Diagnose, Kontrolle von Vitalzeichen oder der Erstellung von medizinischen Behandlungsplänen helfen, auch als Hochrisiko-KI-Systeme eingestuft werden. Frankreich schlug im November vor, die Liste der Hochrisiko-KI-Systeme nicht wie von der Kommission vorgesehen durch delegierte Rechtsakte anzupassen, sondern durch Durchführungsrechtsakte. Durch das Komitologieverfahren würden die Mitgliedstaaten so eine bedeutende Rolle in dem Entscheidungsprozess spielen. Außerdem soll die Anpassung der Liste nicht jederzeit nach Bedarf, sondern nur in fest definierten Zeitabständen geschehen. In welchen Abständen bleibt dabei offen.
Laut Kompromissentwurf der slowenischen Ratspräsidentschaft soll das sogenannte Social Scoring (Bewertung des sozialen Verhaltens) nicht nur für öffentliche, sondern auch für private Akteure verboten werden. Im Gegensatz dazu soll die automatisierte Echtzeit-Gesichtserkennung im öffentlichen Raum für den Zweck der Strafverfolgung nicht nur von den Strafverfolgungsbehörden selbst, sondern auch “von anderen Akteuren im Namen von Strafverfolgungsbehörden” verwendet werden dürfen. Anwendungsbeispiele sind die Verhinderung von Terroranschlägen oder die Suche nach vermissten Kindern. Das birgt Streitpotenzial mit dem Europaparlament, denn der Berichterstatter des Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucherschutz (IMCO) Brando Benifei (S&D) möchte die Anwendung der umstrittenen Praxis grundlegend verbieten – auch für den Zweck der Strafverfolgung.
Zudem sieht der Kompromissentwurf vor, die automatisierte Echtzeit-Gesichtserkennung auch auf den Schutz von kritischer Infrastruktur auszuweiten. Spanien sprach sich dafür aus, dass die Technologie auch bei Veranstaltungen verwendet werden darf, die ein Risiko für die öffentliche Ordnung darstellen, wie etwa Sportwettkämpfen oder Gipfeln. Die französische Europaabgeordnete Gwendoline Delbos-Corfield (Grüne/EFA) ist davon überzeugt, dass sich Frankreich dieser Forderung anschließen wird (Europe.Table berichtete). Für die Olympischen Spiele 2024 in Paris würde die Region Île-de-France bereits die Möglichkeit prüfen, biometrische Massenüberwachung einzusetzen.
Die Kommission hatte vorgeschlagen, jeden Einsatz von automatisierter Echtzeit-Gesichtserkennung durch eine Justizbehörde genehmigen zu lassen. Für Notfälle wie Terroranschläge sollte jedoch auch eine ex-post-Genehmigung ausreichen. Dem widerspricht der Kompromissvorschlag der slowenischen Ratspräsidentschaft: Die Genehmigung soll noch während des Einsatzes beantragt werden. Sollte sie abgelehnt werden, müsse der Einsatz sofort gestoppt werden.
Mit einem deutlichen Verweis auf nationale Kompetenzen hat die slowenische Ratspräsidentschaft sich dafür eingesetzt, dass die nationale Sicherheit aus dem Anwendungsbereich der KI-Verordnung genommen wird. Diese falle weiterhin unter die alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten. Auch KI-Systeme, die allein für Forschungs- und Entwicklungszwecke genutzt werden, sollen nicht von dem Gesetz betroffen sein.
Um zu verhindern, dass traditionelle Software-Programme unter die Definition von KI-Systemen (Artikel 3) und somit den Anwendungsbereich der Verordnung fallen, hat die slowenische Ratspräsidentschaft die Definition entsprechend eingeschränkt. Roberto Viola, Generaldirektor der Generaldirektion Connect, hatte die Definition im Kommissionsvorschlag zuletzt bei der ersten gemeinsamen Aussprache der federführenden Ausschüsse im Europaparlament IMCO und LIBE (Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres) gegen ähnliche Kritik verteidigt: Sie sei weit genug gefasst, um die verschiedenen KI-Systeme zu einzubeziehen, aber auch ausreichend eng gefasst, um einfache Systeme, die Daten nur verarbeiten, auszuschließen.
Die französische Ratspräsidentschaft will am 10. Februar einen neuen Kompromissvorschlag zu den Pflichten der Anbieter und Nutzer von Hochrisiko-KI-Systemen und anderer Beteiligter (Artikel 16-29 ) der Verordnung präsentieren. Ein weiterer Kompromissvorschlag zu den Artikeln 30-85 und den Anhängen 5-9 ist derzeit für den 22. Februar vorgesehen.
Die federführenden Ausschüsse im Europaparlament, IMCO und LIBE, planen am 16. März eine erste Anhörung über die KI-Verordnung mit Experten und Wissenschaftlern. Die Berichterstatter Brando Benifei (S&D) und Dragoş Tudorache (Renew) wollen ihren gemeinsamen Bericht bis zum 5. April verfassen.
Im Ukraine-Konflikt reist Frankreichs Präsident Emmanuel Macron heute zu einem Treffen mit dem Staatschef Russlands Wladimir Putin nach Moskau. Beide hatten in den vergangenen Tagen bereits drei Krisengespräche am Telefon geführt. Frankreich hat derzeit die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union.
Aus dem Élysée-Palast hieß es vorab, es gehe um eine einheitliche, abgestimmte Ansage an Moskau mit klar umrissenen Konsequenzen im Fall einer Aggression. International gibt es Sorgen, dass Russland einen Einmarsch ins Nachbarland Ukraine plant. Der Kreml bestreitet solche Pläne. Macron nannte in der Zeitung “Journal du Dimanche” als Ziel seines Besuchs, “Antworten auf die Notlage zu erarbeiten und in Richtung einer neuen Ordnung voranzugehen, die Europa dringend braucht und die auf dem Grundprinzip der Gleichheit und Souveränität der Staaten basiert”. Dass Russland sich um seine Sicherheit kümmere, sei “legitim”.
Vor seinem Besuch im Kreml stimmte sich Macron mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ab, der an diesem Montag seinen Antrittsbesuch bei US-Präsident Joe Biden macht. Auch dabei wird der Ukraine-Konflikt eine wichtige Rolle spielen. Scholz wird von einigen Bündnispartnern vorgeworfen, in der Ukraine-Krise zu wenig Druck auf Russland auszuüben. Auch in den USA sind Zweifel laut geworden, ob man im Ernstfall auf Deutschland zählen kann.
“Das Handeln der deutschen Regierung in Bezug auf die Ukraine war bislang im besten Fall enttäuschend”, sagte der ranghöchste Republikaner im Auswärtigen Ausschuss des Senats, James Risch, dem Nachrichtenportal “t-online“. Er verlangte von Scholz eine klare Festlegung, die Gaspipeline Nord Stream 2 nicht in Betrieb zu nehmen.
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock reist heute Vormittag zum zweiten Mal innerhalb von drei Wochen zu Vermittlungsbemühungen nach Kiew. Die Grünen-Politikerin will in der ukrainischen Hauptstadt Staatschef Wolodymyr Selenskyj und Außenminister Dmytro Kuleba treffen. Baerbock hatte mit beiden schon am 17. Januar gesprochen. Mit Spannung wird erwartet, wie sie sich zu der jüngsten ukrainischen Liste mit Waffenwünschen äußert. Die Bundesregierung lehnt solche Lieferungen in Krisengebiete bisher strikt ab.
Anschließend will Baerbock in den Osten der Ukraine reisen, wo am Dienstag ein Besuch der Frontlinie zwischen ukrainischen Regierungstruppen und den von Russland unterstützten Separatisten im Konfliktgebiet Donbass geplant ist. dpa/rtr
Energie-Kommissarin Kadri Simson sagte bei ihrem Besuch in Aserbaidschan am Freitag, dass die EU auf die Trans Adriatic Pipeline (TAP) setze, um die Gasexporte aus Aserbaidschan nach Europa zu steigern. Die EU hoffe, dass die TAP ihre Exportkapazität von derzeit etwa 8 Milliarden Kubikmetern pro Jahr auf 10 Milliarden Kubikmeter erhöhen werde, so Simson.
Die TAP hat im vergangenen Jahr mehr als 8,1 Milliarden Kubikmeter Gas aus Aserbaidschan nach Europa transportiert, davon insgesamt 6,8 Milliarden Kubikmeter nach Italien. Erhöhte Gaslieferungen nach Europa aus Aserbaidschan seien laut Simson “wichtig vor dem Hintergrund von Engpässen und steigenden Preisen auf dem Energiemarkt”.
Ein EU-Beamter bestätigte, dass sich die EU um mehr Erdgas aus Aserbaidschan bemühe, da Europa mit hohen Energierechnungen und knappen Gaslieferungen aus Russland zu kämpfen hat. Simsons Besuch beim aserbaidschanischen Staatschef Ilham Alijew diente daher dazu, sich Gas aus alternativen Quellen zu sichern und Notfallpläne für den Fall einer Unterbrechung der Gasversorgung zu erstellen. Aserbaidschan sei ein “verlässlicher Energielieferant“, sagte Simson. Brüssel pflege “starke bilaterale” Beziehungen zu dem Land. Alijew unterstrich derweil die “neue Phase der Kooperation zwischen der EU und Aserbaidschan im Energiebereich”. luk/rtr
Mehr als 40 Staaten und zahlreiche Unternehmen haben sich zum Ziel einer klimaneutralen Luftfahrtbranche bekannt. Zu den Firmen zählten etwa Flugzeugbauer, Energiefirmen und Hersteller alternativer Kraftstoffe, teilte die französische Ratspräsidentschaft am Freitag in Toulouse mit. Frankreich hat derzeit turnusgemäß den Vorsitz unter den EU-Ländern.
In der Erklärung von Toulouse steht unter anderem ein Bekenntnis zu dem von der EU festgelegten Ziel, dass bis Mitte des Jahrhunderts nicht mehr Treibhausgase ausgestoßen, als wieder aus der Luft entnommen werden. Dies solle der Branche, so die Erklärung, etwa durch verbesserte Technologien, nachhaltige Kraftstoffe und Subventionen für umweltfreundliche Innovationen gelingen.
Der europäische Flughafenverband ACI teilte mit, dass die Erklärung den Weg für die nächsten Schritte ebne. ACI-Angaben zufolge haben knapp 150 Organisationen, Unternehmen oder andere Interessensträger aus der Industrie die Erklärung unterzeichnet. dpa
Wie nach jeder guten Krise vollzieht sich derzeit ein Umbruch in der wirtschaftspolitischen Koordinierung der EU. Während sich ein Großteil der öffentlichen Reformdiskussionen auf die fiskalischen Regeln und den Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) konzentriert, findet auch in der wirtschaftspolitischen Koordinierung der EU eine eher stille Revolution statt. Wir argumentieren, dass diese Revolution die wirtschaftspolitische Koordinierung in der EU für immer verändern wird. Und dass sie daher einiger dringender Anpassung bedarf.
Eine weniger bekannte Besonderheit des neuen gemeinsamen 800-Milliarden-Euro schweren Wiederaufbaufonds der EU ist, dass er eng mit dem sogenannten Europäischen Semester verwoben wurde. Das Semester ist das wichtigste Instrument der EU, um Mitgliedstaaten dazu zu bringen, ihre nationalen Steuer-, Arbeitsmarkt- oder Sozialpolitiken miteinander abzustimmen. Zu diesem Zweck überwacht die Kommission die wirtschaftlichen Entwicklungen der Mitgliedsstaaten und gibt jährlich Reformempfehlungen an die Hauptstädte ab.
Dieses Europäische Semester hat keinen guten Ruf. Viele halten es für übermäßig bürokratisch, es gilt als schwerfällig und überladen, vor allem weil nationale Regierungen kaum wirkliche Anreize dafür haben, den wirtschaftspolitischen Empfehlungen der EU-Kommission zu folgen. Mitgliedsstaaten haben die Brüsseler Vorschläge daher besonders in den letzten Jahren größtenteils ignoriert. Die neue Aufbau- und Resilienzfazilität (ARF) könnte dies nun ändern.
Um Gelder aus der Aufbau- und Resilienzfazilität zu erhalten, müssen die nationalen Regierungen der EU-Kommission nun detaillierte Konjunktur- und Resilienzpläne (ARP) vorlegen. Diese Pläne müssen nicht nur beschreiben, wofür die europäischen Mittel ausgegeben werden sollen. Sie müssen auch Reformpläne beinhalten, die einen “wesentlichen Teil” der länderspezifischen Empfehlungen des Europäischen Semesters umsetzen. Das Geld wird dann in Tranchen ausgezahlt. Die Mitgliedstaaten erhalten nur dann die nächste Zahlung aus der ARF, wenn die Kommission mit ihren Investitions- und Reformfortschritten zufrieden ist.
Bis zum Auslaufen der Aufbau- und Resilienzfazilität in 2026 kann die EU-Kommission nun also theoretisch Milliarden an Darlehen und Zuschüssen zurückhalten, sollten Mitgliedstaaten sich nicht an die vereinbarten Pläne halten. Das gleicht einer kleinen Revolution. Die Einflussmöglichkeiten der Kommission werden dadurch deutlich zunehmen und die wirtschaftspolitische Koordinierung in der EU könnte zum ersten Mal wirklich Biss bekommen. Allerdings könnte der Prozess auch einige der alten Probleme des Semesters fortführen. Es ist daher wichtig, das neue Instrument nun in die richtige Richtung zu lenken. Das erfordert drei Dinge:
Erstens sollte die Kommission ihre Empfehlungen im Rahmen des regulären Semesters zurückschrauben. An der Umsetzung von manchen Reformen hängt jetzt eine Menge Geld, an anderen nicht. Das verschiebt den Fokus des Semesters. In den nächsten fünf Jahren werden sich alle Beteiligten auf die Umsetzung der nationalen Konjunktur- und Resilienzpläne konzentrieren. Lange Listen zusätzlicher Semester-Empfehlungen außerhalb der Aufbau- und Resilienzfazilität werden dabei notwendigerweise unter den Tisch fallen. Die Kommission sollte ihre Ansprüche anpassen. Außerhalb des RRF wird sie im Rahmen des Semesters wenig erreichen können.
Zweitens ist die ARF nicht gleichbedeutend für alle Mitgliedsstaaten. Einige Länder wie Ungarn, Griechenland, Spanien oder Italien können im Rahmen der ARF große Summen an Darlehen und Zuschüssen erhalten. Gegenüber diesen Ländern verfügt die Kommission nun über erhebliches Drohpotenzial. Sie mussten im Vorfeld ambitionierte Reformpläne vorlegen und werden in den kommenden Jahren unter starken Druck aus Brüssel geraten, die Pläne auch umzusetzen.
Andere Länder wie Deutschland oder die Niederlande wiederum erhalten deutlich weniger Geld und können sich daher im Zweifel auch leichter über die Wünsche der Kommission hinwegsetzen. Politisch und wirtschaftlich ist das ein Problem. Zum einen sollte die Kommission daher nicht zu viel von Ländern, die dringend auf ARF-Mittel angewiesen sind, verlangen. Zum anderen darf sie wirtschaftlich gut aufgestellte Länder bei wichtigen Reformen nicht außen vor lassen. Unabhängig davon, welches Land und wie viel Geld im Spiel sind, muss die Kommission daher sicherstellen, dass ARF-Mittel nur gegen Reformfortschritte fließen. Gerade bei Ländern wie Deutschland sollte sie zudem das lang existierende und bisher kaum genutzte Verfahren bei makroökonomischen Ungleichgewichten (VMU) in vollem Umfang nutzen, um im europäischen Sinne wichtige Reformen voranzutreiben.
Drittens werden die nationalen Reform- und Investitionspläne im Laufe der Zeit angepasst werden müssen. In den ARP werden – mehr oder weniger detailliert – Meilensteine und Ziele für jede einzelne Investition und Reform festgelegt, zu deren Umsetzung sich die Mitgliedstaaten bis 2026 verpflichtet haben. Zwischen jetzt und 2026 kann und wird aber viel passieren. Investitionsprojekte können scheitern, europäische Prioritäten können sich ändern, und nationale Regierungen können wechseln.
In diesen Fällen werden die Mitgliedstaaten und die EU-Kommission darüber verhandeln müssen, ob und wie sie Pläne adaptieren. Um das neue Europäische Semester zu einem wirksamen Koordinierungsinstrument zu machen, sollte die Kommission nicht darauf bestehen, die ursprünglichen Pläne Buchstabe für Buchstabe durchzusetzen. Stattdessen sollte sie die mögliche Neuverhandlungen der Pläne als Gelegenheit nutzen, um vor allem jene Bereiche weiter zu untermauern, in denen sich nationale und europäische Prioritäten überschneiden.
Die neue Verbindung zwischen der neuen Aufbau- und Resilienzfazilität und dem Europäischen Semester wird die wirtschaftspolitische Koordinierung der EU über ihr offizielles Ende im Jahr 2026 hinaus prägen. Die EU-Kommission hat gerade erneut eine öffentliche Überprüfung des EU-Rahmens für die wirtschaftspolitische Koordinierung eingeleitet.
Die Verknüpfung zwischen ARF und Semester bedeutet, dass es dabei künftig nicht mehr nur um Detailfragen gehen kann. Die neue Realität stellt das alte System grundsätzlich auf den Prüfstand. Jegliche Debatte über die Zukunft des Europäischen Semesters wird nun vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der ARF geführt werden. Und es ist kaum anzunehmen, dass eine mögliche künftige Fiskalkapazität auf EU-Ebene noch ohne einen Reformarm im jetzigen Stil durchsetzbar wäre. Die Frage, wie erfolgreich die der Prozess in den nächsten Jahren verläuft, wird daher entscheidend.
europäische Politiker sind derzeit in der ganzen Welt unterwegs, um im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zu vermitteln. Emmanuel Macron ist heute zu Gast bei Wladimir Putin in Moskau, Annalena Baerbock reist nach Kiew und Olaf Scholz fliegt zum Antrittsbesuch nach Washington zu Joe Biden.
Aus den USA kommt immer lauter die Forderung, Nord Stream 2 nicht in Betrieb zu nehmen, um Russland unter Druck zu setzen. Olaf Scholz deutete mittlerweile an, dass ein Stopp der Gaspipeline im Falle einer Eskalation des Konflikts nicht ausgeschlossen sei.
Europa ist ohnehin daran gelegen, die Abhängigkeit von russischem Erdgas zu reduzieren. Das ist der zweite Grund für zahlreiche Auslandsreisen europäische Politiker dieser Tage. So sind Energie-Kommissarin Kadri Simson und EU-Außenbeauftragter Josep Borrell heute ebenfalls in Washington. Sie werden beim Energierat EU-USA mit Außenminister Antony Blinken und Energieministerin Jennifer Granholm die Gespräche über die künftige Zusammenarbeit zur Energiesicherheit und die gemeinsame Verpflichtung zur Beschleunigung der Energiewende hin zur Klimaneutralität intensivieren.
Am Freitag war Simson bereits zu Gast in Baku, um für höhere Gasexporte aus Aserbaidschan nach Europa zu werben. Mehr zu Simsons Besuch lesen Sie in den News.
Neue Energielieferverträge zwischen Europa und anderen Ländern könnten jedoch auch neue Probleme mit sich bringen. Wenn die EU sich beispielsweise LNG aus China sichert, könnten Schwellenländer in Südostasien stattdessen in Energienot geraten, erklärt Andreas Goldthau im Interview mit Charlotte Wirth. Ärmere Länder wären nicht in der Lage, mit den Preisen, die Europa zahlen könnte, mitzuhalten. Das Problem würde sich laut dem Energieexperten auf andere verlagern.
Im EU-Parlament wird derzeit über die Verordnung für Künstliche Intelligenz verhandelt. Der Rat ist da schon deutlich weiter. Sowohl die slowenische als auch die französische Ratspräsidentschaft haben bereits eigene Vorschläge vorgebracht. Jasmin Kohl zeigt Konfliktlinien zwischen den Mitgliedstaaten sowie im Parlament auf. Uneinigkeit gibt es vor allem bei der Frage, welche Systeme als Hochrisiko-KI-Systeme klassifiziert werden sollen.
Herr Goldthau, für wie ernst halten Sie die Energiekrise in Europa?
Wir diskutieren momentan über Energiepreise und Versorgungssicherheit. Hier ist die Lage sicherlich ernst. Falls es wirklich zu Kriegshandlungen in der Ukraine kommt, haben wir aber ein Szenario, das weit darüber hinausgeht. Da ginge es um die Stabilität eines Landes, um humanitäre Krisen, Menschen werden nach Westen flüchten und versorgt werden müssen. Wir schauen in Deutschland sehr verengt darauf, ob wir morgen unser Erdgas noch haben und Nord Stream 2 zu halten ist. Unser Problem im Falle eines Krieges ist nicht die Gasversorgung, sondern der Krieg, der dann mitten in Europa tobt.
Könnte sich Russland einen Krieg und einen Stopp der Gaslieferungen wirtschaftlich überhaupt leisten?
Sieben oder acht Prozent des russischen Staatshaushalts werden aus den Erdgaseinnahmen gespeist, 30 Prozent aus Öl. Wenn die Gaseinnahmen wegfallen, wäre das zwar dramatisch. Es würde aber nicht den Staatsbankrott bedeuten. Gazprom hat jedoch eine weitere Rolle in Russland, es soll zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes beitragen. Es gäbe ganze Städte nicht mehr, würde Gazprom dort nicht Fußballstadien bauen, öffentliche Schwimmhallen und andere Infrastrukturen betreiben. Diesen Entwicklungsauftrag muss Gazprom refinanzieren, und das macht es über den Export. Ein Drittel des Gases geht in den Export, damit generiert das Unternehmen aber 100 Prozent seiner Einnahmen.
Also ist Gazprom hier verwundbar?
Einerseits ja. Anderseits würde der Ölpreis wohl durch die Decke gehen, wenn Russland in die Ukraine einmarschiert, und demnach auch die russischen Öleinnahmen. Wäre ich ein russischer Portfoliomanager im Staatsdienst, und wüsste, ob Russland einmarschiert, würde ich Optionen platzieren und den Effekt hebeln. Die Verluste aus den fehlenden Gasexporten refinanzierten sich so von selbst. Und die Russen sitzen auf einem großen Staatsfonds. Sie sind nicht mehr so verwundbar wie zur Annexion der Krim.
Ergeben Wirtschaftssanktionen gegen Russland mehr Sinn?
Sanktionen sind unvermeidbar, wenn es zu kriegerischen Handlungen kommt. Wir müssen aber bedenken, was dies bedeutet. Nehmen wir beispielsweise an, wir schalten Swift ab für die Russen: Wie wollen wir dann unser Gas zahlen? Darauf gilt es, sich vorzubereiten.
EU-Kommission und USA bereiten Europa auf eine Versorgungskrise vor. Wie dramatisch wäre diese, wenn Russland tatsächlich die Gaslieferungen drosselt?
Das hängt davon ab, wie lange die Situation anhalten wird. Wenn wir es mit einer kurzen Kriegshandlung in der Ostukraine zu tun hätten, ginge es wohl um eine überschaubare Unterbrechung. Wir könnten diese kurzfristig durchaus kompensieren, wir importieren derzeit bereits so viel Flüssiggas wie noch nie zuvor. Preislich würde das aber nicht schön. Wir stehen in harter Konkurrenz mit Asien.
Und bei einer mittelfristigen Lieferunterbrechung?
Es gibt noch Kapazitäten auf dem LNG-Markt, die nicht ausgeschöpft sind. Diese sind allerdings nicht besonders groß.
Von wo könnte das Flüssiggas kommen?
Wir sehen jetzt schon, dass sich LNG-Flüsse verändern. Chinesische Versorger etwa fangen an, LNG nach Europa zu schicken – das ist neu. Dies bedeutet allerdings auch, dass wir andere Länder aus dem Markt preisen. Das sind dann Schwellenländer, etwa in Südostasien, die nicht mehr in der Lage sind, aufgerufenen Preise für das Flüssiggas zu bezahlen. Dann kommt zwar das LNG zu uns, wir verlagern aber das Problem auf andere. Die Knappheit am Erdgasmarkt ist global, nicht nur bei uns.
Europa könnte verstärkt andere Brennstoffe einsetzen.
In Deutschland ist ein großer Teil der Kohlekraftwerke nicht ausgelastet, weitere sind bereits abgeschaltet. Die könnte man wieder hochfahren. Das ist eine strategische Reserve, mit der man kurzfristig einen Teil der Strom- oder Wärmelast abfangen kann, die sonst durch Gas gedeckt wird.
Klimapolitisch ist das allerdings problematisch.
Das wäre sicherlich eine Entscheidung, die im Falle von Force Majeure getroffen würde. Aber indem man die Kohlekraftwerke wieder zurückbringt, schiebt man natürlich die gesamte Dekarbonisierung nach hinten. Investitionsentscheidungen wären eventuell betroffen. Das wäre also keine einfache Versorgungsbrücke, sondern hätte möglicherweise systemische Auswirkungen.
Wird sich die Lage im Sommer verbessern?
Wir haben saisonale Nachfrageschwankungen: Man braucht im Sommer auch Gas, aber für andere Dinge. Sollte die Knappheit anhalten und russisches Gas bis in den nächsten Winter hinein ausfallen, könnte man die Energienachfrage anpassen, etwa indem man Teile der Industrie herunterfährt oder die Leute ins Homeoffice schickt. Die allerletzte Option wäre, die Wärmeversorgung der privaten Haushalte runterzuregeln, aber das wäre eine Notfallmaßnahme.
Was wäre ein langfristiges Szenario?
Die Menge an Gas, die die Russen nach Westen schicken, kann man nicht langfristig über LNG abfangen. Da müssten wir uns was anderes überlegen.
Frau von der Leyen verhandelt nun mit Staaten wie den USA und Katar. Was bringt das ihrer Meinung nach?
Kurzfristig gar nichts. Weder Frau von der Leyen noch der Emir von Katar oder Joe Biden können an der Angebotsschraube drehen. In den USA ist die Gaswirtschaft privatwirtschaftlich organisiert. Selbst wenn Biden mehr LNG nach Europa schicken wollte, kann er keine Cargoschiffe umleiten und keine Produktionskapazitäten erfinden, die nicht vorhanden sind. Viel der verfügbaren Menge an LNG ist zudem in Langfristverträgen gebunden, zum Beispiel mit Südostasien.
Und wenn Europa nun auch Langfristverträge abschließt?
Es ist schwierig, mit europäischen Importeuren Langfristverträge abzuschließen. Denn bestimmte Klauseln dürfen nicht mehr aufgenommen werden, da sie mit dem europäischen Energierecht nicht vereinbar sind. Es geht um die sogenannten Territorialitätsklauseln, die den Weiterverkauf verbieten. Die hat man abgeschafft, damit innerhalb der EU mit aus verschiedenen Richtungen anlandendem Gas gehandelt werden kann. Das ergibt aus Wettbewerbssicht Sinn. Allerdings kann es Konsequenzen auf der Angebotsseite haben. Als es 2018 zum Wettbewerbsfall gegen Qatar Petroleum kam, haben sich die Katari deshalb von Europa ab- und Südostasien zugewandt haben. Die EU-Kommission müsste also erstmal das Wettbewerbsverfahren beenden, wenn es sich die Katari noch einmal überlegen sollen.
Die Klimathematik scheint momentan in den Hintergrund zu geraten. Wird die Dekarbonisierung in der derzeitigen Krise noch mitgedacht?
Es handelt sich ja primär um eine Preiskrise. Da ist Feuerbekämpfung gefragt. Man muss den Effekt auf die betroffenen Familien und Wirtschaftssektoren abfedern, und das passiert ja bereits. Die größere Frage ist: Welche Lehren ziehen wir daraus? Es gibt einerseits starke Stimmen, die sagen, man dürfe mit Blick auf die Energiepreise nicht blind auf Dekarbonisierung setzen, auch da Deindustrialisierung droht. Andere sagen: jetzt erst recht! Dekarbonisierung bedeutet die Abkehr von den fossilen Brennstoffen, die Probleme machen.
Was sagen Sie?
Wir müssen mehr Resilienz ins System bringen, damit Ausschläge in der Nachfrage oder im Preis abgefedert werden können. Aber den gesamten Dekarbonisierungskurs zu überdenken, hieße, Infrastruktur zu schaffen, die irgendwann als Stranded Assets in den Büchern steht. Und man würde den wichtigen Impuls für Europas Wirtschaft in Richtung grünes Wachstumsmodell verpassen.
Während die Verhandlungen über die Verordnung für Künstliche Intelligenz (KI) im Europaparlament gerade erst begonnen haben (Europe.Table berichtete), ist der Rat schon ein wesentliches Stück weiter. Mitte Januar hat die französische Ratspräsidentschaft ihren ersten Kompromissvorschlag vorgelegt. Er betrifft die Anforderungen an Hochrisiko-KI-Systeme (Kapitel 2, Artikel 8-15 und Anhang 4).
Eine wesentliche Änderung zum Kommissionsvorschlag findet sich in Artikel 10 (3) über Daten und Daten-Governance: Die Kommission hatte darin gefordert, dass Trainings-, Validierungs- und Testdatensätze für Hochrisiko-KI-Systeme fehlerfrei und vollständig sein müssen. Viele Mitgliedstaaten hielten diese Anforderung jedoch für kaum erfüllbar. Die französische Ratspräsidentschaft nahm diesen Hinweis auf und plädiert dafür, dass diese Datensätze nur “im Rahmen der Möglichkeiten” fehlerfrei und vollständig sein müssen.
Bei der technischen Dokumentation eines Hochrisiko-KI-Systems (Artikel 11) sieht der französische Kompromissvorschlag mehr Flexibilität für Start-ups und KMU vor. Diese Unternehmen müssten demnach in der technischen Dokumentation der Systeme nicht alle Detail-Informationen aufführen, die in Anhang IV aufgelistet sind. Es reiche, wenn sie “gleichwertige” Informationen zur Verfügung stellen, die dasselbe Ziel haben: Nachweisbar machen, dass das Hochrisiko-KI-System die Anforderungen des Kapitels 2 erfüllt, wie zum Beispiel die Pflicht zur Protokollierung sowie die Einrichtung eines Risikomanagementsystems. Ob die Informationen tatsächlich gleichwertig sind, sollen die zuständigen Behörden feststellen.
Ein ambitionierteres Vorgehen fordert die französische Ratspräsidentschaft dagegen bei der Transparenz und Bereitstellung von Informationen für die Nutzer:innen (Artikel 13): Die Gebrauchsanweisung eines Hochrisiko-KI-Systems soll auch eine Beschreibung über den System-Mechanismus enthalten, die es den Nutzer:innen erlaubt, Protokolle ordentlich zu erfassen, zu speichern und zu interpretieren.
Kurz vor der Staffelübergabe an Frankreich hatte die slowenische Ratspräsidentschaft Ende November ihren Fortschrittsbericht veröffentlicht sowie einen ersten Kompromissvorschlag für die Artikel 1-7 und die Anhänge 1-4 der Verordnung. Mitte Januar haben ihn die Mitgliedstaaten-Vertreter:innen erstmals auf Arbeitsgruppen-Ebene diskutiert. Am Montag gab es einen weiteren Austausch. Die Reaktionen seien überwiegend positiv gewesen, aber viele Delegationen hätten noch nicht die Zeit gefunden, durch den gesamten Kompromissvorschlag zu gehen, berichtet ein Rats-Beamter. Tiefergehende Diskussionen zu diesen Artikeln auf Arbeitsgruppen-Ebene stünden also noch aus.
“Contexte” hat vergangene Woche als Erster Zugang zu Auszügen (Dokument 1 und Dokument 2) der Kommentare von 20 Mitgliedstaaten zu den ersten 29 Artikeln der KI-Verordnung bekommen. Die slowenische Ratspräsidentschaft hatte diese eingefordert, um ihren Kompromissvorschlag zu erarbeiten. Die Kommentare von Mitte November geben erste Einblicke in die Positionen der Mitgliedstaaten.
Die deutsche Position ist aus den Dokumenten nicht ersichtlich. Claudia Dörr-Voß, Staatssekretärin für Energie und Wirtschaft unter der alten Bundesregierung, hatte bei einer informellen Rats-Videokonferenz Mitte Oktober (Europe.Table berichtete) gesagt, dass die regierungsinterne Prüfung des Kommissionsvorschlags zur KI-Verordnung aufgrund seiner Komplexität noch nicht abgeschlossen sei und teilte diese Eckpunkte mit: Die Bundesregierung begrüße den horizontalen und risikobasierten Regulierungsansatz, sehe bei der Liste der verbotenen KI-Anwendungen sowie bei der Liste von Hochrisiko-KI-Anwendungen Nachbesserungsbedarf und halte die Unterstützung von KMU und Start-ups innerhalb der Verordnung für sehr wichtig.
Unklar ist, inwieweit die neue Bundesregierung weiter an dieser Position festhält oder sie überdenkt. Auf Anfrage von Europe.Table wollte sich das BMWK dazu nicht äußern und ließ auch die Frage, ob die Prüfung des Kommissionsvorschlags zur KI-Verordnung noch andauere, unbeantwortet.
In ihrem Kompromissentwurf hatte die slowenische Ratspräsidentschaft dafür plädiert, auch KI-Systeme, die zur Kontrolle von digitaler Infrastruktur oder als ihre Sicherheitskomponenten fungieren, als Hochrisiko-KI-Systeme (Anhang 3) einzustufen. Auch KI-Systeme, die Emissionen und Verschmutzung kontrollieren, sollen zu dieser Kategorie gehören. Die Forderung von Susana Solís Pérez (Renew), Berichterstatterin des mitberatenden Umwelt-Ausschusses im EU-Parlament (ENVI), gehen in diesem Punkt noch weiter: Sie will alle KI-Systeme im Bereich Umwelt als Hochrisiko-KI-Systeme einstufen (Europe.Table berichtete).
KI-Systeme, die von Strafverfolgungsbehörden zur Kriminalanalyse verwendet werden, sollen jedoch nicht als Hochrisiko-KI-Systeme eingestuft werden. Tschechien steht der Klassifizierung generell sehr skeptisch gegenüber, weil es grundsätzlich infrage stellt, dass Hochrisiko-KI-Systeme Schaden verursachen können. Sollte die Kommission dafür keinen Beweis vorlegen, sollten die Verweise auf diese Systeme also komplett aus dem Gesetzestext gestrichen werden, “da sie ungerechtfertigt sind”, kommentierte das Land im November.
Portugal spricht sich dafür aus, den Gesundheitsbereich in die Liste der Hochrisiko-KI-Systeme aufzunehmen. So würden KI-Systeme, die bei der Diagnose, Kontrolle von Vitalzeichen oder der Erstellung von medizinischen Behandlungsplänen helfen, auch als Hochrisiko-KI-Systeme eingestuft werden. Frankreich schlug im November vor, die Liste der Hochrisiko-KI-Systeme nicht wie von der Kommission vorgesehen durch delegierte Rechtsakte anzupassen, sondern durch Durchführungsrechtsakte. Durch das Komitologieverfahren würden die Mitgliedstaaten so eine bedeutende Rolle in dem Entscheidungsprozess spielen. Außerdem soll die Anpassung der Liste nicht jederzeit nach Bedarf, sondern nur in fest definierten Zeitabständen geschehen. In welchen Abständen bleibt dabei offen.
Laut Kompromissentwurf der slowenischen Ratspräsidentschaft soll das sogenannte Social Scoring (Bewertung des sozialen Verhaltens) nicht nur für öffentliche, sondern auch für private Akteure verboten werden. Im Gegensatz dazu soll die automatisierte Echtzeit-Gesichtserkennung im öffentlichen Raum für den Zweck der Strafverfolgung nicht nur von den Strafverfolgungsbehörden selbst, sondern auch “von anderen Akteuren im Namen von Strafverfolgungsbehörden” verwendet werden dürfen. Anwendungsbeispiele sind die Verhinderung von Terroranschlägen oder die Suche nach vermissten Kindern. Das birgt Streitpotenzial mit dem Europaparlament, denn der Berichterstatter des Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucherschutz (IMCO) Brando Benifei (S&D) möchte die Anwendung der umstrittenen Praxis grundlegend verbieten – auch für den Zweck der Strafverfolgung.
Zudem sieht der Kompromissentwurf vor, die automatisierte Echtzeit-Gesichtserkennung auch auf den Schutz von kritischer Infrastruktur auszuweiten. Spanien sprach sich dafür aus, dass die Technologie auch bei Veranstaltungen verwendet werden darf, die ein Risiko für die öffentliche Ordnung darstellen, wie etwa Sportwettkämpfen oder Gipfeln. Die französische Europaabgeordnete Gwendoline Delbos-Corfield (Grüne/EFA) ist davon überzeugt, dass sich Frankreich dieser Forderung anschließen wird (Europe.Table berichtete). Für die Olympischen Spiele 2024 in Paris würde die Region Île-de-France bereits die Möglichkeit prüfen, biometrische Massenüberwachung einzusetzen.
Die Kommission hatte vorgeschlagen, jeden Einsatz von automatisierter Echtzeit-Gesichtserkennung durch eine Justizbehörde genehmigen zu lassen. Für Notfälle wie Terroranschläge sollte jedoch auch eine ex-post-Genehmigung ausreichen. Dem widerspricht der Kompromissvorschlag der slowenischen Ratspräsidentschaft: Die Genehmigung soll noch während des Einsatzes beantragt werden. Sollte sie abgelehnt werden, müsse der Einsatz sofort gestoppt werden.
Mit einem deutlichen Verweis auf nationale Kompetenzen hat die slowenische Ratspräsidentschaft sich dafür eingesetzt, dass die nationale Sicherheit aus dem Anwendungsbereich der KI-Verordnung genommen wird. Diese falle weiterhin unter die alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten. Auch KI-Systeme, die allein für Forschungs- und Entwicklungszwecke genutzt werden, sollen nicht von dem Gesetz betroffen sein.
Um zu verhindern, dass traditionelle Software-Programme unter die Definition von KI-Systemen (Artikel 3) und somit den Anwendungsbereich der Verordnung fallen, hat die slowenische Ratspräsidentschaft die Definition entsprechend eingeschränkt. Roberto Viola, Generaldirektor der Generaldirektion Connect, hatte die Definition im Kommissionsvorschlag zuletzt bei der ersten gemeinsamen Aussprache der federführenden Ausschüsse im Europaparlament IMCO und LIBE (Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres) gegen ähnliche Kritik verteidigt: Sie sei weit genug gefasst, um die verschiedenen KI-Systeme zu einzubeziehen, aber auch ausreichend eng gefasst, um einfache Systeme, die Daten nur verarbeiten, auszuschließen.
Die französische Ratspräsidentschaft will am 10. Februar einen neuen Kompromissvorschlag zu den Pflichten der Anbieter und Nutzer von Hochrisiko-KI-Systemen und anderer Beteiligter (Artikel 16-29 ) der Verordnung präsentieren. Ein weiterer Kompromissvorschlag zu den Artikeln 30-85 und den Anhängen 5-9 ist derzeit für den 22. Februar vorgesehen.
Die federführenden Ausschüsse im Europaparlament, IMCO und LIBE, planen am 16. März eine erste Anhörung über die KI-Verordnung mit Experten und Wissenschaftlern. Die Berichterstatter Brando Benifei (S&D) und Dragoş Tudorache (Renew) wollen ihren gemeinsamen Bericht bis zum 5. April verfassen.
Im Ukraine-Konflikt reist Frankreichs Präsident Emmanuel Macron heute zu einem Treffen mit dem Staatschef Russlands Wladimir Putin nach Moskau. Beide hatten in den vergangenen Tagen bereits drei Krisengespräche am Telefon geführt. Frankreich hat derzeit die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union.
Aus dem Élysée-Palast hieß es vorab, es gehe um eine einheitliche, abgestimmte Ansage an Moskau mit klar umrissenen Konsequenzen im Fall einer Aggression. International gibt es Sorgen, dass Russland einen Einmarsch ins Nachbarland Ukraine plant. Der Kreml bestreitet solche Pläne. Macron nannte in der Zeitung “Journal du Dimanche” als Ziel seines Besuchs, “Antworten auf die Notlage zu erarbeiten und in Richtung einer neuen Ordnung voranzugehen, die Europa dringend braucht und die auf dem Grundprinzip der Gleichheit und Souveränität der Staaten basiert”. Dass Russland sich um seine Sicherheit kümmere, sei “legitim”.
Vor seinem Besuch im Kreml stimmte sich Macron mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ab, der an diesem Montag seinen Antrittsbesuch bei US-Präsident Joe Biden macht. Auch dabei wird der Ukraine-Konflikt eine wichtige Rolle spielen. Scholz wird von einigen Bündnispartnern vorgeworfen, in der Ukraine-Krise zu wenig Druck auf Russland auszuüben. Auch in den USA sind Zweifel laut geworden, ob man im Ernstfall auf Deutschland zählen kann.
“Das Handeln der deutschen Regierung in Bezug auf die Ukraine war bislang im besten Fall enttäuschend”, sagte der ranghöchste Republikaner im Auswärtigen Ausschuss des Senats, James Risch, dem Nachrichtenportal “t-online“. Er verlangte von Scholz eine klare Festlegung, die Gaspipeline Nord Stream 2 nicht in Betrieb zu nehmen.
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock reist heute Vormittag zum zweiten Mal innerhalb von drei Wochen zu Vermittlungsbemühungen nach Kiew. Die Grünen-Politikerin will in der ukrainischen Hauptstadt Staatschef Wolodymyr Selenskyj und Außenminister Dmytro Kuleba treffen. Baerbock hatte mit beiden schon am 17. Januar gesprochen. Mit Spannung wird erwartet, wie sie sich zu der jüngsten ukrainischen Liste mit Waffenwünschen äußert. Die Bundesregierung lehnt solche Lieferungen in Krisengebiete bisher strikt ab.
Anschließend will Baerbock in den Osten der Ukraine reisen, wo am Dienstag ein Besuch der Frontlinie zwischen ukrainischen Regierungstruppen und den von Russland unterstützten Separatisten im Konfliktgebiet Donbass geplant ist. dpa/rtr
Energie-Kommissarin Kadri Simson sagte bei ihrem Besuch in Aserbaidschan am Freitag, dass die EU auf die Trans Adriatic Pipeline (TAP) setze, um die Gasexporte aus Aserbaidschan nach Europa zu steigern. Die EU hoffe, dass die TAP ihre Exportkapazität von derzeit etwa 8 Milliarden Kubikmetern pro Jahr auf 10 Milliarden Kubikmeter erhöhen werde, so Simson.
Die TAP hat im vergangenen Jahr mehr als 8,1 Milliarden Kubikmeter Gas aus Aserbaidschan nach Europa transportiert, davon insgesamt 6,8 Milliarden Kubikmeter nach Italien. Erhöhte Gaslieferungen nach Europa aus Aserbaidschan seien laut Simson “wichtig vor dem Hintergrund von Engpässen und steigenden Preisen auf dem Energiemarkt”.
Ein EU-Beamter bestätigte, dass sich die EU um mehr Erdgas aus Aserbaidschan bemühe, da Europa mit hohen Energierechnungen und knappen Gaslieferungen aus Russland zu kämpfen hat. Simsons Besuch beim aserbaidschanischen Staatschef Ilham Alijew diente daher dazu, sich Gas aus alternativen Quellen zu sichern und Notfallpläne für den Fall einer Unterbrechung der Gasversorgung zu erstellen. Aserbaidschan sei ein “verlässlicher Energielieferant“, sagte Simson. Brüssel pflege “starke bilaterale” Beziehungen zu dem Land. Alijew unterstrich derweil die “neue Phase der Kooperation zwischen der EU und Aserbaidschan im Energiebereich”. luk/rtr
Mehr als 40 Staaten und zahlreiche Unternehmen haben sich zum Ziel einer klimaneutralen Luftfahrtbranche bekannt. Zu den Firmen zählten etwa Flugzeugbauer, Energiefirmen und Hersteller alternativer Kraftstoffe, teilte die französische Ratspräsidentschaft am Freitag in Toulouse mit. Frankreich hat derzeit turnusgemäß den Vorsitz unter den EU-Ländern.
In der Erklärung von Toulouse steht unter anderem ein Bekenntnis zu dem von der EU festgelegten Ziel, dass bis Mitte des Jahrhunderts nicht mehr Treibhausgase ausgestoßen, als wieder aus der Luft entnommen werden. Dies solle der Branche, so die Erklärung, etwa durch verbesserte Technologien, nachhaltige Kraftstoffe und Subventionen für umweltfreundliche Innovationen gelingen.
Der europäische Flughafenverband ACI teilte mit, dass die Erklärung den Weg für die nächsten Schritte ebne. ACI-Angaben zufolge haben knapp 150 Organisationen, Unternehmen oder andere Interessensträger aus der Industrie die Erklärung unterzeichnet. dpa
Wie nach jeder guten Krise vollzieht sich derzeit ein Umbruch in der wirtschaftspolitischen Koordinierung der EU. Während sich ein Großteil der öffentlichen Reformdiskussionen auf die fiskalischen Regeln und den Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) konzentriert, findet auch in der wirtschaftspolitischen Koordinierung der EU eine eher stille Revolution statt. Wir argumentieren, dass diese Revolution die wirtschaftspolitische Koordinierung in der EU für immer verändern wird. Und dass sie daher einiger dringender Anpassung bedarf.
Eine weniger bekannte Besonderheit des neuen gemeinsamen 800-Milliarden-Euro schweren Wiederaufbaufonds der EU ist, dass er eng mit dem sogenannten Europäischen Semester verwoben wurde. Das Semester ist das wichtigste Instrument der EU, um Mitgliedstaaten dazu zu bringen, ihre nationalen Steuer-, Arbeitsmarkt- oder Sozialpolitiken miteinander abzustimmen. Zu diesem Zweck überwacht die Kommission die wirtschaftlichen Entwicklungen der Mitgliedsstaaten und gibt jährlich Reformempfehlungen an die Hauptstädte ab.
Dieses Europäische Semester hat keinen guten Ruf. Viele halten es für übermäßig bürokratisch, es gilt als schwerfällig und überladen, vor allem weil nationale Regierungen kaum wirkliche Anreize dafür haben, den wirtschaftspolitischen Empfehlungen der EU-Kommission zu folgen. Mitgliedsstaaten haben die Brüsseler Vorschläge daher besonders in den letzten Jahren größtenteils ignoriert. Die neue Aufbau- und Resilienzfazilität (ARF) könnte dies nun ändern.
Um Gelder aus der Aufbau- und Resilienzfazilität zu erhalten, müssen die nationalen Regierungen der EU-Kommission nun detaillierte Konjunktur- und Resilienzpläne (ARP) vorlegen. Diese Pläne müssen nicht nur beschreiben, wofür die europäischen Mittel ausgegeben werden sollen. Sie müssen auch Reformpläne beinhalten, die einen “wesentlichen Teil” der länderspezifischen Empfehlungen des Europäischen Semesters umsetzen. Das Geld wird dann in Tranchen ausgezahlt. Die Mitgliedstaaten erhalten nur dann die nächste Zahlung aus der ARF, wenn die Kommission mit ihren Investitions- und Reformfortschritten zufrieden ist.
Bis zum Auslaufen der Aufbau- und Resilienzfazilität in 2026 kann die EU-Kommission nun also theoretisch Milliarden an Darlehen und Zuschüssen zurückhalten, sollten Mitgliedstaaten sich nicht an die vereinbarten Pläne halten. Das gleicht einer kleinen Revolution. Die Einflussmöglichkeiten der Kommission werden dadurch deutlich zunehmen und die wirtschaftspolitische Koordinierung in der EU könnte zum ersten Mal wirklich Biss bekommen. Allerdings könnte der Prozess auch einige der alten Probleme des Semesters fortführen. Es ist daher wichtig, das neue Instrument nun in die richtige Richtung zu lenken. Das erfordert drei Dinge:
Erstens sollte die Kommission ihre Empfehlungen im Rahmen des regulären Semesters zurückschrauben. An der Umsetzung von manchen Reformen hängt jetzt eine Menge Geld, an anderen nicht. Das verschiebt den Fokus des Semesters. In den nächsten fünf Jahren werden sich alle Beteiligten auf die Umsetzung der nationalen Konjunktur- und Resilienzpläne konzentrieren. Lange Listen zusätzlicher Semester-Empfehlungen außerhalb der Aufbau- und Resilienzfazilität werden dabei notwendigerweise unter den Tisch fallen. Die Kommission sollte ihre Ansprüche anpassen. Außerhalb des RRF wird sie im Rahmen des Semesters wenig erreichen können.
Zweitens ist die ARF nicht gleichbedeutend für alle Mitgliedsstaaten. Einige Länder wie Ungarn, Griechenland, Spanien oder Italien können im Rahmen der ARF große Summen an Darlehen und Zuschüssen erhalten. Gegenüber diesen Ländern verfügt die Kommission nun über erhebliches Drohpotenzial. Sie mussten im Vorfeld ambitionierte Reformpläne vorlegen und werden in den kommenden Jahren unter starken Druck aus Brüssel geraten, die Pläne auch umzusetzen.
Andere Länder wie Deutschland oder die Niederlande wiederum erhalten deutlich weniger Geld und können sich daher im Zweifel auch leichter über die Wünsche der Kommission hinwegsetzen. Politisch und wirtschaftlich ist das ein Problem. Zum einen sollte die Kommission daher nicht zu viel von Ländern, die dringend auf ARF-Mittel angewiesen sind, verlangen. Zum anderen darf sie wirtschaftlich gut aufgestellte Länder bei wichtigen Reformen nicht außen vor lassen. Unabhängig davon, welches Land und wie viel Geld im Spiel sind, muss die Kommission daher sicherstellen, dass ARF-Mittel nur gegen Reformfortschritte fließen. Gerade bei Ländern wie Deutschland sollte sie zudem das lang existierende und bisher kaum genutzte Verfahren bei makroökonomischen Ungleichgewichten (VMU) in vollem Umfang nutzen, um im europäischen Sinne wichtige Reformen voranzutreiben.
Drittens werden die nationalen Reform- und Investitionspläne im Laufe der Zeit angepasst werden müssen. In den ARP werden – mehr oder weniger detailliert – Meilensteine und Ziele für jede einzelne Investition und Reform festgelegt, zu deren Umsetzung sich die Mitgliedstaaten bis 2026 verpflichtet haben. Zwischen jetzt und 2026 kann und wird aber viel passieren. Investitionsprojekte können scheitern, europäische Prioritäten können sich ändern, und nationale Regierungen können wechseln.
In diesen Fällen werden die Mitgliedstaaten und die EU-Kommission darüber verhandeln müssen, ob und wie sie Pläne adaptieren. Um das neue Europäische Semester zu einem wirksamen Koordinierungsinstrument zu machen, sollte die Kommission nicht darauf bestehen, die ursprünglichen Pläne Buchstabe für Buchstabe durchzusetzen. Stattdessen sollte sie die mögliche Neuverhandlungen der Pläne als Gelegenheit nutzen, um vor allem jene Bereiche weiter zu untermauern, in denen sich nationale und europäische Prioritäten überschneiden.
Die neue Verbindung zwischen der neuen Aufbau- und Resilienzfazilität und dem Europäischen Semester wird die wirtschaftspolitische Koordinierung der EU über ihr offizielles Ende im Jahr 2026 hinaus prägen. Die EU-Kommission hat gerade erneut eine öffentliche Überprüfung des EU-Rahmens für die wirtschaftspolitische Koordinierung eingeleitet.
Die Verknüpfung zwischen ARF und Semester bedeutet, dass es dabei künftig nicht mehr nur um Detailfragen gehen kann. Die neue Realität stellt das alte System grundsätzlich auf den Prüfstand. Jegliche Debatte über die Zukunft des Europäischen Semesters wird nun vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der ARF geführt werden. Und es ist kaum anzunehmen, dass eine mögliche künftige Fiskalkapazität auf EU-Ebene noch ohne einen Reformarm im jetzigen Stil durchsetzbar wäre. Die Frage, wie erfolgreich die der Prozess in den nächsten Jahren verläuft, wird daher entscheidend.