Table.Briefing: China

Volkskongress: Wachstum + Militär + Prioritäten

  • NVK: Wachstum und Stabilität, aber Fokus auf Autarkie
  • Die Volksbefreiungsarmee modernisiert sich
  • Lis Rede: Gewichtung der politischen Prioritäten
  • Schlechte Weizenernte weckt Angst vor hohen Preisen
  • EU-Außenbeauftragter fordert Vermittlung durch China
  • Wegen Ukraine-Krieg: Museum stoppt Kunstausleihe nach China
  • Kohlebergbau ist große Methan-Quelle
  • US-Marine birgt Kampfjet
  • Im Portrait: Fanny Hoffmann-Loss – Architektin und Shanghai-Flaneurin
  • Zur Sprache: Tauben fliegen lassen
Liebe Leserin, lieber Leser,

der Nationale Volkskongress ist in diesem Jahr eine besonders mühsame Angelegenheit. Die Abgeordneten treffen sich seit diesem Wochenende zum dritten Mal unter Corona-Bedingungen. Die Partei steht unter immer größerem Druck, entgegen allen Widrigkeiten weiterhin Optimismus zu verbreiten. Während die Steuerung der Konjunktur durch die Schieflage am Immobilienmarkt immer schwerer wird, tauchen durch den Ukraine-Krieg neue Schwierigkeiten auf. Russland hat China in einen Konflikt hineingezogen, der unkontrollierte Ausmaße annimmt. Selbst wenn sich Russland dadurch zum wirtschaftlichen Vasallen Chinas entwickelt, hat das fast nur politischen Wert. Es steigert den Wohlstand nicht nennenswert. Der drohende Durchhänger der Weltkonjunktur wiegt viel schwerer.

China hatte gehofft, Corona in diesem Jahr hinter sich zu lassen, wie alle anderen Länder auch. Es war geplant, am Immobilienmarkt aufzuräumen und zugleich die Kreditvergabe und die Geldpolitik zu normalisieren. Diese schönen Pläne scheitern nun an der Hartnäckigkeit des Virus und an den neuen Unsicherheiten. Wirkte Premier Li Keqiang beim Vortrag des Planungsreports nicht noch etwas ernster und angespannter als sonst? Es wäre verständlich.

Nur eine Gewissheit bleibt: Der Militäretat steigt überproportional. Das ist kaum verwunderlich, schließlich legt selbst das bislang so zögerliche Deutschland gerade eine kräftige Schippe drauf. Da jedoch auch alle anderen asiatischen Nationen gerade die Rüstungsausgaben hochtreiben, droht ein Wettrennen, analysiert Michael Radunski. Wenn Li dann auch noch mit Drohungen gegen Taiwan nachlegt, verstärkt sich das ungute Gefühl noch einmal beträchtlich. Von Putin haben wir schließlich gelernt, Diktatoren genau zuzuhören.

Frank Sieren ordnet dann den Arbeitsbericht und die Ziele dieses NVK-Auftakts noch einmal gemäß ihren Prioritäten ein. Das Wohlbefinden des Volkes hat seiner Analyse zufolge absoluten Vorrang vor allen anderen Zielen, weshalb der Abbau der Ungleichheit und die Lösung der sozialen Frage weiterhin zu den Prioritäten gehören. Erst dann folgen Reform und Öffnung. Umweltschutz und Außenhandel kommen ziemlich weit unten in der Reihenfolge. Die deutsche Wirtschaft kann sich also auf weiterhin schwierige Zeiten einstellen.

Die Krisen und Kriege rücken näher – das gilt durch die mögliche Achse Moskau-Peking auch für uns im Umgang mit China. Lassen Sie sich nicht unterkriegen.

Ihr
Finn Mayer-Kuckuk
Bild von Finn  Mayer-Kuckuk

Analyse

Stabilität für Xi – trotz Krieg, Covid und Evergrande

Volkskongress in China: Wachstumsziel gesenkt

Es gehört zum Ritual des Nationalen Volkskongresses, auf die großen Schwierigkeiten zu verweisen, die im laufenden Jahr bevorstehen. Den Krieg in Europa erwähnte Premier Li Keqiang in seiner jährlichen Programmrede allerdings kein einziges Mal. Er sprach jedoch von einem “schweren und unsicheren” Ausblick – und ließ eine Zahl für sich sprechen. Das Wachstumsziel für China legte die Partei auf “um 5,5 Prozent” fest, einen niedrigeren Wert als in den vergangenen Jahrzehnten üblich.

Dieser Wert liegt allerdings exakt in der Mitte von Schätzungen in- und ausländischer Analysten und war so gesehen keine Überraschung. Angesichts eines schwierigen Wegs aus der Null-Covid-Strategie und bevorstehender Schocks infolge des Kriegs in Ukraine (China.Table berichtete) wäre eine höhere Zahl unangemessen gewesen. Ein niedrigerer Wert hätte dagegen Pessimismus verbreitet und den Eindruck erweckt, dass die Partei nicht die Macht hat, äußere Schocks wegzustecken.

Für deutsche Unternehmen hielt Li gemischte Botschaften bereit. Stabilität des Wachstums, ein Bekenntnis zur Öffnung, mehr Geld im Portemonnaie der Bürger klingen erst einmal gut. Doch die immer intensivere Betonung wirtschaftlicher und technische Unabhängigkeit lässt eine weitere Abkopplung von internationalen Partnern befürchten. Deutsche Unternehmen könnten Marktanteile weiter an einheimische Anbieter verlieren.

Der Nationale Volkskongress (NVK) ist Chinas Parlament. Die 2.980 Abgeordneten segnen jedoch unkritisch alle Entscheidungen der KP ab. Dennoch gilt das Ereignis als Fokuspunkt politischer Entscheidungsprozesse – zumal hier die Planzahlen bekannt gegeben werden. Am Samstag war die Eröffnungszeremonie mit der Rede Lis. Der Volkskongress tagt anderthalb Wochen lang.

Chinas Volkskongress: Stabiles Wachstum für Xis Wiederwahl

Im Vorjahr lag das Wachstumsziel in China bei “über sechs Prozent”, in diesem Jahr mit “ungefähr 5,5 Prozent” etwas niedriger. Der Wert für 2021 kam dann wie so oft tatsächlich deutlich höher heraus; hier spielte allerdings auch ein Nachholeffekt nach dem ersten Corona-Jahr eine Rolle.

Der gesamte Zahlenapparat des diesjährigen NVK-Reports soll Ruhe vermitteln und Stabilität signalisieren. Das ist kein Wunder. Im Herbst will sich Xi Jinping auf einem großen Parteikongress als zentraler Führer wiederwählen lassen. Damit überschreitet er das Amtszeitlimit, das früher in der Partei gegolten hat. Als Legitimation für seine offenbar unbegrenzte Herrschaft muss er sein Versprechen zuverlässiger Führung einlösen.

Neues Wachstumsziel in China gar nicht niedrig gewählt

Ökonomen des Investmenthauses Nomura erwarten, dass die Regierung im Jahresverlauf die Bautätigkeit anregen wird, um auf das Wachstumsziel zu kommen. Im vergangenen Jahr hatte der Immobiliensektor einen Durchhänger. Die gesamte Branche war infolge der de-facto Insolvenz des großen Anbieters Evergrande von Zahlungsproblemen geplagt.

Das neue Wachstumsziel ist denn auch bei näherem Hinsehen gar nicht niedrig gewählt. Das prozentuale Wachstum nimmt naturgemäß ab, je größer eine Volkswirtschaft wird. Sonst würde der Zuwachs gigantische, untragbare Ausmaße annehmen. Um gut fünf Prozent Wachstum zu erreichen, muss China auf Basis des aktuell erreichten Bruttoinlandsprodukts von 114 Billionen Yuan in diesem Jahr rund sechs Billionen Yuan mehr leisten. Das sind rund 870 Milliarden Euro. Vor zehn Jahren lag Chinas BIP bei 54 Billionen Yuan. Das damalige Wachstum von knapp acht Prozent entspricht einem Zuwachs von vier Billionen Yuan. In absoluten Zahlen wächst Chinas Wirtschaft also mehr als vor zehn Jahren. Das Geld ist allerdings heute auch weniger wert.

Photovoltaik und Wasserstoff für die Energiezukunft

Die Nationale Entwicklungs- und Reformkommission NDRC veröffentliche am Samstag ebenfalls ihren Bericht mit Zielsetzungen. Auffällig war die Erwähnung der Solarindustrie als Schlüssel für die weitere Entwicklung. Ein weiteres Ziel ist demnach “gleichmäßiger und kluger Fortschritt bei der Entwicklung der Wasserstoffwirtschaft”.

Eine formelle Abkehr von der Null-Covid-Strategie hat Premier Li derweil nicht angekündigt. Er versprach jedoch, die Belastung für die Wirtschaft durch eine neue Herangehensweise zu vermindern. Die Infektionskontrolle solle “Routine” werden, so Li. Das deutet darauf hin, dass auch die Einreisebestimmungen und die Grenzquarantäne bestehen bleiben. Für die deutsche China-Community ist das traurig, aber kaum überraschend.

Überraschend war dagegen: Am Wochenende fand die “Dual Circulation” keine auffällige Erwähnung. Xi hatte diese Strategie im Jahr 2020 vorgestellt. Die “zwei Kreisläufe” sollen Chinas Eigenständigkeit sichern, ohne den Außenhandel außer Acht zu lassen. Vielleicht erhält die Strategie noch einen gesonderten Auftritt auf dem Volkskongress. Es wäre jedenfalls ungewöhnlich, wenn eine Idee Xis, die mit viel Aufwand im Bewusstsein verankert wurde, als Sprachregelung so schnell wieder fallengelassen würde.

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Das Militär bekommt deutlich mehr Geld

Chinas Militärausgaben deutlich erhöht: Chinesische Panzer auf der Militärparade 2019 in Peking
Chinesische Panzer auf der Militärparade 2019 in Peking

Kurz bevor Chinas Ministerpräsident Li Keqiang am Samstagmorgen den Nationalen Volkskongress in Peking eröffnet, sorgt eine Meldung aus Nordkorea für Aufsehen: Das Regime von Machthaber Kim Jong-un hat eine ballistische Rakete abgefeuert. Es ist bereits der neunte Raketentest Nordkoreas in diesem noch jungen Jahr. Dass Machthaber Kim den Test ausgerechnet zu Beginn der wichtigsten politischen Veranstaltung des Jahres durchführt, ist ein besonderer Affront gegenüber Peking.

Doch als Li Keqiang wenig später in der Halle des Volkes vor die rund 3.000 Delegierten tritt, erwähnt er den Test mit keiner Silbe. Auch nicht den russischen Einmarsch in der Ukraine oder das neue Raketenabwehrsystem, das Südkorea vor wenigen Tagen getestet hatte. Und doch spielen all diese Entwicklungen eine wichtige Rolle für Pekings Entscheidung: Chinas Militärausgaben sollen in diesem Jahr um satte 7,1 Prozent erhöht werden. Sie steigen damit auf umgerechnet 230 Milliarden US-Dollar.

Allerdings ist jedem Beobachter klar: Chinas Militär wird in der Praxis noch deutlich großzügigere Mittel erhalten. “Die realen Aufwendungen für das Militär sind weitaus größer”, sagt Timothy Heath von der renommierten US-Denkfabrik Rand Corporation. “Viele Bereiche sind schlicht nicht inbegriffen, wie beispielsweise die Ausgaben für Forschung und Entwicklung”, erklärt der Wissenschaftler im Gespräch mit China.Table.

Chinas Interessen im Ausland sichern

Aber genau dort, in Hochtechnik, wird China in den kommenden Jahren massiv investieren. “China will militärische Fähigkeiten entwickeln, um zukünftig weitreichendere Missionen ausführen zu können und so seine Interessen im Ausland durchzusetzen.” Heath nennt die Belt-and-Road-Initiative, das Prestigeprojekt von Chinas Staatspräsident Xi Jinping. “Wenn Partnerländer zu dem Schluss kommen, dass China nicht für die notwendige Sicherheit sorgen kann, werden sie ihre Teilnahme an diesen Projekten ernsthaft einschränken”, glaubt Heath.

Dazu passen die Ausführungen von Ministerpräsident Li Keqiang vor dem Nationalen Volkskongress: “Wir werden das militärische Training und die Kampfbereitschaft verbessern.” Das Land werde standhaft bleiben, um seine Souveränität, Sicherheit und Entwicklungsinteressen zu wahren. Die Logistik- und Verwaltungssysteme des chinesischen Militärs sollen schneller modernisiert und ein modernes Waffen- und Ausrüstungsbeschaffungssystem aufgebaut werden.

Li forderte: “Behörden aller Ebenen müssen die Entwicklung der nationalen Verteidigung und der Streitkräfte unterstützen, damit die Einheit von Militär und Regierung wie auch die Einheit von Militär und Gesellschaft felsenfest bleibt.”

Chinas steigende Militärausgaben: Rüstungswettlauf in Asien

Die Erhöhung der Militärausgaben um 7,1 Prozent ist unter mehreren Gesichtspunkten beachtenswert: Zum einen steigen sie stärker als in den vergangenen Jahren – nach 6,6 Prozent im Jahr 2020 und 6,8 Prozent 2021. Und das trotz Corona-Pandemie, trotz einer schwierigen Weltwirtschaftslage und trotz massiver Probleme auf dem heimischen Immobilienmarkt. Zudem liegen die 7,1 Prozent für das Militär deutlich über dem angepeilten Wirtschaftswachstum von 5,5 Prozent – und noch deutlicher über den 3,9 Prozent, um die alle übrigen Ausgaben im chinesischen Haushalt steigen sollen. Damit wird deutlich: Die Führung in Peking legt dieses Jahr einen Schwerpunkt auf die Stärkung der Streitkräfte.

Militär-Experte Heath glaubt, Chinas Militär werde in die Entwicklung von Schiffen und großen Transportflugzeugen investieren. Generell erhalte die Marine große Aufmerksamkeit. “Zudem werden sie die technologischen Fähigkeiten der Volksbefreiungsarmee verbessern wollen, durch mehr Künstliche Intelligenz und andere digitale Technologien.”

Die steigenden Militärausgaben der Volksrepublik sind allerdings beileibe keine Eigenheit Chinas. Vielmehr folgen sie einem globalen Trend, der sich zuletzt auch in Chinas Nachbarschaft deutlich beschleunigt hat. Nicht wenige Experten erkennen bereits einen rasanten Rüstungswettlauf in Asien: So will Indien im Finanzjahr 2022-23 rund 70 Milliarden Dollar für sein Militär ausgeben, Taiwan 16,8 Milliarden Dollar – zuzüglich eines rund 8,6 Milliarden großen Extra-Budgets für Raketen und ein Küstenabwehrsystem. Und auch das pazifistisch geltende Japan plant, im laufenden Jahr 47 Milliarden Dollar in seine Streitkräfte zu stecken. Dass in einem solchen Umfeld auch Chinas Militärausgaben steigen, ist also wahrlich keine Überraschung.

China: Spannungen mit den Nachbarn

Doch zeigt der Vergleich mit den Rüstungshaushalten der Nachbarstaaten eben auch, dass Peking deutlich mehr für sein Militär ausgibt: offiziell 230 Milliarden Dollar. Weltweit geben nur die USA noch mehr Geld für ihr Militär aus, nämlich rund 770 Milliarden Dollar.

Doch Chinas Führung blickt zunehmend besorgt auf seine Nachbarschaft: An der Grenze mit Indien kommt es immer wieder zu bewaffneten Zwischenfällen, im Süd- und Ostchinesischen Meer bestehen weitreichende Territorialstreitigkeiten. Im Nachbarland Afghanistan fürchtet man ein Wiedererstarken des Terrorismus (China.Table berichtete). Zudem werden immer mehr Anti-China-Bündnisse abgeschlossen wie Aukus oder Quad (China.Table berichtete).

Und im vergangenen Monat legten auch noch die USA ihre lang erwartete Indopazifik-Strategie vor, mit der sie Chinas wachsenden Einfluss etwas entgegensetzen wollen. So möchte Washington unter anderem seine Beziehungen zu Südkorea und Japan stärken. Ein besonderer Dorn im Auge Pekings ist allerdings Amerikas Aufmerksamkeit für Taiwan.

Und noch eine Drohung in Richtung Taiwan

Und so machte Li Keqiang am Samstag denn auch keinen Hehl aus Pekings Plänen. Er bekräftigte abermals den Willen Pekings, die “Taiwanfrage” endgültig lösen zu wollen – und zwar “innerhalb der modernen Ära”. Schon zuletzt hatte Präsident Xi Jinping keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass die Wiedervereinigung des chinesischen Mutterlandes spätestens bis zum 100-jährigen Bestehen der Volksrepublik im Jahr 2049 vollzogen werden würde – notfalls mit militärischer Gewalt.

Angesichts der russischen Invasion in die Ukraine und der vorherigen Aussagen des russischen Präsidenten Wladimir Putin sollte man sich keinen Illusionen hingeben, was Chinas Haltung gegenüber Taiwan betrifft. Niemand kann sagen, man hätte Pekings Pläne nicht gekannt. Li Keqiang sagte vor dem Nationalen Volkskongress: “Wir werden das friedliche Wachstum der Beziehungen über die Taiwanstraße hinweg und die Wiedervereinigung Chinas vorantreiben.” Er verbiete sich “separatistische Aktivitäten”, Unabhängigkeitsbestrebungen Taiwans und – vor allem – ausländische Einmischung. “Wir alle, Chinesen auf beiden Seiten der Taiwanstraße, sollten zusammenkommen, um die große und glorreiche Sache der Wiederbelebung Chinas voranzubringen.” In diesen Sätzen kommen zwar friedlich klingende Vokabeln vor. Dahinter stecken jedoch kaum verborgene Drohungen.

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Lis Prioritäten: Wachstum, Binnenmarkt, High-Tech

Li Keqiang: Die Prioritäten Chinas für 2022

Die Reihenfolge, in der die Themen des von Premier Li Keqiang vorgetragenen Arbeitsberichtes der Regierung angesprochen werden, sagt viel über die Prioritäten aus, die die Regierung im kommenden Jahr setzen will. Der Bericht bildet in seinem Aufbau zudem Chinas Machtverhältnisse ab. Der Einfluss der verschiedenen Politikbereiche wird austariert mit den Anliegen der Menschen, auf die die Regierung reagieren muss, um die soziale Stabilität zu wahren. Dabei gilt: Das Wichtigste kommt zuerst.

Li lobt sich für ein erfolgreiches Jahr 2021

Zuerst der Rückblick auf das vergangene Jahr: Die Wirtschaft und nicht etwa die Ideologie standen wieder an erster Stelle. In diesem Bereich am wichtigsten war das Wachstum, das 8,1 Prozent erreichte. Das Wachstum ist aber nur sinnvoll, wenn es Jobs schafft und die Preise stabil bleiben. Die Arbeitslosigkeit lag im abgelaufenen Berichtszeitraum bei 5,1 Prozent, es wurden über zwölf Millionen neue Jobs geschaffen.

Als zweitwichtigsten Bereich in seinem Rückblick nennt Li bereits das Thema Innovation. Er betont dabei nicht die Innovationsausgaben des Staates, sondern die der Unternehmen. Sie haben im vergangenen Jahr 15,7 Prozent mehr in Forschung und Entwicklung gesteckt. Die High-Tech-Industrie sei um 18,2 Prozent gewachsen. Es folgen die Landwirtschaft, wo Li einen Rekord in der Getreideproduktion zu vermelden hatte. Li lobt die marktwirtschaftlichen Reformen und Öffnung nach außen, die interessanterweise immer noch in einem Atemzug genannt werden, obwohl das Land sich physisch abriegelt und zugleich die Marktwirtschaft stärken will. Besonders stolz ist Premier Li Keqiang darüber, dass China zum ersten Mal über 150 Millionen Unternehmen im marktwirtschaftlichen Wettbewerb hat.

Danach folgt schon der Umweltschutz. Die Feinstaubbelastungen in den Städten sei um 9,1 Prozent zurückgegangen. Erst danach betont Li in seiner Rede den Lebensstandard der Bevölkerung. Das verfügbare Einkommen sei pro Kopf um 8,1 Prozent gestiegen. Weitere Stichworte: Armutsbekämpfung und Renovierung der Wohnungen und Häuser. Und zuletzt erst erwähnt Li noch die Pandemie. Die Maßnahmen wurden “konsolidiert”, heißt es sehr routiniert. Das Militär kommt in der Rede nur in untergeordneter Rolle vor.

Li Keqiang: Die Prioritäten Chinas für 2022 im Einzelnen

Doch viel wichtiger ist die Frage, wie Premier Li die Schwerpunkte im neuen Jahr setzt. Wir listen hier sie in der Reihenfolge der Rede.

1. Stabiles Wirtschaftswachstum

Zwar rechnet Li mit höheren Steuereinnahmen, doch die Belastung für die Privatunternehmen soll künftig eher sinken. Die Verschuldung will die Regierung bei 2,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts mit leicht sinkender Tendenz stabilisieren. Eine “vorsichtige” Geldpolitik ist geplant. Die Geldmenge soll also eher am kurzen Zügel gehalten werden. Die Zinsen soll die Zentralbank leicht senken, um die Bewältigung von Schocks und Krisen zu erleichtern. Peking möchte zudem Budgetverantwortung weiter dezentralisieren. Die Gebietskörperschaften erhalten also mehr Kontrolle darüber, wie sie sich mit Geld versorgen und wofür sie es ausgeben. Der Löwenanteil der Investitionen wird dem Privatsektor überlassen. Insgesamt will die Regierung nach eigenem Bekunden “ihren Gürtel enger schnallen und ihre Ausgaben zum Wohl der Menschen niedrig lassen”. Das sind alles Maßnahmen, die man trifft, wenn man keine signifikante Eintrübung der Wirtschaft erwartet. Aber Li muss natürlich nachtarieren, je nachdem wie das Jahr sich entwickelt.

2. Stärkung der Marktwirtschaft

Hier stehen für Li Steuerentlastungen und Liquiditätsverbesserungen besonders für kleine und mittlere Unternehmen im Mittelpunkt. Die Regierung will für Arbeitsplätze für die über zehn Millionen Studierenden sorgen, die dieses Jahr wieder die Universitäten verlassen. Das Thema Arbeitsplätze taucht immer wieder an unterschiedlichen Stellen auf, was die Bedeutung des Themas für die Regierung unterstreicht. 

3. Stärkung der Binnenwirtschaft

Ebenfalls hohe Priorität – höhere als der Außenhandel – hat die Entwicklung des eigenen Marktes für eigenen Unternehmen. In diesem Bereich geht es Premier Li vor allem darum, den Konsum anzukurbeln durch die “Erhöhung der Kaufkraft” der Menschen. Außerdem sollen ihre Rechte als Konsumenten gestärkt werden. Erreichen will Premier Li das durch eine “Verschlankung und Dezentralisierung der Verwaltung”, mit dem Ziel “eines marktwirtschaftlich auf klaren Gesetzen basierenden” Geschäftsumfeldes. Die marktwirtschaftlichen Reformen der Staatsbetriebe sollen beschleunigt werden. Sie sollen also weniger Geld bekommen. Die Privatunternehmen hingegen sollen einfacher an Kredite kommen.

4. Innovationskraft der Wirtschaft stärken

China will seine Forschungs- und Entwicklungskapazitäten weiter ausbauen und Unternehmen fördern, die das Gleiche tun, betont Li Keqiang. Das Ziel dabei: “Talent-Zentren und Innovations-Hubs von globaler Bedeutung.” 
Für die Unternehmen bedeutet das: Investitionen in Forschung und Entwicklung können “nicht mehr zu 75 Prozent, sondern zu 100 Prozent von den Steuern abgezogen werden.” Zusätzlich gibt es Steuererleichterungen für Unternehmen, die in die Grundlagenforschung investieren. Der Ausbau von 5G soll noch schneller vorankommen. 

5. Förderung der Regionen

Die Regionen will Li besser miteinander vernetzen, deren Wirtschaftskraft austarieren und Infrastruktur ausbauen. Dabei will er die Minderheiten und Grenzregionen nicht vergessen.

6. Landwirtschaft und ländliche Regionen

Die wichtigste Nachricht für die Bauern hier: Die Mindestpreise für Reis und Getreide werden angehoben. Die 120 Millionen Hektar landwirtschaftliche Fläche will Premier Li halten und gleichzeitig deren Qualität verbessern. Umweltkatastrophen und Tierseuchen will er besser managen lassen. In der landwirtschaftlichen Forschung will er die “Anstrengung verdoppeln”. Die Armut auf dem Land muss China weiter bekämpfen, so Li Keqiang.

7. Den Außenhandel weiter fördern

In diesem Bereich will Li kleineren und mittleren Unternehmen besseren Zugang zu Exportkredit-Versicherungen verschaffen. “Neue Formen” des Außenhandels sollen entwickelt werden. Die Zollbestimmungen sollen “vereinfacht” und das Logistiksystem “auf internationales Niveau” ausgebaut werden. Internationale Investitionen in China will er vor allem in der “mittleren und High-End-Produktion, bei Forschung und Entwicklung und moderner Dienstleistungsindustrie genauso fördern wie die Investitionen in den noch unterentwickelten zentralen, westlichen und nordöstlichen Teilen Chinas. Neue Freihandelszonen sollen eröffnet werden. Auch der Hainan Free Trade Port soll ausgebaut werden, der als einziger namentlich genannt wird. Li Keqiang will zudem insgesamt, “mehr Geschäftsmöglichkeiten für ausländische Unternehmen in China schaffen” – was auch immer das bedeuten mag. Ominös ist, dass dieser Punkt in der Rangfolge eben deutlich niedriger steht als die Stärkung des Binnenkonsums. China will allerdings den Austausch in der Freihandelszone RECP, der größten der Welt (China.Table berichtete), “vertiefen”. Li will sich zudem um die “Reform der Welthandelsorganisation” (WTO) kümmern. Das ist die einzige internationale Organisation, die in diesem Papier genannt wird. 

8. Umwelt- und Klimaschutz stärken

An erster Stelle nennt Premier Li dabei die Umweltverschmutzung und die Wiederbelebung von Ökosystemen. Dann erst folgt die Emissionsreduzierung und eine “größere Harmonie zwischen Mensch und Natur.”
Die Regierung will 2022 in “geregelten Schritten” daran arbeiten, die Klimaziele zu erreichen, nach der Methode: “Erst das neue aufbauen, bevor man das alte abreißt.” Dabei nennt der Bericht vor allem Wind- und Sonnenenergie. Atomkraft und Wasserkraft werden erstaunlicherweise nicht genannt. Die “blinde Entwicklung” energieintensiver Projekte will Li gleichzeitig stoppen. 

9. Das Wohlbefinden der Menschen verbessern

Als Erstes nennt Premier Li Keqiang hier, dass die Verbesserung der Qualität und der Fairness beim Zugang zu Bildung immer noch ein großes Problem in China ist (China.Table berichtete). Danach nennt der Premier die Verbesserung des Gesundheitssystems. Er verspricht, den staatlichen Anteil an der Krankenversicherung zu erhöhen. Aber auch die Altersversorgung will China ausbauen. Interessant ist, dass dieser Punkt als letztes genannt wird. Ein Hinweis darauf, dass der Unmut der Bevölkerung in diesem Bereich nicht so groß ist.

Der Schwerpunkt der Politik in diesen neun wichtigsten Punkten der Regierungspolitik für 2022 zeichnet sich also klar ab: mehr nachhaltige Marktwirtschaft, Dezentralisierung, Innovation und Bildung. Doch der Staat will gleichzeitig die Schulden stärker im Blick haben. Gleichzeitig sollen die sozialen und regionalen Ungleichgewichte abgebaut werden. Forschung und Entwicklung, aber auch die Schaffung von genügend Arbeitsplätzen, stehen dabei im Zentrum. Der Spielraum von westlichen Unternehmen soll vergrößert und die internationale Wirtschaftsvernetzung ausgebaut werden. Wie das in der Praxis läuft, muss sich zeigen. Auffällig ist aber jetzt schon die stärkere Betonung des Binnenkonsums und der Binnenwirtschaft.

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News

Schlechte Weizenernte bedroht weltweit die Versorgung

In China droht eine Missernte des Winterweizens. Der Ertrag könne der “schlechteste in der Geschichte” sein, sagte Landwirtschaftsminister Tang Renjian am Samstag auf dem Nationalen Volkskongress. Die Äußerung weckt Sorge um die weltweite Getreideversorgung. Russland und Ukraine gehören zu den größten Exporteuren von Weizen, Mais und Sonnenblumenöl. Wenn China sich jetzt mit seiner großen Finanzmacht auf dem Weltmarkt eindeckt, könnte das die Preise hochtreiben. Das wird in den reichen Ländern die Inflation anheizen und ärmere Länder vor echte Versorgungsprobleme stellen.

Als Grund nannte Minister Tang den Starkregen im vergangenen Jahr, der die Aussaat auf einem Drittel der normalen Weizenanbaufläche verzögert oder vereitelt hat. Eine Erhebung habe ergeben, dass die Weizenernte in China erheblich schwächer ausfalle, so Tang. “Vor kurzem haben wir eine Umfrage an der Basis durchgeführt, und viele Landwirtschaftsexperten und Techniker sagten uns, dass die Erntebedingungen in diesem Jahr die schlechtesten in der Geschichte sein könnten.” fin/rtr

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Borrell: China muss vermitteln

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hat sich für eine Vermittlung Pekings im Krieg um die Ukraine ausgesprochen. “Es gibt keine Alternative”, sagte Borrell der spanischen Zeitung El Mundo am Wochenende. Weder die Europäer noch die USA kämen Borrell zufolge derzeit als Vermittler infrage. Eine Wiederbelebung des Normandie-Formats schloss er aus. “Es muss China sein, ich vertraue darauf”, sagte Josep Borrell. Konkrete Gesprächspläne gebe es jedoch noch nicht. Die EU-Seite habe noch nicht darum gebeten, so der Spanier. Auch China habe das noch nicht getan. Wer in dem Krieg vermitteln kann, scheint für Borrell jedoch klar: “Es muss eine Großmacht sein.” Die Volksrepublik müsse in der diplomatischen Verhandlung des Konflikts “eine Rolle spielen”. Die Äußerungen von Josep Borrell sorgten am Wochenende für Diskussionen in den sozialen Netzwerken – denn bisher war China nicht als Vermittler, sondern eher mit pro-russischen Äußerungen aufgefallen.

Auch der Außenminister von Ukraine, Dmytro Kuleba, forderte am Wochenende von China, vermittelnd einzugreifen. Peking solle klarstellen, dass der Krieg den eigenen Interessen zuwiderlaufe. US-Außenminister Antony Blinken stieß ins gleiche Horn. In einem Gespräch mit seinem chinesischen Amtskollegen Wang Yi wies er darauf hin, dass “die Welt im Einklang handelt, um der russischen Aggression zu begegnen”. Man beobachte nun genau, welche Nationen sich für die Grundprinzipien von Selbstbestimmung und Souveränität starkmachen. ari

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Museum stoppt Matisse-Ausleihe

Wegen einer ausbleibenden Distanzierung Pekings von Moskau im Ukraine-Krieg hat ein französisches Museum die Zusammenarbeit mit chinesischen Partnern ausgesetzt. Das Matisse-Museum im nordfranzösischen Cateau-Cambrésis hat die Ausleihe von 280 Werken des Künstlers an das UCCA Center for Contemporary Art in Peking gestoppt, wie lokale Medien berichteten. Die Werke von Henri Matisse hätten in wenigen Wochen für zwei Ausstellungen in die Volksrepublik geschickt werden sollen. Die Ausstellung war ab Ende März in Peking und ab Sommer in Shanghai geplant.

Der Präsident des nordfranzösischen Département-Rats, Christian Poiret, erklärte der Nachrichtenplattform France Bleu, er habe diese Entscheidung aufgrund der bestehenden politischen Verbindungen zwischen Peking und Moskau getroffen. Ihm zufolge ist es schwierig, Visa zu erhalten, um die Werke auf ihrer gesamten Reise zu verfolgen. Er habe daher keine ausreichenden Garantien für ihre Rückkehr nach Frankreich, so der rechtskonservative Politiker. Das Département habe beschlossen, die Kulturpartnerschaft mit chinesischen Einrichtungen zu unterbrechen. ari

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Förderung von Kohle setzt viel Methan frei

China ist die weltweit größte Quelle von Methan-Emissionen aus dem Energiesektor. Die Emissionen des Klimagases, die bei Chinas Kohleförderung austreten, hatten im letzten Jahr einen Treibhausgaseffekt vergleichbar mit dem des globalen Schiffsverkehrs. Das geht aus einer Studie der Internationalen Energieagentur (IEA) hervor. China macht demnach gut ein Fünftel der weltweiten Methan-Emissionen aus dem Energiesektor aus. Laut IEA gibt es “beträchtliche Möglichkeiten”, den Methanausstoß bei der Kohleförderung zu minimieren. Das Treibhausgas habe zu 30 Prozent zum globalen Klimawandel beigetragen. Methan hat in der Atmosphäre zwar nur eine durchschnittliche Lebenszeit von 12,4 Jahren. Doch es ist 25-mal so schädlich wie Kohlendioxid.

China hat es bei der letzten Klimakonferenz abgelehnt, sich dem sogenannten “Global Methane Pledge” zur Reduzierung des Methan-Ausstoßes anzuschließen (China.Table berichtete). Allerdings kündigte das Land damals einen nationalen Methanplan an. nib

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US-Kampfjet geborgen

Die US-Marine hat den im Südchinesischen Meer versunkenen US-Kampfjet geborgen. Der F-35C gehört zu den neusten Jets der US-Streitkräfte und ist mit modernster Technik ausgestattet (China.Table berichtete). Bei einem Landeunfall war der Jet im Januar vom Flugzeugträger ins Meer gestürzt. Das Flugzeug wurde vergangene Woche aus einer Tiefe von fast 3.800 Metern geborgen. Das Südchinesische Meer ist ein geopolitischer Brennpunkt. Mehrere Staaten beanspruchen den Besitz kleiner Inseln und Riffe und den damit zusammenhängenden Zugang zu Rohstoffen sowie die Kontrolle wichtiger Schifffahrtsrouten. nib

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Presseschau

Trump muses about a really bad – and evidently illegal – idea to bomb Russia using Chinese flags WASHINGTONPOST
US-Regierung verstärkt Druck auf China NTV
Was wusste China von Russlands Invasionsplänen? STANDARD
Russland setzt auf chinesische Kreditkarten NTV
Russian Banks Turn to China to Sidestep Cutoff From Payments Systems WSJ
China Opposes Sanctions and Has a Reputation for Busting Them WSJ
Ukraine: Chinese citizens return home as Beijing urged to rein in Moscow SCMP
China says it seeks to ‘resolve’ Taiwan question, amid comparisons to Ukraine WASHINGTONPOST
Dutton dials back language on Australia defending Taiwan in a potential war with China GUARDIAN
China am Wendepunkt FAZ
Li Keqiang: Premierminister ohne Entscheidungsgewalt in Xis China HANDELSBLATT
China schickt sieben Satelliten ins All – Testnetzes für Satelliteninternet DEUTSCHLANDFUNK
Pekings Spritzendiplomatie FAZ
“Auch China könnte eine Überraschung erleben” ZEIT
Immer mehr Deutsche verlassen Hongkong NTV
Hong Kong residents urged not to panic ahead of COVID mass testing REUTERS
A reprieve for coal? Xi Jinping urges ‘realism’ on China’s road to carbon goals SCMP

Portrait

Fanny Hoffmann-Loss – Architektin und Shanghai-Flaneurin

Fanny Hoffmann-Loss ist Architektin und Projektmanagerin bei Gerkan Marg und Partner in Shanghai. In ihrer Freizeit führt sie Touristen durch die Stadt.
Fanny Hoffmann-Loss ist Architektin und Projektmanagerin bei Gerkan Marg und Partner in Shanghai. In ihrer Freizeit führt sie Touristen durch die Stadt.

“Shanghai ist immer im Wandel, baut sich täglich weiter, steht niemals still”, vor allem sei es eine Stadt mit vielen Gesichtern, sagt Fanny Hoffmann-Loss. Sie ist Architektin und Projektmanagerin im Architekturbüro Gerkan Marg und Partner in Shanghai. In ihrer Freizeit führt sie Touristen als Shanghai-Flaneurin durch die Stadt.”Auf der einen Seite moderne Hochhäuser und enormer Lebensstandard, auf der anderen alte Gassen und historische Orte.”  

Als Mitglied der Shanghai Flaneure erlebe sie beides aus nächster Nähe. Die Organisation gibt es nun schon seit 14 Jahren und war eine der ersten, die Touristenführungen angeboten hat. Seit etwa zwölf Jahren gibt sie selber Führungen. “Das macht mir total Spaß. Ich komme dadurch stärker in Kontakt mit der Stadt.”

In den Stadtbegehungen erzählt sie von Skyline, Uferentwicklung und Hochhäusern des modernen Stadtkerns. “Nachhaltig sind diese meist nicht”, sagt Hoffmann-Loss. An anderen Tagen führt sie durch die geschichtsträchtigen Teile in die Vergangenheit der Stadt: Altstadtviertel und Reihenhäuser spiegeln die britische und französische Kolonialzeit wider; Denkmäler erinnern an Shanghais jüdische Geschichte. “2.500 Flüchtlinge kamen 1983 nach Shanghai. Es war der letzte Ort auf der Welt, der Flüchtlinge ohne Visum aufgenommen hat.”

Faszination für das alte und neue Shanghai

Die Vielseitigkeit habe ihr Beruf mit der Stadt gemein. Die Architektur-Projekte würden sich nicht nur in ihren Dimensionen, sondern auch in ihrer lokalen Identität von den deutschen unterscheiden. “Feng Shui ist hier sehr wichtig. Die Eingänge gehen immer von Süden aus. Gebäude sollten grundsätzlich nicht zu spitze Ecken haben.” Ansonsten bleibe das Team ihrem deutschen GMP-Stil treu. “Das ist der Grund, dass wir hier im Land so erfolgreich sind. Weil es anders ist.”

Eins der Projekte, das vor kurzem fertiggestellt wurde, betrifft den Huangpu-Fluss im Herzen der Stadt. “Die Stadt wird stark von ihrem Fluss geprägt, der durch sie hindurchfließt. Er ist einer meiner Lieblingsorte. Auch er verändert sich täglich.” Durch Schiffsverkehr, Ebbe und Flut, unerwartete Besucher. “Letztens habe ich sogar Wasserschildkröten darin gesehen.” Das Projekt vom sogenannten Südbund umfasst zwei Kilometer der 45 Kilometer langen Uferstrecke um den Fluss, ein Spazierweg mit Cafés, inmitten von Natur. “Am Fluss spazieren, mit der alten und neuen Skyline im Hintergrund – ich kenne keine andere Stadt, die das zu bieten hat.” 

Hoffmann-Loss kennt die Stadt und ihr Land seit fast 30 Jahren. 1991 reiste sie zuerst nach Peking, zwei Jahre später zog es sie erneut für einen Chinesisch-Sprachkurs in die Volksrepublik. Danach besuchte sie das Land immer häufiger, vor allem, um ihre Eltern zu sehen. “Damals fuhren noch alle mit dem Fahrrad, nach 20 Uhr waren Pferdekarren auf der Straße erlaubt, die Baumaterialien brachten. Ich musste meinen Eltern, die damals in der Deutschen Botschaft in Peking gearbeitet haben, Glühbirnen mitbringen, weil es nur 20-Watt-Lampen zu kaufen gab. Überall war es furchtbar düster.”

Rasende Modernisierung bedroht alte Gebäude

Das erste Mal nach Shanghai kam sie 1996 für ein Studienstipendium. Hoffmann-Loss studierte Architektur an der Technischen Universität in Berlin. Der Wechsel aus Deutschland in eine Stadt wie diese war für die Studentin ein Abenteuer. Nicht nur wegen der Architektur, sondern auch wegen des ganzen Flairs, der Atmosphäre – und dem damals schon spürbaren Ehrgeiz, eine der aufregendsten Städte der Welt zu werden. “Die Kultur, die Menschen, die Lebendigkeit – ein unglaublich schöner und aufregender Ort zum Studieren”, sagt Hoffmann-Loss.

Trotzdem war sie überwältigt von dem gigantischen Sprung, den die Stadt gemacht hatte, als sie 2004 mit ihrem Mann – ebenfalls Architekt – nach China zurückkehrte. Deutschland steckte in einer Wirtschaftskrise, viele verloren ihren Job. Und Shanghai? Boomte mehr denn je vor Leben und Möglichkeiten. “Das wahnsinnige Wachstum in den chinesischen Großstädten, hat die Lebensqualität der Bewohner rasant gesteigert und dauert auch heute, 15 Jahre später, noch an. In Shanghai kann Dir dadurch leider auch passieren, dass ein Haus, dass Du Dir anschauen willst, einen Monat später gar nicht mehr steht.”

Darin sieht Fanny Hoffmann-Loss ein großes Problem. “Durch die rasende Modernisierung verliert die Stadt viel von ihrem Alten. Die Gefahr besteht, dass bald nichts mehr davon übrig ist.” Nur noch in wenigen Gegenden begegne man dem Geist der Vergangenheit.  “Zwei, drei Eingänge von den befahrenden Straßen entfernt, findet man sich plötzlich in einem Dorf wieder, wo die alten Leute auf ihren Höckerchen in Höfen und Gassen sitzen, Gemüse schälen und auf die spielenden Kinder aufpassen. Das ist dann das alte Shanghai.” An solchen Orten bewahre sich die Stadt etwas von ihrem alten Charme. “Es macht die Stadt aus, von beidem etwas zu haben, dem Alten wie dem Neuen. Ich hoffe sehr, dass sie sich das erhält.”

Darum hat das Ministry of Housing and Rural Urban Development Ende August 2021 eine neue Richtlinie verkündet. “Darin wird unter anderem verfügt, dass in Zukunft Bestandsbebauung in innerstädtischen Bereichen nicht mehr großflächig abgerissen werden darf. Neue Bebauung in diesen Gebieten darf nur die doppelte Fläche des Bestands haben und mindestens 50 Prozent der ansässigen Bevölkerung sollen in unmittelbarer Nähe wohnen bleiben”, erklärt die Architektin. Wie das konkret umgesetzt wird, müsse sich zeigen. Lisa Marie Jordan 

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Personalien

Wang Jiang, 58, wird neuer Chairman des staatlichen Finanzkonglomerats China Everbright Group. Wang ist President der China Construction Bank, der nach Aktiva zweitgrößten Geschäftsbank der Welt.

Nicholas Burns, neuer US-Botschafter in Peking, hat am Sonntag dort offiziell seinen Posten angetreten. Für die kommenden drei Wochen sitzt er allerdings mit seiner Frau Libby in Quarantäne.

Zur Sprache

“Tauben fliegen lassen”

放鸽子- fàng gēzi -
放鸽子– fàng gēzi – “Tauben fliegen lassen”

Achtung, Trigger-Warnung! Nach der Lektüre dieses Textes werden Sie beim nächsten Innenstadtbummel Tauben mit anderen Augen sehen. Die Zeiten, in denen Sie das T-Wort nur mit Gurren und Brotkrumen verbanden, dürften ein für allemal vorbei sein. Wer sich die heile Taubenwelt also bewahren möchte, sollte jetzt lieber auf taub schalten und den nächsten Beitrag herauspicken.

Sie sind noch da? Gut. Dann ist es Zeit für eine Taubenzäsur. Denn manches Flugobjekt, das sich als harmlose Touristentaube ausgibt, hat es in Wirklichkeit faustdick hinter den Federn. Die Chinesen haben das natürlich längst erkannt und entsprechende Warnhinweise im Wörterbuch eingewebt. Die Rede ist vom Ausdruck 放鸽子 fàng gēzi. Wörtlich bedeutet er “Tauben freilassen/fliegen lassen”, doch im übertragenen Sinne eben auch “jemanden versetzen” beziehungsweise “jemanden hängen lassen”.

Woher diese Bedeutungsübertragung kommt, darum ranken sich verschiedene Geschichten. Die erste führt uns ins Pekinger Taubenzüchtermilieu. Hier soll es doch tatsächlich schon vorgekommen sein, dass Taubenschwärme nach dem Ausflug nicht beim eigentlichen Besitzer landeten, sondern bei der Konkurrenz. Und teils spielte sich das Komplott gar mithilfe kollaborierender Artgenossen ab. Von wegen heile Taubenwelt also! Manch zwielichtiger Züchter soll seine Vögel doch tatsächlich zu “Kidnappertauben” – sogenannten 诱鸽 yòugē (von 诱拐 yòuguǎi “kidnappen, entführen”) – ausgebildet haben. Solche Lockvögel sorgen durch heimtückische Flugmanöver für Desorientierung beim fremden Federvieh und lotsen es so gewieft in den eigenen Taubenschlag. Der Ursprungsbesitzer schaut also in die Röhre, oder besser gesagt in den leeren Käfig.

Eine weitere Ursprungsgeschichte des Ausdrucks führt uns ins alte Shanghaier Glücksspielmilieu. Hier nannte man Lotteriescheine mit miserablen Gewinnaussichten nämlich umgangssprachlich 白鸽票 báigēpiào “Weißtauben-Lose”. Denn der Einsatz solcher Luftnummern-Lose flatterte meist lautlos in die Taschen der Lotteriebetreiber und ward nicht mehr gesehen. Der Spieler hatte also das Nachsehen.

Andere sagen, die Taubenmetapher stamme noch aus Zeiten der Brieftaube (信鸽 xìn-gē). Erwartete jemand sehnsüchtig eine Sendung per Vogelpost und es kam am Ende nur der Vogel, nicht aber die Post, echauffierte sich der Empfänger, man habe nur eine Taube losgeschickt (放鸽子 fàng gēzi), aber nicht den versprochenen Brief. Die Redensart “eine Taube fliegen lassen” soll deshalb zum geflügelten Wort für gebrochene Versprechen und Verabredungen geworden sein. So oder so – auch hier schien auf die Taube wenig Verlass. Die chinesische Netzgemeinde hat den Begriff übrigens noch weitergesponnen. Sie schimpft heute Influencer und Internetpersönlichkeiten, die den Schnabel stets voll nehmen, aber am Ende nicht liefern können, als 鸽王 gēwáng “Taubenkönige”.

Leider muss ich Ihnen sagen, dass das noch nicht alles war. Haften wir weiter an den Fersen des Fluggetiers, zieht es uns sogar noch tiefer in die Welt der menschlichen Abgründe. In der Unterwelt und in Mafiakreisen (黑社会 hēishèhuì)  macht man bedauerlicherweise auch vor menschlichen Lockvögeln nicht halt. In kriminellen Milieus ist der Begriff 放鸽子 fàng gēzi ein Codewort dafür, wenn Frauen als Köder ausschwärmen. Als Amüsierdamen und Prostituierte locken sie Männer in ihre Fänge. Und im Bordsteinschwalbennest warten dann schlimmstenfalls Raub und Überfall, ja gar Erpressung von Geld und Wirtschaftsgeheimnissen. Natürlich funktioniert das Ganze auch in der umgekehrten Geschlechtervariante. Unser Tiermetapherflug birgt also ordentlich Turbulenzen, aber ich hatte Sie ja gewarnt.

Und, last but not least, ist  放鸽子 fàng gēzi auch in der Welt der Cyberkriminalität ein geflügeltes Wort. In Anlehnung an eine legendäre Trojaner-Software (木马病毒软件 mùmǎbìngdú ruǎnjiàn) namens “graue Taube” (灰鸽子 huī gēzi), die Hackern (黑客 hēikè) weitreichenden Zugriff auf fremde Rechner ermöglichte, wird “eine Taube freilassen” auch als Synonym für das Einschmuggeln von Schadsoftware verwendet. 

Nachdem wir die Taube jetzt aber sprachlich ordentlich gerupft haben, sollte vielleicht der Fairness halber noch gesagt werden, dass 放鸽子 fàng gēzi natürlich auch in der wörtlichen Bedeutung gebraucht werden kann. Zum Beispiel beim Freilassen von Tauben als Friedenssymbol (和平鸽 hépínggē “Friedenstaube”). Schauen Sie also im Einzelfall genau hin, welche Taube Sie vor sich haben, und behalten Sie Ihren Glauben an das Gute im Menschen.

Verena Menzel betreibt in Peking die Sprachschule New Chinese.

  • Gesellschaft

China.Table Redaktion

CHINA.TABLE REDAKTION

Licenses:
    • NVK: Wachstum und Stabilität, aber Fokus auf Autarkie
    • Die Volksbefreiungsarmee modernisiert sich
    • Lis Rede: Gewichtung der politischen Prioritäten
    • Schlechte Weizenernte weckt Angst vor hohen Preisen
    • EU-Außenbeauftragter fordert Vermittlung durch China
    • Wegen Ukraine-Krieg: Museum stoppt Kunstausleihe nach China
    • Kohlebergbau ist große Methan-Quelle
    • US-Marine birgt Kampfjet
    • Im Portrait: Fanny Hoffmann-Loss – Architektin und Shanghai-Flaneurin
    • Zur Sprache: Tauben fliegen lassen
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    der Nationale Volkskongress ist in diesem Jahr eine besonders mühsame Angelegenheit. Die Abgeordneten treffen sich seit diesem Wochenende zum dritten Mal unter Corona-Bedingungen. Die Partei steht unter immer größerem Druck, entgegen allen Widrigkeiten weiterhin Optimismus zu verbreiten. Während die Steuerung der Konjunktur durch die Schieflage am Immobilienmarkt immer schwerer wird, tauchen durch den Ukraine-Krieg neue Schwierigkeiten auf. Russland hat China in einen Konflikt hineingezogen, der unkontrollierte Ausmaße annimmt. Selbst wenn sich Russland dadurch zum wirtschaftlichen Vasallen Chinas entwickelt, hat das fast nur politischen Wert. Es steigert den Wohlstand nicht nennenswert. Der drohende Durchhänger der Weltkonjunktur wiegt viel schwerer.

    China hatte gehofft, Corona in diesem Jahr hinter sich zu lassen, wie alle anderen Länder auch. Es war geplant, am Immobilienmarkt aufzuräumen und zugleich die Kreditvergabe und die Geldpolitik zu normalisieren. Diese schönen Pläne scheitern nun an der Hartnäckigkeit des Virus und an den neuen Unsicherheiten. Wirkte Premier Li Keqiang beim Vortrag des Planungsreports nicht noch etwas ernster und angespannter als sonst? Es wäre verständlich.

    Nur eine Gewissheit bleibt: Der Militäretat steigt überproportional. Das ist kaum verwunderlich, schließlich legt selbst das bislang so zögerliche Deutschland gerade eine kräftige Schippe drauf. Da jedoch auch alle anderen asiatischen Nationen gerade die Rüstungsausgaben hochtreiben, droht ein Wettrennen, analysiert Michael Radunski. Wenn Li dann auch noch mit Drohungen gegen Taiwan nachlegt, verstärkt sich das ungute Gefühl noch einmal beträchtlich. Von Putin haben wir schließlich gelernt, Diktatoren genau zuzuhören.

    Frank Sieren ordnet dann den Arbeitsbericht und die Ziele dieses NVK-Auftakts noch einmal gemäß ihren Prioritäten ein. Das Wohlbefinden des Volkes hat seiner Analyse zufolge absoluten Vorrang vor allen anderen Zielen, weshalb der Abbau der Ungleichheit und die Lösung der sozialen Frage weiterhin zu den Prioritäten gehören. Erst dann folgen Reform und Öffnung. Umweltschutz und Außenhandel kommen ziemlich weit unten in der Reihenfolge. Die deutsche Wirtschaft kann sich also auf weiterhin schwierige Zeiten einstellen.

    Die Krisen und Kriege rücken näher – das gilt durch die mögliche Achse Moskau-Peking auch für uns im Umgang mit China. Lassen Sie sich nicht unterkriegen.

    Ihr
    Finn Mayer-Kuckuk
    Bild von Finn  Mayer-Kuckuk

    Analyse

    Stabilität für Xi – trotz Krieg, Covid und Evergrande

    Volkskongress in China: Wachstumsziel gesenkt

    Es gehört zum Ritual des Nationalen Volkskongresses, auf die großen Schwierigkeiten zu verweisen, die im laufenden Jahr bevorstehen. Den Krieg in Europa erwähnte Premier Li Keqiang in seiner jährlichen Programmrede allerdings kein einziges Mal. Er sprach jedoch von einem “schweren und unsicheren” Ausblick – und ließ eine Zahl für sich sprechen. Das Wachstumsziel für China legte die Partei auf “um 5,5 Prozent” fest, einen niedrigeren Wert als in den vergangenen Jahrzehnten üblich.

    Dieser Wert liegt allerdings exakt in der Mitte von Schätzungen in- und ausländischer Analysten und war so gesehen keine Überraschung. Angesichts eines schwierigen Wegs aus der Null-Covid-Strategie und bevorstehender Schocks infolge des Kriegs in Ukraine (China.Table berichtete) wäre eine höhere Zahl unangemessen gewesen. Ein niedrigerer Wert hätte dagegen Pessimismus verbreitet und den Eindruck erweckt, dass die Partei nicht die Macht hat, äußere Schocks wegzustecken.

    Für deutsche Unternehmen hielt Li gemischte Botschaften bereit. Stabilität des Wachstums, ein Bekenntnis zur Öffnung, mehr Geld im Portemonnaie der Bürger klingen erst einmal gut. Doch die immer intensivere Betonung wirtschaftlicher und technische Unabhängigkeit lässt eine weitere Abkopplung von internationalen Partnern befürchten. Deutsche Unternehmen könnten Marktanteile weiter an einheimische Anbieter verlieren.

    Der Nationale Volkskongress (NVK) ist Chinas Parlament. Die 2.980 Abgeordneten segnen jedoch unkritisch alle Entscheidungen der KP ab. Dennoch gilt das Ereignis als Fokuspunkt politischer Entscheidungsprozesse – zumal hier die Planzahlen bekannt gegeben werden. Am Samstag war die Eröffnungszeremonie mit der Rede Lis. Der Volkskongress tagt anderthalb Wochen lang.

    Chinas Volkskongress: Stabiles Wachstum für Xis Wiederwahl

    Im Vorjahr lag das Wachstumsziel in China bei “über sechs Prozent”, in diesem Jahr mit “ungefähr 5,5 Prozent” etwas niedriger. Der Wert für 2021 kam dann wie so oft tatsächlich deutlich höher heraus; hier spielte allerdings auch ein Nachholeffekt nach dem ersten Corona-Jahr eine Rolle.

    Der gesamte Zahlenapparat des diesjährigen NVK-Reports soll Ruhe vermitteln und Stabilität signalisieren. Das ist kein Wunder. Im Herbst will sich Xi Jinping auf einem großen Parteikongress als zentraler Führer wiederwählen lassen. Damit überschreitet er das Amtszeitlimit, das früher in der Partei gegolten hat. Als Legitimation für seine offenbar unbegrenzte Herrschaft muss er sein Versprechen zuverlässiger Führung einlösen.

    Neues Wachstumsziel in China gar nicht niedrig gewählt

    Ökonomen des Investmenthauses Nomura erwarten, dass die Regierung im Jahresverlauf die Bautätigkeit anregen wird, um auf das Wachstumsziel zu kommen. Im vergangenen Jahr hatte der Immobiliensektor einen Durchhänger. Die gesamte Branche war infolge der de-facto Insolvenz des großen Anbieters Evergrande von Zahlungsproblemen geplagt.

    Das neue Wachstumsziel ist denn auch bei näherem Hinsehen gar nicht niedrig gewählt. Das prozentuale Wachstum nimmt naturgemäß ab, je größer eine Volkswirtschaft wird. Sonst würde der Zuwachs gigantische, untragbare Ausmaße annehmen. Um gut fünf Prozent Wachstum zu erreichen, muss China auf Basis des aktuell erreichten Bruttoinlandsprodukts von 114 Billionen Yuan in diesem Jahr rund sechs Billionen Yuan mehr leisten. Das sind rund 870 Milliarden Euro. Vor zehn Jahren lag Chinas BIP bei 54 Billionen Yuan. Das damalige Wachstum von knapp acht Prozent entspricht einem Zuwachs von vier Billionen Yuan. In absoluten Zahlen wächst Chinas Wirtschaft also mehr als vor zehn Jahren. Das Geld ist allerdings heute auch weniger wert.

    Photovoltaik und Wasserstoff für die Energiezukunft

    Die Nationale Entwicklungs- und Reformkommission NDRC veröffentliche am Samstag ebenfalls ihren Bericht mit Zielsetzungen. Auffällig war die Erwähnung der Solarindustrie als Schlüssel für die weitere Entwicklung. Ein weiteres Ziel ist demnach “gleichmäßiger und kluger Fortschritt bei der Entwicklung der Wasserstoffwirtschaft”.

    Eine formelle Abkehr von der Null-Covid-Strategie hat Premier Li derweil nicht angekündigt. Er versprach jedoch, die Belastung für die Wirtschaft durch eine neue Herangehensweise zu vermindern. Die Infektionskontrolle solle “Routine” werden, so Li. Das deutet darauf hin, dass auch die Einreisebestimmungen und die Grenzquarantäne bestehen bleiben. Für die deutsche China-Community ist das traurig, aber kaum überraschend.

    Überraschend war dagegen: Am Wochenende fand die “Dual Circulation” keine auffällige Erwähnung. Xi hatte diese Strategie im Jahr 2020 vorgestellt. Die “zwei Kreisläufe” sollen Chinas Eigenständigkeit sichern, ohne den Außenhandel außer Acht zu lassen. Vielleicht erhält die Strategie noch einen gesonderten Auftritt auf dem Volkskongress. Es wäre jedenfalls ungewöhnlich, wenn eine Idee Xis, die mit viel Aufwand im Bewusstsein verankert wurde, als Sprachregelung so schnell wieder fallengelassen würde.

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    Das Militär bekommt deutlich mehr Geld

    Chinas Militärausgaben deutlich erhöht: Chinesische Panzer auf der Militärparade 2019 in Peking
    Chinesische Panzer auf der Militärparade 2019 in Peking

    Kurz bevor Chinas Ministerpräsident Li Keqiang am Samstagmorgen den Nationalen Volkskongress in Peking eröffnet, sorgt eine Meldung aus Nordkorea für Aufsehen: Das Regime von Machthaber Kim Jong-un hat eine ballistische Rakete abgefeuert. Es ist bereits der neunte Raketentest Nordkoreas in diesem noch jungen Jahr. Dass Machthaber Kim den Test ausgerechnet zu Beginn der wichtigsten politischen Veranstaltung des Jahres durchführt, ist ein besonderer Affront gegenüber Peking.

    Doch als Li Keqiang wenig später in der Halle des Volkes vor die rund 3.000 Delegierten tritt, erwähnt er den Test mit keiner Silbe. Auch nicht den russischen Einmarsch in der Ukraine oder das neue Raketenabwehrsystem, das Südkorea vor wenigen Tagen getestet hatte. Und doch spielen all diese Entwicklungen eine wichtige Rolle für Pekings Entscheidung: Chinas Militärausgaben sollen in diesem Jahr um satte 7,1 Prozent erhöht werden. Sie steigen damit auf umgerechnet 230 Milliarden US-Dollar.

    Allerdings ist jedem Beobachter klar: Chinas Militär wird in der Praxis noch deutlich großzügigere Mittel erhalten. “Die realen Aufwendungen für das Militär sind weitaus größer”, sagt Timothy Heath von der renommierten US-Denkfabrik Rand Corporation. “Viele Bereiche sind schlicht nicht inbegriffen, wie beispielsweise die Ausgaben für Forschung und Entwicklung”, erklärt der Wissenschaftler im Gespräch mit China.Table.

    Chinas Interessen im Ausland sichern

    Aber genau dort, in Hochtechnik, wird China in den kommenden Jahren massiv investieren. “China will militärische Fähigkeiten entwickeln, um zukünftig weitreichendere Missionen ausführen zu können und so seine Interessen im Ausland durchzusetzen.” Heath nennt die Belt-and-Road-Initiative, das Prestigeprojekt von Chinas Staatspräsident Xi Jinping. “Wenn Partnerländer zu dem Schluss kommen, dass China nicht für die notwendige Sicherheit sorgen kann, werden sie ihre Teilnahme an diesen Projekten ernsthaft einschränken”, glaubt Heath.

    Dazu passen die Ausführungen von Ministerpräsident Li Keqiang vor dem Nationalen Volkskongress: “Wir werden das militärische Training und die Kampfbereitschaft verbessern.” Das Land werde standhaft bleiben, um seine Souveränität, Sicherheit und Entwicklungsinteressen zu wahren. Die Logistik- und Verwaltungssysteme des chinesischen Militärs sollen schneller modernisiert und ein modernes Waffen- und Ausrüstungsbeschaffungssystem aufgebaut werden.

    Li forderte: “Behörden aller Ebenen müssen die Entwicklung der nationalen Verteidigung und der Streitkräfte unterstützen, damit die Einheit von Militär und Regierung wie auch die Einheit von Militär und Gesellschaft felsenfest bleibt.”

    Chinas steigende Militärausgaben: Rüstungswettlauf in Asien

    Die Erhöhung der Militärausgaben um 7,1 Prozent ist unter mehreren Gesichtspunkten beachtenswert: Zum einen steigen sie stärker als in den vergangenen Jahren – nach 6,6 Prozent im Jahr 2020 und 6,8 Prozent 2021. Und das trotz Corona-Pandemie, trotz einer schwierigen Weltwirtschaftslage und trotz massiver Probleme auf dem heimischen Immobilienmarkt. Zudem liegen die 7,1 Prozent für das Militär deutlich über dem angepeilten Wirtschaftswachstum von 5,5 Prozent – und noch deutlicher über den 3,9 Prozent, um die alle übrigen Ausgaben im chinesischen Haushalt steigen sollen. Damit wird deutlich: Die Führung in Peking legt dieses Jahr einen Schwerpunkt auf die Stärkung der Streitkräfte.

    Militär-Experte Heath glaubt, Chinas Militär werde in die Entwicklung von Schiffen und großen Transportflugzeugen investieren. Generell erhalte die Marine große Aufmerksamkeit. “Zudem werden sie die technologischen Fähigkeiten der Volksbefreiungsarmee verbessern wollen, durch mehr Künstliche Intelligenz und andere digitale Technologien.”

    Die steigenden Militärausgaben der Volksrepublik sind allerdings beileibe keine Eigenheit Chinas. Vielmehr folgen sie einem globalen Trend, der sich zuletzt auch in Chinas Nachbarschaft deutlich beschleunigt hat. Nicht wenige Experten erkennen bereits einen rasanten Rüstungswettlauf in Asien: So will Indien im Finanzjahr 2022-23 rund 70 Milliarden Dollar für sein Militär ausgeben, Taiwan 16,8 Milliarden Dollar – zuzüglich eines rund 8,6 Milliarden großen Extra-Budgets für Raketen und ein Küstenabwehrsystem. Und auch das pazifistisch geltende Japan plant, im laufenden Jahr 47 Milliarden Dollar in seine Streitkräfte zu stecken. Dass in einem solchen Umfeld auch Chinas Militärausgaben steigen, ist also wahrlich keine Überraschung.

    China: Spannungen mit den Nachbarn

    Doch zeigt der Vergleich mit den Rüstungshaushalten der Nachbarstaaten eben auch, dass Peking deutlich mehr für sein Militär ausgibt: offiziell 230 Milliarden Dollar. Weltweit geben nur die USA noch mehr Geld für ihr Militär aus, nämlich rund 770 Milliarden Dollar.

    Doch Chinas Führung blickt zunehmend besorgt auf seine Nachbarschaft: An der Grenze mit Indien kommt es immer wieder zu bewaffneten Zwischenfällen, im Süd- und Ostchinesischen Meer bestehen weitreichende Territorialstreitigkeiten. Im Nachbarland Afghanistan fürchtet man ein Wiedererstarken des Terrorismus (China.Table berichtete). Zudem werden immer mehr Anti-China-Bündnisse abgeschlossen wie Aukus oder Quad (China.Table berichtete).

    Und im vergangenen Monat legten auch noch die USA ihre lang erwartete Indopazifik-Strategie vor, mit der sie Chinas wachsenden Einfluss etwas entgegensetzen wollen. So möchte Washington unter anderem seine Beziehungen zu Südkorea und Japan stärken. Ein besonderer Dorn im Auge Pekings ist allerdings Amerikas Aufmerksamkeit für Taiwan.

    Und noch eine Drohung in Richtung Taiwan

    Und so machte Li Keqiang am Samstag denn auch keinen Hehl aus Pekings Plänen. Er bekräftigte abermals den Willen Pekings, die “Taiwanfrage” endgültig lösen zu wollen – und zwar “innerhalb der modernen Ära”. Schon zuletzt hatte Präsident Xi Jinping keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass die Wiedervereinigung des chinesischen Mutterlandes spätestens bis zum 100-jährigen Bestehen der Volksrepublik im Jahr 2049 vollzogen werden würde – notfalls mit militärischer Gewalt.

    Angesichts der russischen Invasion in die Ukraine und der vorherigen Aussagen des russischen Präsidenten Wladimir Putin sollte man sich keinen Illusionen hingeben, was Chinas Haltung gegenüber Taiwan betrifft. Niemand kann sagen, man hätte Pekings Pläne nicht gekannt. Li Keqiang sagte vor dem Nationalen Volkskongress: “Wir werden das friedliche Wachstum der Beziehungen über die Taiwanstraße hinweg und die Wiedervereinigung Chinas vorantreiben.” Er verbiete sich “separatistische Aktivitäten”, Unabhängigkeitsbestrebungen Taiwans und – vor allem – ausländische Einmischung. “Wir alle, Chinesen auf beiden Seiten der Taiwanstraße, sollten zusammenkommen, um die große und glorreiche Sache der Wiederbelebung Chinas voranzubringen.” In diesen Sätzen kommen zwar friedlich klingende Vokabeln vor. Dahinter stecken jedoch kaum verborgene Drohungen.

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    Lis Prioritäten: Wachstum, Binnenmarkt, High-Tech

    Li Keqiang: Die Prioritäten Chinas für 2022

    Die Reihenfolge, in der die Themen des von Premier Li Keqiang vorgetragenen Arbeitsberichtes der Regierung angesprochen werden, sagt viel über die Prioritäten aus, die die Regierung im kommenden Jahr setzen will. Der Bericht bildet in seinem Aufbau zudem Chinas Machtverhältnisse ab. Der Einfluss der verschiedenen Politikbereiche wird austariert mit den Anliegen der Menschen, auf die die Regierung reagieren muss, um die soziale Stabilität zu wahren. Dabei gilt: Das Wichtigste kommt zuerst.

    Li lobt sich für ein erfolgreiches Jahr 2021

    Zuerst der Rückblick auf das vergangene Jahr: Die Wirtschaft und nicht etwa die Ideologie standen wieder an erster Stelle. In diesem Bereich am wichtigsten war das Wachstum, das 8,1 Prozent erreichte. Das Wachstum ist aber nur sinnvoll, wenn es Jobs schafft und die Preise stabil bleiben. Die Arbeitslosigkeit lag im abgelaufenen Berichtszeitraum bei 5,1 Prozent, es wurden über zwölf Millionen neue Jobs geschaffen.

    Als zweitwichtigsten Bereich in seinem Rückblick nennt Li bereits das Thema Innovation. Er betont dabei nicht die Innovationsausgaben des Staates, sondern die der Unternehmen. Sie haben im vergangenen Jahr 15,7 Prozent mehr in Forschung und Entwicklung gesteckt. Die High-Tech-Industrie sei um 18,2 Prozent gewachsen. Es folgen die Landwirtschaft, wo Li einen Rekord in der Getreideproduktion zu vermelden hatte. Li lobt die marktwirtschaftlichen Reformen und Öffnung nach außen, die interessanterweise immer noch in einem Atemzug genannt werden, obwohl das Land sich physisch abriegelt und zugleich die Marktwirtschaft stärken will. Besonders stolz ist Premier Li Keqiang darüber, dass China zum ersten Mal über 150 Millionen Unternehmen im marktwirtschaftlichen Wettbewerb hat.

    Danach folgt schon der Umweltschutz. Die Feinstaubbelastungen in den Städten sei um 9,1 Prozent zurückgegangen. Erst danach betont Li in seiner Rede den Lebensstandard der Bevölkerung. Das verfügbare Einkommen sei pro Kopf um 8,1 Prozent gestiegen. Weitere Stichworte: Armutsbekämpfung und Renovierung der Wohnungen und Häuser. Und zuletzt erst erwähnt Li noch die Pandemie. Die Maßnahmen wurden “konsolidiert”, heißt es sehr routiniert. Das Militär kommt in der Rede nur in untergeordneter Rolle vor.

    Li Keqiang: Die Prioritäten Chinas für 2022 im Einzelnen

    Doch viel wichtiger ist die Frage, wie Premier Li die Schwerpunkte im neuen Jahr setzt. Wir listen hier sie in der Reihenfolge der Rede.

    1. Stabiles Wirtschaftswachstum

    Zwar rechnet Li mit höheren Steuereinnahmen, doch die Belastung für die Privatunternehmen soll künftig eher sinken. Die Verschuldung will die Regierung bei 2,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts mit leicht sinkender Tendenz stabilisieren. Eine “vorsichtige” Geldpolitik ist geplant. Die Geldmenge soll also eher am kurzen Zügel gehalten werden. Die Zinsen soll die Zentralbank leicht senken, um die Bewältigung von Schocks und Krisen zu erleichtern. Peking möchte zudem Budgetverantwortung weiter dezentralisieren. Die Gebietskörperschaften erhalten also mehr Kontrolle darüber, wie sie sich mit Geld versorgen und wofür sie es ausgeben. Der Löwenanteil der Investitionen wird dem Privatsektor überlassen. Insgesamt will die Regierung nach eigenem Bekunden “ihren Gürtel enger schnallen und ihre Ausgaben zum Wohl der Menschen niedrig lassen”. Das sind alles Maßnahmen, die man trifft, wenn man keine signifikante Eintrübung der Wirtschaft erwartet. Aber Li muss natürlich nachtarieren, je nachdem wie das Jahr sich entwickelt.

    2. Stärkung der Marktwirtschaft

    Hier stehen für Li Steuerentlastungen und Liquiditätsverbesserungen besonders für kleine und mittlere Unternehmen im Mittelpunkt. Die Regierung will für Arbeitsplätze für die über zehn Millionen Studierenden sorgen, die dieses Jahr wieder die Universitäten verlassen. Das Thema Arbeitsplätze taucht immer wieder an unterschiedlichen Stellen auf, was die Bedeutung des Themas für die Regierung unterstreicht. 

    3. Stärkung der Binnenwirtschaft

    Ebenfalls hohe Priorität – höhere als der Außenhandel – hat die Entwicklung des eigenen Marktes für eigenen Unternehmen. In diesem Bereich geht es Premier Li vor allem darum, den Konsum anzukurbeln durch die “Erhöhung der Kaufkraft” der Menschen. Außerdem sollen ihre Rechte als Konsumenten gestärkt werden. Erreichen will Premier Li das durch eine “Verschlankung und Dezentralisierung der Verwaltung”, mit dem Ziel “eines marktwirtschaftlich auf klaren Gesetzen basierenden” Geschäftsumfeldes. Die marktwirtschaftlichen Reformen der Staatsbetriebe sollen beschleunigt werden. Sie sollen also weniger Geld bekommen. Die Privatunternehmen hingegen sollen einfacher an Kredite kommen.

    4. Innovationskraft der Wirtschaft stärken

    China will seine Forschungs- und Entwicklungskapazitäten weiter ausbauen und Unternehmen fördern, die das Gleiche tun, betont Li Keqiang. Das Ziel dabei: “Talent-Zentren und Innovations-Hubs von globaler Bedeutung.” 
    Für die Unternehmen bedeutet das: Investitionen in Forschung und Entwicklung können “nicht mehr zu 75 Prozent, sondern zu 100 Prozent von den Steuern abgezogen werden.” Zusätzlich gibt es Steuererleichterungen für Unternehmen, die in die Grundlagenforschung investieren. Der Ausbau von 5G soll noch schneller vorankommen. 

    5. Förderung der Regionen

    Die Regionen will Li besser miteinander vernetzen, deren Wirtschaftskraft austarieren und Infrastruktur ausbauen. Dabei will er die Minderheiten und Grenzregionen nicht vergessen.

    6. Landwirtschaft und ländliche Regionen

    Die wichtigste Nachricht für die Bauern hier: Die Mindestpreise für Reis und Getreide werden angehoben. Die 120 Millionen Hektar landwirtschaftliche Fläche will Premier Li halten und gleichzeitig deren Qualität verbessern. Umweltkatastrophen und Tierseuchen will er besser managen lassen. In der landwirtschaftlichen Forschung will er die “Anstrengung verdoppeln”. Die Armut auf dem Land muss China weiter bekämpfen, so Li Keqiang.

    7. Den Außenhandel weiter fördern

    In diesem Bereich will Li kleineren und mittleren Unternehmen besseren Zugang zu Exportkredit-Versicherungen verschaffen. “Neue Formen” des Außenhandels sollen entwickelt werden. Die Zollbestimmungen sollen “vereinfacht” und das Logistiksystem “auf internationales Niveau” ausgebaut werden. Internationale Investitionen in China will er vor allem in der “mittleren und High-End-Produktion, bei Forschung und Entwicklung und moderner Dienstleistungsindustrie genauso fördern wie die Investitionen in den noch unterentwickelten zentralen, westlichen und nordöstlichen Teilen Chinas. Neue Freihandelszonen sollen eröffnet werden. Auch der Hainan Free Trade Port soll ausgebaut werden, der als einziger namentlich genannt wird. Li Keqiang will zudem insgesamt, “mehr Geschäftsmöglichkeiten für ausländische Unternehmen in China schaffen” – was auch immer das bedeuten mag. Ominös ist, dass dieser Punkt in der Rangfolge eben deutlich niedriger steht als die Stärkung des Binnenkonsums. China will allerdings den Austausch in der Freihandelszone RECP, der größten der Welt (China.Table berichtete), “vertiefen”. Li will sich zudem um die “Reform der Welthandelsorganisation” (WTO) kümmern. Das ist die einzige internationale Organisation, die in diesem Papier genannt wird. 

    8. Umwelt- und Klimaschutz stärken

    An erster Stelle nennt Premier Li dabei die Umweltverschmutzung und die Wiederbelebung von Ökosystemen. Dann erst folgt die Emissionsreduzierung und eine “größere Harmonie zwischen Mensch und Natur.”
    Die Regierung will 2022 in “geregelten Schritten” daran arbeiten, die Klimaziele zu erreichen, nach der Methode: “Erst das neue aufbauen, bevor man das alte abreißt.” Dabei nennt der Bericht vor allem Wind- und Sonnenenergie. Atomkraft und Wasserkraft werden erstaunlicherweise nicht genannt. Die “blinde Entwicklung” energieintensiver Projekte will Li gleichzeitig stoppen. 

    9. Das Wohlbefinden der Menschen verbessern

    Als Erstes nennt Premier Li Keqiang hier, dass die Verbesserung der Qualität und der Fairness beim Zugang zu Bildung immer noch ein großes Problem in China ist (China.Table berichtete). Danach nennt der Premier die Verbesserung des Gesundheitssystems. Er verspricht, den staatlichen Anteil an der Krankenversicherung zu erhöhen. Aber auch die Altersversorgung will China ausbauen. Interessant ist, dass dieser Punkt als letztes genannt wird. Ein Hinweis darauf, dass der Unmut der Bevölkerung in diesem Bereich nicht so groß ist.

    Der Schwerpunkt der Politik in diesen neun wichtigsten Punkten der Regierungspolitik für 2022 zeichnet sich also klar ab: mehr nachhaltige Marktwirtschaft, Dezentralisierung, Innovation und Bildung. Doch der Staat will gleichzeitig die Schulden stärker im Blick haben. Gleichzeitig sollen die sozialen und regionalen Ungleichgewichte abgebaut werden. Forschung und Entwicklung, aber auch die Schaffung von genügend Arbeitsplätzen, stehen dabei im Zentrum. Der Spielraum von westlichen Unternehmen soll vergrößert und die internationale Wirtschaftsvernetzung ausgebaut werden. Wie das in der Praxis läuft, muss sich zeigen. Auffällig ist aber jetzt schon die stärkere Betonung des Binnenkonsums und der Binnenwirtschaft.

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    News

    Schlechte Weizenernte bedroht weltweit die Versorgung

    In China droht eine Missernte des Winterweizens. Der Ertrag könne der “schlechteste in der Geschichte” sein, sagte Landwirtschaftsminister Tang Renjian am Samstag auf dem Nationalen Volkskongress. Die Äußerung weckt Sorge um die weltweite Getreideversorgung. Russland und Ukraine gehören zu den größten Exporteuren von Weizen, Mais und Sonnenblumenöl. Wenn China sich jetzt mit seiner großen Finanzmacht auf dem Weltmarkt eindeckt, könnte das die Preise hochtreiben. Das wird in den reichen Ländern die Inflation anheizen und ärmere Länder vor echte Versorgungsprobleme stellen.

    Als Grund nannte Minister Tang den Starkregen im vergangenen Jahr, der die Aussaat auf einem Drittel der normalen Weizenanbaufläche verzögert oder vereitelt hat. Eine Erhebung habe ergeben, dass die Weizenernte in China erheblich schwächer ausfalle, so Tang. “Vor kurzem haben wir eine Umfrage an der Basis durchgeführt, und viele Landwirtschaftsexperten und Techniker sagten uns, dass die Erntebedingungen in diesem Jahr die schlechtesten in der Geschichte sein könnten.” fin/rtr

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    Borrell: China muss vermitteln

    Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hat sich für eine Vermittlung Pekings im Krieg um die Ukraine ausgesprochen. “Es gibt keine Alternative”, sagte Borrell der spanischen Zeitung El Mundo am Wochenende. Weder die Europäer noch die USA kämen Borrell zufolge derzeit als Vermittler infrage. Eine Wiederbelebung des Normandie-Formats schloss er aus. “Es muss China sein, ich vertraue darauf”, sagte Josep Borrell. Konkrete Gesprächspläne gebe es jedoch noch nicht. Die EU-Seite habe noch nicht darum gebeten, so der Spanier. Auch China habe das noch nicht getan. Wer in dem Krieg vermitteln kann, scheint für Borrell jedoch klar: “Es muss eine Großmacht sein.” Die Volksrepublik müsse in der diplomatischen Verhandlung des Konflikts “eine Rolle spielen”. Die Äußerungen von Josep Borrell sorgten am Wochenende für Diskussionen in den sozialen Netzwerken – denn bisher war China nicht als Vermittler, sondern eher mit pro-russischen Äußerungen aufgefallen.

    Auch der Außenminister von Ukraine, Dmytro Kuleba, forderte am Wochenende von China, vermittelnd einzugreifen. Peking solle klarstellen, dass der Krieg den eigenen Interessen zuwiderlaufe. US-Außenminister Antony Blinken stieß ins gleiche Horn. In einem Gespräch mit seinem chinesischen Amtskollegen Wang Yi wies er darauf hin, dass “die Welt im Einklang handelt, um der russischen Aggression zu begegnen”. Man beobachte nun genau, welche Nationen sich für die Grundprinzipien von Selbstbestimmung und Souveränität starkmachen. ari

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    Museum stoppt Matisse-Ausleihe

    Wegen einer ausbleibenden Distanzierung Pekings von Moskau im Ukraine-Krieg hat ein französisches Museum die Zusammenarbeit mit chinesischen Partnern ausgesetzt. Das Matisse-Museum im nordfranzösischen Cateau-Cambrésis hat die Ausleihe von 280 Werken des Künstlers an das UCCA Center for Contemporary Art in Peking gestoppt, wie lokale Medien berichteten. Die Werke von Henri Matisse hätten in wenigen Wochen für zwei Ausstellungen in die Volksrepublik geschickt werden sollen. Die Ausstellung war ab Ende März in Peking und ab Sommer in Shanghai geplant.

    Der Präsident des nordfranzösischen Département-Rats, Christian Poiret, erklärte der Nachrichtenplattform France Bleu, er habe diese Entscheidung aufgrund der bestehenden politischen Verbindungen zwischen Peking und Moskau getroffen. Ihm zufolge ist es schwierig, Visa zu erhalten, um die Werke auf ihrer gesamten Reise zu verfolgen. Er habe daher keine ausreichenden Garantien für ihre Rückkehr nach Frankreich, so der rechtskonservative Politiker. Das Département habe beschlossen, die Kulturpartnerschaft mit chinesischen Einrichtungen zu unterbrechen. ari

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    Förderung von Kohle setzt viel Methan frei

    China ist die weltweit größte Quelle von Methan-Emissionen aus dem Energiesektor. Die Emissionen des Klimagases, die bei Chinas Kohleförderung austreten, hatten im letzten Jahr einen Treibhausgaseffekt vergleichbar mit dem des globalen Schiffsverkehrs. Das geht aus einer Studie der Internationalen Energieagentur (IEA) hervor. China macht demnach gut ein Fünftel der weltweiten Methan-Emissionen aus dem Energiesektor aus. Laut IEA gibt es “beträchtliche Möglichkeiten”, den Methanausstoß bei der Kohleförderung zu minimieren. Das Treibhausgas habe zu 30 Prozent zum globalen Klimawandel beigetragen. Methan hat in der Atmosphäre zwar nur eine durchschnittliche Lebenszeit von 12,4 Jahren. Doch es ist 25-mal so schädlich wie Kohlendioxid.

    China hat es bei der letzten Klimakonferenz abgelehnt, sich dem sogenannten “Global Methane Pledge” zur Reduzierung des Methan-Ausstoßes anzuschließen (China.Table berichtete). Allerdings kündigte das Land damals einen nationalen Methanplan an. nib

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    US-Kampfjet geborgen

    Die US-Marine hat den im Südchinesischen Meer versunkenen US-Kampfjet geborgen. Der F-35C gehört zu den neusten Jets der US-Streitkräfte und ist mit modernster Technik ausgestattet (China.Table berichtete). Bei einem Landeunfall war der Jet im Januar vom Flugzeugträger ins Meer gestürzt. Das Flugzeug wurde vergangene Woche aus einer Tiefe von fast 3.800 Metern geborgen. Das Südchinesische Meer ist ein geopolitischer Brennpunkt. Mehrere Staaten beanspruchen den Besitz kleiner Inseln und Riffe und den damit zusammenhängenden Zugang zu Rohstoffen sowie die Kontrolle wichtiger Schifffahrtsrouten. nib

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    Presseschau

    Trump muses about a really bad – and evidently illegal – idea to bomb Russia using Chinese flags WASHINGTONPOST
    US-Regierung verstärkt Druck auf China NTV
    Was wusste China von Russlands Invasionsplänen? STANDARD
    Russland setzt auf chinesische Kreditkarten NTV
    Russian Banks Turn to China to Sidestep Cutoff From Payments Systems WSJ
    China Opposes Sanctions and Has a Reputation for Busting Them WSJ
    Ukraine: Chinese citizens return home as Beijing urged to rein in Moscow SCMP
    China says it seeks to ‘resolve’ Taiwan question, amid comparisons to Ukraine WASHINGTONPOST
    Dutton dials back language on Australia defending Taiwan in a potential war with China GUARDIAN
    China am Wendepunkt FAZ
    Li Keqiang: Premierminister ohne Entscheidungsgewalt in Xis China HANDELSBLATT
    China schickt sieben Satelliten ins All – Testnetzes für Satelliteninternet DEUTSCHLANDFUNK
    Pekings Spritzendiplomatie FAZ
    “Auch China könnte eine Überraschung erleben” ZEIT
    Immer mehr Deutsche verlassen Hongkong NTV
    Hong Kong residents urged not to panic ahead of COVID mass testing REUTERS
    A reprieve for coal? Xi Jinping urges ‘realism’ on China’s road to carbon goals SCMP

    Portrait

    Fanny Hoffmann-Loss – Architektin und Shanghai-Flaneurin

    Fanny Hoffmann-Loss ist Architektin und Projektmanagerin bei Gerkan Marg und Partner in Shanghai. In ihrer Freizeit führt sie Touristen durch die Stadt.
    Fanny Hoffmann-Loss ist Architektin und Projektmanagerin bei Gerkan Marg und Partner in Shanghai. In ihrer Freizeit führt sie Touristen durch die Stadt.

    “Shanghai ist immer im Wandel, baut sich täglich weiter, steht niemals still”, vor allem sei es eine Stadt mit vielen Gesichtern, sagt Fanny Hoffmann-Loss. Sie ist Architektin und Projektmanagerin im Architekturbüro Gerkan Marg und Partner in Shanghai. In ihrer Freizeit führt sie Touristen als Shanghai-Flaneurin durch die Stadt.”Auf der einen Seite moderne Hochhäuser und enormer Lebensstandard, auf der anderen alte Gassen und historische Orte.”  

    Als Mitglied der Shanghai Flaneure erlebe sie beides aus nächster Nähe. Die Organisation gibt es nun schon seit 14 Jahren und war eine der ersten, die Touristenführungen angeboten hat. Seit etwa zwölf Jahren gibt sie selber Führungen. “Das macht mir total Spaß. Ich komme dadurch stärker in Kontakt mit der Stadt.”

    In den Stadtbegehungen erzählt sie von Skyline, Uferentwicklung und Hochhäusern des modernen Stadtkerns. “Nachhaltig sind diese meist nicht”, sagt Hoffmann-Loss. An anderen Tagen führt sie durch die geschichtsträchtigen Teile in die Vergangenheit der Stadt: Altstadtviertel und Reihenhäuser spiegeln die britische und französische Kolonialzeit wider; Denkmäler erinnern an Shanghais jüdische Geschichte. “2.500 Flüchtlinge kamen 1983 nach Shanghai. Es war der letzte Ort auf der Welt, der Flüchtlinge ohne Visum aufgenommen hat.”

    Faszination für das alte und neue Shanghai

    Die Vielseitigkeit habe ihr Beruf mit der Stadt gemein. Die Architektur-Projekte würden sich nicht nur in ihren Dimensionen, sondern auch in ihrer lokalen Identität von den deutschen unterscheiden. “Feng Shui ist hier sehr wichtig. Die Eingänge gehen immer von Süden aus. Gebäude sollten grundsätzlich nicht zu spitze Ecken haben.” Ansonsten bleibe das Team ihrem deutschen GMP-Stil treu. “Das ist der Grund, dass wir hier im Land so erfolgreich sind. Weil es anders ist.”

    Eins der Projekte, das vor kurzem fertiggestellt wurde, betrifft den Huangpu-Fluss im Herzen der Stadt. “Die Stadt wird stark von ihrem Fluss geprägt, der durch sie hindurchfließt. Er ist einer meiner Lieblingsorte. Auch er verändert sich täglich.” Durch Schiffsverkehr, Ebbe und Flut, unerwartete Besucher. “Letztens habe ich sogar Wasserschildkröten darin gesehen.” Das Projekt vom sogenannten Südbund umfasst zwei Kilometer der 45 Kilometer langen Uferstrecke um den Fluss, ein Spazierweg mit Cafés, inmitten von Natur. “Am Fluss spazieren, mit der alten und neuen Skyline im Hintergrund – ich kenne keine andere Stadt, die das zu bieten hat.” 

    Hoffmann-Loss kennt die Stadt und ihr Land seit fast 30 Jahren. 1991 reiste sie zuerst nach Peking, zwei Jahre später zog es sie erneut für einen Chinesisch-Sprachkurs in die Volksrepublik. Danach besuchte sie das Land immer häufiger, vor allem, um ihre Eltern zu sehen. “Damals fuhren noch alle mit dem Fahrrad, nach 20 Uhr waren Pferdekarren auf der Straße erlaubt, die Baumaterialien brachten. Ich musste meinen Eltern, die damals in der Deutschen Botschaft in Peking gearbeitet haben, Glühbirnen mitbringen, weil es nur 20-Watt-Lampen zu kaufen gab. Überall war es furchtbar düster.”

    Rasende Modernisierung bedroht alte Gebäude

    Das erste Mal nach Shanghai kam sie 1996 für ein Studienstipendium. Hoffmann-Loss studierte Architektur an der Technischen Universität in Berlin. Der Wechsel aus Deutschland in eine Stadt wie diese war für die Studentin ein Abenteuer. Nicht nur wegen der Architektur, sondern auch wegen des ganzen Flairs, der Atmosphäre – und dem damals schon spürbaren Ehrgeiz, eine der aufregendsten Städte der Welt zu werden. “Die Kultur, die Menschen, die Lebendigkeit – ein unglaublich schöner und aufregender Ort zum Studieren”, sagt Hoffmann-Loss.

    Trotzdem war sie überwältigt von dem gigantischen Sprung, den die Stadt gemacht hatte, als sie 2004 mit ihrem Mann – ebenfalls Architekt – nach China zurückkehrte. Deutschland steckte in einer Wirtschaftskrise, viele verloren ihren Job. Und Shanghai? Boomte mehr denn je vor Leben und Möglichkeiten. “Das wahnsinnige Wachstum in den chinesischen Großstädten, hat die Lebensqualität der Bewohner rasant gesteigert und dauert auch heute, 15 Jahre später, noch an. In Shanghai kann Dir dadurch leider auch passieren, dass ein Haus, dass Du Dir anschauen willst, einen Monat später gar nicht mehr steht.”

    Darin sieht Fanny Hoffmann-Loss ein großes Problem. “Durch die rasende Modernisierung verliert die Stadt viel von ihrem Alten. Die Gefahr besteht, dass bald nichts mehr davon übrig ist.” Nur noch in wenigen Gegenden begegne man dem Geist der Vergangenheit.  “Zwei, drei Eingänge von den befahrenden Straßen entfernt, findet man sich plötzlich in einem Dorf wieder, wo die alten Leute auf ihren Höckerchen in Höfen und Gassen sitzen, Gemüse schälen und auf die spielenden Kinder aufpassen. Das ist dann das alte Shanghai.” An solchen Orten bewahre sich die Stadt etwas von ihrem alten Charme. “Es macht die Stadt aus, von beidem etwas zu haben, dem Alten wie dem Neuen. Ich hoffe sehr, dass sie sich das erhält.”

    Darum hat das Ministry of Housing and Rural Urban Development Ende August 2021 eine neue Richtlinie verkündet. “Darin wird unter anderem verfügt, dass in Zukunft Bestandsbebauung in innerstädtischen Bereichen nicht mehr großflächig abgerissen werden darf. Neue Bebauung in diesen Gebieten darf nur die doppelte Fläche des Bestands haben und mindestens 50 Prozent der ansässigen Bevölkerung sollen in unmittelbarer Nähe wohnen bleiben”, erklärt die Architektin. Wie das konkret umgesetzt wird, müsse sich zeigen. Lisa Marie Jordan 

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    Personalien

    Wang Jiang, 58, wird neuer Chairman des staatlichen Finanzkonglomerats China Everbright Group. Wang ist President der China Construction Bank, der nach Aktiva zweitgrößten Geschäftsbank der Welt.

    Nicholas Burns, neuer US-Botschafter in Peking, hat am Sonntag dort offiziell seinen Posten angetreten. Für die kommenden drei Wochen sitzt er allerdings mit seiner Frau Libby in Quarantäne.

    Zur Sprache

    “Tauben fliegen lassen”

    放鸽子- fàng gēzi -
    放鸽子– fàng gēzi – “Tauben fliegen lassen”

    Achtung, Trigger-Warnung! Nach der Lektüre dieses Textes werden Sie beim nächsten Innenstadtbummel Tauben mit anderen Augen sehen. Die Zeiten, in denen Sie das T-Wort nur mit Gurren und Brotkrumen verbanden, dürften ein für allemal vorbei sein. Wer sich die heile Taubenwelt also bewahren möchte, sollte jetzt lieber auf taub schalten und den nächsten Beitrag herauspicken.

    Sie sind noch da? Gut. Dann ist es Zeit für eine Taubenzäsur. Denn manches Flugobjekt, das sich als harmlose Touristentaube ausgibt, hat es in Wirklichkeit faustdick hinter den Federn. Die Chinesen haben das natürlich längst erkannt und entsprechende Warnhinweise im Wörterbuch eingewebt. Die Rede ist vom Ausdruck 放鸽子 fàng gēzi. Wörtlich bedeutet er “Tauben freilassen/fliegen lassen”, doch im übertragenen Sinne eben auch “jemanden versetzen” beziehungsweise “jemanden hängen lassen”.

    Woher diese Bedeutungsübertragung kommt, darum ranken sich verschiedene Geschichten. Die erste führt uns ins Pekinger Taubenzüchtermilieu. Hier soll es doch tatsächlich schon vorgekommen sein, dass Taubenschwärme nach dem Ausflug nicht beim eigentlichen Besitzer landeten, sondern bei der Konkurrenz. Und teils spielte sich das Komplott gar mithilfe kollaborierender Artgenossen ab. Von wegen heile Taubenwelt also! Manch zwielichtiger Züchter soll seine Vögel doch tatsächlich zu “Kidnappertauben” – sogenannten 诱鸽 yòugē (von 诱拐 yòuguǎi “kidnappen, entführen”) – ausgebildet haben. Solche Lockvögel sorgen durch heimtückische Flugmanöver für Desorientierung beim fremden Federvieh und lotsen es so gewieft in den eigenen Taubenschlag. Der Ursprungsbesitzer schaut also in die Röhre, oder besser gesagt in den leeren Käfig.

    Eine weitere Ursprungsgeschichte des Ausdrucks führt uns ins alte Shanghaier Glücksspielmilieu. Hier nannte man Lotteriescheine mit miserablen Gewinnaussichten nämlich umgangssprachlich 白鸽票 báigēpiào “Weißtauben-Lose”. Denn der Einsatz solcher Luftnummern-Lose flatterte meist lautlos in die Taschen der Lotteriebetreiber und ward nicht mehr gesehen. Der Spieler hatte also das Nachsehen.

    Andere sagen, die Taubenmetapher stamme noch aus Zeiten der Brieftaube (信鸽 xìn-gē). Erwartete jemand sehnsüchtig eine Sendung per Vogelpost und es kam am Ende nur der Vogel, nicht aber die Post, echauffierte sich der Empfänger, man habe nur eine Taube losgeschickt (放鸽子 fàng gēzi), aber nicht den versprochenen Brief. Die Redensart “eine Taube fliegen lassen” soll deshalb zum geflügelten Wort für gebrochene Versprechen und Verabredungen geworden sein. So oder so – auch hier schien auf die Taube wenig Verlass. Die chinesische Netzgemeinde hat den Begriff übrigens noch weitergesponnen. Sie schimpft heute Influencer und Internetpersönlichkeiten, die den Schnabel stets voll nehmen, aber am Ende nicht liefern können, als 鸽王 gēwáng “Taubenkönige”.

    Leider muss ich Ihnen sagen, dass das noch nicht alles war. Haften wir weiter an den Fersen des Fluggetiers, zieht es uns sogar noch tiefer in die Welt der menschlichen Abgründe. In der Unterwelt und in Mafiakreisen (黑社会 hēishèhuì)  macht man bedauerlicherweise auch vor menschlichen Lockvögeln nicht halt. In kriminellen Milieus ist der Begriff 放鸽子 fàng gēzi ein Codewort dafür, wenn Frauen als Köder ausschwärmen. Als Amüsierdamen und Prostituierte locken sie Männer in ihre Fänge. Und im Bordsteinschwalbennest warten dann schlimmstenfalls Raub und Überfall, ja gar Erpressung von Geld und Wirtschaftsgeheimnissen. Natürlich funktioniert das Ganze auch in der umgekehrten Geschlechtervariante. Unser Tiermetapherflug birgt also ordentlich Turbulenzen, aber ich hatte Sie ja gewarnt.

    Und, last but not least, ist  放鸽子 fàng gēzi auch in der Welt der Cyberkriminalität ein geflügeltes Wort. In Anlehnung an eine legendäre Trojaner-Software (木马病毒软件 mùmǎbìngdú ruǎnjiàn) namens “graue Taube” (灰鸽子 huī gēzi), die Hackern (黑客 hēikè) weitreichenden Zugriff auf fremde Rechner ermöglichte, wird “eine Taube freilassen” auch als Synonym für das Einschmuggeln von Schadsoftware verwendet. 

    Nachdem wir die Taube jetzt aber sprachlich ordentlich gerupft haben, sollte vielleicht der Fairness halber noch gesagt werden, dass 放鸽子 fàng gēzi natürlich auch in der wörtlichen Bedeutung gebraucht werden kann. Zum Beispiel beim Freilassen von Tauben als Friedenssymbol (和平鸽 hépínggē “Friedenstaube”). Schauen Sie also im Einzelfall genau hin, welche Taube Sie vor sich haben, und behalten Sie Ihren Glauben an das Gute im Menschen.

    Verena Menzel betreibt in Peking die Sprachschule New Chinese.

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    China.Table Redaktion

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