Table.Briefing: China

Scholz’ Abhängigkeiten + Wolfskrieger-Diplomatie

  • Kanzleramt rechtfertigt China-Reise
  • Xis angriffslustige Außenpolitik
  • Offener Brief findet beim Kanzler Gehör
  • Niederlande ordnen Schließung von Polizeistationen an
  • USA warnt vor Pekings nuklearer Aufrüstung
  • China verhindert Übernahme-Deal von DuPont
  • Lockdowns belasten immer mehr Konzerne
  • Standpunkt: Psychologe Ulrich Sollmann zur Kanzler-Reise
Liebe Leserin, lieber Leser,

Olaf Scholz reist morgen nicht wirklich souverän nach China ab, sondern als Vertreter eines Landes, das gerade wirtschaftlich in schwere Bedrängnis gerät. Felix Lee und Malte Kreutzfeldt geben in ihrer Analyse einen Überblick darüber, wie groß die Abhängigkeit nach jetzigem Stand wirklich ist – und wie stark das Olaf Scholz als Regierungschef einer Wirtschaftsnation daran bindet, China gegenüber verbindlich zu bleiben.

Das Kanzleramt rechtfertigt die Reise wiederum mit politischen Gründen. Nur im persönlichen Gespräch lasse sich Xi Jinping bewegen, etwas für die Ukraine zu tun. Und nur im direkten Austausch lassen sich deutsche und europäische Interessen vor dem G20-Gipfel mit China abstimmen. Die Nähe zum Parteitag ist nach Darstellung des Kanzleramtes kaum mehr als ein zeitlicher Zufall. Für Xi allerdings ist die Aufwartung des Deutschen direkt nach seiner großen Show innenpolitisches Gold.

Xi ist allerdings auch der erste Außenpolitiker seines Landes. Seit seinem Amtsantritt in der Ton gegenüber anderen Ländern aber rauer und zum Teil richtig unfreundlich geworden, analysiert Christiane Kühl. Xi sieht sich als die Kraft hinter weltpolitischen Veränderungen, in deren Zug der Westen seine Vormachtstellung verliert. Wer sich auf historischer Mission wähnt, geht jedoch nicht zimperlich vor. Das spüren auch Besucher wie Scholz. Was Annalena Baerbock angeht: Wir liefern auch Einschätzungen, mit welchen Ansprechpartnern sie es künftig in Peking zu tun. Sind es eher die neuen Wolfskrieger oder eher gediegene Diplomaten alter Schule?

Ihr
Finn Mayer-Kuckuk
Bild von Finn  Mayer-Kuckuk

Analyse

Der abhängige Olaf Scholz

Abflug nach Peking als Finanzminister 2019: Olaf Scholz reist diesmal in anderer Rolle in ein verändertes China.

Eine Lehre aus Putins Angriffskrieg auf die Ukraine sollte lauten: Bloß nicht mehr von autoritären Staaten abhängig zu sein. Das Problem: Deutschlands wirtschaftliche Abhängigkeiten von China sind sogar noch mal sehr viel größer als die von Russland.

Die öffentliche Kritik an der bevorstehenden Kanzlerreise schmerzt vermutlich auch deshalb so, weil sie auf ein nicht auflösbares Dilemma zurückgeht. Die deutsche Identität definiert sich zu einem guten Teil über eine starke Wirtschaft, doch deren Wohlergehen hing zuletzt vor allem von billigem russischen Gas und vom Geschäft mit China ab. Jetzt bleibt das eine weg, und Kanzler Olaf Scholz tut das Naheliegende: Er will das zweite Standbein stärken. Schließlich droht jetzt schon ein herber Wohlstandsverlust. Eine zweite Front von Problemen kann sich Deutschland buchstäblich nicht leisten.

Seit nunmehr sieben Jahren ist China der wichtigste Handelspartner Deutschlands. Allein 2021 betrug das Volumen der In- und Exporte 245 Milliarden Euro. Etwa zehn Prozent ihres Außenhandels wickelt die Exportnation Deutschland mit der Volksrepublik ab. Das allein wäre nicht schlimm, wenn sie hier nicht eine Asymmetrie entwickelt hätte: Während China im Laufe der Jahre immer weniger Maschinen und Waren aus Deutschland bezieht, ist das umgekehrt nicht der Fall. Die Bundesrepublik kaufte zuletzt regelmäßig mehr dort ein, als sie nach China auslieferte.

Der Trend zeigt sich auch an den Handelszahlen vom September:

  • Deutschland hat weniger nach China verkauft. Die Exporte sanken um zwei Prozent auf knapp neun Milliarden Euro.
  • Zugleich hat China mehr nach Deutschland verkauft. Die Importe stiegen um 5,4 Prozent auf gut 17 Milliarden Euro.

“Das Ungleichgewicht im Handel mit China nimmt also immer mehr zu”, sagt der IW-Ökonom Jürgen Matthes. In einigen Bereichen, wie etwa in der Netzwerk- und Informationstechnologie, kommen sogar rund 40 Prozent aller Importe aus der Volksrepublik. Auch bei strategisch bedeutsamen Produkten wie Batterien für E-Autos oder Rohstoffen wie Seltene Erden, die Deutschland derzeit vor allem für seine Energiewende benötigt, “besteht eine starke Importabhängigkeit“, sagt das Geschäftsführende Vorstandsmitglied der deutschen Handelskammer (AHK) in Peking, Jens Hildebrandt.

Auch haben sich Verflechtungen im ersten Halbjahr 2022 “mit einem enormen Tempo in die falsche Richtung entwickelt”, so Matthes in einer neuen Studie. “Die deutschen Direktinvestitionsflüsse nach China waren noch nie so hoch.” Seine Interpretation: “Der chinesische Markt soll offenbar immer mehr durch Produktion vor Ort statt durch Exporte bedient werden.” China macht sich also gezielt unabhängiger und treibt dafür seine eigene Abkopplung voran. Die Führung unter Xi Jinping hat explizit das Ziel vorgegeben, dass China technologisch und wirtschaftlich nach innen unabhängig werden soll. Zugleich soll der Rest der Welt aber noch abhängiger von China werden.

Der Markt richtet es nicht ohne politische Weichenstellung

All das kann Scholz als Regierungschef einer Wirtschaftsnation kurzfristig nicht ignorieren, selbst wenn gute politische Gründe dafür sprächen, China die kalte Schulter zu zeigen. Rund 5.000 deutsche Unternehmen sind heute in China tätig, 1,1 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland hängen laut Handelskammer vom China-Geschäft ab. “Was gerne übersehen wird, ist die Rolle Chinas als Innovationstreiber”, hebt der AHK-Manager auch hervor. “Deutsche Unternehmen entwickeln und testen in China neueste Technologien für den globalen Markt.”

Doch die Abhängigkeit von der Autokratie in Fernost ist keine Naturkatastrophe, die wir hilflos hinnehmen müssen. Gerade hier ist langfristig auch die Richtlinienkompetenz des Kanzlers gefragt. Denn bis zu einer Disruption, wie die russische Aggression in der Ukraine eine wahr, tun die Firmen das, was in ihrer Natur liegt und maximieren den Gewinn. Es deutet vieles darauf hin, dass das Gewinnstreben der deutschen Firmen ohne einen staatlichen Eingriff weiterhin zu mehr und nicht zu weniger China bei Direktinvestitionen und Importen führt“, schreibt Matthes. “Die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von China als Absatzmarkt und Lieferant steigt damit immer weiter.” 

Stufenweiser Ausstieg ist besser als Schock-Entzug

Sich schrittweise unabhängiger zu machen, kann langfristig aber auch Geld wert sein, wie das aktuelle Gas-Problem zeigt. Das Ifo-Institut rechnet jedenfalls im Fall eines geopolitischen Konflikts mit China mit gewaltigen Einbußen für Deutschland. Größter Verlierer wäre die deutsche Automobilindustrie. Hier würde es einen Wertschöpfungsverlust von rund 8,3 Milliarden Euro geben, das entspricht einem Minus von rund 8,5 Prozent. Die Maschinenbauer wären mit einem Minus von über fünf Milliarden Euro betroffen. 

Der Automarktexperte Ferdinand Dudenhöffer, Direktor vom Center of Automobile Research, (CAR) sieht jedoch einen erheblichen Haken in allen Gedankenspielen von der größeren Unabhängigkeit. Er ist sich sicher, dass die deutsche Autoindustrie um China gar nicht herumkommt. Man könne zwar neue Standorte suchen, zum Beispiel in den USA. Doch die USA seien kein Wachstumsmarkt. Würde die deutsche Autoindustrie den chinesischen Markt verlieren, würde VW auf einen Schlag an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Sie könnten mit anderen Autobauern nicht mehr mithalten. Dudenhöffer befürchtet für diesen Fall sogar das Ende der deutschen Automobilindustrie

Eine Rückverlagerung von Betrieben aus China nach Deutschland, also eine Nationalisierung von Lieferketten, ist auch der Ifo-Studie zufolge keine Lösung: Sie würde sogar noch größere Wohlstandsverluste bedeuten. Der Grund: Die Produktion in Deutschland wäre deutlich teurer. Es müssten Bereiche gefördert werden, die in Deutschland unproduktiv sind. Im Endeffekt würde es dabei zu weniger Nachfrage nach diesen Waren kommen. Die Wirtschaft insgesamt würde schrumpfen. 

Für einen völligen Stopp des Handels und der Abbruch aller Beziehungen mit China ist daher auch bei den Grünen und der FDP kaum jemand. Dafür ist China bei globalen Problemen wie etwa dem Klimawandel, Rohstoffmangel und Lieferkettenengpässen ein zu wichtiger Player. FDP und Grüne plädieren für mehr Diversifizierung. Die deutschen Unternehmen sollen sich stärker anderen Märkten, etwa in Südostasien zuwenden.

Das Problem, und darauf verweisen auch die Ifo-Ökonomen: Eine Abkehr vom chinesischen Markt würde gar nicht von Deutschland entschieden werden, sondern hängt von den Auseinandersetzungen der großen Machtblöcke ab. Die USA fordern bereits von den Europäern, sich für eine Seite zu entscheiden: China oder die USA. 

Scholz rechtfertigt die Visite mit G20 und Ukraine

Das ist derzeit aber eine unmögliche Entscheidung, und deshalb macht Scholz nun in Peking seinen verspäteten Antrittsbesuch. Eigentlich entspricht das Treffen mit Xi nicht nur den Bedürfnissen eines Großteils der Wirtschaft, sondern auch den Wünschen zahlreicher China-Beobachter, die das Abreißen des hochrangigen Dialogs als hochproblematisch empfanden. Die Kritik hat sich daher zuletzt vor allem am Zeitpunkt der Reise festgemacht. Direkt nach dem 20. Parteitag wirke der Besuch bei Xi wie eine Audienz beim neuen chinesischen Kaiser.

Am Mittwoch, einen Tag vor Abreise, bezog der Kommunikationsapparat des Kanzleramts dann Stellung zu der geballten Kritik. Die wirtschaftlichen Argumente ließ es gelten, wollte sie aber nicht in den Vordergrund stellen. Das lag vermutlich an der herben Kritik am Cosco-Einstieg in Hamburg, der Scholz den Ruf einbrachte, Firmenprofite vor Geopolitik und Menschenrechte zu stellen.

Die Sprecher von Scholz argumentierten, es gebe es viele gute politische Gründe für ein Treffen zum jetzigen Zeitpunkt: So sei ein bilaterales Treffen mit China auch im Hinblick auf den G20-Gipfel wichtig, der Mitte November in Indonesien stattfindet. Denn man hege durchaus die Hoffnung, dass China doch noch seinen Einfluss auf Russland geltend machen werde. Angesichts der drohenden Eskalation des Ukraine-Konflikts dürfe man ein Treffen mit China “nicht auf die lange Bank schieben”. Dass es aus anderen europäischen Hauptstädten die Forderung gegeben habe, auf die Reise zu verzichten, bestritt das Kanzleramt.

Die Kritik, dass die China-Reise unmittelbar nach dem Parteitag, auf dem Xi seine vollständige Kontrolle von Partei und Staat zelebriert hat, ein falsches Signal sende, ließ das Kanzleramt nicht gelten. Die zeitliche Nähe zum Parteitag sei “kein überzeugender Grund”, die Reise zu verschieben, hieß es aus Regierungskreisen. Denn dessen Beschlüsse, so argumentiert das Kanzleramt, seien in einigen Wochen oder Monaten ja nicht weniger problematisch.

Das Kanzleramt ließ sich jedoch auf einige gute Absichten festlegen. Den verschärften Drohungen gegen Taiwan will sich Scholz beim Treffen am Freitag klar entgegenstellen. Man sei in großer Sorge und werde deutlich machen, dass jegliche Änderung der gegenwärtigen Situation “nur friedlich und im Einvernehmen mit allen Beteiligten” herbeigeführt werden könne. Felix Lee/Malte Kreutzfeldt

  • Autoindustrie

Außenpolitik voller Kampfgeist

Annalena Baerbock und Amtskollegen Wang Yi schütteln sich die Hand vor einer deutschen und chinesischen Flagge, beide tragen eine FFP2-Maske.
Außenministerin Annalena Baerbock traf ihren Amtskollegen Wang Yi bisher am Rande der 77. Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York im September.

Wenn Bundeskanzler Olaf Scholz am Freitag in China landet, wird er ein Land vorfinden, dessen Diplomatie von Konkurrenz, Kampf und markigen Worten bestimmt ist. Führende chinesische Außenpolitiker haben auf dem gerade zu Ende gegangenen Parteitag der Kommunisten einen unerschrockenen “Kampfgeist” in der Diplomatie des Landes beschworen. (China.Table berichtete).

Die Zeiten, in denen China und der Westen trotz unterschiedlicher politischer Systeme und ideologischer Auffassungen in Sachfragen recht geräuschlos zusammenarbeiteten, sind vorbei. Im Westen gilt das Konzept “Wandel durch Handel” angesichts der immer autoritärer agierenden Regierung unter Staats- und Parteichef Xi Jinping als gescheitert. Umgekehrt steht für Xi spätestens seit der Corona-Pandemie mit vielen Toten in Europa und den USA fest: “Der Westen ist im Niedergang, der Osten steigt auf.”

Unter dieser Prämisse dürfte Xi auch in seiner dritten Amtszeit seine Politik gestalten. Die Strategie: Chinas wirtschaftliches Gewicht für das Ringen mit dem Westen um politischen Einfluss in der Welt zu nutzen, damit China seinen angemessenen Platz in der Weltordnung erhält. Der Zeitpunkt sei gekommen, dass China die “Reform der Weltordnungspolitik” anführt und “näher ins Zentrum rückt”, wird Xi zitiert.

Xis Außenpolitik: Herausforderung für den Westen

Das wäre für den Westen schon Herausforderung genug, wenn China eine Demokratie mit handfester Interessenpolitik wäre, wie etwa die USA. Doch China ist sozialistischer Einparteienstaat, der sich in rasantem Tempo in eine Ein-Mann-Diktatur verwandelt hat. Xi sieht die Außenpolitik – natürlich – als Chefsache an und gestaltet sie weitgehend selbst.

Chinas Außenpolitik befinde sich seit 2013/2014 in einer “deutlich aktivistischeren Phase” als zuvor, sagte kürzlich der ehemalige australische Premierminister und heutige Präsident der Asia Society Kevin Rudd bei der Vorstellung seines Buches The Avoidable War (“Der vermeidbare Krieg”) zum US-China-Konflikt. “Xi ist kein Status-Quo-Politiker, er möchte den Status Quo verändern”, so Rudd. Auf die alte Prämisse von Deng Xiaoping “Verstecke deine Stärke, warte ab und strebe nie die Führung an” gebe Xi nicht viel.

Es ist nicht neu, dass Peking eine multipolare Welt anstrebt, in der eher nationale Interessen als universelle Werte eine Rolle spielen. Neu sind der härtere Umgangston und die Klarheit, mit der China unter Xi auf seine Sicht der Dinge und seine Rolle in der Welt pocht. Im Ukraine-Krieg hält China zu Russland – nach Ansicht der meisten Experten vor allem auf Basis der gemeinsamen Ablehnung der USA und ihrer Dominanz in der Welt. Beide hoffen auf eine Schwächung des Westens durch den Krieg. Deutschland sucht darauf noch nach der richtigen Antwort.

Das Außenministerium ist dabei, im Auftrag der Bundesregierung erstmals eine China-Strategie zu entwickeln. Ziel ist es laut Koalitionsvertrag, “in der systemischen Rivalität mit China unsere Werte und Interessen verwirklichen zu können“. Man sei sich einig, “dass wir unsere Verwundbarkeit drastisch reduzieren müssen”, sagte dazu kürzlich Außenministerin Annalena Baerbock. Als Lehre aus den Fehlern der Russland-Politik müsse gelten, “dass wir uns von keinem Land mehr existenziell abhängig machen, das unsere Werte nicht teilt”.

Scholz drückte trotzdem kürzlich die abgespeckte Beteiligung der chinesischen Staatsreederei Cosco an einem Containerterminal des Hamburger Hafens durch. Offiziell heißt es in Deutschland ebenso wie in der EU: China ist Partner, Konkurrent und Rivale zugleich.

China und die USA: Krisenzeiten

Die USA kalkulieren derweil inzwischen vor allem mit Wettbewerb und Rivalität, der Aspekt Kooperation rückt immer stärker in den Hintergrund. US-Präsident Joe Biden betonte in seiner neuen Sicherheitsstrategie, China sei für die internationale Ordnung eine größere Herausforderung als Russland. Ein paar Tage später beschränkte Washington den Verkauf von Chips und Komponenten an China. An der Taiwanstraße werfen USA und China sich gegenseitig vor, den Status Quo zu untergraben (China.Table berichtete).

China und die USA könnten sich einem Kalten Krieg annähern, befürchtet Jia Qingguo, emeritierter Professor für internationale Studien an der Universität Peking: “Ich habe das Gefühl, dass Fragen der nationalen Sicherheit in beiden Ländern überbetont werden”, sagte Jia in einem von der US-Denkfabrik Carter Center veröffentlichten Interview. Jede neue Waffe oder Hochtechnologie des jeweils anderen Landes würde als ernsthafte Bedrohung angesehen, auf die man direkt reagieren müsste.

Gut vernetzte Wissenschaftler in Peking und Shanghai beschuldigten in Gesprächen Amerika und seine Verbündeten, “einer Ordnung, deren ursprünglicher bescheidener Auftrag darin bestand, Staaten dabei zu helfen, friedlich zu koexistieren und Handel zu treiben, ihre eigene Besessenheit von den Menschenrechten aufzuzwingen”, schreibt der britische Economist in einer Analyse zu Chinas Außenpolitik.

Zugleich wirkt Chinas Diplomatie selbst oft geradezu besessen von Washington. Die “größte Bedrohung für die Weltordnung” sei es, kleine Zirkel zu bilden, ideologische Grenzen zu ziehen, eine Konfrontation durch Blockbildung zu schüren und andere zu “schikanieren”, sagte Vizeaußenminister Ma Zhaoxu beim Parteitag. Es ist die typische Wortwahl im Zusammenhang mit den USA.

Chinas KP sieht ihre Außenpolitik als Erfolg

Aus Perspektive der Kommunistischen Partei Chinas habe Xi Jinpings Außenpolitik durchaus solide Erfolge auf­zuweisen, analysierte Mikko Huotari, Direktor des Merics-Instituts für Chinastudien, direkt nach dem Parteitag: “Die ‘Eskalation’ der Außenpolitik von einer ambitionierten Regionalmacht zur Großmacht mit globalem Führungsanspruch trägt klar seine Handschrift.”

Die von Xi 2013 ins Leben gerufene Neue Seidenstraße sei dabei nur ein erstes Experimentierfeld gewesen. Mit seinen neuen globalen Initiativen für “Sicherheit”, “Datensicherheit” und “Entwicklung” zeichne Xi nun “die Konturen einer neuen chinazentrierten Weltordnung”, so Huotari. Der Staatschef habe im Inneren vor den Risiken einer Verschärfung des langfristigen System- und Strukturkonfliktes mit den USA gewarnt und “China auf diesen Kampf eingestellt.” Eines seiner Ziele habe Xi bereits erreicht, so Huotari: “Mit China kann heute international nur auf Augenhöhe und letztlich zu Chinas Bedingungen verhandelt werden.”

Das ist schon deshalb unvermeidlich, weil China zu den fünf Vetomächten im UN-Sicherheitsrat gehört. Bisher vorgeschlagene Reformen des Gremiums – wie etwa die Beschränkung des Vetos auf Extremsituationen – lehnt Peking strikt ab. Im Gegenteil: China verlangt Respekt für die Großen Fünf. UN-Botschafter Zhang Jun bezeichnete kürzlich den Sicherheitsrat als “das maßgebliche und legitimste Organ des multilateralen Sicherheitssystems”. In anderen Organen der UNO gelingt es China zunehmend, große Gruppen von Ländern bei Abstimmungen auf seine Seite zu ziehen, zuletzt geschehen im UN-Menschenrechtsrat (China.Table berichtete)

Wer wird Chinas Außenpolitik künftig prägen?

Bis zum Nationalen Volkskongress im März muss Xi einen neuen Außenminister finden. Amtsinhaber Wang Yi ist trotz seiner 69 Jahre ins Politbüro aufgerückt und wird wohl Nachfolger von Yang Jiechi als Exekutivdirektor der Foreign Affairs Commission der KP und damit Xis “Außenpolitikzar“. Dieser Posten ist einflussreicher als der des chinesischen Außenministers.

Wang wird damit künftig die Leitplanken der chinesischen Diplomatie bestimmen. Experten bescheinigen ihm hohe Kompetenz. “Wang Yi, der in den chinesischen Medien wegen seines guten Aussehens den Spitznamen ‘Silberfuchs’ trägt, ist ein Japan-Experte mit hervorragenden Sprachkenntnissen und Erfahrungen als chinesischer Botschafter in Tokio Mitte der 2000er-Jahre”, schrieben die Experten Richard McGregor und Neil Thomas kurz vor dem Parteitag. Er habe sich im Umgang mit Japan immer wieder flexibel gezeigt. “Wang verfügt über unvergleichliche diplomatische Erfahrung und Kontakte in der ganzen Welt.” Doch obwohl Wang ein treuer Diener sei, stehe er Xi nicht besonders nahe. Wang profitiert somit wohl von der Tradition, dass stets ein Außenpolitiker im Politbüro sitzt und sich niemand anders für die Yang-Nachfolge aufdrängte.

 Qin Gang bei einer Rede in Washington 2021, vor ihm stehen einige Mikrofone, im Hintergrund sieht man die amerikanische und die chinesische Flagge.
Bald Baerbocks Ansprechpartner? Qin Gang ist ein Kandidat für das Amt des Außenministers.

Der im Westen wohl bekannteste Kandidat für das Amt des Außenministers ist Qin Gang, seit Juli Botschafter in den USA (China.Table berichtete). Er ist mit 56 Jahren laut Yun Sun von der US-Denkfabrik Stimson Center einer von vier Außenpolitikern, die in das Zentralkomitee aufgerückt sind “Die meisten Spekulationen in China gehen in Richtung Qin Gang”, so Sun.

Wang und Qin stehen für Kontinuität und trotz forscher Sprüche für einen grundsätzlich diplomatischen Ansatz. Doch auch die berüchtigte “Wolfskrieger”-Fraktion unter Chinas Diplomaten dürfte weiterhin für rüpelhafte Auftritte sorgen. Die Zeit für Schönwetterpolitik mit China ist jedenfalls vorbei. Das wird Scholz in Peking zu spüren bekommen.

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News

Offener Brief ruft lautes Echo hervor

Auf den Offenen Brief an Olaf Scholz, den eine große Zahl chinesischer Regimekritiker in China.Table veröffentlich hat, folgte am Mittwoch ein großes Echo in Medien und Politik. Deutschlandfunk, Spiegel Online, Zeit.de, die Stuttgarter Nachrichen und zahlreiche andere Sender und Seiten haben über den Aufruf der Dissidenten berichtet, die Reise abzusagen.

Auch im Kanzleramt wurde das Schreiben sehr genau registriert. Regierungssprecher Steffen Hebestreit sagte am Mittwoch zwar zunächst den Standardsatz der Regierung zu offenen Briefen: Dazu äußere man sich nicht. Wichtiger war, was er hinzufügte: Der Bundeskanzler nehme “wahr und auf”, was “gesagt und geschrieben” werde. Dazu gehöre auch dieser Brief. Scholz “bereitet sich sehr gründlich und umfassend auf diese Reise vor” und sei mit vielen Betroffenen im Gespräch.

Aus Kanzleramtskreisen war zudem die Einschätzung zu hören, die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des Briefs seien Stimmen, die man sehr ernst nehme. “Wir haben Respekt vor der Auffassung dieser Persönlichkeiten”, hieß es. Anders als die Dissidenten glaube die Bundesregierung aber nicht, dass es besser wäre, in der derzeitigen Situation auf einen Dialog zu verzichten. Man setze darauf, in Gesprächen für die deutsche Position zu werben und werde “auch schwierige Themen deutlich ansprechen”. mkr

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Niederlande schließen chinesische Polizeistellen

Die Niederlande reagieren auf Berichte (unter anderem in China.Table) über den Betrieb chinesischer Verhörstationen auf europäischem Boden. Außenminister Wopke Hoekstra ordnete an, die ohne Genehmigung betriebenen Polizeibüros mit sofortiger Wirkung zu schließen.

Hoekstra habe dies auch dem chinesischen Botschafter mitgeteilt, berichtet die Nachrichtenagentur ANP. Er werde untersuchen lassen, welche Aktivitäten in den Übersee-Polizeistationen (ÜPS) stattgefunden haben. Ihre Existenz sei “inakzeptabel”. fin

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USA fordern Atom-Verhandlungen

Die USA sind wegen der mangelnden Gesprächsbereitschaft Chinas über Schritte zur Verringerung der atomaren Gefahr besorgt. Die Regierungen in Washington und Peking hätten trotz der Bemühungen der USA noch immer nicht mit dem Dialog über dieses Thema begonnen, sagte Alexandra Bell, die stellvertretende US-Staatssekretärin für Rüstungskontrolle, auf einem Forum der Denkfabrik Atlantic Council.

Chinas Staatschef Xi Jinping und US-Präsident Joe Biden hatten vergangenes Jahr vereinbart, die Diskussion über strategische Stabilität voranzutreiben. Doch Xi signalisierte jüngst auf dem 20. Parteitag, dass das Land seine atomare Abschreckung noch verstärken werde. Nach Angaben des Pentagons baut China seine Nuklearstreitkräfte stark aus und strebt bis 2030 den Besitz von 1.000 Atomsprengköpfen an. Die Regierung in Peking argumentiert, dass die Vereinigten Staaten bereits über ein viel größeres Arsenal verfügen. rtr

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DuPont muss Übernahme abblasen

In den USA ist erstmals seit vier Jahren ein inländischer Übernahmedeal am Widerstand Chinas gescheitert. Der US-Chemiekonzern DuPont blies am Dienstag wegen regulatorischer Hürden in China die 5,2 Milliarden Dollar schwere Übernahme des ebenfalls US-amerikanischen Unternehmens Rogers ab. Die Rogers Corporation stellt Werkstoffe für die Elektroindustrie her. Es sei nicht gelungen, rechtzeitig alle erforderlichen Genehmigungen der Aufsichtsbehörden zu erhalten, teilte DuPont mit. Daher hätten sich DuPont und Rogers auf eine Absage des Deals geeinigt.

Im September hatte der Konzern noch erklärt, bis auf die chinesische alle notwendigen Genehmigungen für die im November 2021 angekündigte Übernahme erhalten zu haben. Chinas Handelsministerium und die staatliche Behörde für Marktregulierung waren für eine Stellungnahme zunächst nicht erreichbar. DuPont wollte die ebenfalls in den USA ansässige Rogers im Zuge seiner Neuausrichtung kaufen und sich so einen Zugang zum Markt der schnell wachsenden Branchen wie Elektrofahrzeuge, 5G und saubere Energie verschaffen. Das Unternehmen muss Rogers nun eine Entschädigung von 162,5 Millionen Dollar zahlen. Für DuPont wäre es die größte Übernahme seit der Abspaltung von DowDuPont 2019 gewesen.

Der Deal ist der bekannteste, der in den vergangenen vier Jahren wegen des Widerstands Chinas platzte. 2018 gab der US-Halbleiterhersteller Qualcomm die 44 Milliarden Dollar schwere Übernahme des niederländischen Konkurrenten NXP Semiconductors auf, nachdem die chinesische Aufsichtsbehörde angesichts des Handelsstreits zwischen China und den USA der Akquisition nicht zugestimmt hatte. rtr

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Noch mehr Lockdowns

Bislang war nur von Corona-Fällen und Lockdown im Foxconn-Werk in Zhengzhou die Rede. Nun hat die Stadtverwaltung über den gesamten Industriepark der Stadt Zhengzhou einen Lockdown verhängt. Er soll bis zum 9. November in Kraft bleiben.

Foxconn selbst zufolge arbeitet das Werk weiter im Pandemie-Modus. Beschäftigte leben demnach isoliert von der Außenwelt auf dem Gelände. In den vergangenen Tagen haben sich aber die Berichte gehäuft von fliehenden Arbeitern (China.Table berichtete), nachdem sie sich in den sozialen Medien über ihre Behandlung und Versorgung beschwert hatten. Foxconn vervierfachte daraufhin die Boni zur Besänftigung der Mitarbeiter. Apple drohen durch diese Zwangsmaßnahmen schon jetzt Einbußen bei der Produktion, denn Foxconn produziert 70 Prozent aller iPhones weltweit – die meisten davon in Zhengzhou.

Doch nicht nur der Apple-Zulieferer ist von den Lockdowns betroffen. Auch der Elektrofahrzeughersteller Nio muss die Produktion in seinen Werken in Hefei aussetzen. Berichte über Einschränkungen gab es zuletzt auch aus Guangzhou, Ningbo, Xining, Nanjing sowie der Inneren Mongolei. Die Restaurantkette Yum, Betreiber von KFC und Pizza Hut, teilte am Mittwoch mit, dass 1.400 seiner rund 12.400 Filialen in dem Land im Oktober vorübergehend geschlossen waren oder nur eingeschränkte Dienstleistungen anbieten konnten. Nach Behördenangaben wurden am Mittwoch landesweit trotz der in China strikt verfolgten Null-Covid-Politik 2.755 neue Infektionen verzeichnet. Das sind mehr als dreimal so viele Fälle wie noch vor zehn Tagen. rtr/flee

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Presseschau

Olaf Scholz: Kanzler kündigt vor Staatsbesuch neue China-Strategie an FAZ
Gespräche mit China: Bundesregierung will keine Polizeiaktivitäten dulden TAGESSCHAU
Chinesische Dissidenten drängen Scholz zu Verzicht auf Peking-Reise SPIEGEL
Grünen-Fraktion warnt Scholz vor “Höflichkeitsbesuch” in China OLDENBURGER-ONLINEZEITUNG
FDP-Vize Johannes Vogel: “Ich fordere einen China-Stresstest” SUEDDEUTSCHE
Wie China auf Deutschland blickt: “Was wollt Ihr eigentlich?” TAGESSPIEGEL
Bund plant Einwilligung zu China-Kauf von Chip-Fertigung – Geheimdienste warnen HANDELSBLATT
Hamburger Hafen-Chefin verteidigt Cosco-Deal: “Das China-Bashing nutzt keinem” T-ONLINE
China verhängt Lockdown rund um größte iPhone-Fabrik der Welt ZEIT
Corona-Lockdowns belasten Konzerne in China FAZ
China vows commitment to growth as investors bet on easier COVID policy INVESTING
Kauder beurteilt Lage für Christen in China als dramatisch: “Christen stehen unter Druck” DOMRADIO
China will support Pakistan in stabilising its financial situation – Xi REUTERS
CBC shutting down its China news bureau CBC
Deutschlands Exportüberschuss erholt sich – aber im Handel mit China wächst das Defizit BUSINESSINSIDER
USA-Korrespondent bei Lanz: Ohne China künftig “kein Antibiotikum mehr herstellbar” RND
Hong Kong Wants to Be a Crypto Hub Again COINDESK
TikTok tells European users its staff in China get access to their data THEGUARDIAN
China bans celebrities with ‘lapsed morals’ from endorsing products THEGUARDIAN
Großstädte in Gefahr – China-Rakete stürzt unkontrolliert auf die Erde WELT
Taiwan: Von Gans angegriffen – Großvater benutzt Enkelin als Schutzschild BUNTE

Standpunkt

Scholz-Besuch: Ein transkultureller Drahtseilakt

Von Ulrich Sollmann
Porträtfoto von Ulrich Sollmann im Anzug.
Psychologe Ulrich Sollmann lehrt an der Shanghai University of Political Science.

Zu einem schlechteren Zeitpunkt könnte der Kanzler gar nicht nach China fahren, betont Friedrich Merz lautstark und doch mit gepresster Stimme. Er wirft dabei dem Kanzler Respektlosigkeit auf ganzer Linie vor. Merz schmeißt jedoch, selbst im komfortablen Glashaus sitzend, respektlos mit Steinen. Er steht weder in der politischen Verantwortung, noch muss er sich in der politischen transkulturellen Kommunikation bewähren. Letztere ist gerade zur Zeit der aktuellen, sich verschärfenden Polarisierung nicht nur von Nöten, sondern eine rare Kunst. Eine Kunst, die gerade in China wachsam und oftmals schweigend, wohlweislich beobachtet wird. 

Scholz kann gar nicht, so könnte man einwerfen, einen besseren Zeitpunkt finden, um nach China zu fahren. Ist er doch der erste westliche Regierungschef, der nach langer Zeit China besucht: nach Corona, nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs, nach der explodierenden Inflation, nach dem Parteitag, nach der erneuten Wahl Xi Jinpings und kurz vor dem anstehenden Treffen der G-20-Länder. 

Der Kanzlerbesuch scheint somit eine gewisse Vorreiter- oder Wegbereiter-Funktion zu haben. Er erzeugt, so könnte man vermuten, einen verlängerten neuen geopolitischen ersten Eindruck. Ein solcher Eindruck wirkt weniger durch die Einzelheiten der erörterten oder verschwiegenen politischen Sachinhalte oder Positionen. Diese werden sowieso hinter verschlossenen Türen verhandelt. Ein solcher erster Eindruck lebt vornehmlich von der psychosozialen Induktion von Emotionalität. Entweder findet man den Auftritt der Beteiligten in einem solchen Moment “gut” oder “schlecht”. Man mag die Art und Weise, wie sich Scholz und Xi begrüßen werden, oder man spürt ein emotionales Unbehagen.

Dieses emotionale Geschehen prägt die Beziehungschemie der Beteiligten. In diesem Fall zwischen Olaf Scholz und Xi Jinping. Ebenso zwischen den Medien und den politischen Akteuren. Die mediale Berichterstattung prägt dann die Beziehungschemie zwischen Politik und Gesellschaft. Und bestenfalls die, welche sich zwischen den Kulturen China und Deutschland entwickelt.

Der Kanzler als Türöffner

Die geopolitische Lage erfordert eine neu zu überdenkende China-Strategie. Hierüber rauchen gewiss die Köpfe vieler, ob im Kanzleramt, oder in den Ministerien. Eine solche Strategie lebt aber auch von der Art und Weise, wie sie kommuniziert und umgesetzt wird. Der Besuch des Kanzlers in China hat daher unter anderem die Funktion eines kommunikativen Türöffners. Es wird abzuwarten sein, wie es Scholz gelingt, so zu kommunizieren, dass Xi seine Ohren und seine kulturellen Sinne öffnet. Ist dies doch die notwendige kommunikative Voraussetzung bei dem anstehen transkulturellen Drahtseilakt. 

Es wird in diesem Zusammenhang viel über die Unterschiede der politischen Systeme gesprochen, oder gar vom Wettstreit oder von der Rivalität der Systeme. Das macht Sinn. Es geht aber auch um den Unterschied zwischen den Kulturen, um den gelebten kommunikativen Respekt vor dem Andern, dem Fremden, trotz aller Unterschiedlichkeit und Diskrepanz.

Einige sprechen von interkulturellen Aspekten, andere von multikulturellen Unterschieden. Es wird hingegen zu wenig von der transkulturellen Kommunikation gesprochen. Um letztere geht es aber. Ich will es einen simplen Vergleich bringen. Stellen Sie sich vor, Sie würden eine neue Sprache lernen. Sie brauchen Vokabeln. Sie machen sich vertraut mit der Grammatik und den idiomatischen Regelwerken der Sprache. Dann beginnt das sprachliche Abenteuer. Sie springen in das kalte Wasser der gelebten Kommunikation und erleben sich selbst sowie ihr Gegenüber auch als emotional kommunizierende Menschen

Ich vergleiche den Erwerb von Vokabeln mit der interkulturellen Kommunikation, den des Erwerbs der Grammatik mit der multikulturellen Perspektive und die gelebte Kommunikation vor Ort als transkulturell, praktisch gelebte Kommunikation. 

Scholz tut also gut daran, sich mit allen drei Perspektiven vertraut zu machen. Welches sind die relevanten kulturellen Grundvoraussetzungen im Sinn von kulturellen Vokabeln, die gerade jetzt Bedeutung haben? Welches sind die relevanten kulturellen Kommunikationsmuster und Regeln, die es zu respektieren gilt. (Merz scheint in dieser Hinsicht noch seine Lernfähigkeit unter Beweis stellen zu müssen.) Und wird Scholz sich erfolgreich, das heißt anschlussfähig wie ein Fisch im kommunikativen (Wild-)Wasser bewegen können?

Wie wird er sich politisch und persönlich treu bleiben können und gleichzeitig emotional, relational anschlussfähig wirken? Er könnte konkret Türöffner in China sein. Er könnte möglicherweise hierdurch ein Narrativ für das G-20-Treffen initiieren, zudem gleichzeitig geopolitisch ein neues Rollenmodell verkörpern.

Transkulturell in China erfolgreich zu sein, könnte daher auch für Scholz heißen:

  • Sich inter-, multi- und transkulturell hinreichend zu üben, 
  • klare eigene Positionen zu entwickeln, die sich eher durch ihre Eigenständigkeit als durch “in Abgrenzung zur anderen” auszeichnet,
  • zu wissen und zu spüren, dass nicht nur der Fremde fremd ist, sondern auch ich, mir selbst gegenüber, fremd bin, (Akzeptanz von eigenen blinden Flecken),
  • transkulturell resonanzfähig zu bleiben, ohne chinesischer als ein Chinese wirken zu wollen.

Dann ist politische Strategie nicht nur eine gute Strategie, sondern erweist sich auch in der jeweiligen Situation als eine Strategie, die gut genug ist.

Ulrich Sollmann ist Psychotherapeut, Politikberater und Gastprofessor an der Shanghai University of Political Science. Er ist Autor des Buches: Begegnungen im Reich der Mitte. Mit psychologischem Blick in China unterwegs (Psychosozial Verlag, 2018).

  • Bundesregierung
  • Geopolitik
  • Olaf Scholz
  • Xi Jinping

Personalien

Hou Xiaodi wurde bei TuSimple, einem US-Start-up für autonomes Fahren, fristlos als CEO entlassen. Er soll nebenbei gegen Honorare für den chinesischen Konkurrenten Hydron gearbeitet haben, der im Bereich selbstfahrender Lastwagen unterwegs ist. Das FBI ermittelt.

Matthew Yao soll bei LaSalle Investment Management den Bereich Kapitalaufnahme in Renminbi (Yuan) innerhalb Chinas verantworten. Er arbeitet dafür mit den Teams in Shanghai und Hongkong zusammen. Yao kommt von Prudential.

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Dessert

Wer Peking kennt, weiß: Bei strahlend blauem Himmel und rötlichen Farben der Blätter ist der Herbst die schönste Jahreszeit in der Hauptstadt. Nur: Er ist leider sehr kurz. Häufig vergehen zwischen tropischen Nächten und frostigen Tagen nur wenige Wochen. Umso zahlreicher strömen die Pekinger in diesen Tagen in die Grünanlagen, wie hier auf dem Bild in den Beihai-Park, und genießen die Übergangszeit.

China.Table Redaktion

CHINA.TABLE REDAKTION

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    • Xis angriffslustige Außenpolitik
    • Offener Brief findet beim Kanzler Gehör
    • Niederlande ordnen Schließung von Polizeistationen an
    • USA warnt vor Pekings nuklearer Aufrüstung
    • China verhindert Übernahme-Deal von DuPont
    • Lockdowns belasten immer mehr Konzerne
    • Standpunkt: Psychologe Ulrich Sollmann zur Kanzler-Reise
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    Olaf Scholz reist morgen nicht wirklich souverän nach China ab, sondern als Vertreter eines Landes, das gerade wirtschaftlich in schwere Bedrängnis gerät. Felix Lee und Malte Kreutzfeldt geben in ihrer Analyse einen Überblick darüber, wie groß die Abhängigkeit nach jetzigem Stand wirklich ist – und wie stark das Olaf Scholz als Regierungschef einer Wirtschaftsnation daran bindet, China gegenüber verbindlich zu bleiben.

    Das Kanzleramt rechtfertigt die Reise wiederum mit politischen Gründen. Nur im persönlichen Gespräch lasse sich Xi Jinping bewegen, etwas für die Ukraine zu tun. Und nur im direkten Austausch lassen sich deutsche und europäische Interessen vor dem G20-Gipfel mit China abstimmen. Die Nähe zum Parteitag ist nach Darstellung des Kanzleramtes kaum mehr als ein zeitlicher Zufall. Für Xi allerdings ist die Aufwartung des Deutschen direkt nach seiner großen Show innenpolitisches Gold.

    Xi ist allerdings auch der erste Außenpolitiker seines Landes. Seit seinem Amtsantritt in der Ton gegenüber anderen Ländern aber rauer und zum Teil richtig unfreundlich geworden, analysiert Christiane Kühl. Xi sieht sich als die Kraft hinter weltpolitischen Veränderungen, in deren Zug der Westen seine Vormachtstellung verliert. Wer sich auf historischer Mission wähnt, geht jedoch nicht zimperlich vor. Das spüren auch Besucher wie Scholz. Was Annalena Baerbock angeht: Wir liefern auch Einschätzungen, mit welchen Ansprechpartnern sie es künftig in Peking zu tun. Sind es eher die neuen Wolfskrieger oder eher gediegene Diplomaten alter Schule?

    Ihr
    Finn Mayer-Kuckuk
    Bild von Finn  Mayer-Kuckuk

    Analyse

    Der abhängige Olaf Scholz

    Abflug nach Peking als Finanzminister 2019: Olaf Scholz reist diesmal in anderer Rolle in ein verändertes China.

    Eine Lehre aus Putins Angriffskrieg auf die Ukraine sollte lauten: Bloß nicht mehr von autoritären Staaten abhängig zu sein. Das Problem: Deutschlands wirtschaftliche Abhängigkeiten von China sind sogar noch mal sehr viel größer als die von Russland.

    Die öffentliche Kritik an der bevorstehenden Kanzlerreise schmerzt vermutlich auch deshalb so, weil sie auf ein nicht auflösbares Dilemma zurückgeht. Die deutsche Identität definiert sich zu einem guten Teil über eine starke Wirtschaft, doch deren Wohlergehen hing zuletzt vor allem von billigem russischen Gas und vom Geschäft mit China ab. Jetzt bleibt das eine weg, und Kanzler Olaf Scholz tut das Naheliegende: Er will das zweite Standbein stärken. Schließlich droht jetzt schon ein herber Wohlstandsverlust. Eine zweite Front von Problemen kann sich Deutschland buchstäblich nicht leisten.

    Seit nunmehr sieben Jahren ist China der wichtigste Handelspartner Deutschlands. Allein 2021 betrug das Volumen der In- und Exporte 245 Milliarden Euro. Etwa zehn Prozent ihres Außenhandels wickelt die Exportnation Deutschland mit der Volksrepublik ab. Das allein wäre nicht schlimm, wenn sie hier nicht eine Asymmetrie entwickelt hätte: Während China im Laufe der Jahre immer weniger Maschinen und Waren aus Deutschland bezieht, ist das umgekehrt nicht der Fall. Die Bundesrepublik kaufte zuletzt regelmäßig mehr dort ein, als sie nach China auslieferte.

    Der Trend zeigt sich auch an den Handelszahlen vom September:

    • Deutschland hat weniger nach China verkauft. Die Exporte sanken um zwei Prozent auf knapp neun Milliarden Euro.
    • Zugleich hat China mehr nach Deutschland verkauft. Die Importe stiegen um 5,4 Prozent auf gut 17 Milliarden Euro.

    “Das Ungleichgewicht im Handel mit China nimmt also immer mehr zu”, sagt der IW-Ökonom Jürgen Matthes. In einigen Bereichen, wie etwa in der Netzwerk- und Informationstechnologie, kommen sogar rund 40 Prozent aller Importe aus der Volksrepublik. Auch bei strategisch bedeutsamen Produkten wie Batterien für E-Autos oder Rohstoffen wie Seltene Erden, die Deutschland derzeit vor allem für seine Energiewende benötigt, “besteht eine starke Importabhängigkeit“, sagt das Geschäftsführende Vorstandsmitglied der deutschen Handelskammer (AHK) in Peking, Jens Hildebrandt.

    Auch haben sich Verflechtungen im ersten Halbjahr 2022 “mit einem enormen Tempo in die falsche Richtung entwickelt”, so Matthes in einer neuen Studie. “Die deutschen Direktinvestitionsflüsse nach China waren noch nie so hoch.” Seine Interpretation: “Der chinesische Markt soll offenbar immer mehr durch Produktion vor Ort statt durch Exporte bedient werden.” China macht sich also gezielt unabhängiger und treibt dafür seine eigene Abkopplung voran. Die Führung unter Xi Jinping hat explizit das Ziel vorgegeben, dass China technologisch und wirtschaftlich nach innen unabhängig werden soll. Zugleich soll der Rest der Welt aber noch abhängiger von China werden.

    Der Markt richtet es nicht ohne politische Weichenstellung

    All das kann Scholz als Regierungschef einer Wirtschaftsnation kurzfristig nicht ignorieren, selbst wenn gute politische Gründe dafür sprächen, China die kalte Schulter zu zeigen. Rund 5.000 deutsche Unternehmen sind heute in China tätig, 1,1 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland hängen laut Handelskammer vom China-Geschäft ab. “Was gerne übersehen wird, ist die Rolle Chinas als Innovationstreiber”, hebt der AHK-Manager auch hervor. “Deutsche Unternehmen entwickeln und testen in China neueste Technologien für den globalen Markt.”

    Doch die Abhängigkeit von der Autokratie in Fernost ist keine Naturkatastrophe, die wir hilflos hinnehmen müssen. Gerade hier ist langfristig auch die Richtlinienkompetenz des Kanzlers gefragt. Denn bis zu einer Disruption, wie die russische Aggression in der Ukraine eine wahr, tun die Firmen das, was in ihrer Natur liegt und maximieren den Gewinn. Es deutet vieles darauf hin, dass das Gewinnstreben der deutschen Firmen ohne einen staatlichen Eingriff weiterhin zu mehr und nicht zu weniger China bei Direktinvestitionen und Importen führt“, schreibt Matthes. “Die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von China als Absatzmarkt und Lieferant steigt damit immer weiter.” 

    Stufenweiser Ausstieg ist besser als Schock-Entzug

    Sich schrittweise unabhängiger zu machen, kann langfristig aber auch Geld wert sein, wie das aktuelle Gas-Problem zeigt. Das Ifo-Institut rechnet jedenfalls im Fall eines geopolitischen Konflikts mit China mit gewaltigen Einbußen für Deutschland. Größter Verlierer wäre die deutsche Automobilindustrie. Hier würde es einen Wertschöpfungsverlust von rund 8,3 Milliarden Euro geben, das entspricht einem Minus von rund 8,5 Prozent. Die Maschinenbauer wären mit einem Minus von über fünf Milliarden Euro betroffen. 

    Der Automarktexperte Ferdinand Dudenhöffer, Direktor vom Center of Automobile Research, (CAR) sieht jedoch einen erheblichen Haken in allen Gedankenspielen von der größeren Unabhängigkeit. Er ist sich sicher, dass die deutsche Autoindustrie um China gar nicht herumkommt. Man könne zwar neue Standorte suchen, zum Beispiel in den USA. Doch die USA seien kein Wachstumsmarkt. Würde die deutsche Autoindustrie den chinesischen Markt verlieren, würde VW auf einen Schlag an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Sie könnten mit anderen Autobauern nicht mehr mithalten. Dudenhöffer befürchtet für diesen Fall sogar das Ende der deutschen Automobilindustrie

    Eine Rückverlagerung von Betrieben aus China nach Deutschland, also eine Nationalisierung von Lieferketten, ist auch der Ifo-Studie zufolge keine Lösung: Sie würde sogar noch größere Wohlstandsverluste bedeuten. Der Grund: Die Produktion in Deutschland wäre deutlich teurer. Es müssten Bereiche gefördert werden, die in Deutschland unproduktiv sind. Im Endeffekt würde es dabei zu weniger Nachfrage nach diesen Waren kommen. Die Wirtschaft insgesamt würde schrumpfen. 

    Für einen völligen Stopp des Handels und der Abbruch aller Beziehungen mit China ist daher auch bei den Grünen und der FDP kaum jemand. Dafür ist China bei globalen Problemen wie etwa dem Klimawandel, Rohstoffmangel und Lieferkettenengpässen ein zu wichtiger Player. FDP und Grüne plädieren für mehr Diversifizierung. Die deutschen Unternehmen sollen sich stärker anderen Märkten, etwa in Südostasien zuwenden.

    Das Problem, und darauf verweisen auch die Ifo-Ökonomen: Eine Abkehr vom chinesischen Markt würde gar nicht von Deutschland entschieden werden, sondern hängt von den Auseinandersetzungen der großen Machtblöcke ab. Die USA fordern bereits von den Europäern, sich für eine Seite zu entscheiden: China oder die USA. 

    Scholz rechtfertigt die Visite mit G20 und Ukraine

    Das ist derzeit aber eine unmögliche Entscheidung, und deshalb macht Scholz nun in Peking seinen verspäteten Antrittsbesuch. Eigentlich entspricht das Treffen mit Xi nicht nur den Bedürfnissen eines Großteils der Wirtschaft, sondern auch den Wünschen zahlreicher China-Beobachter, die das Abreißen des hochrangigen Dialogs als hochproblematisch empfanden. Die Kritik hat sich daher zuletzt vor allem am Zeitpunkt der Reise festgemacht. Direkt nach dem 20. Parteitag wirke der Besuch bei Xi wie eine Audienz beim neuen chinesischen Kaiser.

    Am Mittwoch, einen Tag vor Abreise, bezog der Kommunikationsapparat des Kanzleramts dann Stellung zu der geballten Kritik. Die wirtschaftlichen Argumente ließ es gelten, wollte sie aber nicht in den Vordergrund stellen. Das lag vermutlich an der herben Kritik am Cosco-Einstieg in Hamburg, der Scholz den Ruf einbrachte, Firmenprofite vor Geopolitik und Menschenrechte zu stellen.

    Die Sprecher von Scholz argumentierten, es gebe es viele gute politische Gründe für ein Treffen zum jetzigen Zeitpunkt: So sei ein bilaterales Treffen mit China auch im Hinblick auf den G20-Gipfel wichtig, der Mitte November in Indonesien stattfindet. Denn man hege durchaus die Hoffnung, dass China doch noch seinen Einfluss auf Russland geltend machen werde. Angesichts der drohenden Eskalation des Ukraine-Konflikts dürfe man ein Treffen mit China “nicht auf die lange Bank schieben”. Dass es aus anderen europäischen Hauptstädten die Forderung gegeben habe, auf die Reise zu verzichten, bestritt das Kanzleramt.

    Die Kritik, dass die China-Reise unmittelbar nach dem Parteitag, auf dem Xi seine vollständige Kontrolle von Partei und Staat zelebriert hat, ein falsches Signal sende, ließ das Kanzleramt nicht gelten. Die zeitliche Nähe zum Parteitag sei “kein überzeugender Grund”, die Reise zu verschieben, hieß es aus Regierungskreisen. Denn dessen Beschlüsse, so argumentiert das Kanzleramt, seien in einigen Wochen oder Monaten ja nicht weniger problematisch.

    Das Kanzleramt ließ sich jedoch auf einige gute Absichten festlegen. Den verschärften Drohungen gegen Taiwan will sich Scholz beim Treffen am Freitag klar entgegenstellen. Man sei in großer Sorge und werde deutlich machen, dass jegliche Änderung der gegenwärtigen Situation “nur friedlich und im Einvernehmen mit allen Beteiligten” herbeigeführt werden könne. Felix Lee/Malte Kreutzfeldt

    • Autoindustrie

    Außenpolitik voller Kampfgeist

    Annalena Baerbock und Amtskollegen Wang Yi schütteln sich die Hand vor einer deutschen und chinesischen Flagge, beide tragen eine FFP2-Maske.
    Außenministerin Annalena Baerbock traf ihren Amtskollegen Wang Yi bisher am Rande der 77. Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York im September.

    Wenn Bundeskanzler Olaf Scholz am Freitag in China landet, wird er ein Land vorfinden, dessen Diplomatie von Konkurrenz, Kampf und markigen Worten bestimmt ist. Führende chinesische Außenpolitiker haben auf dem gerade zu Ende gegangenen Parteitag der Kommunisten einen unerschrockenen “Kampfgeist” in der Diplomatie des Landes beschworen. (China.Table berichtete).

    Die Zeiten, in denen China und der Westen trotz unterschiedlicher politischer Systeme und ideologischer Auffassungen in Sachfragen recht geräuschlos zusammenarbeiteten, sind vorbei. Im Westen gilt das Konzept “Wandel durch Handel” angesichts der immer autoritärer agierenden Regierung unter Staats- und Parteichef Xi Jinping als gescheitert. Umgekehrt steht für Xi spätestens seit der Corona-Pandemie mit vielen Toten in Europa und den USA fest: “Der Westen ist im Niedergang, der Osten steigt auf.”

    Unter dieser Prämisse dürfte Xi auch in seiner dritten Amtszeit seine Politik gestalten. Die Strategie: Chinas wirtschaftliches Gewicht für das Ringen mit dem Westen um politischen Einfluss in der Welt zu nutzen, damit China seinen angemessenen Platz in der Weltordnung erhält. Der Zeitpunkt sei gekommen, dass China die “Reform der Weltordnungspolitik” anführt und “näher ins Zentrum rückt”, wird Xi zitiert.

    Xis Außenpolitik: Herausforderung für den Westen

    Das wäre für den Westen schon Herausforderung genug, wenn China eine Demokratie mit handfester Interessenpolitik wäre, wie etwa die USA. Doch China ist sozialistischer Einparteienstaat, der sich in rasantem Tempo in eine Ein-Mann-Diktatur verwandelt hat. Xi sieht die Außenpolitik – natürlich – als Chefsache an und gestaltet sie weitgehend selbst.

    Chinas Außenpolitik befinde sich seit 2013/2014 in einer “deutlich aktivistischeren Phase” als zuvor, sagte kürzlich der ehemalige australische Premierminister und heutige Präsident der Asia Society Kevin Rudd bei der Vorstellung seines Buches The Avoidable War (“Der vermeidbare Krieg”) zum US-China-Konflikt. “Xi ist kein Status-Quo-Politiker, er möchte den Status Quo verändern”, so Rudd. Auf die alte Prämisse von Deng Xiaoping “Verstecke deine Stärke, warte ab und strebe nie die Führung an” gebe Xi nicht viel.

    Es ist nicht neu, dass Peking eine multipolare Welt anstrebt, in der eher nationale Interessen als universelle Werte eine Rolle spielen. Neu sind der härtere Umgangston und die Klarheit, mit der China unter Xi auf seine Sicht der Dinge und seine Rolle in der Welt pocht. Im Ukraine-Krieg hält China zu Russland – nach Ansicht der meisten Experten vor allem auf Basis der gemeinsamen Ablehnung der USA und ihrer Dominanz in der Welt. Beide hoffen auf eine Schwächung des Westens durch den Krieg. Deutschland sucht darauf noch nach der richtigen Antwort.

    Das Außenministerium ist dabei, im Auftrag der Bundesregierung erstmals eine China-Strategie zu entwickeln. Ziel ist es laut Koalitionsvertrag, “in der systemischen Rivalität mit China unsere Werte und Interessen verwirklichen zu können“. Man sei sich einig, “dass wir unsere Verwundbarkeit drastisch reduzieren müssen”, sagte dazu kürzlich Außenministerin Annalena Baerbock. Als Lehre aus den Fehlern der Russland-Politik müsse gelten, “dass wir uns von keinem Land mehr existenziell abhängig machen, das unsere Werte nicht teilt”.

    Scholz drückte trotzdem kürzlich die abgespeckte Beteiligung der chinesischen Staatsreederei Cosco an einem Containerterminal des Hamburger Hafens durch. Offiziell heißt es in Deutschland ebenso wie in der EU: China ist Partner, Konkurrent und Rivale zugleich.

    China und die USA: Krisenzeiten

    Die USA kalkulieren derweil inzwischen vor allem mit Wettbewerb und Rivalität, der Aspekt Kooperation rückt immer stärker in den Hintergrund. US-Präsident Joe Biden betonte in seiner neuen Sicherheitsstrategie, China sei für die internationale Ordnung eine größere Herausforderung als Russland. Ein paar Tage später beschränkte Washington den Verkauf von Chips und Komponenten an China. An der Taiwanstraße werfen USA und China sich gegenseitig vor, den Status Quo zu untergraben (China.Table berichtete).

    China und die USA könnten sich einem Kalten Krieg annähern, befürchtet Jia Qingguo, emeritierter Professor für internationale Studien an der Universität Peking: “Ich habe das Gefühl, dass Fragen der nationalen Sicherheit in beiden Ländern überbetont werden”, sagte Jia in einem von der US-Denkfabrik Carter Center veröffentlichten Interview. Jede neue Waffe oder Hochtechnologie des jeweils anderen Landes würde als ernsthafte Bedrohung angesehen, auf die man direkt reagieren müsste.

    Gut vernetzte Wissenschaftler in Peking und Shanghai beschuldigten in Gesprächen Amerika und seine Verbündeten, “einer Ordnung, deren ursprünglicher bescheidener Auftrag darin bestand, Staaten dabei zu helfen, friedlich zu koexistieren und Handel zu treiben, ihre eigene Besessenheit von den Menschenrechten aufzuzwingen”, schreibt der britische Economist in einer Analyse zu Chinas Außenpolitik.

    Zugleich wirkt Chinas Diplomatie selbst oft geradezu besessen von Washington. Die “größte Bedrohung für die Weltordnung” sei es, kleine Zirkel zu bilden, ideologische Grenzen zu ziehen, eine Konfrontation durch Blockbildung zu schüren und andere zu “schikanieren”, sagte Vizeaußenminister Ma Zhaoxu beim Parteitag. Es ist die typische Wortwahl im Zusammenhang mit den USA.

    Chinas KP sieht ihre Außenpolitik als Erfolg

    Aus Perspektive der Kommunistischen Partei Chinas habe Xi Jinpings Außenpolitik durchaus solide Erfolge auf­zuweisen, analysierte Mikko Huotari, Direktor des Merics-Instituts für Chinastudien, direkt nach dem Parteitag: “Die ‘Eskalation’ der Außenpolitik von einer ambitionierten Regionalmacht zur Großmacht mit globalem Führungsanspruch trägt klar seine Handschrift.”

    Die von Xi 2013 ins Leben gerufene Neue Seidenstraße sei dabei nur ein erstes Experimentierfeld gewesen. Mit seinen neuen globalen Initiativen für “Sicherheit”, “Datensicherheit” und “Entwicklung” zeichne Xi nun “die Konturen einer neuen chinazentrierten Weltordnung”, so Huotari. Der Staatschef habe im Inneren vor den Risiken einer Verschärfung des langfristigen System- und Strukturkonfliktes mit den USA gewarnt und “China auf diesen Kampf eingestellt.” Eines seiner Ziele habe Xi bereits erreicht, so Huotari: “Mit China kann heute international nur auf Augenhöhe und letztlich zu Chinas Bedingungen verhandelt werden.”

    Das ist schon deshalb unvermeidlich, weil China zu den fünf Vetomächten im UN-Sicherheitsrat gehört. Bisher vorgeschlagene Reformen des Gremiums – wie etwa die Beschränkung des Vetos auf Extremsituationen – lehnt Peking strikt ab. Im Gegenteil: China verlangt Respekt für die Großen Fünf. UN-Botschafter Zhang Jun bezeichnete kürzlich den Sicherheitsrat als “das maßgebliche und legitimste Organ des multilateralen Sicherheitssystems”. In anderen Organen der UNO gelingt es China zunehmend, große Gruppen von Ländern bei Abstimmungen auf seine Seite zu ziehen, zuletzt geschehen im UN-Menschenrechtsrat (China.Table berichtete)

    Wer wird Chinas Außenpolitik künftig prägen?

    Bis zum Nationalen Volkskongress im März muss Xi einen neuen Außenminister finden. Amtsinhaber Wang Yi ist trotz seiner 69 Jahre ins Politbüro aufgerückt und wird wohl Nachfolger von Yang Jiechi als Exekutivdirektor der Foreign Affairs Commission der KP und damit Xis “Außenpolitikzar“. Dieser Posten ist einflussreicher als der des chinesischen Außenministers.

    Wang wird damit künftig die Leitplanken der chinesischen Diplomatie bestimmen. Experten bescheinigen ihm hohe Kompetenz. “Wang Yi, der in den chinesischen Medien wegen seines guten Aussehens den Spitznamen ‘Silberfuchs’ trägt, ist ein Japan-Experte mit hervorragenden Sprachkenntnissen und Erfahrungen als chinesischer Botschafter in Tokio Mitte der 2000er-Jahre”, schrieben die Experten Richard McGregor und Neil Thomas kurz vor dem Parteitag. Er habe sich im Umgang mit Japan immer wieder flexibel gezeigt. “Wang verfügt über unvergleichliche diplomatische Erfahrung und Kontakte in der ganzen Welt.” Doch obwohl Wang ein treuer Diener sei, stehe er Xi nicht besonders nahe. Wang profitiert somit wohl von der Tradition, dass stets ein Außenpolitiker im Politbüro sitzt und sich niemand anders für die Yang-Nachfolge aufdrängte.

     Qin Gang bei einer Rede in Washington 2021, vor ihm stehen einige Mikrofone, im Hintergrund sieht man die amerikanische und die chinesische Flagge.
    Bald Baerbocks Ansprechpartner? Qin Gang ist ein Kandidat für das Amt des Außenministers.

    Der im Westen wohl bekannteste Kandidat für das Amt des Außenministers ist Qin Gang, seit Juli Botschafter in den USA (China.Table berichtete). Er ist mit 56 Jahren laut Yun Sun von der US-Denkfabrik Stimson Center einer von vier Außenpolitikern, die in das Zentralkomitee aufgerückt sind “Die meisten Spekulationen in China gehen in Richtung Qin Gang”, so Sun.

    Wang und Qin stehen für Kontinuität und trotz forscher Sprüche für einen grundsätzlich diplomatischen Ansatz. Doch auch die berüchtigte “Wolfskrieger”-Fraktion unter Chinas Diplomaten dürfte weiterhin für rüpelhafte Auftritte sorgen. Die Zeit für Schönwetterpolitik mit China ist jedenfalls vorbei. Das wird Scholz in Peking zu spüren bekommen.

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    Offener Brief ruft lautes Echo hervor

    Auf den Offenen Brief an Olaf Scholz, den eine große Zahl chinesischer Regimekritiker in China.Table veröffentlich hat, folgte am Mittwoch ein großes Echo in Medien und Politik. Deutschlandfunk, Spiegel Online, Zeit.de, die Stuttgarter Nachrichen und zahlreiche andere Sender und Seiten haben über den Aufruf der Dissidenten berichtet, die Reise abzusagen.

    Auch im Kanzleramt wurde das Schreiben sehr genau registriert. Regierungssprecher Steffen Hebestreit sagte am Mittwoch zwar zunächst den Standardsatz der Regierung zu offenen Briefen: Dazu äußere man sich nicht. Wichtiger war, was er hinzufügte: Der Bundeskanzler nehme “wahr und auf”, was “gesagt und geschrieben” werde. Dazu gehöre auch dieser Brief. Scholz “bereitet sich sehr gründlich und umfassend auf diese Reise vor” und sei mit vielen Betroffenen im Gespräch.

    Aus Kanzleramtskreisen war zudem die Einschätzung zu hören, die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des Briefs seien Stimmen, die man sehr ernst nehme. “Wir haben Respekt vor der Auffassung dieser Persönlichkeiten”, hieß es. Anders als die Dissidenten glaube die Bundesregierung aber nicht, dass es besser wäre, in der derzeitigen Situation auf einen Dialog zu verzichten. Man setze darauf, in Gesprächen für die deutsche Position zu werben und werde “auch schwierige Themen deutlich ansprechen”. mkr

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    Niederlande schließen chinesische Polizeistellen

    Die Niederlande reagieren auf Berichte (unter anderem in China.Table) über den Betrieb chinesischer Verhörstationen auf europäischem Boden. Außenminister Wopke Hoekstra ordnete an, die ohne Genehmigung betriebenen Polizeibüros mit sofortiger Wirkung zu schließen.

    Hoekstra habe dies auch dem chinesischen Botschafter mitgeteilt, berichtet die Nachrichtenagentur ANP. Er werde untersuchen lassen, welche Aktivitäten in den Übersee-Polizeistationen (ÜPS) stattgefunden haben. Ihre Existenz sei “inakzeptabel”. fin

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    USA fordern Atom-Verhandlungen

    Die USA sind wegen der mangelnden Gesprächsbereitschaft Chinas über Schritte zur Verringerung der atomaren Gefahr besorgt. Die Regierungen in Washington und Peking hätten trotz der Bemühungen der USA noch immer nicht mit dem Dialog über dieses Thema begonnen, sagte Alexandra Bell, die stellvertretende US-Staatssekretärin für Rüstungskontrolle, auf einem Forum der Denkfabrik Atlantic Council.

    Chinas Staatschef Xi Jinping und US-Präsident Joe Biden hatten vergangenes Jahr vereinbart, die Diskussion über strategische Stabilität voranzutreiben. Doch Xi signalisierte jüngst auf dem 20. Parteitag, dass das Land seine atomare Abschreckung noch verstärken werde. Nach Angaben des Pentagons baut China seine Nuklearstreitkräfte stark aus und strebt bis 2030 den Besitz von 1.000 Atomsprengköpfen an. Die Regierung in Peking argumentiert, dass die Vereinigten Staaten bereits über ein viel größeres Arsenal verfügen. rtr

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    DuPont muss Übernahme abblasen

    In den USA ist erstmals seit vier Jahren ein inländischer Übernahmedeal am Widerstand Chinas gescheitert. Der US-Chemiekonzern DuPont blies am Dienstag wegen regulatorischer Hürden in China die 5,2 Milliarden Dollar schwere Übernahme des ebenfalls US-amerikanischen Unternehmens Rogers ab. Die Rogers Corporation stellt Werkstoffe für die Elektroindustrie her. Es sei nicht gelungen, rechtzeitig alle erforderlichen Genehmigungen der Aufsichtsbehörden zu erhalten, teilte DuPont mit. Daher hätten sich DuPont und Rogers auf eine Absage des Deals geeinigt.

    Im September hatte der Konzern noch erklärt, bis auf die chinesische alle notwendigen Genehmigungen für die im November 2021 angekündigte Übernahme erhalten zu haben. Chinas Handelsministerium und die staatliche Behörde für Marktregulierung waren für eine Stellungnahme zunächst nicht erreichbar. DuPont wollte die ebenfalls in den USA ansässige Rogers im Zuge seiner Neuausrichtung kaufen und sich so einen Zugang zum Markt der schnell wachsenden Branchen wie Elektrofahrzeuge, 5G und saubere Energie verschaffen. Das Unternehmen muss Rogers nun eine Entschädigung von 162,5 Millionen Dollar zahlen. Für DuPont wäre es die größte Übernahme seit der Abspaltung von DowDuPont 2019 gewesen.

    Der Deal ist der bekannteste, der in den vergangenen vier Jahren wegen des Widerstands Chinas platzte. 2018 gab der US-Halbleiterhersteller Qualcomm die 44 Milliarden Dollar schwere Übernahme des niederländischen Konkurrenten NXP Semiconductors auf, nachdem die chinesische Aufsichtsbehörde angesichts des Handelsstreits zwischen China und den USA der Akquisition nicht zugestimmt hatte. rtr

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    Noch mehr Lockdowns

    Bislang war nur von Corona-Fällen und Lockdown im Foxconn-Werk in Zhengzhou die Rede. Nun hat die Stadtverwaltung über den gesamten Industriepark der Stadt Zhengzhou einen Lockdown verhängt. Er soll bis zum 9. November in Kraft bleiben.

    Foxconn selbst zufolge arbeitet das Werk weiter im Pandemie-Modus. Beschäftigte leben demnach isoliert von der Außenwelt auf dem Gelände. In den vergangenen Tagen haben sich aber die Berichte gehäuft von fliehenden Arbeitern (China.Table berichtete), nachdem sie sich in den sozialen Medien über ihre Behandlung und Versorgung beschwert hatten. Foxconn vervierfachte daraufhin die Boni zur Besänftigung der Mitarbeiter. Apple drohen durch diese Zwangsmaßnahmen schon jetzt Einbußen bei der Produktion, denn Foxconn produziert 70 Prozent aller iPhones weltweit – die meisten davon in Zhengzhou.

    Doch nicht nur der Apple-Zulieferer ist von den Lockdowns betroffen. Auch der Elektrofahrzeughersteller Nio muss die Produktion in seinen Werken in Hefei aussetzen. Berichte über Einschränkungen gab es zuletzt auch aus Guangzhou, Ningbo, Xining, Nanjing sowie der Inneren Mongolei. Die Restaurantkette Yum, Betreiber von KFC und Pizza Hut, teilte am Mittwoch mit, dass 1.400 seiner rund 12.400 Filialen in dem Land im Oktober vorübergehend geschlossen waren oder nur eingeschränkte Dienstleistungen anbieten konnten. Nach Behördenangaben wurden am Mittwoch landesweit trotz der in China strikt verfolgten Null-Covid-Politik 2.755 neue Infektionen verzeichnet. Das sind mehr als dreimal so viele Fälle wie noch vor zehn Tagen. rtr/flee

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    Presseschau

    Olaf Scholz: Kanzler kündigt vor Staatsbesuch neue China-Strategie an FAZ
    Gespräche mit China: Bundesregierung will keine Polizeiaktivitäten dulden TAGESSCHAU
    Chinesische Dissidenten drängen Scholz zu Verzicht auf Peking-Reise SPIEGEL
    Grünen-Fraktion warnt Scholz vor “Höflichkeitsbesuch” in China OLDENBURGER-ONLINEZEITUNG
    FDP-Vize Johannes Vogel: “Ich fordere einen China-Stresstest” SUEDDEUTSCHE
    Wie China auf Deutschland blickt: “Was wollt Ihr eigentlich?” TAGESSPIEGEL
    Bund plant Einwilligung zu China-Kauf von Chip-Fertigung – Geheimdienste warnen HANDELSBLATT
    Hamburger Hafen-Chefin verteidigt Cosco-Deal: “Das China-Bashing nutzt keinem” T-ONLINE
    China verhängt Lockdown rund um größte iPhone-Fabrik der Welt ZEIT
    Corona-Lockdowns belasten Konzerne in China FAZ
    China vows commitment to growth as investors bet on easier COVID policy INVESTING
    Kauder beurteilt Lage für Christen in China als dramatisch: “Christen stehen unter Druck” DOMRADIO
    China will support Pakistan in stabilising its financial situation – Xi REUTERS
    CBC shutting down its China news bureau CBC
    Deutschlands Exportüberschuss erholt sich – aber im Handel mit China wächst das Defizit BUSINESSINSIDER
    USA-Korrespondent bei Lanz: Ohne China künftig “kein Antibiotikum mehr herstellbar” RND
    Hong Kong Wants to Be a Crypto Hub Again COINDESK
    TikTok tells European users its staff in China get access to their data THEGUARDIAN
    China bans celebrities with ‘lapsed morals’ from endorsing products THEGUARDIAN
    Großstädte in Gefahr – China-Rakete stürzt unkontrolliert auf die Erde WELT
    Taiwan: Von Gans angegriffen – Großvater benutzt Enkelin als Schutzschild BUNTE

    Standpunkt

    Scholz-Besuch: Ein transkultureller Drahtseilakt

    Von Ulrich Sollmann
    Porträtfoto von Ulrich Sollmann im Anzug.
    Psychologe Ulrich Sollmann lehrt an der Shanghai University of Political Science.

    Zu einem schlechteren Zeitpunkt könnte der Kanzler gar nicht nach China fahren, betont Friedrich Merz lautstark und doch mit gepresster Stimme. Er wirft dabei dem Kanzler Respektlosigkeit auf ganzer Linie vor. Merz schmeißt jedoch, selbst im komfortablen Glashaus sitzend, respektlos mit Steinen. Er steht weder in der politischen Verantwortung, noch muss er sich in der politischen transkulturellen Kommunikation bewähren. Letztere ist gerade zur Zeit der aktuellen, sich verschärfenden Polarisierung nicht nur von Nöten, sondern eine rare Kunst. Eine Kunst, die gerade in China wachsam und oftmals schweigend, wohlweislich beobachtet wird. 

    Scholz kann gar nicht, so könnte man einwerfen, einen besseren Zeitpunkt finden, um nach China zu fahren. Ist er doch der erste westliche Regierungschef, der nach langer Zeit China besucht: nach Corona, nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs, nach der explodierenden Inflation, nach dem Parteitag, nach der erneuten Wahl Xi Jinpings und kurz vor dem anstehenden Treffen der G-20-Länder. 

    Der Kanzlerbesuch scheint somit eine gewisse Vorreiter- oder Wegbereiter-Funktion zu haben. Er erzeugt, so könnte man vermuten, einen verlängerten neuen geopolitischen ersten Eindruck. Ein solcher Eindruck wirkt weniger durch die Einzelheiten der erörterten oder verschwiegenen politischen Sachinhalte oder Positionen. Diese werden sowieso hinter verschlossenen Türen verhandelt. Ein solcher erster Eindruck lebt vornehmlich von der psychosozialen Induktion von Emotionalität. Entweder findet man den Auftritt der Beteiligten in einem solchen Moment “gut” oder “schlecht”. Man mag die Art und Weise, wie sich Scholz und Xi begrüßen werden, oder man spürt ein emotionales Unbehagen.

    Dieses emotionale Geschehen prägt die Beziehungschemie der Beteiligten. In diesem Fall zwischen Olaf Scholz und Xi Jinping. Ebenso zwischen den Medien und den politischen Akteuren. Die mediale Berichterstattung prägt dann die Beziehungschemie zwischen Politik und Gesellschaft. Und bestenfalls die, welche sich zwischen den Kulturen China und Deutschland entwickelt.

    Der Kanzler als Türöffner

    Die geopolitische Lage erfordert eine neu zu überdenkende China-Strategie. Hierüber rauchen gewiss die Köpfe vieler, ob im Kanzleramt, oder in den Ministerien. Eine solche Strategie lebt aber auch von der Art und Weise, wie sie kommuniziert und umgesetzt wird. Der Besuch des Kanzlers in China hat daher unter anderem die Funktion eines kommunikativen Türöffners. Es wird abzuwarten sein, wie es Scholz gelingt, so zu kommunizieren, dass Xi seine Ohren und seine kulturellen Sinne öffnet. Ist dies doch die notwendige kommunikative Voraussetzung bei dem anstehen transkulturellen Drahtseilakt. 

    Es wird in diesem Zusammenhang viel über die Unterschiede der politischen Systeme gesprochen, oder gar vom Wettstreit oder von der Rivalität der Systeme. Das macht Sinn. Es geht aber auch um den Unterschied zwischen den Kulturen, um den gelebten kommunikativen Respekt vor dem Andern, dem Fremden, trotz aller Unterschiedlichkeit und Diskrepanz.

    Einige sprechen von interkulturellen Aspekten, andere von multikulturellen Unterschieden. Es wird hingegen zu wenig von der transkulturellen Kommunikation gesprochen. Um letztere geht es aber. Ich will es einen simplen Vergleich bringen. Stellen Sie sich vor, Sie würden eine neue Sprache lernen. Sie brauchen Vokabeln. Sie machen sich vertraut mit der Grammatik und den idiomatischen Regelwerken der Sprache. Dann beginnt das sprachliche Abenteuer. Sie springen in das kalte Wasser der gelebten Kommunikation und erleben sich selbst sowie ihr Gegenüber auch als emotional kommunizierende Menschen

    Ich vergleiche den Erwerb von Vokabeln mit der interkulturellen Kommunikation, den des Erwerbs der Grammatik mit der multikulturellen Perspektive und die gelebte Kommunikation vor Ort als transkulturell, praktisch gelebte Kommunikation. 

    Scholz tut also gut daran, sich mit allen drei Perspektiven vertraut zu machen. Welches sind die relevanten kulturellen Grundvoraussetzungen im Sinn von kulturellen Vokabeln, die gerade jetzt Bedeutung haben? Welches sind die relevanten kulturellen Kommunikationsmuster und Regeln, die es zu respektieren gilt. (Merz scheint in dieser Hinsicht noch seine Lernfähigkeit unter Beweis stellen zu müssen.) Und wird Scholz sich erfolgreich, das heißt anschlussfähig wie ein Fisch im kommunikativen (Wild-)Wasser bewegen können?

    Wie wird er sich politisch und persönlich treu bleiben können und gleichzeitig emotional, relational anschlussfähig wirken? Er könnte konkret Türöffner in China sein. Er könnte möglicherweise hierdurch ein Narrativ für das G-20-Treffen initiieren, zudem gleichzeitig geopolitisch ein neues Rollenmodell verkörpern.

    Transkulturell in China erfolgreich zu sein, könnte daher auch für Scholz heißen:

    • Sich inter-, multi- und transkulturell hinreichend zu üben, 
    • klare eigene Positionen zu entwickeln, die sich eher durch ihre Eigenständigkeit als durch “in Abgrenzung zur anderen” auszeichnet,
    • zu wissen und zu spüren, dass nicht nur der Fremde fremd ist, sondern auch ich, mir selbst gegenüber, fremd bin, (Akzeptanz von eigenen blinden Flecken),
    • transkulturell resonanzfähig zu bleiben, ohne chinesischer als ein Chinese wirken zu wollen.

    Dann ist politische Strategie nicht nur eine gute Strategie, sondern erweist sich auch in der jeweiligen Situation als eine Strategie, die gut genug ist.

    Ulrich Sollmann ist Psychotherapeut, Politikberater und Gastprofessor an der Shanghai University of Political Science. Er ist Autor des Buches: Begegnungen im Reich der Mitte. Mit psychologischem Blick in China unterwegs (Psychosozial Verlag, 2018).

    • Bundesregierung
    • Geopolitik
    • Olaf Scholz
    • Xi Jinping

    Personalien

    Hou Xiaodi wurde bei TuSimple, einem US-Start-up für autonomes Fahren, fristlos als CEO entlassen. Er soll nebenbei gegen Honorare für den chinesischen Konkurrenten Hydron gearbeitet haben, der im Bereich selbstfahrender Lastwagen unterwegs ist. Das FBI ermittelt.

    Matthew Yao soll bei LaSalle Investment Management den Bereich Kapitalaufnahme in Renminbi (Yuan) innerhalb Chinas verantworten. Er arbeitet dafür mit den Teams in Shanghai und Hongkong zusammen. Yao kommt von Prudential.

    Ändert sich etwas in Ihrer Organisation? Schicken Sie doch einen Hinweis für unserer Personal-Rubrik an heads@table.media!

    Dessert

    Wer Peking kennt, weiß: Bei strahlend blauem Himmel und rötlichen Farben der Blätter ist der Herbst die schönste Jahreszeit in der Hauptstadt. Nur: Er ist leider sehr kurz. Häufig vergehen zwischen tropischen Nächten und frostigen Tagen nur wenige Wochen. Umso zahlreicher strömen die Pekinger in diesen Tagen in die Grünanlagen, wie hier auf dem Bild in den Beihai-Park, und genießen die Übergangszeit.

    China.Table Redaktion

    CHINA.TABLE REDAKTION

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