Table.Briefing: China

UN-Bericht zu Xinjiang + Scharfe Reaktionen

  • Bachelet verlässt Amt als Hochkommissarin mit einem Knall
  • FDP-Politiker will über VW-Engagement in Xinjiang sprechen
  • Gewalttat in Tangshan zieht juristische und politische Kreise
  • Millionen in Chengdu im Lockdwon wegen 157 Covid-Fällen
  • Disziplinarische Maßnahmen gegen Immobilienunternehmer
  • Schuldenschnitt für afrikanische Staaten
  • Johnny Erling über das Doppelleben in Diktaturen
Liebe Leserin, lieber Leser,

der UN-Bericht von Michelle Bachelet hat die chinesische Regierung auf dem falschen Fuß erwischt. Die Kader waren nach dem Besuch der UN-Hochkommissarin in Xinjiang im Mai ganz sicher, dass von dieser Frau keine Gefahr für ihre Version der Realität ausgeht. Weit gefehlt. Bachelet holte zum Rundumschlag aus und kramte alles an Anschuldigungen gegen die Volksrepublik hervor, was die kontroverse Xinjiang-Debatte seit Jahren hergibt.

Alles gut, also? Nein, beleibe nicht. Eine Million Uiguren werden vermutlich auch in den nächsten Jahren noch in Haft sitzen, einige von ihnen gefoltert werden, andere zur Zwangsarbeit gezwungen und etliche Frauen zwangssterilisiert. Und dennoch hat dieser Bericht eine unschätzbar wertvolle Komponente: Er stellt sich auf die Seite der Opfer der Menschenrechtsverbechen.

Er schenkt den Aussagen von Gefolterten Glauben und bewahrt damit deren Würde. Und er zwingt Politik und Wirtschaft, nicht nur in Deutschland dazu, sich intensiv mit der Frage auseinanderzusetzen, wie sehr sich demokatische Gesellschaften aus ökonomischem Interesse an Diktaturen anschmiegen sollten.

Ihr
Marcel Grzanna
Bild von Marcel  Grzanna

Analyse

Xinjiang: Bachelet feuert volle Breitseite gegen Peking

Michelle Bachelet hat ihre Amtszeit beendet - und in letzter Minute den lange erwarteten UN-Bericht zu Xinjiang veröffentlicht.
Michelle Bachelet hat ihre Amtszeit beendet – und in letzter Minute den lange erwarteten Report veröffentlicht.

In den finalen Minuten ihrer Amtszeit hat Michelle Bachelet doch noch geliefert. An ihrem letzten Arbeitstag veröffentlichte sie kurz vor Mitternacht am Mittwoch als erste Hochkommissarin für Menschenrechte in der Geschichte der Vereinten Nationen einen Bericht zur Menschenrechtslage in Xinjiang. Bachelet hatte bis zuletzt offengelassen, ob das Papier tatsächlich noch unter ihrer Verantwortung und gegen den Willen der chinesischen Regierung herauskommen würde.

Darin heißt es, dass Handlungen der chinesischen Regierung in Xinjiang “internationale Verbrechen darstellen können, insbesondere Verbrechen gegen die Menschlichkeit”. Die Formulierung lässt zwar offen, ob es tatsächlich zu solchen Verbrechen kommt. Doch allein der Hinweis darauf ist ein starkes Signal der Hochkommissarin, zumal sie darin von “glaubhaften” Foltervorwürfen spricht.

Bislang war Bachelet ihrem diplomatischen Stil treu geblieben, der ihr im Umgang mit der Führung in Peking immer wieder als zu weich vorgeworfen wurde. Der Report vermeidet zwar den Ausdruck “Genozid”, der unter anderem von der US-Regierung und mehreren Parlamenten demokratischer Staaten verwendet wird. Doch er thematisiert sehr konkret die Vorwürfe der Zwangsarbeit, Zwangssterilisationen und Folter.

Die UN zweifelt an, dass die sogenannten Absolventen der als Ausbildungsprogramms deklarierten Umerziehung freiwillig in den Lagern sind. Wie viele Menschen betroffen sind, sei aus Mangel an konkreten Daten jedoch schwer zu ermitteln. Schätzungen von Xinjiang-Forschern belaufen sich auf rund eine Million Menschen, die in den Lagern unterkommen können. Auch das Wort “Zwangsarbeit” wird verwendet.

Grund für einen signifikanten Rückgang der Geburtenrate

Zudem gebe es glaubwürdige Hinweise “auf Verletzungen reproduktiver Rechte durch die Zwangsdurchsetzung der Familienplanungspolitik seit 2017”, heißt es in dem Bericht. Frauen uigurischer, aber auch kasachischer Herkunft seien gegen deren Willen Verhütungs-Spiralen eingesetzt oder zwangssterilisiert worden. Die Maßnahmen seien ein Grund für einen signifikanten Rückgang der Geburtenrate in Xinjiang.

An anderer Stelle wird geschildert, wie das Regime die Menschen gefügig macht. Zu den Taktiken gehören Hunger und Injektionen von Drogen, stellt das Hochkommissariat fest. “Fast alle Befragten beschrieben entweder Injektionen, Tabletten oder beides” und “regelmäßige Blutabnahmen”. Und weiter: “Die Befragten waren in ihren Beschreibungen konsistent, wie die verabreichten Medikamente sie schläfrig machten.”

Der Report knüpft in seiner Schärfe an den Bericht des Sonderberichterstatters Tomoya Obokata an, der vor wenigen Wochen “Formen der Sklaverei” in Xinjiang monierte (China.Table berichtete). Er bringt auch die fortschreitende Zerstörung religiöser Stätten zu Sprache. Satellitenbilder würden die Zerstörung von Moscheen oder deren markante äußere Veränderungen belegen.

“Ich hatte gehofft, aber nicht erwartet, dass dieser Bericht Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder gar den Tatbestand eines Genozids formuliert. Es ist es ein wichtiges Papier, mit dem die Vereinten Nationen erstmals offiziell die Existenz von Beweisen für die Menschenrechtsverbrechen in Xinjiang anerkennen“, sagt Zumretay Erkin, die für den Weltkongress der Uiguren (WUC) die Anwaltschaft bei den Vereinten Nationen verantwortet.

Peking konnte in einem Annex auf den Bericht antworten. Auf 131 Seiten – fast dreimal so lang wie der UN-Bericht selbst – erklärt die chinesische Regierung, dass “die sogenannte Bewertung China in den Schmutz ziehe” und es verleumde. Der Bericht stelle eine “Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas dar”. “Dies verletzt internationale Prinzipien von Dialog und Kooperation”, betont Peking in seiner Antwort.

Über ein Jahr wurde die Veröffentlichung verschoben

Über ein Jahr lang war die Veröffentlichung des Berichts immer wieder verschoben worden. Bachelet hatte die letzte Verzögerung damit begründet, dass sie die Eindrücke ihres Xinjiang-Besuchs Ende Mai in das Dokument integrieren wollte. Allerdings war die Reise nach Xinjiang keine offizielle Untersuchung und in ihrem Umfang stark eingeschränkt. Peking hatte das mit strengen Covid-Auflagen begründet. China bekam zudem das Recht eingeräumt, den Bericht vorab einzusehen und zu kommentieren, eine Praxis, die laut Bachelet allen Mitgliedsstaaten zusteht, wenn sie Gegenstand eines Berichts der Hochkommissarin für Menschenrechte sind.

An dem Bericht und Bachelets Rolle scheiden sich die Geister: Zahlreiche demokratische Staaten und Nichtregierungsorganisationen forderten seine Veröffentlichung. Dem gegenüber hatten sich Dutzende Länder im Schlepptau der chinesischen Regierung formiert, die Folter, willkürliche Verhaftungen und Vergewaltigungen als innere Angelegenheit Chinas behandeln wollen.

Bachelet selbst verteidigt sich gegen Vorwürfe, sie habe sich von der chinesischen Regierung vereinnahmen lassen. Im Mai hatte sie den Sprachgebrauch der chinesischen Propaganda übernommen und in den Augen der Kritiker damit die Lage in Xinjiang verharmlost. Sie sprach von Trainingszentren und von Maßnahmen gegen Terrorismus. Sie habe China nicht lautstark konfrontieren, sondern einen Weg finden wollen, um Peking zur Mitarbeit zu bewegen. Es liege immer noch an den Mitgliedsstaaten, Menschenrechte im eigenen Land zu respektieren und zu fördern, sagte sie kürzlich der Deutschen Welle.

“Dass diese Ausdrucksweise die Realität und die furchtbaren Menschenrechtsverletzungen in Internierungslagern nicht widerspiegelt, muss Frau Bachelet bewusst gewesen sein. Die klare Benennung und Verurteilung von begangenen Menschenrechtsverletzungen dürfen dem nicht zum Opfer fallen”, forderte Renata Alt, Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im Deutschen Bundestag.

Hochkommissarin als letzte Instanz für Betroffene

Dass China vor der Veröffentlichung großen Druck ausgeübt habe, wie Bachelet in der Vorwoche sagte, verurteilt Alt “aufs Schärfste”. Überrascht sei sie davon aber kaum. Deshalb hält die FDP-Politikerin die Veröffentlichung des Berichts für essenziell wichtig, “auch für die Glaubwürdigkeit der UN”.

Das sieht auch Michael Polak so. Er ist britisch-australischer Anwalt, der im Namen uigurischer Lobbygruppen vor wenigen Tagen gegen verantwortliche Funktionäre aus Xinjiang wegen Völkermordes Klage vor einem argentinischen Gericht eingereicht hat (China.Table berichtete). “In China gibt es kein Rechtssystem, in dem die Opfer nach Gerechtigkeit suchen können. Deswegen ist Frau Bachelets Positionierung so wichtig. Sie ist die letzte Instanz, an die sich die Betroffenen wenden können”, sagt Polak.

Bachelets Bericht symbolisiert, wie in der knapp 30-jährigen Geschichte des Amtes inzwischen an der Rolle der UN-Wächterin über die Menschenrechte gezerrt wird. Der systemische Wettbewerb zwischen demokratischen und autokratischen Staaten hat längst die menschenrechtliche Arena erreicht. Die Volksrepublik will der Welt ihre eigene Definition des Begriffs Menschenrechte auferlegen. Eine Definition, bei der bürgerliche Freiheiten im Kuhhandel durch ein Recht auf wirtschaftliche Entwicklung ersetzt werden sollen.

“Dies ist kein Job für einen netten, stillen Diplomaten”

Mit entsprechender Aufmerksamkeit dürfte Bachelets Nachfolge international beobachtet werden. Nachdem die Chilenin zwei Wochen nach ihrer China-Reise überraschend ihren Verzicht auf eine weitere Amtszeit erklärt hatte, blieb den UN wenig Zeit, die Nachfolge zu organisieren. Es kursieren mehrere Namen, unter anderem der des Österreichers Volker Türk.

Erst im Januar war Türk von UN-Generalsekretär Antonio Guterres als Untersekretär in dessen Beraterstab berufen worden. Türk war zuvor 30 Jahre lang beim UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR tätig. Für die frühere UN-Mitarbeiterin und Whistleblowerin Emma Reilly wäre Türk keine gute Wahl. “Ähnlich wie Bachelet würde er nicht sonderlich offensiv für die Menschenrechte eintreten”, glaubt Reilly. Die Juristin wirft Bachelet und Generalsekretär Guterres die Weitergabe von Namen uigurischer Dissidenten an die chinesische Regierung vor.

Im Rennen um die Nachfolge sollen zudem die Lettin Ilze Brands Kehris und der Kroate Ivan Šimonović sein. Brands Kehris ist seit 2020 Assistant Secretary-General for Human Rights in New York. Zwischen 2017 und 2019 war sie als unabhängige Expertin Mitglied des UN-Menschenrechtsrates. Šimonović dagegen ist amtierender Vertreter Kroatiens bei den Vereinten Nationen. Es kursieren jedoch Gerüchte, dass Russland gegen einen Menschenrechts-Hochkommissar aus einem osteuropäischen Staat sein Veto einlegen und deshalb ein Kandidat aus Afrika oder Asien nominiert werden könnte.

Die Jobbeschreibung lieferte kürzlich Kenneth Roth in einem Interview mit der AFP. Roth war seit 1993 Direktor von Human Rights Watch und hatte wie Bachelet am Mittwoch sein Amt niedergelegt. “Dies ist kein Job für einen netten, stillen Diplomaten, denn ein stiller Diplomat hat kein Druckmittel. Niemand hört einem stillen Diplomaten zu. Niemand ändert sein Verhalten wegen eines stillen Diplomaten”, sagte Roth.

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Xinjiang-Bericht löst scharfe Reaktionen aus

Der Bericht des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte zur Situation in der autonomen chinesischen Region Xinjiang schlägt in Deutschland hohe Wellen. Das Auswärtige Amt forderte die chinesische Regierung auf, die inhaftierten Uiguren und Mitglieder anderer ethnischer Minderheiten sofort freizulassen und “allen Menschen in Xinjiang umgehend in vollem Umfang ihre Menschenrechte zu gewähren.” Das AA kündigte an, sowohl mit den USA als auch mit seinen europäischen Partnern über mögliche Konsequenzen des “sorgfältig recherchierten” Berichts sprechen zu wollen.

Derweil forderte der menschenrechtspolitische Sprecher der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag, Peter Heidt, das Engagement deutscher Firmen in Xinjiang genau unter die Lupe zu nehmen. Besondere Verantwortung sieht Heidt beim Wolfsburger Autobauer Volkswagen, der zusammen mit dem chinesischen Staatskonzern SAIC seit knapp zehn Jahren eine Fabrik in der Regionalhauptstadt Urumqi betreibt. “Wir müssen über das VW-Engagement in Xinjiang diskutieren”, sagte Heidt zu China.Table.

Menschenrechtsrat könnte Untersuchung einleiten

Er selber habe festgestellt, dass sich in jüngster Zeit im Mittelstand bereits eine deutlich kritischere Haltung gegenüber dem Standort China entwickelt habe. Er kenne viele mittelständische Unternehmen, die mit ihrer Produktion bereits in die Europäische Union zurückgekehrt seien. “Wir befinden uns in einem Systemwettbewerb mit China und müssen daher auch den wirtschaftlichen Einfluss auf unsere Demokratie sehr genau im Auge behalten”, so Heidt.

Der Bericht der ausgeschiedenen Hochkommissarin Michelle Bachelet bringt klar zum Ausdruck, dass die UN den Opfern chinesischer Menschenrechtsverbrechen in Xinjiang Glauben schenkt und nicht der Darstellung der chinesischen Regierung. “Das wird die Gräben innerhalb der UN-Institutionen in den kommenden Jahren weiter vertiefen”, prophezeit ein Mitarbeiter einer UN-Organisation in Genf im Gespräch mit China.Table. Da er nicht befugt ist, öffentlich für die Organisation zu sprechen, erbittet er sich Anonymität.

Erstmals spürbar dürfte das Mitte September bei der 51. Sitzung des Menschenrechtsrats in Genf werden, wo der Xinjiang-Bericht für intensive Diskussionen sorgen dürfte. Der Rat, der sich aus Vertretern aus 47 Staaten zusammensetzt, könnte eine formelle Untersuchung durch eine Kommission einleiten. China ist ebenfalls Mitglied des Rates, genießt aber im Gegensatz zum Weltsicherheitsrat kein Vetorecht.

Chinas Antwort dreimal so lang wie der Bericht selbst

Die Volksrepublik hatte ihrerseits den Xinjiang-Bericht bereits als Farce und Verschwörung sogenannter anti-chinesischer Kräfte abgetan. Auf 131 Seiten war Chinas Antwort im Anhang des UN-Berichts zu lesen. Die Antwort war damit dreimal so lang wie die Darstellung des Hochkommissariats (China.Table berichtete).

Zweifellos war Peking von der Deutlichkeit der Vorwürfe in dem Dokument überrascht. Bachelet habe nach ihrer Reise in die Region Ende Mai aus erster Hand volles Verständnis für die Situation in Xinjiang erhalten und im Anschluss gegenüber Journalisten eine formelle Stellungnahme abgegeben, argumentiert die chinesische Vertretung in Genf. “Bedauerlicherweise sind der Inhalt und die Schlussfolgerungen der sogenannten Beurteilung durch Madame Hochkommissarin völlig widersprüchlich zu ihrer formellen Stellungnahme.”

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News

Anklage nach Gewalttat gegen Frauen

Der brutale Angriff auf eine Gruppe junger Frauen im nordchinesischen Tangshan im Juni zieht politisch und juristisch große Kreise. Die Staatsanwaltschaft der Provinz Hebei hat gegen 28 Personen Strafverfahren eingeleitet. Darunter befinden sich sieben Männer, die direkt an der Tat beteiligt waren. Gegen 15 Funktionäre der örtlichen Sicherheitsbehörden wird zudem wegen des Verdachts der Korruption ermittelt. Acht von ihnen sitzen in Untersuchungshaft, darunter auch der Direktor des örtlichen Amts für Staatssicherheit.

Die Festnahme des Hauptverdächtigen löste eine Lawine an Ermittlungen aus. Der Mann stand wegen zahlreicher Verbrechen seit 2012 offiziell auf der Fahndungsliste, wurde jedoch nie von den Polizeikräften in Tangshan verhaftet. Ihm werden unter anderem bandenmäßige Kriminalität, illegales Glücksspiel und weitere Gewalttaten vorgeworfen. Weil er sich offenbar frei in der Stadt bewegen konnte, interessiert sich die Disziplinarkommission der Kommunistischen Partei für mögliche Verstrickungen von Sicherheitsbeamten in die Verbrechen des Mannes.

Auslöser war die Veröffentlichung der Bilder von Überwachungskameras eines Restaurants in Tangshan Mitte Juni dieses Jahres. Auf den Bilden ist zu sehen, wie eine Gruppe von Männern vier Frauen zusammenschlägt und an den Haaren über den Bordstein zerren. Nach offiziellen Angaben hätten nur zwei der Frauen ins Krankenhaus gemusst und seien mit leichten Verletzungen davon gekommen. Der Angriff provozierte eine Welle der Empörung in China und löste eine kurzzeitige Debatte über Gewalt gegen Frauen aus, ehe die Zensur einschritt (China.Table berichtete). grz

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Megacity Chengdu im Lockdown

Nachdem 157 der 21 Millionen Bewohner Chengdus positiv auf Corona getestet wurden, müssen die Einwohner von Sichuans Hauptstadt seit Donnerstagabend in ihren Wohnungen bleiben. Nur eine Person je Haushalt dürfe zum Einkaufen geschickt werden, so die Behörden. Aktuell ist noch unklar, ob die Beschränkungen nach geplanten Coronavirus-Massentests am Wochenende aufgehoben werden.

Mit Chengdu trifft es die größte Stadt seit den zweimonatigen Beschränkungen in Shanghai in der ersten Jahreshälfte. Und zudem eine sehr wirtschaftsstarke: Dort werden 1,6 Prozent des chinesischen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet. Aktuell sind noch weitere Städte von Lockdowns betroffen – das Technologiezentrum Shenzhen, die Wirtschaftsmetropole Guangzhou und die Hafenstadt Dalian.

In Chengdu wurden Angestellte nicht lebensnotwendiger Branchen aufgefordert, von zu Hause aus zu arbeiten. Industriebetriebe, die in wichtigen Produktionsbereichen tätig und in der Lage sind, auf einem geschlossenen Gelände zu arbeiten, wurden davon ausgenommen. rtr/jul

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Peking knüpft sich Immobilienbosse vor

Chinas Immobiliensektor steckt seit Monaten in großen Schwierigkeiten. Nun gehen die Behörden auch juristisch und parteidisziplinarisch vor. Gleich mehrere lokale Behörden sowie die Disziplinarkommission der Kommunistischen Partei teilten am Mittwoch mit, dass sie gegen vier ranghohe Manager in staatlichen Immobilienunternehmen Ermittlungen aufgenommen haben. Sie stünden wegen “schwerer Verletzungen der Disziplin und des Gesetzes” unter Verdacht, teilten die Behörden mit. In China ist dieses Vergehen eine Umschreibung für Korruption oder Unterschlagung.

Ermittelt wird staatlichen Medien zufolge gegen den Verwaltungsratsvorsitzenden von C&D Real Estate, Zhuang Yuekai, den Verwaltungsratschef von C&D Urban Services, Shi Zhen, den Vize-Geschäftsführer von Shenzhen Talents Housing Group, Liu Hui, sowie den Ex-Verwaltungsratsvorsitzenden von China Resources Land, Tang Yong. Geben Behörden solche Ermittlungen öffentlich bekannt, ist eine Verurteilung so gut wie sicher.

Der Immobiliensektor in der Volksrepublik steckt seit Monaten in einer tiefen Krise. Zahlreiche Immobilienkonzerne – sowohl staatliche als auch private – haben überinvestiert und können ihre angehäuften Schulden kaum zurückzahlen. Im Juni kam es in mehreren Städten zu Protesten, weil Wohnungskäufern ihre bereits bezahlten Wohnungen nicht übergeben wurden.

In immer mehr Regionen purzeln derzeit die Preise. Ganze Wohnblöcke, in denen nie jemand gewohnt hat, müssen wegen des hohen Leerstands abgerissen werden. Allein der Immobilienkonzern Evergrande, lange die Nummer eins der Branche, türmte im vergangenen Jahr Schulden in Höhe von 300 Milliarden Dollar auf. Die Immobilien-Branche steht für mehr als ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts der Volksrepublik. flee

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China plant Schuldenerlass in Afrika

China plant einen Schuldenerlass an afrikanische Staaten. Laut einem Bericht von Bloomberg möchte die Volksrepublik 23 zinslose Darlehen an 17 afrikanische Länder erlassen und zehn Milliarden Dollar an Reserven aus dem Internationalen Währungsfonds an Nationen auf dem Kontinent umleiten.

Außenminister Wang Yi kündigte die Schuldenschnitte bei einem Treffen des Forums für chinesisch-afrikanische Zusammenarbeit (FOCAC) in der vergangenen Woche an. Zur Höhe der Darlehen, die Ende 2021 fällig wurden, machte das Ministerium keine Angaben. Ebenso wurde nicht mitgeteilt, welche Länder von dem Erlass profitieren. Der überwiegende Teil der chinesischen Finanzierungen in Afrika sind laut Bloomberg konzessionäre und kommerzielle Darlehen. Sie wurden bislang nicht zur Streichung in Betracht gezogen. Einige davon wurden jedoch umstrukturiert.

Seit dem Jahr 2000 hat Peking mehrere Schuldenerlasse für zinslose Darlehen an afrikanische Länder umgesetzt und dabei bis 2019 mindestens 3,4 Milliarden Dollar Schulden gestrichen, wie eine Studie der Johns Hopkins University School of Advanced International Studies zeigt. Der Schuldenerlass beschränkte sich dabei auf fällig gewordene, zinslose Auslandshilfedarlehen, wobei Sambia in diesem Zeitraum am meisten Schulden erlassen bekam.

Nach Angaben der Weltbank entfallen fast 40 Prozent der bilateralen und privaten Gläubigerschulden, die die ärmsten Länder dieser Welt in diesem Jahr bedienen müssen, auf China. Die Volksrepublik habe in diesem Jahr bereits 98 Prozent der Exporte aus zwölf afrikanischen Ländern zollfreien Zugang gewährt und Dschibuti, Äthiopien, Somalia und Eritrea Nahrungsmittelsoforthilfe geleistet, erklärte Wang bei seiner Rede. Afrika wünsche sich “ein günstiges und freundschaftliches Umfeld für die Zusammenarbeit und nicht die Nullsummen-Mentalität des Kalten Krieges”. fpe

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Standpunkt

Chinas Gefühlsstau

Von Johnny Erling
Johnny Erling schreibt die Kolumne für die China.Table Professional Briefings

Für Chinesen ist es ein Unglück, “das Gesicht zu verlieren”. Warum? Ein deutscher Psychotherapeut weiß die Antwort: Jeder besitze ein “wahres Gesicht”. Es sei aber in einer Diktatur viel “zu gefährlich”, dieses zu zeigen. Unter “der zur Schau getragenen Maske schmort ein gestautes Gefühlspotenzial von existenziellen Ängsten, mörderischer Wut, Hass, tiefem Schmerz und oft bitterer Traurigkeit”.

Das Zitat stammt von Hans-Joachim Maaz, der viele Jahre Chefarzt an der psychotherapeutischen Klinik in Halle war. Er bezieht sich aber nicht auf China. Nach dem Fall der Mauer schrieb er ein “Psychogramm der DDR”, das 1990 unter dem Titel “Gefühlsstau” (Argon-Verlag) erschien. Der innerdeutsche Bestseller wurde 2013 auch unter dem Titel “Gefühlsstau” (情感堵塞) ins Chinesische übersetzt und erregte Aufsehen unter Psychologen, Sozial- und Erziehungswissenschaftlern. Seit sich Parteichef Xi Jinping in absoluter Macht eingerichtet hat und die Re-Ideologisierung seines Landes betreibt, passen solche kritischen Reflexionen über das Verhalten von Menschen und ihre gespaltene Persönlichkeit in autoritären Staaten nicht zu der von Xi propagierten neuen Ära des sozialistischen China und zur Verwirklichung seines Traums von der Erneuerung der Nation.

Umschlag des 2013 erschienenen "Gefühlsstau" (情感堵塞) von Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz. Obwohl es ein "Psychogramm der DDR" ist, können Chinesen ihren autoritären Charakter dank eigener Diktatur wiedererkennen. Das Buch passt nicht mehr in die neue Xi-Jinping-Landschaft, ist heute in China nur noch antiquarisch und zum Fünffachen des einstigen Preises zu finden. Auch in China führen viele ein Doppelleben.
Umschlag des 2013 erschienenen “Gefühlsstau” (情感堵塞) von Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz. Obwohl es ein “Psychogramm der DDR” ist, können Chinesen ihren autoritären Charakter dank eigener Diktatur wiedererkennen. Das Buch passt nicht mehr in die neue Xi Jinping-Landschaft, ist heute in China nur noch antiquarisch und zum Fünffachen des einstigen Preises zu finden.

Das Leben der Menschen in der DDR, so Maaz, sei “im Wesentlichen durch soziale Fassaden gekennzeichnet gewesen, das zwangsläufige Ergebnis repressiver Erziehung.” Psychotherapeuten durchschauten die Mechanismen, “mit deren Hilfe es Menschen möglich wird, die neue ‘Identität’ als ihre ‘wahre’ Natur zu empfinden – die Abspaltung von den Gefühlen macht dies möglich.” So wurde “das aufgenötigte zweite Gesicht allmählich zur Gewohnheit und schließlich zur selbstverständlichen Normalität. Doch kein Mensch kann auf Dauer mit Verstellung gut leben”.

Politik-fluchende Taxifahrer sind auch mal KP-Mitglied

Treffen solche Diagnosen auch auf das Verhalten der heutigen Chinesen zu, die in einer globalisierten und freizügigen Konsumgesellschaft aufwachsen? Im Reformchina nach Mao Zedongs Tod wirkt alles in grotesker Weise zweigeteilt und hat auch eigene Begriffe dafür, vom Mischmasch aus Plan-, Staats- und Marktwirtschaft bis hinein in die Familie, wo der eine Ehepartner für eine Staatsbehörde oder ein Staatsunternehmen arbeitet und der andere für ein Privatunternehmen (体制内体制外); für die Bauern, die in den Städten ohne Hukou-Bürgerstatus nur Zugewanderte zweiter Klasse sind, bis hin zu “ein Land zwei Systeme” (一国两制), das Peking gerade für Hongkong beendete.

Scheinbar andere Erfahrungen, wonach sich Chinesen pragmatisch und flexibel der jeweiligen Lage anpassten, erlebten (noch bis kurz vor dem Lockdown) ausländische Reisende schon nach ihrer Ankunft im Land. Auf dem Weg in die Stadt konnten sie (sofern sie die Sprache verstanden) hören, wie unbekümmert ihr Taxifahrer lauthals über Chinas Führung schimpfte. Als ich einen über seine Regierung oft fluchenden Fahrer näher kennenlernte, erwies er sich als Parteimitglied. Er stünde morgens extra früh auf, um freiwillig vor Arbeitsbeginn Quizfragen in einer Schulungs-App der KP China (学习强国) zu lösen. Das Lob für seine perfekt linientreuen Antworten ging in seinen Beurteilungsbogen ein. Er verstand nicht, was an seinem Verhalten widersprüchlich sein sollte: “Das machen doch alle so.”

Auch das Ehepaar, das am Wochenende ihrer Tochter zu Hause erlaubte, aufreizende südkoreanische und japanische Musikvideos auf raubkopierten DVDs zu gucken, fand nichts Verlogenes daran. Sie belohnten doch nur ihre Tochter, die in der Schule nicht nur gute Noten erhielt, sondern wegen vorbildlicher sozialistischer Moral das rote Halstuch für Jungpioniere tragen durfte. Auch die Eltern schauten sich zu Hause illegale Kopien ausländischer TV-Serien an. Am nächsten Morgen sangen sie in der organisierten Betriebspause im Kollegenchor kraftvoll mit: “Ohne kommunistische Partei gibt es kein neues China.”

Neusprech und Doppeldenk weit verbreitet

“China ist zum Land mit den schwerwiegendsten Fällen geteilter Persönlichkeiten geworden” (中国是双重人格最严重的国家), warnt der Essayist Wang Xiao (王霄). Die in der Reformzeit übersetzten Bücher und Schriften von Hannah Arendt zum autoritären Charakter und über die “Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft” haben ihn in seinem Urteil stark beeinflusst.

Die Folgen finden unter Chinesen auch deshalb besonders fruchtbaren Boden, weil sie durch den Einfluss tradierter konfuzianischer Erziehung verstärkt werden, die das Individuum von klein auf zur Ein- und Unterordnung vorbereiteten. In Schulen, wo heute in den Fächern Chinesisch, Geschichts- oder Gesellschaftskunde “hanebüchener Unsinn” eingepaukt werden muss, sei das von George Orwell in 1984 beschrieben “Neusprech” und “Doppeldenk” verbreitet, schreibt der bekannte Kulturkritiker und Hochschullehrer Xu Ben (徐贲). 

China: Karrikatur über Doppelleben in China
“Sich von Herzen Aussprechen” nannte der Pekinger Altmeister chinesischer Satire, Feng Cheng, seine Erinnerung an die Zeit der Kulturrevolution und deformierte Persönlichkeiten, als sich auch beste Freunde anschwiegen. Nur der Dunst über den Tee formiert sich zu Fragezeichen. Die staatliche Propaganda (links) verkündet auf dem Maulkorb. “Allseitige Diktatur- die Lage ist ausgezeichnet”. Auch heute schweigen Intellektuelle wieder.

Er lebt heute in den USA. China sieht er in eine “neue Form des Totalitarismus” abdriften. Es habe sich vom ursprünglichen Totalitarismus (unter Stalin und Hitler) über den Post-Totalitarismus (einst etwa in Osteuropa) in diese dritte Form entwickelt (从极权主义、后极权主义到”新极权主义). Sie sei eine Variante des Post-Totalitarismus und verurteile dessen liberale Züge als politische “Schwäche”. Doch der neue Totalitarismus produziere nur “Flickwerk”, keine Terror verbreitende, systematische Repression, sondern partielle, wenn auch massive Formen der Unterdrückung. Etwa, um Medien und das Internet zum Schweigen zu bringen oder Massenproteste gewaltsam zu beenden. Aber er besitze nicht mehr die Überzeugungskraft und “Fähigkeit zur ideologischen Mobilisierung“.

Rituale als eine Form der Politik

Chinaexperte Minxin Pei, Professor für Regierungsmanagement am Claremont McKenna College in den USA, sieht die Volksrepublik in eine zweigeteilte Welt abdriften (bifurcated world). Im Podcast mit der Financial Times sagt er: “Die Menschen wissen, dass das Ritual zu einer Seite der Politik geworden ist und müssen folgen. Dabei ist es gleich, ob sie daran glauben oder nicht.” Es funktioniere, solange auf der anderen Seite der Politik noch “Substanz, Realität und Pragmatismus” vorhanden seien. Derselbe Beamte, der “stolz sein Smartphone vorzeigt, auf dem er allmorgendlich seine Lernpensum zum Denken Xi Jinpings absolviert hat, dreht sich danach um und spricht in sehr pragmatischer Weise über die aktuellen Herausforderungen in seiner Arbeit.” Minxin Pei ist “unter Maos Herrschaft aufgewachsen. Damals glaubten alle an das politische Ritual. Heute müssen wir einen großen Teil Abstriche machen, ob das Xi Jinping-Denken von Parteimitgliedern, Beamten und normalem Volk wirklich angenommen wird.”

Pei beklagt, dass der Freiraum für kritisch liberale Vorstellungen in den Universitäten “vollständig geschlossen” wurde. Seine Akademikerfreunde meldeten sich nicht mehr öffentlich zu Wort. “Alle, die smart sind, halten ganz einfach ihren Mund”.

Am Ende müsse als Kitt der Patriotismus die innerliche Kluft überbrücken, über die sich viele gar nicht bewusst sind. Der oppositionelle Autor Huang Yukai, Mitglied des unabhängigen chinesischen Pen, bezeichnet die Zweiteilung der Persönlichkeit als “Schizophrenie”, aber nicht im medizinischen Sinne, sondern als Diagnose einer vom System induzierten Persönlichkeitsstörung.

In den Reform-Jahrzehnten nach Maos Tod wurden Chinas Erfahrungen mit der Diktatur ausgearbeitet, wurden Bücher von Hannah Arendt bis George Orwell übersetzt. 2011 erschien noch ein großes Magazin als Themen-Sonderheft unter dem Titel: Warum lügen Chinesen gerne? Heute dürfte es nicht mehr erscheinen. Unter Diktaturen führen Menschen häufig Doppelleben - so auch in China.
In den Reform-Jahrzehnten nach Maos Tod wurden Chinas Erfahrungen mi der Diktatur ausgearbeitet, wurden Bücher von Hanna Ahrendt bis George Orwell übersetzt. 2011 erschien noch ein großes Magazin als Themen-Sonderheft unter dem Titel: Warum lügen Chinesen gerne?. ´Heute dürfte es nicht mehr erscheinen.

Dabei gab es auch in China nach dem Tod Maos öffentliche Debatten darüber, wie sich unterscheiden lässt, was wahr und echt, falsch und verlogen ist. Übersetzungen, etwa von mehr als zwei Dutzend Schriften und Büchern von Hannah Arendt trugen ebenso dazu bei, wie der Roman “1984” von George Orwell, oder “Farm der Tiere”.

2009 wurde etwa eine Debatte initiiert, ob und ab wann sich Chinesen daran erinnern könnten, Lügen erlernt zu haben. Viele antworteten, das sei in der Grundschule gewesen, als das System mit seiner politischen Indoktrination begann. 2011 erschien das Magazin “Die Neue Woche” (新周刊) mit einer Sonderausgabe: “Warum lieben es die Chinesen, Lügen zu erzählen?” Der kritische Autor Wu Si (吴思) überschrieb damals seinen Beitrag: “Wenn die Herrschenden Lügen verbreiten, geben wir vor, sie zu glauben.”

Heute wirkt sich der Gefühlsstau aus. Viele glauben die Lügen.

  • KP Chinas
  • Mao Zedong
  • Xi Jinping

China.Table Redaktion

CHINA.TABLE REDAKTION

Licenses:
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    • Gewalttat in Tangshan zieht juristische und politische Kreise
    • Millionen in Chengdu im Lockdwon wegen 157 Covid-Fällen
    • Disziplinarische Maßnahmen gegen Immobilienunternehmer
    • Schuldenschnitt für afrikanische Staaten
    • Johnny Erling über das Doppelleben in Diktaturen
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    der UN-Bericht von Michelle Bachelet hat die chinesische Regierung auf dem falschen Fuß erwischt. Die Kader waren nach dem Besuch der UN-Hochkommissarin in Xinjiang im Mai ganz sicher, dass von dieser Frau keine Gefahr für ihre Version der Realität ausgeht. Weit gefehlt. Bachelet holte zum Rundumschlag aus und kramte alles an Anschuldigungen gegen die Volksrepublik hervor, was die kontroverse Xinjiang-Debatte seit Jahren hergibt.

    Alles gut, also? Nein, beleibe nicht. Eine Million Uiguren werden vermutlich auch in den nächsten Jahren noch in Haft sitzen, einige von ihnen gefoltert werden, andere zur Zwangsarbeit gezwungen und etliche Frauen zwangssterilisiert. Und dennoch hat dieser Bericht eine unschätzbar wertvolle Komponente: Er stellt sich auf die Seite der Opfer der Menschenrechtsverbechen.

    Er schenkt den Aussagen von Gefolterten Glauben und bewahrt damit deren Würde. Und er zwingt Politik und Wirtschaft, nicht nur in Deutschland dazu, sich intensiv mit der Frage auseinanderzusetzen, wie sehr sich demokatische Gesellschaften aus ökonomischem Interesse an Diktaturen anschmiegen sollten.

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    Marcel Grzanna
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    Analyse

    Xinjiang: Bachelet feuert volle Breitseite gegen Peking

    Michelle Bachelet hat ihre Amtszeit beendet - und in letzter Minute den lange erwarteten UN-Bericht zu Xinjiang veröffentlicht.
    Michelle Bachelet hat ihre Amtszeit beendet – und in letzter Minute den lange erwarteten Report veröffentlicht.

    In den finalen Minuten ihrer Amtszeit hat Michelle Bachelet doch noch geliefert. An ihrem letzten Arbeitstag veröffentlichte sie kurz vor Mitternacht am Mittwoch als erste Hochkommissarin für Menschenrechte in der Geschichte der Vereinten Nationen einen Bericht zur Menschenrechtslage in Xinjiang. Bachelet hatte bis zuletzt offengelassen, ob das Papier tatsächlich noch unter ihrer Verantwortung und gegen den Willen der chinesischen Regierung herauskommen würde.

    Darin heißt es, dass Handlungen der chinesischen Regierung in Xinjiang “internationale Verbrechen darstellen können, insbesondere Verbrechen gegen die Menschlichkeit”. Die Formulierung lässt zwar offen, ob es tatsächlich zu solchen Verbrechen kommt. Doch allein der Hinweis darauf ist ein starkes Signal der Hochkommissarin, zumal sie darin von “glaubhaften” Foltervorwürfen spricht.

    Bislang war Bachelet ihrem diplomatischen Stil treu geblieben, der ihr im Umgang mit der Führung in Peking immer wieder als zu weich vorgeworfen wurde. Der Report vermeidet zwar den Ausdruck “Genozid”, der unter anderem von der US-Regierung und mehreren Parlamenten demokratischer Staaten verwendet wird. Doch er thematisiert sehr konkret die Vorwürfe der Zwangsarbeit, Zwangssterilisationen und Folter.

    Die UN zweifelt an, dass die sogenannten Absolventen der als Ausbildungsprogramms deklarierten Umerziehung freiwillig in den Lagern sind. Wie viele Menschen betroffen sind, sei aus Mangel an konkreten Daten jedoch schwer zu ermitteln. Schätzungen von Xinjiang-Forschern belaufen sich auf rund eine Million Menschen, die in den Lagern unterkommen können. Auch das Wort “Zwangsarbeit” wird verwendet.

    Grund für einen signifikanten Rückgang der Geburtenrate

    Zudem gebe es glaubwürdige Hinweise “auf Verletzungen reproduktiver Rechte durch die Zwangsdurchsetzung der Familienplanungspolitik seit 2017”, heißt es in dem Bericht. Frauen uigurischer, aber auch kasachischer Herkunft seien gegen deren Willen Verhütungs-Spiralen eingesetzt oder zwangssterilisiert worden. Die Maßnahmen seien ein Grund für einen signifikanten Rückgang der Geburtenrate in Xinjiang.

    An anderer Stelle wird geschildert, wie das Regime die Menschen gefügig macht. Zu den Taktiken gehören Hunger und Injektionen von Drogen, stellt das Hochkommissariat fest. “Fast alle Befragten beschrieben entweder Injektionen, Tabletten oder beides” und “regelmäßige Blutabnahmen”. Und weiter: “Die Befragten waren in ihren Beschreibungen konsistent, wie die verabreichten Medikamente sie schläfrig machten.”

    Der Report knüpft in seiner Schärfe an den Bericht des Sonderberichterstatters Tomoya Obokata an, der vor wenigen Wochen “Formen der Sklaverei” in Xinjiang monierte (China.Table berichtete). Er bringt auch die fortschreitende Zerstörung religiöser Stätten zu Sprache. Satellitenbilder würden die Zerstörung von Moscheen oder deren markante äußere Veränderungen belegen.

    “Ich hatte gehofft, aber nicht erwartet, dass dieser Bericht Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder gar den Tatbestand eines Genozids formuliert. Es ist es ein wichtiges Papier, mit dem die Vereinten Nationen erstmals offiziell die Existenz von Beweisen für die Menschenrechtsverbrechen in Xinjiang anerkennen“, sagt Zumretay Erkin, die für den Weltkongress der Uiguren (WUC) die Anwaltschaft bei den Vereinten Nationen verantwortet.

    Peking konnte in einem Annex auf den Bericht antworten. Auf 131 Seiten – fast dreimal so lang wie der UN-Bericht selbst – erklärt die chinesische Regierung, dass “die sogenannte Bewertung China in den Schmutz ziehe” und es verleumde. Der Bericht stelle eine “Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas dar”. “Dies verletzt internationale Prinzipien von Dialog und Kooperation”, betont Peking in seiner Antwort.

    Über ein Jahr wurde die Veröffentlichung verschoben

    Über ein Jahr lang war die Veröffentlichung des Berichts immer wieder verschoben worden. Bachelet hatte die letzte Verzögerung damit begründet, dass sie die Eindrücke ihres Xinjiang-Besuchs Ende Mai in das Dokument integrieren wollte. Allerdings war die Reise nach Xinjiang keine offizielle Untersuchung und in ihrem Umfang stark eingeschränkt. Peking hatte das mit strengen Covid-Auflagen begründet. China bekam zudem das Recht eingeräumt, den Bericht vorab einzusehen und zu kommentieren, eine Praxis, die laut Bachelet allen Mitgliedsstaaten zusteht, wenn sie Gegenstand eines Berichts der Hochkommissarin für Menschenrechte sind.

    An dem Bericht und Bachelets Rolle scheiden sich die Geister: Zahlreiche demokratische Staaten und Nichtregierungsorganisationen forderten seine Veröffentlichung. Dem gegenüber hatten sich Dutzende Länder im Schlepptau der chinesischen Regierung formiert, die Folter, willkürliche Verhaftungen und Vergewaltigungen als innere Angelegenheit Chinas behandeln wollen.

    Bachelet selbst verteidigt sich gegen Vorwürfe, sie habe sich von der chinesischen Regierung vereinnahmen lassen. Im Mai hatte sie den Sprachgebrauch der chinesischen Propaganda übernommen und in den Augen der Kritiker damit die Lage in Xinjiang verharmlost. Sie sprach von Trainingszentren und von Maßnahmen gegen Terrorismus. Sie habe China nicht lautstark konfrontieren, sondern einen Weg finden wollen, um Peking zur Mitarbeit zu bewegen. Es liege immer noch an den Mitgliedsstaaten, Menschenrechte im eigenen Land zu respektieren und zu fördern, sagte sie kürzlich der Deutschen Welle.

    “Dass diese Ausdrucksweise die Realität und die furchtbaren Menschenrechtsverletzungen in Internierungslagern nicht widerspiegelt, muss Frau Bachelet bewusst gewesen sein. Die klare Benennung und Verurteilung von begangenen Menschenrechtsverletzungen dürfen dem nicht zum Opfer fallen”, forderte Renata Alt, Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im Deutschen Bundestag.

    Hochkommissarin als letzte Instanz für Betroffene

    Dass China vor der Veröffentlichung großen Druck ausgeübt habe, wie Bachelet in der Vorwoche sagte, verurteilt Alt “aufs Schärfste”. Überrascht sei sie davon aber kaum. Deshalb hält die FDP-Politikerin die Veröffentlichung des Berichts für essenziell wichtig, “auch für die Glaubwürdigkeit der UN”.

    Das sieht auch Michael Polak so. Er ist britisch-australischer Anwalt, der im Namen uigurischer Lobbygruppen vor wenigen Tagen gegen verantwortliche Funktionäre aus Xinjiang wegen Völkermordes Klage vor einem argentinischen Gericht eingereicht hat (China.Table berichtete). “In China gibt es kein Rechtssystem, in dem die Opfer nach Gerechtigkeit suchen können. Deswegen ist Frau Bachelets Positionierung so wichtig. Sie ist die letzte Instanz, an die sich die Betroffenen wenden können”, sagt Polak.

    Bachelets Bericht symbolisiert, wie in der knapp 30-jährigen Geschichte des Amtes inzwischen an der Rolle der UN-Wächterin über die Menschenrechte gezerrt wird. Der systemische Wettbewerb zwischen demokratischen und autokratischen Staaten hat längst die menschenrechtliche Arena erreicht. Die Volksrepublik will der Welt ihre eigene Definition des Begriffs Menschenrechte auferlegen. Eine Definition, bei der bürgerliche Freiheiten im Kuhhandel durch ein Recht auf wirtschaftliche Entwicklung ersetzt werden sollen.

    “Dies ist kein Job für einen netten, stillen Diplomaten”

    Mit entsprechender Aufmerksamkeit dürfte Bachelets Nachfolge international beobachtet werden. Nachdem die Chilenin zwei Wochen nach ihrer China-Reise überraschend ihren Verzicht auf eine weitere Amtszeit erklärt hatte, blieb den UN wenig Zeit, die Nachfolge zu organisieren. Es kursieren mehrere Namen, unter anderem der des Österreichers Volker Türk.

    Erst im Januar war Türk von UN-Generalsekretär Antonio Guterres als Untersekretär in dessen Beraterstab berufen worden. Türk war zuvor 30 Jahre lang beim UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR tätig. Für die frühere UN-Mitarbeiterin und Whistleblowerin Emma Reilly wäre Türk keine gute Wahl. “Ähnlich wie Bachelet würde er nicht sonderlich offensiv für die Menschenrechte eintreten”, glaubt Reilly. Die Juristin wirft Bachelet und Generalsekretär Guterres die Weitergabe von Namen uigurischer Dissidenten an die chinesische Regierung vor.

    Im Rennen um die Nachfolge sollen zudem die Lettin Ilze Brands Kehris und der Kroate Ivan Šimonović sein. Brands Kehris ist seit 2020 Assistant Secretary-General for Human Rights in New York. Zwischen 2017 und 2019 war sie als unabhängige Expertin Mitglied des UN-Menschenrechtsrates. Šimonović dagegen ist amtierender Vertreter Kroatiens bei den Vereinten Nationen. Es kursieren jedoch Gerüchte, dass Russland gegen einen Menschenrechts-Hochkommissar aus einem osteuropäischen Staat sein Veto einlegen und deshalb ein Kandidat aus Afrika oder Asien nominiert werden könnte.

    Die Jobbeschreibung lieferte kürzlich Kenneth Roth in einem Interview mit der AFP. Roth war seit 1993 Direktor von Human Rights Watch und hatte wie Bachelet am Mittwoch sein Amt niedergelegt. “Dies ist kein Job für einen netten, stillen Diplomaten, denn ein stiller Diplomat hat kein Druckmittel. Niemand hört einem stillen Diplomaten zu. Niemand ändert sein Verhalten wegen eines stillen Diplomaten”, sagte Roth.

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    Xinjiang-Bericht löst scharfe Reaktionen aus

    Der Bericht des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte zur Situation in der autonomen chinesischen Region Xinjiang schlägt in Deutschland hohe Wellen. Das Auswärtige Amt forderte die chinesische Regierung auf, die inhaftierten Uiguren und Mitglieder anderer ethnischer Minderheiten sofort freizulassen und “allen Menschen in Xinjiang umgehend in vollem Umfang ihre Menschenrechte zu gewähren.” Das AA kündigte an, sowohl mit den USA als auch mit seinen europäischen Partnern über mögliche Konsequenzen des “sorgfältig recherchierten” Berichts sprechen zu wollen.

    Derweil forderte der menschenrechtspolitische Sprecher der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag, Peter Heidt, das Engagement deutscher Firmen in Xinjiang genau unter die Lupe zu nehmen. Besondere Verantwortung sieht Heidt beim Wolfsburger Autobauer Volkswagen, der zusammen mit dem chinesischen Staatskonzern SAIC seit knapp zehn Jahren eine Fabrik in der Regionalhauptstadt Urumqi betreibt. “Wir müssen über das VW-Engagement in Xinjiang diskutieren”, sagte Heidt zu China.Table.

    Menschenrechtsrat könnte Untersuchung einleiten

    Er selber habe festgestellt, dass sich in jüngster Zeit im Mittelstand bereits eine deutlich kritischere Haltung gegenüber dem Standort China entwickelt habe. Er kenne viele mittelständische Unternehmen, die mit ihrer Produktion bereits in die Europäische Union zurückgekehrt seien. “Wir befinden uns in einem Systemwettbewerb mit China und müssen daher auch den wirtschaftlichen Einfluss auf unsere Demokratie sehr genau im Auge behalten”, so Heidt.

    Der Bericht der ausgeschiedenen Hochkommissarin Michelle Bachelet bringt klar zum Ausdruck, dass die UN den Opfern chinesischer Menschenrechtsverbrechen in Xinjiang Glauben schenkt und nicht der Darstellung der chinesischen Regierung. “Das wird die Gräben innerhalb der UN-Institutionen in den kommenden Jahren weiter vertiefen”, prophezeit ein Mitarbeiter einer UN-Organisation in Genf im Gespräch mit China.Table. Da er nicht befugt ist, öffentlich für die Organisation zu sprechen, erbittet er sich Anonymität.

    Erstmals spürbar dürfte das Mitte September bei der 51. Sitzung des Menschenrechtsrats in Genf werden, wo der Xinjiang-Bericht für intensive Diskussionen sorgen dürfte. Der Rat, der sich aus Vertretern aus 47 Staaten zusammensetzt, könnte eine formelle Untersuchung durch eine Kommission einleiten. China ist ebenfalls Mitglied des Rates, genießt aber im Gegensatz zum Weltsicherheitsrat kein Vetorecht.

    Chinas Antwort dreimal so lang wie der Bericht selbst

    Die Volksrepublik hatte ihrerseits den Xinjiang-Bericht bereits als Farce und Verschwörung sogenannter anti-chinesischer Kräfte abgetan. Auf 131 Seiten war Chinas Antwort im Anhang des UN-Berichts zu lesen. Die Antwort war damit dreimal so lang wie die Darstellung des Hochkommissariats (China.Table berichtete).

    Zweifellos war Peking von der Deutlichkeit der Vorwürfe in dem Dokument überrascht. Bachelet habe nach ihrer Reise in die Region Ende Mai aus erster Hand volles Verständnis für die Situation in Xinjiang erhalten und im Anschluss gegenüber Journalisten eine formelle Stellungnahme abgegeben, argumentiert die chinesische Vertretung in Genf. “Bedauerlicherweise sind der Inhalt und die Schlussfolgerungen der sogenannten Beurteilung durch Madame Hochkommissarin völlig widersprüchlich zu ihrer formellen Stellungnahme.”

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    Anklage nach Gewalttat gegen Frauen

    Der brutale Angriff auf eine Gruppe junger Frauen im nordchinesischen Tangshan im Juni zieht politisch und juristisch große Kreise. Die Staatsanwaltschaft der Provinz Hebei hat gegen 28 Personen Strafverfahren eingeleitet. Darunter befinden sich sieben Männer, die direkt an der Tat beteiligt waren. Gegen 15 Funktionäre der örtlichen Sicherheitsbehörden wird zudem wegen des Verdachts der Korruption ermittelt. Acht von ihnen sitzen in Untersuchungshaft, darunter auch der Direktor des örtlichen Amts für Staatssicherheit.

    Die Festnahme des Hauptverdächtigen löste eine Lawine an Ermittlungen aus. Der Mann stand wegen zahlreicher Verbrechen seit 2012 offiziell auf der Fahndungsliste, wurde jedoch nie von den Polizeikräften in Tangshan verhaftet. Ihm werden unter anderem bandenmäßige Kriminalität, illegales Glücksspiel und weitere Gewalttaten vorgeworfen. Weil er sich offenbar frei in der Stadt bewegen konnte, interessiert sich die Disziplinarkommission der Kommunistischen Partei für mögliche Verstrickungen von Sicherheitsbeamten in die Verbrechen des Mannes.

    Auslöser war die Veröffentlichung der Bilder von Überwachungskameras eines Restaurants in Tangshan Mitte Juni dieses Jahres. Auf den Bilden ist zu sehen, wie eine Gruppe von Männern vier Frauen zusammenschlägt und an den Haaren über den Bordstein zerren. Nach offiziellen Angaben hätten nur zwei der Frauen ins Krankenhaus gemusst und seien mit leichten Verletzungen davon gekommen. Der Angriff provozierte eine Welle der Empörung in China und löste eine kurzzeitige Debatte über Gewalt gegen Frauen aus, ehe die Zensur einschritt (China.Table berichtete). grz

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    Megacity Chengdu im Lockdown

    Nachdem 157 der 21 Millionen Bewohner Chengdus positiv auf Corona getestet wurden, müssen die Einwohner von Sichuans Hauptstadt seit Donnerstagabend in ihren Wohnungen bleiben. Nur eine Person je Haushalt dürfe zum Einkaufen geschickt werden, so die Behörden. Aktuell ist noch unklar, ob die Beschränkungen nach geplanten Coronavirus-Massentests am Wochenende aufgehoben werden.

    Mit Chengdu trifft es die größte Stadt seit den zweimonatigen Beschränkungen in Shanghai in der ersten Jahreshälfte. Und zudem eine sehr wirtschaftsstarke: Dort werden 1,6 Prozent des chinesischen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet. Aktuell sind noch weitere Städte von Lockdowns betroffen – das Technologiezentrum Shenzhen, die Wirtschaftsmetropole Guangzhou und die Hafenstadt Dalian.

    In Chengdu wurden Angestellte nicht lebensnotwendiger Branchen aufgefordert, von zu Hause aus zu arbeiten. Industriebetriebe, die in wichtigen Produktionsbereichen tätig und in der Lage sind, auf einem geschlossenen Gelände zu arbeiten, wurden davon ausgenommen. rtr/jul

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    Peking knüpft sich Immobilienbosse vor

    Chinas Immobiliensektor steckt seit Monaten in großen Schwierigkeiten. Nun gehen die Behörden auch juristisch und parteidisziplinarisch vor. Gleich mehrere lokale Behörden sowie die Disziplinarkommission der Kommunistischen Partei teilten am Mittwoch mit, dass sie gegen vier ranghohe Manager in staatlichen Immobilienunternehmen Ermittlungen aufgenommen haben. Sie stünden wegen “schwerer Verletzungen der Disziplin und des Gesetzes” unter Verdacht, teilten die Behörden mit. In China ist dieses Vergehen eine Umschreibung für Korruption oder Unterschlagung.

    Ermittelt wird staatlichen Medien zufolge gegen den Verwaltungsratsvorsitzenden von C&D Real Estate, Zhuang Yuekai, den Verwaltungsratschef von C&D Urban Services, Shi Zhen, den Vize-Geschäftsführer von Shenzhen Talents Housing Group, Liu Hui, sowie den Ex-Verwaltungsratsvorsitzenden von China Resources Land, Tang Yong. Geben Behörden solche Ermittlungen öffentlich bekannt, ist eine Verurteilung so gut wie sicher.

    Der Immobiliensektor in der Volksrepublik steckt seit Monaten in einer tiefen Krise. Zahlreiche Immobilienkonzerne – sowohl staatliche als auch private – haben überinvestiert und können ihre angehäuften Schulden kaum zurückzahlen. Im Juni kam es in mehreren Städten zu Protesten, weil Wohnungskäufern ihre bereits bezahlten Wohnungen nicht übergeben wurden.

    In immer mehr Regionen purzeln derzeit die Preise. Ganze Wohnblöcke, in denen nie jemand gewohnt hat, müssen wegen des hohen Leerstands abgerissen werden. Allein der Immobilienkonzern Evergrande, lange die Nummer eins der Branche, türmte im vergangenen Jahr Schulden in Höhe von 300 Milliarden Dollar auf. Die Immobilien-Branche steht für mehr als ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts der Volksrepublik. flee

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    China plant Schuldenerlass in Afrika

    China plant einen Schuldenerlass an afrikanische Staaten. Laut einem Bericht von Bloomberg möchte die Volksrepublik 23 zinslose Darlehen an 17 afrikanische Länder erlassen und zehn Milliarden Dollar an Reserven aus dem Internationalen Währungsfonds an Nationen auf dem Kontinent umleiten.

    Außenminister Wang Yi kündigte die Schuldenschnitte bei einem Treffen des Forums für chinesisch-afrikanische Zusammenarbeit (FOCAC) in der vergangenen Woche an. Zur Höhe der Darlehen, die Ende 2021 fällig wurden, machte das Ministerium keine Angaben. Ebenso wurde nicht mitgeteilt, welche Länder von dem Erlass profitieren. Der überwiegende Teil der chinesischen Finanzierungen in Afrika sind laut Bloomberg konzessionäre und kommerzielle Darlehen. Sie wurden bislang nicht zur Streichung in Betracht gezogen. Einige davon wurden jedoch umstrukturiert.

    Seit dem Jahr 2000 hat Peking mehrere Schuldenerlasse für zinslose Darlehen an afrikanische Länder umgesetzt und dabei bis 2019 mindestens 3,4 Milliarden Dollar Schulden gestrichen, wie eine Studie der Johns Hopkins University School of Advanced International Studies zeigt. Der Schuldenerlass beschränkte sich dabei auf fällig gewordene, zinslose Auslandshilfedarlehen, wobei Sambia in diesem Zeitraum am meisten Schulden erlassen bekam.

    Nach Angaben der Weltbank entfallen fast 40 Prozent der bilateralen und privaten Gläubigerschulden, die die ärmsten Länder dieser Welt in diesem Jahr bedienen müssen, auf China. Die Volksrepublik habe in diesem Jahr bereits 98 Prozent der Exporte aus zwölf afrikanischen Ländern zollfreien Zugang gewährt und Dschibuti, Äthiopien, Somalia und Eritrea Nahrungsmittelsoforthilfe geleistet, erklärte Wang bei seiner Rede. Afrika wünsche sich “ein günstiges und freundschaftliches Umfeld für die Zusammenarbeit und nicht die Nullsummen-Mentalität des Kalten Krieges”. fpe

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    Standpunkt

    Chinas Gefühlsstau

    Von Johnny Erling
    Johnny Erling schreibt die Kolumne für die China.Table Professional Briefings

    Für Chinesen ist es ein Unglück, “das Gesicht zu verlieren”. Warum? Ein deutscher Psychotherapeut weiß die Antwort: Jeder besitze ein “wahres Gesicht”. Es sei aber in einer Diktatur viel “zu gefährlich”, dieses zu zeigen. Unter “der zur Schau getragenen Maske schmort ein gestautes Gefühlspotenzial von existenziellen Ängsten, mörderischer Wut, Hass, tiefem Schmerz und oft bitterer Traurigkeit”.

    Das Zitat stammt von Hans-Joachim Maaz, der viele Jahre Chefarzt an der psychotherapeutischen Klinik in Halle war. Er bezieht sich aber nicht auf China. Nach dem Fall der Mauer schrieb er ein “Psychogramm der DDR”, das 1990 unter dem Titel “Gefühlsstau” (Argon-Verlag) erschien. Der innerdeutsche Bestseller wurde 2013 auch unter dem Titel “Gefühlsstau” (情感堵塞) ins Chinesische übersetzt und erregte Aufsehen unter Psychologen, Sozial- und Erziehungswissenschaftlern. Seit sich Parteichef Xi Jinping in absoluter Macht eingerichtet hat und die Re-Ideologisierung seines Landes betreibt, passen solche kritischen Reflexionen über das Verhalten von Menschen und ihre gespaltene Persönlichkeit in autoritären Staaten nicht zu der von Xi propagierten neuen Ära des sozialistischen China und zur Verwirklichung seines Traums von der Erneuerung der Nation.

    Umschlag des 2013 erschienenen "Gefühlsstau" (情感堵塞) von Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz. Obwohl es ein "Psychogramm der DDR" ist, können Chinesen ihren autoritären Charakter dank eigener Diktatur wiedererkennen. Das Buch passt nicht mehr in die neue Xi-Jinping-Landschaft, ist heute in China nur noch antiquarisch und zum Fünffachen des einstigen Preises zu finden. Auch in China führen viele ein Doppelleben.
    Umschlag des 2013 erschienenen “Gefühlsstau” (情感堵塞) von Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz. Obwohl es ein “Psychogramm der DDR” ist, können Chinesen ihren autoritären Charakter dank eigener Diktatur wiedererkennen. Das Buch passt nicht mehr in die neue Xi Jinping-Landschaft, ist heute in China nur noch antiquarisch und zum Fünffachen des einstigen Preises zu finden.

    Das Leben der Menschen in der DDR, so Maaz, sei “im Wesentlichen durch soziale Fassaden gekennzeichnet gewesen, das zwangsläufige Ergebnis repressiver Erziehung.” Psychotherapeuten durchschauten die Mechanismen, “mit deren Hilfe es Menschen möglich wird, die neue ‘Identität’ als ihre ‘wahre’ Natur zu empfinden – die Abspaltung von den Gefühlen macht dies möglich.” So wurde “das aufgenötigte zweite Gesicht allmählich zur Gewohnheit und schließlich zur selbstverständlichen Normalität. Doch kein Mensch kann auf Dauer mit Verstellung gut leben”.

    Politik-fluchende Taxifahrer sind auch mal KP-Mitglied

    Treffen solche Diagnosen auch auf das Verhalten der heutigen Chinesen zu, die in einer globalisierten und freizügigen Konsumgesellschaft aufwachsen? Im Reformchina nach Mao Zedongs Tod wirkt alles in grotesker Weise zweigeteilt und hat auch eigene Begriffe dafür, vom Mischmasch aus Plan-, Staats- und Marktwirtschaft bis hinein in die Familie, wo der eine Ehepartner für eine Staatsbehörde oder ein Staatsunternehmen arbeitet und der andere für ein Privatunternehmen (体制内体制外); für die Bauern, die in den Städten ohne Hukou-Bürgerstatus nur Zugewanderte zweiter Klasse sind, bis hin zu “ein Land zwei Systeme” (一国两制), das Peking gerade für Hongkong beendete.

    Scheinbar andere Erfahrungen, wonach sich Chinesen pragmatisch und flexibel der jeweiligen Lage anpassten, erlebten (noch bis kurz vor dem Lockdown) ausländische Reisende schon nach ihrer Ankunft im Land. Auf dem Weg in die Stadt konnten sie (sofern sie die Sprache verstanden) hören, wie unbekümmert ihr Taxifahrer lauthals über Chinas Führung schimpfte. Als ich einen über seine Regierung oft fluchenden Fahrer näher kennenlernte, erwies er sich als Parteimitglied. Er stünde morgens extra früh auf, um freiwillig vor Arbeitsbeginn Quizfragen in einer Schulungs-App der KP China (学习强国) zu lösen. Das Lob für seine perfekt linientreuen Antworten ging in seinen Beurteilungsbogen ein. Er verstand nicht, was an seinem Verhalten widersprüchlich sein sollte: “Das machen doch alle so.”

    Auch das Ehepaar, das am Wochenende ihrer Tochter zu Hause erlaubte, aufreizende südkoreanische und japanische Musikvideos auf raubkopierten DVDs zu gucken, fand nichts Verlogenes daran. Sie belohnten doch nur ihre Tochter, die in der Schule nicht nur gute Noten erhielt, sondern wegen vorbildlicher sozialistischer Moral das rote Halstuch für Jungpioniere tragen durfte. Auch die Eltern schauten sich zu Hause illegale Kopien ausländischer TV-Serien an. Am nächsten Morgen sangen sie in der organisierten Betriebspause im Kollegenchor kraftvoll mit: “Ohne kommunistische Partei gibt es kein neues China.”

    Neusprech und Doppeldenk weit verbreitet

    “China ist zum Land mit den schwerwiegendsten Fällen geteilter Persönlichkeiten geworden” (中国是双重人格最严重的国家), warnt der Essayist Wang Xiao (王霄). Die in der Reformzeit übersetzten Bücher und Schriften von Hannah Arendt zum autoritären Charakter und über die “Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft” haben ihn in seinem Urteil stark beeinflusst.

    Die Folgen finden unter Chinesen auch deshalb besonders fruchtbaren Boden, weil sie durch den Einfluss tradierter konfuzianischer Erziehung verstärkt werden, die das Individuum von klein auf zur Ein- und Unterordnung vorbereiteten. In Schulen, wo heute in den Fächern Chinesisch, Geschichts- oder Gesellschaftskunde “hanebüchener Unsinn” eingepaukt werden muss, sei das von George Orwell in 1984 beschrieben “Neusprech” und “Doppeldenk” verbreitet, schreibt der bekannte Kulturkritiker und Hochschullehrer Xu Ben (徐贲). 

    China: Karrikatur über Doppelleben in China
    “Sich von Herzen Aussprechen” nannte der Pekinger Altmeister chinesischer Satire, Feng Cheng, seine Erinnerung an die Zeit der Kulturrevolution und deformierte Persönlichkeiten, als sich auch beste Freunde anschwiegen. Nur der Dunst über den Tee formiert sich zu Fragezeichen. Die staatliche Propaganda (links) verkündet auf dem Maulkorb. “Allseitige Diktatur- die Lage ist ausgezeichnet”. Auch heute schweigen Intellektuelle wieder.

    Er lebt heute in den USA. China sieht er in eine “neue Form des Totalitarismus” abdriften. Es habe sich vom ursprünglichen Totalitarismus (unter Stalin und Hitler) über den Post-Totalitarismus (einst etwa in Osteuropa) in diese dritte Form entwickelt (从极权主义、后极权主义到”新极权主义). Sie sei eine Variante des Post-Totalitarismus und verurteile dessen liberale Züge als politische “Schwäche”. Doch der neue Totalitarismus produziere nur “Flickwerk”, keine Terror verbreitende, systematische Repression, sondern partielle, wenn auch massive Formen der Unterdrückung. Etwa, um Medien und das Internet zum Schweigen zu bringen oder Massenproteste gewaltsam zu beenden. Aber er besitze nicht mehr die Überzeugungskraft und “Fähigkeit zur ideologischen Mobilisierung“.

    Rituale als eine Form der Politik

    Chinaexperte Minxin Pei, Professor für Regierungsmanagement am Claremont McKenna College in den USA, sieht die Volksrepublik in eine zweigeteilte Welt abdriften (bifurcated world). Im Podcast mit der Financial Times sagt er: “Die Menschen wissen, dass das Ritual zu einer Seite der Politik geworden ist und müssen folgen. Dabei ist es gleich, ob sie daran glauben oder nicht.” Es funktioniere, solange auf der anderen Seite der Politik noch “Substanz, Realität und Pragmatismus” vorhanden seien. Derselbe Beamte, der “stolz sein Smartphone vorzeigt, auf dem er allmorgendlich seine Lernpensum zum Denken Xi Jinpings absolviert hat, dreht sich danach um und spricht in sehr pragmatischer Weise über die aktuellen Herausforderungen in seiner Arbeit.” Minxin Pei ist “unter Maos Herrschaft aufgewachsen. Damals glaubten alle an das politische Ritual. Heute müssen wir einen großen Teil Abstriche machen, ob das Xi Jinping-Denken von Parteimitgliedern, Beamten und normalem Volk wirklich angenommen wird.”

    Pei beklagt, dass der Freiraum für kritisch liberale Vorstellungen in den Universitäten “vollständig geschlossen” wurde. Seine Akademikerfreunde meldeten sich nicht mehr öffentlich zu Wort. “Alle, die smart sind, halten ganz einfach ihren Mund”.

    Am Ende müsse als Kitt der Patriotismus die innerliche Kluft überbrücken, über die sich viele gar nicht bewusst sind. Der oppositionelle Autor Huang Yukai, Mitglied des unabhängigen chinesischen Pen, bezeichnet die Zweiteilung der Persönlichkeit als “Schizophrenie”, aber nicht im medizinischen Sinne, sondern als Diagnose einer vom System induzierten Persönlichkeitsstörung.

    In den Reform-Jahrzehnten nach Maos Tod wurden Chinas Erfahrungen mit der Diktatur ausgearbeitet, wurden Bücher von Hannah Arendt bis George Orwell übersetzt. 2011 erschien noch ein großes Magazin als Themen-Sonderheft unter dem Titel: Warum lügen Chinesen gerne? Heute dürfte es nicht mehr erscheinen. Unter Diktaturen führen Menschen häufig Doppelleben - so auch in China.
    In den Reform-Jahrzehnten nach Maos Tod wurden Chinas Erfahrungen mi der Diktatur ausgearbeitet, wurden Bücher von Hanna Ahrendt bis George Orwell übersetzt. 2011 erschien noch ein großes Magazin als Themen-Sonderheft unter dem Titel: Warum lügen Chinesen gerne?. ´Heute dürfte es nicht mehr erscheinen.

    Dabei gab es auch in China nach dem Tod Maos öffentliche Debatten darüber, wie sich unterscheiden lässt, was wahr und echt, falsch und verlogen ist. Übersetzungen, etwa von mehr als zwei Dutzend Schriften und Büchern von Hannah Arendt trugen ebenso dazu bei, wie der Roman “1984” von George Orwell, oder “Farm der Tiere”.

    2009 wurde etwa eine Debatte initiiert, ob und ab wann sich Chinesen daran erinnern könnten, Lügen erlernt zu haben. Viele antworteten, das sei in der Grundschule gewesen, als das System mit seiner politischen Indoktrination begann. 2011 erschien das Magazin “Die Neue Woche” (新周刊) mit einer Sonderausgabe: “Warum lieben es die Chinesen, Lügen zu erzählen?” Der kritische Autor Wu Si (吴思) überschrieb damals seinen Beitrag: “Wenn die Herrschenden Lügen verbreiten, geben wir vor, sie zu glauben.”

    Heute wirkt sich der Gefühlsstau aus. Viele glauben die Lügen.

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    China.Table Redaktion

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