Table.Briefing: China

Verzögerungen bei Cariad + Lieferengpässe bei Solar

  • VW-Problemkind Cariad
  • Solar: Verlängerte Wartezeiten auch in europäischen Häfen
  • BASF stellt sich auf Batterie-Nachfrage ein
  • Absatz von E-Autos erholt sich
  • Streiks in Südkorea belasten Chip-Produktion
  • Arbeitsorganisation sendet Mission nach Xinjiang
  • Standpunkt: CEIBS-Vize sieht chinesische Bereitschaft zur Kooperation
  • Im Portrait: Justin Yifu Lin – Optimistischer China-Ökonom
Liebe Leserin, lieber Leser,

das Geschäft in der Volksrepublik hat Volkswagen in den vergangenen Jahren zu immer neuen Rekorden getragen. Aber der Markt steht vor einem großen Umbruch. In Sachen Elektromobilität und Digitalisierung ist die Software-Strategie ganz maßgeblich, ob VW und andere deutsche Autobauer auch künftig in China die Nase vorn haben werden. Mehr als bitter wird Wolfsburg deshalb eine Studie schmecken, die zeigt: Volkswagen drohen Milliardenverluste aufgrund der Verzögerungen bei der Softwaretochter Cariad. Der China-Ableger soll helfen, das Problem des sinkenden Absatzes in der Volksrepublik zu lösen, schreibt Christian Domke-Seidel. Entscheidend soll dabei auch die kundenorientierte Entwicklung werden – denn die fehlte VW bislang.

Unter Lieferengpässen wegen der Hafenstaus nicht zuletzt im Zuge des Shanghai-Lockdowns leiden derzeit viele Branchen. In unserem zweiten Stück widmen wir uns exemplarisch dem Zustand der Solar-Industrie. Es war Finanzminister Christian Lindner, der nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine die erneuerbaren Energien medienwirksam als “Freiheitsenergien”bezeichnete. Doch zumindest für die Solar-Industrie ist das schlichtweg ein Etikettenschwindel: Zu groß ist in diesem Bereich die Abhängigkeit von China, das die komplette Solar-Lieferkette dominiert. Und Peking hat für die kommenden Jahre massive Ausbauziele vorgegeben. Manuel Berkel geht der Frage nach, ob die aktuellen Lieferschwierigkeiten auf den chinesischen Eigenbedarf zurückzuführen sind.

Viele neue Erkenntnisse bei der Lektüre!

Ihr
Felix Lee
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Analyse

Cariad: VWs Software-Projekt hinkt Jahre hinterher

Unausgereift und zu spät: Mit der eigenen Software Cariad wollte der Volkswagen-Konzern punkten. Nun ist die Sparte das Problemkind.
Unausgereift und zu spät: Mit der eigenen Software Cariad wollte der Volkswagen-Konzern punkten. Nun ist die Sparte das Problemkind.

Es ist nicht eine einzelne Zahl, die diese Analyse von McKinsey für Volkswagen so vernichtend macht. Es ist die Summe der Teile. Bis zum Jahr 2026 werde die Einführung der neuen Software-Architektur durch VWs Tochter Cariad rund 3,5 Milliarden Euro mehr kosten als ursprünglich veranschlagt. Über den gesamten Produktlebenszyklus (also bis 2039) werden es 9,2 Milliarden Euro mehr sein. Dazu kommen Verluste bei einzelnen Marken und Modelle. Etwa 2,5 bis 3 Milliarden Euro fallen alleine durch die Verzögerungen bei Porsches neuer Software-Architektur an. Imageprobleme und mögliche Rückgänge bei den Marktanteilen sind da noch gar nicht einkalkuliert.

Eigentlich war die McKinsey-Analyse nur für den internen Gebrauch gedacht. Doch sie fand ihren Weg zum Manager Magazin. Pikantes Detail: Nicht etwa Herbert Diess, Volkswagen-Chef und verantwortlich für Cariad, hatte die Analyse beauftragt, sondern Audi-Chef Markus Duesmann. Er und seine Ingenieure wollten eine Erklärung für die ständigen Verspätungen. Und bekam sie. Die Organisation von Cariad funktioniere nicht, die Entscheidungsstruktur sei nicht zielführend, heißt es in der McKinsey-Analyse. Die Elektronikteile, die es für die neue Plattform brauche, werden pro Auto 750 Euro mehr kosten, als ursprünglich geplant.

Die Software-Sparte Cariad ist der Hoffnungsträger des Konzerns (China.Table berichtete). Zugleich entscheidet sich an ihrem Erfolg das Schicksal eines Unternehmens, das die Digitalisierung des Fahrens zwar hat kommen sehen, in seiner Reaktion auf die Trends aber viel langsamer war als die chinesische Konkurrenz. VW dachte bis vor Kurzem noch, im Autogeschäft gehe es vor allem um Motoren, Fahrgestelle, Karosserie und einen schönen Innenraum mit einem schwerfälligen “Bordcomputer” als netter Dreingabe.

Machtkämpfe und Milliardenverluste

Nur langsam hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich die Zukunft des Konzerns nicht in Wolfsburg entscheidet, sondern zu großen Teilen in China. Gerade in Sachen Elektromobilität und Digitalisierung. Das Geschäft in der Volksrepublik hat Volkswagen in den vergangenen Jahren zu immer neuen Rekorden getragen. Von den 15,4 Milliarden Euro, die Volkswagen 2021 als Gewinn auswies, kamen trotz diverser Krisen vor Ort drei Milliarden aus China.

Doch der Boom scheint vorbei. Im ersten Quartal 2022 kommen Volkswagen und Audi auf einen Marktanteil von gerade einmal 13 Prozent, rechnet das Marktforschungsunternehmen LMC Automotive vor. In den vergangenen Jahren waren es stets rund 20 Prozent. Hintergrund ist, dass die Verkaufszahlen von Audi um rund 28 Prozent eingebrochen sind, während die VW-Zahlen stagnieren und der Gesamtmarkt wächst.

Der China-Ableger von Cariad soll helfen, das Problem des sinkenden Absatzes in der Volksrepublik zu lösen. Mit chinesischer Arbeitsweise. So finden viermal im Jahr sogenannte “Innovation-Sprints” statt. Dabei treffen sich Vertreter des Konzerns mit Kunden und diskutieren darüber, was in der Praxis gebraucht wird. Im Zentrum stehen Fahrassistenzsysteme, intelligente Cockpits und Remote Services – also beispielsweise die Überwachung des Ladevorgangs per Handy. Anschließend gehen die Ideen in die Forschungs- und Entwicklungsabteilung. Zwischen drei bis maximal sechs Monate darf es dann dauern, bis konkrete Ergebnisse geliefert werden müssen. Beim ersten Innovation-Sprint bekam Cariad 80 Ideen. Sechs davon befinden sich derzeit in der Umsetzung. 

Chinesische Arbeitsweise für deutschen Konzern

Das ist die kundenorientierte Entwicklung, die VW bislang fehlt. Dazu kommen chinaspezifische Lösungen, wie beispielsweise die “C-V2X-Funktionen”. Dabei handelt es sich um ein Konnektivitätspaket. Die Fahrzeuge erhalten im Rahmen von Smart-City-Lösungen Ampelinformationen. So sollen grüne Wellen entstehen. Auch Verkehrsstörungen werden so kommuniziert. Unterhaltungssoftware und KI sind mittlerweile obligat. So innovativ diese Entwicklungen sind, Cariad und VW hinken den eigenen Zeitplänen massiv hinterher. Die Modelle, die all das können sollen, verzögern sich immer weiter. 

Volkswagen will künftig ein Viertel seines gigantischen Umsatzes von 250 Milliarden Euro mit dem automatisierten Fahren und Entertainmentlösungen einnehmen. Das ist mehr als nur eine Nische. Geschwindigkeit zählt, denn die Konkurrenz schläft nicht. Mercedes kooperiert deswegen mit dem US-Chipkonzern Nvidia. BMW arbeitet mit Qualcomm an Lösungen. Zwar hat auch VW diverse Kooperationen – aktuell wird mit Huawei verhandelt – doch die wichtigste Software soll im VW-Konzern selbst entwickelt werden. Bei Cariad.

Währenddessen schwingt sich auch Apple auf, um in den Automarkt einzusteigen. Ein eigenes Auto scheint schon in Reichweite zu sein. Und das neue “CarPlay” des Handykonzerns oszilliert zwischen Fluch und Segen für die traditionellen Autohersteller. Segen, weil der Inhalt von Apple-Smartphones auf den Fahrzeugbildschirmen übernommen wird. Per Handy kann so das ganze Auto gesteuert werden. Klassische Informationen wie Geschwindigkeit und Navigation erscheinen dann im Apple-Design. Fluch, weil der Techkonzern so Zugriff auf alle Daten aus dem Fahrzeug bekommt.

  • Autoindustrie

Solar: Ende der Lieferengpässe in Sicht

Noch immer zeigen die Lieferverzögerungen im weltweiten Warenverkehr ihre Wirkung. Auch bei der Solar-Energie machen sie sich bemerkbar. Wie andere Güter sind Solarmodule von den coronabedingten Schließungen chinesischer Häfen betroffen, bestätigt eine Sprecherin des Bundesverbands Solarwirtschaft. Das schmerzt die Industrie enorm. Die gesamte europäische Branche ist stark auf Lieferungen aus Drittstaaten angewiesen – besonders aus China.

Die Importabhängigkeit der EU beträgt bei Solarmodulen 65 bis 80 Prozent. Fast zwei Drittel dieser Importe stammten zuletzt aus der Volksrepublik, wie ein Bericht der Kommission zu strategischen Abhängigkeiten im Februar bemerkte. Und auch knapp zweieinhalb Jahre nach Beginn der Pandemie hakt es noch immer. In Shanghai und der angrenzenden Provinz Zhejiang stieg der Anteil der wartenden Schiffe an der globalen Kapazität im Mai abermals, wie der Kiel Trade Indicator des IfW vom 7. Juni zeigt.

Anteil chinesischer Unternehmen an weltweiter Produktion von Solaranlagen - droht der EU die Abhängigkeit?

Die Verzögerungen in China ziehen inzwischen auch verlängerte Wartezeiten in europäischen Häfen nach sich. “Erstmals seit Ausbruch der Pandemie stauen sich Containerschiffe auch in der Nordsee vor den Häfen Deutschlands, der Niederlande und Belgiens. Hier stecken gegenwärtig knapp zwei Prozent der globalen Frachtkapazität fest und können weder be- noch entladen werden”, schreibt das IfW.

Hohe Ziele für Solar in EU und China

Aber gefährden die Lieferverzögerungen auch das Erreichen der hohen Ziele der europäischen Solarstrategie? Bis 2025 will die Kommission die installierte PV-Kapazität im Vergleich zu 2020 auf über 320 Gigawatt (GW) mehr als verdoppeln, bis 2030 sollen es schon 600 GW sein.

Auch China hat sich ehrgeizige Ziele gesetzt. Im Jahr 2021 hat das Land fast 55 GW Leistung installiert. Die Behörden gehen davon aus, dass sich die Zahl dieses Jahr fast verdoppelt und 108 GW zugebaut werden. Bis zum Jahr 2025 sollen über 550 Gigawatt an Wind- und Solarkraftwerken entstehen – viele davon als gigantische Kraftwerke in den Wüsten (China.Table berichtete).

Bleiben da überhaupt genug Solarmodule für den Export in die EU und nach Deutschland übrig? Eine Weile dürften die hohen Preise für Module noch anhalten, erwartet der Dachverband SolarPower Europe. “Lieferverzögerungen sind in der hohen Nachfrage und hohen Frachtkosten begründet”, sagt Analyst Christophe Lits von SolarPower Europe, einer Lobbygruppe mit Sitz in Brüssel, die als Bindeglied zur Politik die Interessen der Industrie vertritt. Der Bundesverband Solarwirtschaft rechnet nach den Worten einer Sprecherin aber damit, dass der Containerstau bis Ende des Jahres abgebaut sein wird.

Investoren warten auf sinkende Preise

Der Großhandelspreis für monokristalline Module ist in Europa innerhalb eines Jahres von 240 auf 280 US-Dollar pro Kilowatt gestiegen, wie Daten des Beratungsunternehmens InfoLink zeigen. Laut SolarPower Europe stellen einige gewerbliche Solar-Investoren ihre Projekte zurück, um auf sinkende Preise zu warten.

Im vergangenen Jahr seien 20 bis 25 Prozent aller PV-Projekte in der EU verschoben oder ganz abgesagt worden, heißt es in dem Bericht der Kommission. Neben den hohen Frachtkosten spielten auch gestiegene Rohstoffkosten und Schließungen chinesischer Fabriken eine Rolle. Ein bedeutender Faktor sei außerdem der Mangel an Installateuren, sagt Branchenvertreter Lits.

Zumindest bei den Produktionskapazitäten glauben Experten aber noch nicht an Engpässe. “Die weltweiten – und von China dominiertenProduktionskapazitäten für Wafer, Solarzellen und Module übersteigen selbst die hohe Nachfrage deutlich“, sagt Johannes Bernreuter, Lieferketten-Experte von Bernreuter Research, zu Table.Media (China.Table berichtete).

Polysilizium als Engpass

Derzeit bestehe allerdings ein Flaschenhals bei der Produktion von Polysilizium. “Der Ausbau der Kapazitäten kommt der rasch wachsenden Nachfrage nicht schnell genug hinterher”, sagt Bernreuter. Doch China verfolge “gigantische Expansionspläne”. Innerhalb der nächsten zwei Jahre werde sich die Situation entspannen, prognostiziert der Experte. Analyst Lits rechnet sogar schon bis Anfang 2023 mit neuen Produktionskapazitäten.

Langfristig streben allerdings auch die Kommission und die europäische Solar-Industrie den Aufbau neuer Kapazitäten in der EU an. Für Polysilizium will die Branche die heimische Produktion auf genug Material für Module mit 54 GW nahezu verdoppeln. Die Modulfertigung selbst soll von neun auf 35,6 GW vervierfacht werden.

Derzeit herrscht innerhalb des Kontinents allerdings noch ein harter Wettbewerb um Solarkomponenten. In der Slowakei zum Beispiel gebe es einen Mangel an Modulen, weil die Käufer in anderen EU-Staaten höhere Preise zahlen könnten, berichten europäische Verbraucherschutzorganisationen. Mit Nico Beckert

  • Energie
  • EU
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  • Solar

News

BASF will mehr Batterie-Materialien produzieren

BASF baut angesichts der hohen Nachfrage aus der Elektroautoindustrie seine Produktionskapazitäten für Batterie-Materialien in China aus. Das BASF-Gemeinschaftsunternehmen mit dem chinesischen Anbieter Shanshan wird seine Kapazitäten in Changsha in der Provinz Hunan sowie in Shuizuishan in der Provinz Ningxia erweitern, wie der Chemiekonzern am Mittwoch mitteilte.

Das Joint Venture werde damit eine jährliche Kapazität von 100 Kilotonnen für Kathodenmaterialien erreichen. Den bisherigen Wert wollte BASF nicht nennen. Im vergangenen Jahr betrug die Produktionskapazität für Kathodenmaterialien, einschließlich deren Vorprodukte, 90 Kilotonnen.

Die Inbetriebnahme der neuen Anlagen ist für das vierte Quartal geplant. An dem Gemeinschaftsunternehmen, das in China Kathodenmaterialien und deren Vorprodukte produziert, hält BASF die Mehrheit von 51 Prozent. 49 Prozent der Anteile liegen bei Shanshan. rtr

  • Autoindustrie

E-Auto-Absatz schießt in die Höhe

Im Mai hat sich der Verkauf von Autos mit neuen Antriebsformen erholt. Im Vergleich zum Jahresmonat stieg er um 91 Prozent auf 360.000 Stück. Das teilte die China Passenger Car Association mit. Auch im Vergleich zum Vormonat, dem April, ging der Absatz um ein gutes Viertel hoch. In den ersten fünf Monaten des Jahres hat sich die verkaufte Stückzahl mehr als verdoppelt. Zu den New Energy Vehicles (NEV) gehören Batterieautos, aber auch Steckdosenhybride.

Auch insgesamt verzeichnet der Automarkt eine Erholung. Die Steigerung der Verkäufe erreichte über alle Antriebsformen 30 Prozent. Als Grund nennt der Verband den Rückgang der Covid-Infektionszahlen und die Aufhebung der Lockdowns. fin

  • Autoindustrie

Trucker-Streik in Südkorea stört Chip-Produktion

Bei der Halbleiterproduktion in China kommt es infolge des Trucker-Streiks in Südkorea zu Störungen. Laut Reuters könne ein südkoreanisches Unternehmen, das im großen Stil Isopropylalkohol (IPA) für die Reinigung von Halbleiterchips herstelle, sein Produkt wegen der Blockade nicht nach China verschiffen. Nach Angaben des Handelsverbandes Korea International Trade Association (Kita) habe sich die Ausfuhr von 90 Tonnen IPA verzögert, was etwa einer Wochenlieferung entsprechen soll.

“Angesichts der Engpässe bei Autochips und den weltweiten Versorgungsproblemen durch den Russland-Ukraine-Krieg, sind die Rohstoffpreise bereits auf ein Höchstmaß gestiegen”, sagte Yoon Kyung-sun von der Korea Automobile Manufacturers Association auf einer gemeinsam mit der Kita abgehaltenen Pressekonferenz am Dienstag.

Südkorea ist ein wichtiger Lieferant für Halbleiter, Smartphones, Autos, Batterien und Elektronikartikeln. Seit dem 7. Juni protestieren in Südkorea 22.000 Lkw-Fahrer aufgrund stark gestiegener Kraftstoffpreise. Sie fordern höhere Löhne und eine Mindestlohngarantie. Die weltweit durch die Lockdowns und Lieferengpässe fragil gewordenen Lieferketten geraten so abermals unter Druck. niw/ rtr

  • Halbleiter
  • Handel
  • Lieferketten
  • Technologie

IAO will Xinjiang inspizieren

Die Internationale Arbeitsorganisation IAO will eine Mission in die Autonome Region Xinjiang entsenden. Das berichtet der Spiegel. Eine Vollversammlung der ILO-Mitgliedsstaaten nahm mit Mehrheit einen entsprechenden Antrag an. Als Begründung nennt er ausdrücklich “die Anwendung repressiver Maßnahmen gegen die Uiguren“. Vom 27. Mai bis Ende vergangener Woche tagte der Internationale Arbeitskongress mit 4.000 Delegierten.

Die IAO gilt gemeinhin als “zahnlose Tigerin“, die ihre Prinzipien nicht durchsetzen kann (China.Table berichtete). Am Freitag hat die IAO auch beschlossen, dass alle ihre 187 Mitgliedstaaten “das Grundrecht auf ein sicheres und gesundes Arbeitsumfeld” gewährleisten. Doch auch darunter versteht jedes Land etwas anderes. So hat auch China ein IAO-Abkommen gegen Zwangsarbeit unterzeichnet (China.Table berichtete) – sieht darin aber keine Widersprüche zur eigenen Praxis, weil es Zwangsarbeit auch in Xinjiang offiziell nicht gibt. fin

  • ILO
  • Menschenrechte
  • Xinjiang
  • Zivilgesellschaft

Standpunkt

Klimaziele im Nebel des Krieges

Von Ding Yuan
Ding Yuan ist Vizepräsident der China Europe International Business School (CEIBS) in Shanghai
Ding Yuan ist Vizepräsident der China Europe International Business School (CEIBS) in Shanghai

Zwar war ein Drittel der Podiumsdiskussionen auf der großen Bühne des Weltwirtschaftsforums in Davos dem Klimawandel gewidmet. Doch der Aspekt der Energiesicherheit hat neue Prioritäten geschaffen. Der Einsatz fossiler Brennstoffe müsse zwar beendet werden, die Verringerung der Abhängigkeit von Russland bei der Energieversorgung sei aber noch dringender.

Es besteht die Gefahr, dass die internationale Zusammenarbeit in Sachen Klimawandel auf der Strecke bleibt. Ein übereiltes Streben nach Energiesicherheit kann internationale Standards, Vereinbarungen und Institutionen in einer Weise untergraben, wie es bei einem geordneten Wandel nicht der Fall wäre. Zwangsläufig fällt der Blick auch auf China, wo der Kampf gegen den Klimawandel in den vergangenen Jahren zunehmend zu einer zentralen Komponente der eigenen Politik geworden ist.

Das Land ist aufgrund seiner strengen Null-Covid-Politik wirtschaftlich unter Druck geraten. Lockdowns in vielen Teilen des Landes haben die reguläre Wirtschaftsaktivität ins Stottern gebracht. Langfristiger Wohlstand und die Energiewende waren in den vergangenen Monaten plötzlich nur noch zweitrangig. Bedeutet dies, dass China seine Bemühungen aufgegeben hat oder die internationale Zusammenarbeit beim Klimawandel einstellen wird? Die Antwort lautet: Nein.

China: Energiekrise war Weckruf

Die Energiekrise, die im September letzten Jahres in vielen Teilen Chinas herrschte und zu Rationierungen führte, war jedoch ein Weckruf. Es stellt sich hierbei nicht die Frage, ob Peking den Klimawandel ernst nimmt, sondern eher, ob es vielleicht zu ehrgeizig war und der Staat seine Maßnahmen überdenken muss, um weitere Stromengpässe zu vermeiden. Chinas größte Herausforderung besteht nun darin, eine Balance zwischen seinen Klima-Zielen, der Beibehaltung eines wissenschaftlichen Ansatzes und der Aufrechterhaltung der Wirtschaft zu finden.

Davos ist seit Jahrzehnten dafür bekannt, Visionen Wirklichkeit werden zu lassen, indem es zahlreiche Interessengruppen zum Dialog zusammenbringt und eine Kommunikationsplattform bietet, die neue Ideen und Innovationen hervorbringt. In den vergangenen Jahren wurden viele Ideen, die auf dem Forum entstanden sind, in Bereichen wie digitale Technologie, Industrie 4.0, ESG und Stakeholder-Kapitalismus in die Praxis umgesetzt. Dadurch wurden Lösungsansätze entwickelt, um gerechtere Wirtschaftssysteme und gleichberechtigtere Gesellschaften zu schaffen.

China hat von diesen Diskussionen stark profitiert. So ist das “Environment, Social, Governance” (ESG) mittlerweile ein wichtiger Bestandteil der Unternehmensführung von immer mehr chinesischen Unternehmen geworden. Und an den meisten Wirtschaftshochschulen ist ESG inzwischen ein fester Bestandteil des Lehrplans geworden.

Davos: Energiesicherheit statt Klimawandel im Fokus

Nach zwei Jahren pandemiebedingter Einschränkungen bot sich in Davos nun die Chance, die Welt aus den Umwälzungen herauszuführen. Ich hatte erwartet, dass Staats- und Regierungschefs die Basis schaffen, um den Kampf gegen den Klimawandel mit Nachdruck und auf neue und innovative Weise führen zu können. Ich musste jedoch feststellen, dass die Welt im Wettlauf um die Einhaltung der Klimaziele 2030 zurückfällt, weil sich der Wunsch nach höherer Energiesicherheit in den Vordergrund gedrängt hat. Und dies ist mit Sicherheit nicht im Sinne Chinas, weil die Volksrepublik selbst zu den großen Verlierern zählen würde.

Doch ohne ein eindeutiges Mandat für die Umsetzung von Klimaprogrammen, ohne eine signifikante Beteiligung des Privatsektors und ohne eine angemessene strukturelle Finanzierung könnte die Energiewende mehrere langwierige Umwege nehmen – und auf dem Weg zur Klimaneutralität sogar in die falsche Richtung führen.

Wenn wir den Kampf gegen den Klimawandel als einen Marathon betrachten, wirken Pandemie und der russische Angriffskrieg wie Muskelkrämpfe auf halber Strecke. Aber wir müssen weiterlaufen. Deshalb geht es jetzt darum, die Schmerzen zu lindern und zu verhindern, dass gesundheits- oder sicherheitspolitische Herausforderungen in Zukunft neue Krämpfe verursachen. China hat großes Interesse daran, Symptome und Ursachen gleichzeitig zu bekämpfen und sieht globale Lösungen in einem wissenschaftlichen, kooperativen, und schrittweisen Vorgehen.

Kooperation trotz angespannter internationaler Beziehungen?

Klaus Schwab, Gründer und Vorsitzender des Weltwirtschaftsforums, wies auf zwei Bedingungen hin, um den Zustand der Welt zu verbessern. Erstens: Staaten müssen sich als Stakeholder einer größeren Gemeinschaft verstehen und Eigeninteressen hintanstellen. Zweitens: Kooperation. Doch das wird angesichts der angespannten internationalen Beziehungen nicht leicht. Russland war nicht einmal mehr Teil der Stakeholder-Gemeinschaft. Und das Verhältnis Chinas zu den USA verschlechtert sich zunehmend. Doch solange die US-Regierung unter Joe Biden dem Beispiel der Trump-Administration folgt und China als Bedrohung ansieht, was soll dieser “Feind” dann tun, um nicht besiegt zu werden, aber gleichzeitig kooperativ zu sein?

Beispiel Elektromobilität: China hat die Integration der gesamten Wertschöpfung zwischen Automobilherstellern, Batterieherstellern, Gebrauchtwagenhändlern und Entsorgungsunternehmen für Batterierecycling-Systeme gefordert, um einen größeren Beitrag zum internationalen Markt zu leisten. Die Reaktion des Westens war jedoch bestenfalls verhalten. Weil es sich bei einigen Technologien im Zusammenhang mit Elektroautos um strategische Güter handele, wolle man seine Lieferketten bei solchen Vorhaben nicht auf China stützen.

Sollte Davos 2023 an seinem üblichen Termin im Januar stattfinden, werden sich die Teilnehmer in nur acht Monaten wieder im gewohnten Schneegestöber zusammenfinden. Damit dort neue Lösungen im Kampf gegen den Klimawandel gefunden werden können, muss das Weltwirtschaftsforum wieder ein offenes Konzept für vielfältige und unterschiedliche Meinungen verfolgen. Das ist in diesem Jahr nicht gelungen. Auch, weil wegen der geopolitischen Lage die Stimmen der Staaten und Regierungen lauter waren als je zuvor.

Dr. Yuan Ding ist Vizepräsident und Dekan, Cathay Capital Chair Professor für Rechnungswesen an der China Europe International Business School (CEIBS) in Shanghai. Zuvor war er Fakultätsmitglied der HEC School of Management, Paris, Frankreich. Er ist Mitglied der European Accounting Association, der French Accounting Association und der American Accounting Association. Ding war als Herausgeber und Mitglied des Redaktionsausschusses für internationale wissenschaftliche Fachpublikationen der Bereiche Rechnungslegung und Wirtschaftsprüfung tätig.

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Portrait

Justin Yifu Lin – China-optimistischer Ökonom

Justin Yifu Lin - Ökonom, Universitätsprofessor, Regierungsberater und Autor von über 20 Büchern
Justin Yifu Lin – Ökonom, Universitätsprofessor, Regierungsberater und Autor von über 20 Büchern

Justin Yifu Lin gibt sich zuversichtlicher als die chinesische Regierung selbst. Sechs Prozent Wachstum traute der Ökonom der Wirtschaft des Landes Anfang des Jahres für 2022 zu. Die Regierung plante mit nur 5,5 Prozent. Ohne Corona sei bis 2035 sogar ein jährliches Wachstum von acht Prozent möglich, schätzt der 69 Jahre alte Ehrendekan der Universität Peking. Analystinnen und Analysten europäischer Ratingagenturen reiben sich verwundert die Augen angesichts von so viel Optimismus. Sie sehen China in diesem Jahr bei gerade einmal gut vier Prozent Wachstum.

Doch Zuversicht ist ein wesentlicher Baustein für die Karriere von Justin Yifu Lin. So war es auch 1979, als der gebürtige Taiwaner und studierte Ökonom vom Ufer der Insel Kinmen Richtung Volksrepublik blickt und mutig in Wasser steigt. Der Legende nach dienen dem desertierenden Soldaten zwei Basketbälle als Schwimmhilfe für die Flucht auf die zwei Kilometer entfernte Insel Xiamen. Lin flüchtet also quasi umgekehrt vom demokratischen Taiwan in die autoritär regierte Volksrepublik.

Seine Motivation? Innere Überzeugung: Er sei aufgrund seines kulturellen, historischen, politischen und ökonomischen Verständnisses zu der Ansicht gelangt, dass die Rückkehr zum Mutterland historisch zwangsläufig ist, schreibt er kurz nach seiner Flucht. Seine Familie lässt er dabei zurück.

In Peking studiert er anschließend marxistische Wirtschaftslehre. Dort lernt er Theodore Schultz kennen. Der amerikanische Nobelpreisträger verschafft ihm ein Stipendium für eine Promotion in Chicago, wo er unter anderem Chinas Öffnung zur Marktwirtschaft erforscht.

Einen wesentlichen Grund für den Aufstieg des Landes erkennt Justin Yifu Lin in der Nutzung der komparativen Vorteile des Faktors Arbeit im Land. Arbeit ist in China günstig, das wurde lange verkannt. Denn die Schwerindustrie aus der Zeit vor den Reformen durch Deng Xiaoping im Jahr 1979 war vor allem kapitalintensiv. Fortan aber setzt China auf die Massenfertigung, auf flinke Hände, die wenig kosten.

Schneller Aufstieg zu Regierungsberater

Ein Angebot, nach seiner Promotion in den USA zu lehren, lehnt Justin Yifu Lin ab. Stattdessen zieht es ihn wieder nach China. “Das Land wandelte sich von der Plan- zur Marktwirtschaft. Das war faszinierend”, sagte er rückblickend dem Magazin Brand eins. Im Jahr 1986 kehrt er nach Peking zurück und gründet dort 1993 an der Universität Peking einen wirtschaftspolitischen Thinktank, das “China Centre for Economic Research” (CCER). Schnell steigt er zu einem der wichtigsten Regierungsberater auf.

Im Jahr 2008 wird er zum Chefökonom der Weltbank ernannt. In seiner vierjährigen Amtszeit wirbt er für seine New Structural Economics. Diese Theorie soll Schwellen- und Entwicklungsländern zu mehr Wohlstand verhelfen. Nach Justin Yifu Lin verlangt eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung immer das Zusammenspiel von Staat und Markt.

In Branchen, wo günstigere Arbeitsbedingungen als im Ausland herrschen, müsse der Staat intelligente Strategien und Investitionen einsetzen, um Innovationen im Land zu fördern. So hat es China gemacht – aus seiner Sicht erfolgreich: “Die Welt”, sagte Lin einmal in seiner Zeit bei der Weltbank, “kann viel von China lernen. Und ich möchte dabei helfen.”

Einfluss auf die Regierung wohl gesunken

Heute ist der Universitätsprofessor und Autor von mehr als 20 Büchern auch ein Berater der chinesischen Regierung. Doch zuletzt dürfte sein Einfluss auf die Politik gesunken sein. Das vermutet zumindest die China-Beobachterin Angela Stanzel. An ihm selbst liegt das nicht: “Der Xi-Jinping-Führung geht es offensichtlich immer weniger um wirtschaftliche Entwicklung, sondern immer mehr um parteipolitische Kontrolle”, sagt die China-Expertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. 

Außenwirtschaftlich geht Justin Yifu Lin mit der Haltung der Regierung konform. Peking wirft den USA vor, seinen Aufstieg zu behindern. Auch Lin klagt, die US-Amerikaner würden die chinesische Wirtschaft durch Sanktionen wie etwa gegen den IT-Konzern Huawei abwürgen.

Doch wie so oft ist er zuversichtlich, dass sich diese Situation bald ändert – zugunsten Chinas. Das enorme Wachstum des Landes wird es schon richten. “Eines Tages wird unsere Wirtschaft doppelt so stark sein wie die der USA.” Er rechnet dann mit den Vereinigten Staaten im Fahrwasser Chinas. “Nur im Handel mit China können die USA profitieren”, sagte er im Mai auf einem Wirtschaftsforum in Peking. Andreas Schulte

Prof. Justin Yifu Lin spricht am Donnerstag (16. Juni) zum Thema “Kann China sein BIP-Wachstumsziel von 5,5 % für 2022 erreichen?” auf einer Veranstaltung des IfW Kiel im Rahmen der Reihe Global China Conversations. Das Gespräch findet auf Englisch statt. China.Table ist Medienpartner der Veranstaltungsreihe.

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Personalien

Lennard Schlüter ist im Mai von der Bertrandt Group zum Schweizer Engineering-Dienstleister Edag gewechselt, der sich auf Produktlösungen für die Automobilindustrie spezialisiert hat. Der Entwicklungsingenieur wird bei Edag das Projektmanagement im Bereich China Infotainment übernehmen.

China.Table Redaktion

CHINA.TABLE REDAKTION

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    • VW-Problemkind Cariad
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    das Geschäft in der Volksrepublik hat Volkswagen in den vergangenen Jahren zu immer neuen Rekorden getragen. Aber der Markt steht vor einem großen Umbruch. In Sachen Elektromobilität und Digitalisierung ist die Software-Strategie ganz maßgeblich, ob VW und andere deutsche Autobauer auch künftig in China die Nase vorn haben werden. Mehr als bitter wird Wolfsburg deshalb eine Studie schmecken, die zeigt: Volkswagen drohen Milliardenverluste aufgrund der Verzögerungen bei der Softwaretochter Cariad. Der China-Ableger soll helfen, das Problem des sinkenden Absatzes in der Volksrepublik zu lösen, schreibt Christian Domke-Seidel. Entscheidend soll dabei auch die kundenorientierte Entwicklung werden – denn die fehlte VW bislang.

    Unter Lieferengpässen wegen der Hafenstaus nicht zuletzt im Zuge des Shanghai-Lockdowns leiden derzeit viele Branchen. In unserem zweiten Stück widmen wir uns exemplarisch dem Zustand der Solar-Industrie. Es war Finanzminister Christian Lindner, der nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine die erneuerbaren Energien medienwirksam als “Freiheitsenergien”bezeichnete. Doch zumindest für die Solar-Industrie ist das schlichtweg ein Etikettenschwindel: Zu groß ist in diesem Bereich die Abhängigkeit von China, das die komplette Solar-Lieferkette dominiert. Und Peking hat für die kommenden Jahre massive Ausbauziele vorgegeben. Manuel Berkel geht der Frage nach, ob die aktuellen Lieferschwierigkeiten auf den chinesischen Eigenbedarf zurückzuführen sind.

    Viele neue Erkenntnisse bei der Lektüre!

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    Felix Lee
    Bild von Felix  Lee

    Analyse

    Cariad: VWs Software-Projekt hinkt Jahre hinterher

    Unausgereift und zu spät: Mit der eigenen Software Cariad wollte der Volkswagen-Konzern punkten. Nun ist die Sparte das Problemkind.
    Unausgereift und zu spät: Mit der eigenen Software Cariad wollte der Volkswagen-Konzern punkten. Nun ist die Sparte das Problemkind.

    Es ist nicht eine einzelne Zahl, die diese Analyse von McKinsey für Volkswagen so vernichtend macht. Es ist die Summe der Teile. Bis zum Jahr 2026 werde die Einführung der neuen Software-Architektur durch VWs Tochter Cariad rund 3,5 Milliarden Euro mehr kosten als ursprünglich veranschlagt. Über den gesamten Produktlebenszyklus (also bis 2039) werden es 9,2 Milliarden Euro mehr sein. Dazu kommen Verluste bei einzelnen Marken und Modelle. Etwa 2,5 bis 3 Milliarden Euro fallen alleine durch die Verzögerungen bei Porsches neuer Software-Architektur an. Imageprobleme und mögliche Rückgänge bei den Marktanteilen sind da noch gar nicht einkalkuliert.

    Eigentlich war die McKinsey-Analyse nur für den internen Gebrauch gedacht. Doch sie fand ihren Weg zum Manager Magazin. Pikantes Detail: Nicht etwa Herbert Diess, Volkswagen-Chef und verantwortlich für Cariad, hatte die Analyse beauftragt, sondern Audi-Chef Markus Duesmann. Er und seine Ingenieure wollten eine Erklärung für die ständigen Verspätungen. Und bekam sie. Die Organisation von Cariad funktioniere nicht, die Entscheidungsstruktur sei nicht zielführend, heißt es in der McKinsey-Analyse. Die Elektronikteile, die es für die neue Plattform brauche, werden pro Auto 750 Euro mehr kosten, als ursprünglich geplant.

    Die Software-Sparte Cariad ist der Hoffnungsträger des Konzerns (China.Table berichtete). Zugleich entscheidet sich an ihrem Erfolg das Schicksal eines Unternehmens, das die Digitalisierung des Fahrens zwar hat kommen sehen, in seiner Reaktion auf die Trends aber viel langsamer war als die chinesische Konkurrenz. VW dachte bis vor Kurzem noch, im Autogeschäft gehe es vor allem um Motoren, Fahrgestelle, Karosserie und einen schönen Innenraum mit einem schwerfälligen “Bordcomputer” als netter Dreingabe.

    Machtkämpfe und Milliardenverluste

    Nur langsam hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich die Zukunft des Konzerns nicht in Wolfsburg entscheidet, sondern zu großen Teilen in China. Gerade in Sachen Elektromobilität und Digitalisierung. Das Geschäft in der Volksrepublik hat Volkswagen in den vergangenen Jahren zu immer neuen Rekorden getragen. Von den 15,4 Milliarden Euro, die Volkswagen 2021 als Gewinn auswies, kamen trotz diverser Krisen vor Ort drei Milliarden aus China.

    Doch der Boom scheint vorbei. Im ersten Quartal 2022 kommen Volkswagen und Audi auf einen Marktanteil von gerade einmal 13 Prozent, rechnet das Marktforschungsunternehmen LMC Automotive vor. In den vergangenen Jahren waren es stets rund 20 Prozent. Hintergrund ist, dass die Verkaufszahlen von Audi um rund 28 Prozent eingebrochen sind, während die VW-Zahlen stagnieren und der Gesamtmarkt wächst.

    Der China-Ableger von Cariad soll helfen, das Problem des sinkenden Absatzes in der Volksrepublik zu lösen. Mit chinesischer Arbeitsweise. So finden viermal im Jahr sogenannte “Innovation-Sprints” statt. Dabei treffen sich Vertreter des Konzerns mit Kunden und diskutieren darüber, was in der Praxis gebraucht wird. Im Zentrum stehen Fahrassistenzsysteme, intelligente Cockpits und Remote Services – also beispielsweise die Überwachung des Ladevorgangs per Handy. Anschließend gehen die Ideen in die Forschungs- und Entwicklungsabteilung. Zwischen drei bis maximal sechs Monate darf es dann dauern, bis konkrete Ergebnisse geliefert werden müssen. Beim ersten Innovation-Sprint bekam Cariad 80 Ideen. Sechs davon befinden sich derzeit in der Umsetzung. 

    Chinesische Arbeitsweise für deutschen Konzern

    Das ist die kundenorientierte Entwicklung, die VW bislang fehlt. Dazu kommen chinaspezifische Lösungen, wie beispielsweise die “C-V2X-Funktionen”. Dabei handelt es sich um ein Konnektivitätspaket. Die Fahrzeuge erhalten im Rahmen von Smart-City-Lösungen Ampelinformationen. So sollen grüne Wellen entstehen. Auch Verkehrsstörungen werden so kommuniziert. Unterhaltungssoftware und KI sind mittlerweile obligat. So innovativ diese Entwicklungen sind, Cariad und VW hinken den eigenen Zeitplänen massiv hinterher. Die Modelle, die all das können sollen, verzögern sich immer weiter. 

    Volkswagen will künftig ein Viertel seines gigantischen Umsatzes von 250 Milliarden Euro mit dem automatisierten Fahren und Entertainmentlösungen einnehmen. Das ist mehr als nur eine Nische. Geschwindigkeit zählt, denn die Konkurrenz schläft nicht. Mercedes kooperiert deswegen mit dem US-Chipkonzern Nvidia. BMW arbeitet mit Qualcomm an Lösungen. Zwar hat auch VW diverse Kooperationen – aktuell wird mit Huawei verhandelt – doch die wichtigste Software soll im VW-Konzern selbst entwickelt werden. Bei Cariad.

    Währenddessen schwingt sich auch Apple auf, um in den Automarkt einzusteigen. Ein eigenes Auto scheint schon in Reichweite zu sein. Und das neue “CarPlay” des Handykonzerns oszilliert zwischen Fluch und Segen für die traditionellen Autohersteller. Segen, weil der Inhalt von Apple-Smartphones auf den Fahrzeugbildschirmen übernommen wird. Per Handy kann so das ganze Auto gesteuert werden. Klassische Informationen wie Geschwindigkeit und Navigation erscheinen dann im Apple-Design. Fluch, weil der Techkonzern so Zugriff auf alle Daten aus dem Fahrzeug bekommt.

    • Autoindustrie

    Solar: Ende der Lieferengpässe in Sicht

    Noch immer zeigen die Lieferverzögerungen im weltweiten Warenverkehr ihre Wirkung. Auch bei der Solar-Energie machen sie sich bemerkbar. Wie andere Güter sind Solarmodule von den coronabedingten Schließungen chinesischer Häfen betroffen, bestätigt eine Sprecherin des Bundesverbands Solarwirtschaft. Das schmerzt die Industrie enorm. Die gesamte europäische Branche ist stark auf Lieferungen aus Drittstaaten angewiesen – besonders aus China.

    Die Importabhängigkeit der EU beträgt bei Solarmodulen 65 bis 80 Prozent. Fast zwei Drittel dieser Importe stammten zuletzt aus der Volksrepublik, wie ein Bericht der Kommission zu strategischen Abhängigkeiten im Februar bemerkte. Und auch knapp zweieinhalb Jahre nach Beginn der Pandemie hakt es noch immer. In Shanghai und der angrenzenden Provinz Zhejiang stieg der Anteil der wartenden Schiffe an der globalen Kapazität im Mai abermals, wie der Kiel Trade Indicator des IfW vom 7. Juni zeigt.

    Anteil chinesischer Unternehmen an weltweiter Produktion von Solaranlagen - droht der EU die Abhängigkeit?

    Die Verzögerungen in China ziehen inzwischen auch verlängerte Wartezeiten in europäischen Häfen nach sich. “Erstmals seit Ausbruch der Pandemie stauen sich Containerschiffe auch in der Nordsee vor den Häfen Deutschlands, der Niederlande und Belgiens. Hier stecken gegenwärtig knapp zwei Prozent der globalen Frachtkapazität fest und können weder be- noch entladen werden”, schreibt das IfW.

    Hohe Ziele für Solar in EU und China

    Aber gefährden die Lieferverzögerungen auch das Erreichen der hohen Ziele der europäischen Solarstrategie? Bis 2025 will die Kommission die installierte PV-Kapazität im Vergleich zu 2020 auf über 320 Gigawatt (GW) mehr als verdoppeln, bis 2030 sollen es schon 600 GW sein.

    Auch China hat sich ehrgeizige Ziele gesetzt. Im Jahr 2021 hat das Land fast 55 GW Leistung installiert. Die Behörden gehen davon aus, dass sich die Zahl dieses Jahr fast verdoppelt und 108 GW zugebaut werden. Bis zum Jahr 2025 sollen über 550 Gigawatt an Wind- und Solarkraftwerken entstehen – viele davon als gigantische Kraftwerke in den Wüsten (China.Table berichtete).

    Bleiben da überhaupt genug Solarmodule für den Export in die EU und nach Deutschland übrig? Eine Weile dürften die hohen Preise für Module noch anhalten, erwartet der Dachverband SolarPower Europe. “Lieferverzögerungen sind in der hohen Nachfrage und hohen Frachtkosten begründet”, sagt Analyst Christophe Lits von SolarPower Europe, einer Lobbygruppe mit Sitz in Brüssel, die als Bindeglied zur Politik die Interessen der Industrie vertritt. Der Bundesverband Solarwirtschaft rechnet nach den Worten einer Sprecherin aber damit, dass der Containerstau bis Ende des Jahres abgebaut sein wird.

    Investoren warten auf sinkende Preise

    Der Großhandelspreis für monokristalline Module ist in Europa innerhalb eines Jahres von 240 auf 280 US-Dollar pro Kilowatt gestiegen, wie Daten des Beratungsunternehmens InfoLink zeigen. Laut SolarPower Europe stellen einige gewerbliche Solar-Investoren ihre Projekte zurück, um auf sinkende Preise zu warten.

    Im vergangenen Jahr seien 20 bis 25 Prozent aller PV-Projekte in der EU verschoben oder ganz abgesagt worden, heißt es in dem Bericht der Kommission. Neben den hohen Frachtkosten spielten auch gestiegene Rohstoffkosten und Schließungen chinesischer Fabriken eine Rolle. Ein bedeutender Faktor sei außerdem der Mangel an Installateuren, sagt Branchenvertreter Lits.

    Zumindest bei den Produktionskapazitäten glauben Experten aber noch nicht an Engpässe. “Die weltweiten – und von China dominiertenProduktionskapazitäten für Wafer, Solarzellen und Module übersteigen selbst die hohe Nachfrage deutlich“, sagt Johannes Bernreuter, Lieferketten-Experte von Bernreuter Research, zu Table.Media (China.Table berichtete).

    Polysilizium als Engpass

    Derzeit bestehe allerdings ein Flaschenhals bei der Produktion von Polysilizium. “Der Ausbau der Kapazitäten kommt der rasch wachsenden Nachfrage nicht schnell genug hinterher”, sagt Bernreuter. Doch China verfolge “gigantische Expansionspläne”. Innerhalb der nächsten zwei Jahre werde sich die Situation entspannen, prognostiziert der Experte. Analyst Lits rechnet sogar schon bis Anfang 2023 mit neuen Produktionskapazitäten.

    Langfristig streben allerdings auch die Kommission und die europäische Solar-Industrie den Aufbau neuer Kapazitäten in der EU an. Für Polysilizium will die Branche die heimische Produktion auf genug Material für Module mit 54 GW nahezu verdoppeln. Die Modulfertigung selbst soll von neun auf 35,6 GW vervierfacht werden.

    Derzeit herrscht innerhalb des Kontinents allerdings noch ein harter Wettbewerb um Solarkomponenten. In der Slowakei zum Beispiel gebe es einen Mangel an Modulen, weil die Käufer in anderen EU-Staaten höhere Preise zahlen könnten, berichten europäische Verbraucherschutzorganisationen. Mit Nico Beckert

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    News

    BASF will mehr Batterie-Materialien produzieren

    BASF baut angesichts der hohen Nachfrage aus der Elektroautoindustrie seine Produktionskapazitäten für Batterie-Materialien in China aus. Das BASF-Gemeinschaftsunternehmen mit dem chinesischen Anbieter Shanshan wird seine Kapazitäten in Changsha in der Provinz Hunan sowie in Shuizuishan in der Provinz Ningxia erweitern, wie der Chemiekonzern am Mittwoch mitteilte.

    Das Joint Venture werde damit eine jährliche Kapazität von 100 Kilotonnen für Kathodenmaterialien erreichen. Den bisherigen Wert wollte BASF nicht nennen. Im vergangenen Jahr betrug die Produktionskapazität für Kathodenmaterialien, einschließlich deren Vorprodukte, 90 Kilotonnen.

    Die Inbetriebnahme der neuen Anlagen ist für das vierte Quartal geplant. An dem Gemeinschaftsunternehmen, das in China Kathodenmaterialien und deren Vorprodukte produziert, hält BASF die Mehrheit von 51 Prozent. 49 Prozent der Anteile liegen bei Shanshan. rtr

    • Autoindustrie

    E-Auto-Absatz schießt in die Höhe

    Im Mai hat sich der Verkauf von Autos mit neuen Antriebsformen erholt. Im Vergleich zum Jahresmonat stieg er um 91 Prozent auf 360.000 Stück. Das teilte die China Passenger Car Association mit. Auch im Vergleich zum Vormonat, dem April, ging der Absatz um ein gutes Viertel hoch. In den ersten fünf Monaten des Jahres hat sich die verkaufte Stückzahl mehr als verdoppelt. Zu den New Energy Vehicles (NEV) gehören Batterieautos, aber auch Steckdosenhybride.

    Auch insgesamt verzeichnet der Automarkt eine Erholung. Die Steigerung der Verkäufe erreichte über alle Antriebsformen 30 Prozent. Als Grund nennt der Verband den Rückgang der Covid-Infektionszahlen und die Aufhebung der Lockdowns. fin

    • Autoindustrie

    Trucker-Streik in Südkorea stört Chip-Produktion

    Bei der Halbleiterproduktion in China kommt es infolge des Trucker-Streiks in Südkorea zu Störungen. Laut Reuters könne ein südkoreanisches Unternehmen, das im großen Stil Isopropylalkohol (IPA) für die Reinigung von Halbleiterchips herstelle, sein Produkt wegen der Blockade nicht nach China verschiffen. Nach Angaben des Handelsverbandes Korea International Trade Association (Kita) habe sich die Ausfuhr von 90 Tonnen IPA verzögert, was etwa einer Wochenlieferung entsprechen soll.

    “Angesichts der Engpässe bei Autochips und den weltweiten Versorgungsproblemen durch den Russland-Ukraine-Krieg, sind die Rohstoffpreise bereits auf ein Höchstmaß gestiegen”, sagte Yoon Kyung-sun von der Korea Automobile Manufacturers Association auf einer gemeinsam mit der Kita abgehaltenen Pressekonferenz am Dienstag.

    Südkorea ist ein wichtiger Lieferant für Halbleiter, Smartphones, Autos, Batterien und Elektronikartikeln. Seit dem 7. Juni protestieren in Südkorea 22.000 Lkw-Fahrer aufgrund stark gestiegener Kraftstoffpreise. Sie fordern höhere Löhne und eine Mindestlohngarantie. Die weltweit durch die Lockdowns und Lieferengpässe fragil gewordenen Lieferketten geraten so abermals unter Druck. niw/ rtr

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    • Technologie

    IAO will Xinjiang inspizieren

    Die Internationale Arbeitsorganisation IAO will eine Mission in die Autonome Region Xinjiang entsenden. Das berichtet der Spiegel. Eine Vollversammlung der ILO-Mitgliedsstaaten nahm mit Mehrheit einen entsprechenden Antrag an. Als Begründung nennt er ausdrücklich “die Anwendung repressiver Maßnahmen gegen die Uiguren“. Vom 27. Mai bis Ende vergangener Woche tagte der Internationale Arbeitskongress mit 4.000 Delegierten.

    Die IAO gilt gemeinhin als “zahnlose Tigerin“, die ihre Prinzipien nicht durchsetzen kann (China.Table berichtete). Am Freitag hat die IAO auch beschlossen, dass alle ihre 187 Mitgliedstaaten “das Grundrecht auf ein sicheres und gesundes Arbeitsumfeld” gewährleisten. Doch auch darunter versteht jedes Land etwas anderes. So hat auch China ein IAO-Abkommen gegen Zwangsarbeit unterzeichnet (China.Table berichtete) – sieht darin aber keine Widersprüche zur eigenen Praxis, weil es Zwangsarbeit auch in Xinjiang offiziell nicht gibt. fin

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    • Zivilgesellschaft

    Standpunkt

    Klimaziele im Nebel des Krieges

    Von Ding Yuan
    Ding Yuan ist Vizepräsident der China Europe International Business School (CEIBS) in Shanghai
    Ding Yuan ist Vizepräsident der China Europe International Business School (CEIBS) in Shanghai

    Zwar war ein Drittel der Podiumsdiskussionen auf der großen Bühne des Weltwirtschaftsforums in Davos dem Klimawandel gewidmet. Doch der Aspekt der Energiesicherheit hat neue Prioritäten geschaffen. Der Einsatz fossiler Brennstoffe müsse zwar beendet werden, die Verringerung der Abhängigkeit von Russland bei der Energieversorgung sei aber noch dringender.

    Es besteht die Gefahr, dass die internationale Zusammenarbeit in Sachen Klimawandel auf der Strecke bleibt. Ein übereiltes Streben nach Energiesicherheit kann internationale Standards, Vereinbarungen und Institutionen in einer Weise untergraben, wie es bei einem geordneten Wandel nicht der Fall wäre. Zwangsläufig fällt der Blick auch auf China, wo der Kampf gegen den Klimawandel in den vergangenen Jahren zunehmend zu einer zentralen Komponente der eigenen Politik geworden ist.

    Das Land ist aufgrund seiner strengen Null-Covid-Politik wirtschaftlich unter Druck geraten. Lockdowns in vielen Teilen des Landes haben die reguläre Wirtschaftsaktivität ins Stottern gebracht. Langfristiger Wohlstand und die Energiewende waren in den vergangenen Monaten plötzlich nur noch zweitrangig. Bedeutet dies, dass China seine Bemühungen aufgegeben hat oder die internationale Zusammenarbeit beim Klimawandel einstellen wird? Die Antwort lautet: Nein.

    China: Energiekrise war Weckruf

    Die Energiekrise, die im September letzten Jahres in vielen Teilen Chinas herrschte und zu Rationierungen führte, war jedoch ein Weckruf. Es stellt sich hierbei nicht die Frage, ob Peking den Klimawandel ernst nimmt, sondern eher, ob es vielleicht zu ehrgeizig war und der Staat seine Maßnahmen überdenken muss, um weitere Stromengpässe zu vermeiden. Chinas größte Herausforderung besteht nun darin, eine Balance zwischen seinen Klima-Zielen, der Beibehaltung eines wissenschaftlichen Ansatzes und der Aufrechterhaltung der Wirtschaft zu finden.

    Davos ist seit Jahrzehnten dafür bekannt, Visionen Wirklichkeit werden zu lassen, indem es zahlreiche Interessengruppen zum Dialog zusammenbringt und eine Kommunikationsplattform bietet, die neue Ideen und Innovationen hervorbringt. In den vergangenen Jahren wurden viele Ideen, die auf dem Forum entstanden sind, in Bereichen wie digitale Technologie, Industrie 4.0, ESG und Stakeholder-Kapitalismus in die Praxis umgesetzt. Dadurch wurden Lösungsansätze entwickelt, um gerechtere Wirtschaftssysteme und gleichberechtigtere Gesellschaften zu schaffen.

    China hat von diesen Diskussionen stark profitiert. So ist das “Environment, Social, Governance” (ESG) mittlerweile ein wichtiger Bestandteil der Unternehmensführung von immer mehr chinesischen Unternehmen geworden. Und an den meisten Wirtschaftshochschulen ist ESG inzwischen ein fester Bestandteil des Lehrplans geworden.

    Davos: Energiesicherheit statt Klimawandel im Fokus

    Nach zwei Jahren pandemiebedingter Einschränkungen bot sich in Davos nun die Chance, die Welt aus den Umwälzungen herauszuführen. Ich hatte erwartet, dass Staats- und Regierungschefs die Basis schaffen, um den Kampf gegen den Klimawandel mit Nachdruck und auf neue und innovative Weise führen zu können. Ich musste jedoch feststellen, dass die Welt im Wettlauf um die Einhaltung der Klimaziele 2030 zurückfällt, weil sich der Wunsch nach höherer Energiesicherheit in den Vordergrund gedrängt hat. Und dies ist mit Sicherheit nicht im Sinne Chinas, weil die Volksrepublik selbst zu den großen Verlierern zählen würde.

    Doch ohne ein eindeutiges Mandat für die Umsetzung von Klimaprogrammen, ohne eine signifikante Beteiligung des Privatsektors und ohne eine angemessene strukturelle Finanzierung könnte die Energiewende mehrere langwierige Umwege nehmen – und auf dem Weg zur Klimaneutralität sogar in die falsche Richtung führen.

    Wenn wir den Kampf gegen den Klimawandel als einen Marathon betrachten, wirken Pandemie und der russische Angriffskrieg wie Muskelkrämpfe auf halber Strecke. Aber wir müssen weiterlaufen. Deshalb geht es jetzt darum, die Schmerzen zu lindern und zu verhindern, dass gesundheits- oder sicherheitspolitische Herausforderungen in Zukunft neue Krämpfe verursachen. China hat großes Interesse daran, Symptome und Ursachen gleichzeitig zu bekämpfen und sieht globale Lösungen in einem wissenschaftlichen, kooperativen, und schrittweisen Vorgehen.

    Kooperation trotz angespannter internationaler Beziehungen?

    Klaus Schwab, Gründer und Vorsitzender des Weltwirtschaftsforums, wies auf zwei Bedingungen hin, um den Zustand der Welt zu verbessern. Erstens: Staaten müssen sich als Stakeholder einer größeren Gemeinschaft verstehen und Eigeninteressen hintanstellen. Zweitens: Kooperation. Doch das wird angesichts der angespannten internationalen Beziehungen nicht leicht. Russland war nicht einmal mehr Teil der Stakeholder-Gemeinschaft. Und das Verhältnis Chinas zu den USA verschlechtert sich zunehmend. Doch solange die US-Regierung unter Joe Biden dem Beispiel der Trump-Administration folgt und China als Bedrohung ansieht, was soll dieser “Feind” dann tun, um nicht besiegt zu werden, aber gleichzeitig kooperativ zu sein?

    Beispiel Elektromobilität: China hat die Integration der gesamten Wertschöpfung zwischen Automobilherstellern, Batterieherstellern, Gebrauchtwagenhändlern und Entsorgungsunternehmen für Batterierecycling-Systeme gefordert, um einen größeren Beitrag zum internationalen Markt zu leisten. Die Reaktion des Westens war jedoch bestenfalls verhalten. Weil es sich bei einigen Technologien im Zusammenhang mit Elektroautos um strategische Güter handele, wolle man seine Lieferketten bei solchen Vorhaben nicht auf China stützen.

    Sollte Davos 2023 an seinem üblichen Termin im Januar stattfinden, werden sich die Teilnehmer in nur acht Monaten wieder im gewohnten Schneegestöber zusammenfinden. Damit dort neue Lösungen im Kampf gegen den Klimawandel gefunden werden können, muss das Weltwirtschaftsforum wieder ein offenes Konzept für vielfältige und unterschiedliche Meinungen verfolgen. Das ist in diesem Jahr nicht gelungen. Auch, weil wegen der geopolitischen Lage die Stimmen der Staaten und Regierungen lauter waren als je zuvor.

    Dr. Yuan Ding ist Vizepräsident und Dekan, Cathay Capital Chair Professor für Rechnungswesen an der China Europe International Business School (CEIBS) in Shanghai. Zuvor war er Fakultätsmitglied der HEC School of Management, Paris, Frankreich. Er ist Mitglied der European Accounting Association, der French Accounting Association und der American Accounting Association. Ding war als Herausgeber und Mitglied des Redaktionsausschusses für internationale wissenschaftliche Fachpublikationen der Bereiche Rechnungslegung und Wirtschaftsprüfung tätig.

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    Portrait

    Justin Yifu Lin – China-optimistischer Ökonom

    Justin Yifu Lin - Ökonom, Universitätsprofessor, Regierungsberater und Autor von über 20 Büchern
    Justin Yifu Lin – Ökonom, Universitätsprofessor, Regierungsberater und Autor von über 20 Büchern

    Justin Yifu Lin gibt sich zuversichtlicher als die chinesische Regierung selbst. Sechs Prozent Wachstum traute der Ökonom der Wirtschaft des Landes Anfang des Jahres für 2022 zu. Die Regierung plante mit nur 5,5 Prozent. Ohne Corona sei bis 2035 sogar ein jährliches Wachstum von acht Prozent möglich, schätzt der 69 Jahre alte Ehrendekan der Universität Peking. Analystinnen und Analysten europäischer Ratingagenturen reiben sich verwundert die Augen angesichts von so viel Optimismus. Sie sehen China in diesem Jahr bei gerade einmal gut vier Prozent Wachstum.

    Doch Zuversicht ist ein wesentlicher Baustein für die Karriere von Justin Yifu Lin. So war es auch 1979, als der gebürtige Taiwaner und studierte Ökonom vom Ufer der Insel Kinmen Richtung Volksrepublik blickt und mutig in Wasser steigt. Der Legende nach dienen dem desertierenden Soldaten zwei Basketbälle als Schwimmhilfe für die Flucht auf die zwei Kilometer entfernte Insel Xiamen. Lin flüchtet also quasi umgekehrt vom demokratischen Taiwan in die autoritär regierte Volksrepublik.

    Seine Motivation? Innere Überzeugung: Er sei aufgrund seines kulturellen, historischen, politischen und ökonomischen Verständnisses zu der Ansicht gelangt, dass die Rückkehr zum Mutterland historisch zwangsläufig ist, schreibt er kurz nach seiner Flucht. Seine Familie lässt er dabei zurück.

    In Peking studiert er anschließend marxistische Wirtschaftslehre. Dort lernt er Theodore Schultz kennen. Der amerikanische Nobelpreisträger verschafft ihm ein Stipendium für eine Promotion in Chicago, wo er unter anderem Chinas Öffnung zur Marktwirtschaft erforscht.

    Einen wesentlichen Grund für den Aufstieg des Landes erkennt Justin Yifu Lin in der Nutzung der komparativen Vorteile des Faktors Arbeit im Land. Arbeit ist in China günstig, das wurde lange verkannt. Denn die Schwerindustrie aus der Zeit vor den Reformen durch Deng Xiaoping im Jahr 1979 war vor allem kapitalintensiv. Fortan aber setzt China auf die Massenfertigung, auf flinke Hände, die wenig kosten.

    Schneller Aufstieg zu Regierungsberater

    Ein Angebot, nach seiner Promotion in den USA zu lehren, lehnt Justin Yifu Lin ab. Stattdessen zieht es ihn wieder nach China. “Das Land wandelte sich von der Plan- zur Marktwirtschaft. Das war faszinierend”, sagte er rückblickend dem Magazin Brand eins. Im Jahr 1986 kehrt er nach Peking zurück und gründet dort 1993 an der Universität Peking einen wirtschaftspolitischen Thinktank, das “China Centre for Economic Research” (CCER). Schnell steigt er zu einem der wichtigsten Regierungsberater auf.

    Im Jahr 2008 wird er zum Chefökonom der Weltbank ernannt. In seiner vierjährigen Amtszeit wirbt er für seine New Structural Economics. Diese Theorie soll Schwellen- und Entwicklungsländern zu mehr Wohlstand verhelfen. Nach Justin Yifu Lin verlangt eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung immer das Zusammenspiel von Staat und Markt.

    In Branchen, wo günstigere Arbeitsbedingungen als im Ausland herrschen, müsse der Staat intelligente Strategien und Investitionen einsetzen, um Innovationen im Land zu fördern. So hat es China gemacht – aus seiner Sicht erfolgreich: “Die Welt”, sagte Lin einmal in seiner Zeit bei der Weltbank, “kann viel von China lernen. Und ich möchte dabei helfen.”

    Einfluss auf die Regierung wohl gesunken

    Heute ist der Universitätsprofessor und Autor von mehr als 20 Büchern auch ein Berater der chinesischen Regierung. Doch zuletzt dürfte sein Einfluss auf die Politik gesunken sein. Das vermutet zumindest die China-Beobachterin Angela Stanzel. An ihm selbst liegt das nicht: “Der Xi-Jinping-Führung geht es offensichtlich immer weniger um wirtschaftliche Entwicklung, sondern immer mehr um parteipolitische Kontrolle”, sagt die China-Expertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. 

    Außenwirtschaftlich geht Justin Yifu Lin mit der Haltung der Regierung konform. Peking wirft den USA vor, seinen Aufstieg zu behindern. Auch Lin klagt, die US-Amerikaner würden die chinesische Wirtschaft durch Sanktionen wie etwa gegen den IT-Konzern Huawei abwürgen.

    Doch wie so oft ist er zuversichtlich, dass sich diese Situation bald ändert – zugunsten Chinas. Das enorme Wachstum des Landes wird es schon richten. “Eines Tages wird unsere Wirtschaft doppelt so stark sein wie die der USA.” Er rechnet dann mit den Vereinigten Staaten im Fahrwasser Chinas. “Nur im Handel mit China können die USA profitieren”, sagte er im Mai auf einem Wirtschaftsforum in Peking. Andreas Schulte

    Prof. Justin Yifu Lin spricht am Donnerstag (16. Juni) zum Thema “Kann China sein BIP-Wachstumsziel von 5,5 % für 2022 erreichen?” auf einer Veranstaltung des IfW Kiel im Rahmen der Reihe Global China Conversations. Das Gespräch findet auf Englisch statt. China.Table ist Medienpartner der Veranstaltungsreihe.

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    Personalien

    Lennard Schlüter ist im Mai von der Bertrandt Group zum Schweizer Engineering-Dienstleister Edag gewechselt, der sich auf Produktlösungen für die Automobilindustrie spezialisiert hat. Der Entwicklungsingenieur wird bei Edag das Projektmanagement im Bereich China Infotainment übernehmen.

    China.Table Redaktion

    CHINA.TABLE REDAKTION

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