wenn es um die Kerninteressen der Volksrepublik China geht, spielt die eigene internationale Reputation für die Kommunistische Partei keine Rolle mehr. Im Gegenteil scheint sie jedes Maß zu verlieren für die Verhältnismäßigkeit ihres Handelns. Das von Peking lancierte Ausmaß an Gewalt gegen die Bürgerinnen und Bürger Hongkongs und die Entdemokratisierung der Stadt in den vergangenen knapp zwei Jahren lieferte ein Lehrbuch-Kapitel für die verabscheuenswürdige Gnadenlosigkeit autoritärer Systeme.
Dem politischen Westen hat das Beispiel Hongkong deutlich vor Augen geführt, wie wenig Einfluss er auf die Autokraten in Peking tatsächlich hat. Zumal Hongkong nicht eine x-beliebige chinesische Großstadt ist, sondern eine Metropole, deren Rechtssystem bis heute ausländische Richter beruft, um letztinstanzlich Zivil- oder Verfassungsfragen zu beantworten. Diese Richter waren eigentlich dafür gedacht, die Aufrechterhaltung demokratischer Grundsätze und Rechte bis 2047 zu gewährleisten.
Bis vergangene Woche waren es noch zwölf Briten, Australier, Neuseeländer und Kanadier, die als nichtständige Mitglieder dem Obersten Gerichtshof der Stadt angehörten. Die beiden prominentesten, die Briten Lord Reed und Lord Hodge, haben nun resigniert. Sie haben die Bedeutungslosigkeit ihrer Berufung eingesehen und die Konsequenzen gezogen. Richtig so. Denn wenn der Westen schon hilflos ist, die KP zu beschwichtigen, dann sollte er zumindest klare Signal setzen, dass er sich meilenweit von autokratischem Gebaren entfernt.
Der Sinneswandel von Lord Robert Reed benötigte sieben Monate. Noch im August des vergangenen Jahres hatte der Richter des Obersten Gerichtshofs des Vereinigten Königreichs die Justiz in Hongkong als “weitgehend unabhängig von der Regierung” und deren Entscheidungen “im Einklang mit der Rechtsstaatlichkeit” beurteilt. Auf Basis dieser Einschätzung setzten Reed und sein Amtskollege Lord Patrick Hodge ihre Tätigkeit als nichtständige Mitglieder am Court of Final Appeal (CFA), dem höchsten Gremium des Hongkonger Rechtssystems, bis auf Weiteres fort.
Vor wenigen Tagen folgte die Kehrtwende. Reed und Hodge beendeten ihre Berufung in den CFA mit einem Knall (China.Table berichtete). Die beiden Repräsentanten des britischen Obersten Gerichtshofs könnten ihre Tätigkeit nicht weiter fortsetzen, “ohne eine Regierung zu unterstützen, die sich von den Werten der politischen Freiheit und der Meinungsfreiheit entfernt hat”. So ihre Begründung. Ausschlaggebend für diese Entwicklung sei die Einführung des Nationalen Sicherheitsgesetzes in Hongkong im Juli 2020 gewesen. Es ist das erste Mal, dass ausländische Richter das Sicherheitsgesetz konkret für die Erosion der Hongkonger Demokratie verantwortlich machten.
Mehrere Rechtsexperten:innen wie Eva Pils, die bis 2014 an der Chinese University of Hongkong Rechtswissenschaft lehrte, bewerten den Schritt des britischen Duos gegenüber China.Table als “überfällig”. Andere kommentierten auf Twitter, so wie Eric Lai vom Georgetown University Law Centre in Washington: “Die Erklärung scheint zu implizieren, dass die Rücktritte Misstrauensvoten gegen die Stadtverwaltung sind.”
Viel zu lange hätten die ausländischen nichtständigen Mitglieder aus Großbritannien, Kanada, Neuseeland und Australien nach Auffassung vieler Experten mehr oder minder stillschweigend zugeschaut, wie der Einfluss der Politik auf die Hongkonger Rechtssprechung zunahm. “Vermutlich hatte es die Hoffnung gegeben, dass sich der CFA gegen die aggressive Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten wehren könnte”, sagt der Jurist Michael Davis im Gespräch mit China.Table. Er ist Autor des Buches “Making Hong Kong China: The Rollback of Human Rights and the Rule of Law”.
Doch mit dem Ausbruch von Massenprotesten in der Metropole gegen den wachsenden autoritären Einfluss der Volksrepublik China auf die Stadt und vor allem mit der Einführung des Sicherheitsgesetzes seien “die Gerichte unter enormen offiziellen Druck geraten”, sagt Davis. “Richter, die sich nicht an die Strafverfolgung durch die Regierung halten, werden von Pekings Unterstützern und den pro-Pekingern Medien an den Pranger gestellt.”
Ein anderer wichtiger Faktor: Die Gestaltung des Gesetzes befugt die Regierung indirekt dazu, selbst auszuwählen, welche Richter:innen in der Jury sitzen, wenn Verstöße gegen das Sicherheitsgesetz vor dem CFA landen. So wie im Fall des pro-demokratischen Verlegers Jimmy Lai, dem das Revisionsgericht eine Freilassung auf Kaution verweigerte. (China.Table berichtete) Kein Ausländer war bei dem Verfahren Mitglied des Gerichts.
“So werden die ausländischen Richter effektiv von der Eindämmung der Übergriffe durch die Regierung abgehalten, obwohl das der eigentliche Grund für ihre Teilnahme im CFA ist”, erklärt Davis. Die Richter Reed und Hodge hätten entschieden, “dass ihre Rolle nicht länger tragfähig ist, weil sie keine vollständige richterliche Unabhängigkeit sehen. Sie fürchten, sich an der Unterdrückung politischer Aktionen und der Meinungsfreiheit mitschuldig zu machen.”
Das CFA ist das höchste Gericht der Stadt Hongkong. Es befasst sich letztinstanzlich mit Zivil-, aber auch mit Verfassungsrecht. Hongkong selbst hat nominell zwar keine eigene Verfassung. Allerdings wird das sogenannte Basic Law, das bei der Rückgabe der Stadt von Großbritannien an die Volksrepublik China 1997 eingeführt wurde, als Mini-Verfassung bezeichnet. Damals wurde auch der CFA eingerichtet. Er hat drei ständige und 30 nichtständige Mitglieder.
1984 hatten Peking und London vereinbart, dass auch ausländische Richter aus dem Commonwealth als nichtständige Mitglieder in den CFA berufen werden können. Einerseits sollte damit der Mangel an geeigneten Hongkonger Richtern für die verantwortungsvolle Rolle kompensiert werden. Andererseits sollten die Juristen aus dem Ausland die Funktionalität des Prinzips “ein Land, zwei Systeme” repräsentieren. Die jahrelang schleichende und seit 2019 stark beschleunigte Entdemokratisierung Hongkongs durch die Politik konnten jedoch auch die ausländischen Richter nicht verhindern. Stattdessen bietet ihre Anwesenheit der örtlichen Regierung eine willkommene Form der Legitimation, vor allem in Richtung der eigenen Bevölkerung.
Entsprechend aufgebracht reagierte Hongkongs scheidende Regierungschefin Carrie Lam und versuchte, die Rechtfertigung des Rückzugs von Reed und Hodge mit dem Sicherheitsgesetz als konstruiert darzustellen. “Wir müssen alle unbegründeten Behauptungen vehement zurückweisen, dass der Rücktritt der Richter irgendetwas mit der Einführung des Sicherheitsgesetzes von Hongkong oder der Ausübung der Redefreiheit und der politischen Freiheit zu tun habe”, sagte Lam. Stattdessen wolle die britische Regierung den CFA politisieren, klagte sie. Tatsächlich hielten Reed und Hodge regelmäßig Rücksprache mit der britischen Politik über die Situation in Hongkong. Das Außenministerium in London ist den Richtern jedoch nicht weisungsbefugt.
Alvin Cheung von der New York University, glaubt, dass Lam hinter den Kulissen “in Panik gerate”. “In den vergangenen Jahren hat Lam im Ausland immer wieder darauf hingewiesen, dass die anhaltende Präsenz von ausländischen Richtern im CFA zeige, dass das gesamte Rechtssystem der Stadt auf solider Rechtsstaatlichkeit basiere. Nun gibt es ein großes Fragezeichen hinter dieser Behauptung”, sagt Cheung, der bis 2013 in Hongkong als Anwalt praktizierte.
Der Jurist findet es “unerhört”, dass die verbliebenen zehn ausländischen CFA-Richter, darunter sechs Briten, bislang nicht die gleiche Entscheidung wie Reed und Hodge getroffen haben. “Der Reputationsgewinn für die Regierung von Hongkong ist viel größer als das Maß an Kontrolle, das diese Richter mit einem Sitz im CFA in Bezug auf das Gerichtssystem als Ganzes ausüben können”, sagt Cheung.
Im vergangenen Jahr hatte Baronesse Brenda Hale, die erste Frau an der Spitze des Obersten Gerichts in Großbritannien, ihren Verzicht auf eine weitere Amtszeit als CFA-Richterin bekannt gegeben. Direkte Kritik verkniff sie sich, sendete aber zwischen den Zeilen eine Botschaft. Sie betonte damals, dass “Wirtschaftsprozesse” in Hongkong weiterhin rechtsstaatlichen Ansprüchen genügten. Kein Wort aber sagte sie über Zivil- oder Menschenrechtsverfahren.
Während die schrecklichen Bilder aus dem ukrainischen Butscha die Titelseiten internationaler Zeitungen füllen, findet eine Berichterstattung über diese Geschehnisse in Chinas staatlichen Medien praktisch nicht statt. Weder in der Parteizeitung People’s Daily (人民日报) noch im staatlichen Fernsehen wird über das Ausmaß der mutmaßlichen russischen Kriegsverbrechen offen berichtet.
Eine Suche nach den beiden chinesischen Schreibweisen für den Ort Butscha (布查 und 布恰) in den jüngsten Printausgaben der People’s Daily bleibt ohne Ergebnis. Auf der Internetseite der Zeitung findet sich ein einziger Artikel der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua, der die Toten von Butscha nur im Zusammenhang mit dem russischen Dementi erwähnt. Ausgiebig zitiert werden dagegen der Pressesprecher des russischen Präsidenten Dmitri Peskow und Außenminister Sergej Lawrow. Allgemein hält sich die Volkszeitung mit aktueller Berichterstattung zur Invasion in der Ukraine eher zurück. Wenn der Krieg erwähnt wird, dann vor allem in den Kommentarspalten, die regelmäßig den USA und der Nato die Schuld an der Eskalation geben.
In den Nachrichten des chinesischen Staatsfernsehens wird täglich über die “Lage in der Ukraine” (乌克兰局势) und den dortigen “Konflikt” (冲突 chongtu) berichtet. Bis heute weigert man sich, offen von einem Krieg (战争 zhanzheng) zu sprechen und verwendet auch weiterhin den russischen Euphemismus einer “militärischen Spezialoperation” (特别军事行动). Der Inhalt der Nachrichten unterscheidet sich derweil dramatisch von den Meldungen, die wir in Europa zur Lage in der Ukraine bekommen. So auch über die Toten von Butscha.
Im Laufe der vergangenen drei Tage erwähnte der Staatssender CCTV in der wichtigsten Nachrichtensendung des Landes, Xinwen Lianbo (新闻联播), Butscha ein einziges Mal: Am Sonntag (03.04.) berichtete Nachrichtensprecher Pan Tao in der Sendung um 19 Uhr, dass ukrainische Streitkräfte die gesamte Oblast Kiew wieder unter ihre Kontrolle gebracht haben, nachdem sich russische Truppen aus dem Gebiet zurückgezogen hatten. Seitdem kein Wort über den Kreis Butscha oder die zivilen Opfer.
Mit 35 Prozent hat Xinwen Lianbo den größten Marktanteil in China und wird außer auf dem Hauptsender CCTV-1 auch gleichzeitig auf dem Militär- und Verteidigungssender CCTV-7 und dem 24-Stunden-Nachrichtensender CCTV-13 übertragen. In ihrer Bedeutung ist die Sendung etwa mit der deutschen Tagesschau vergleichbar. Anstatt über die Toten in Butscha berichtete der Nachrichtensender CCTV-13 am Montag ausgiebig über den ukrainischen Angriff auf ein Tanklager im russischen Belgorod. In aus dem russischen Fernsehen übernommenen Interviews mit Anwohnern von Belgorod hörten chinesische Zuschauer, dass die Ukrainer “alles im Umkreis [der Tanklager] zerbombt” hätten.
Im Gegensatz zu den für ein chinesisches Publikum gedachten Hauptnachrichten berichtet der chinesischsprachige Auslandssender CCTV-4 (中文国际) ausgiebig über die Lage in der Ukraine und die Ereignisse in Butscha. Obwohl die Zuschauerzahlen des Senders seit Kriegsbeginn stark zugenommen haben, kommt die Sendung Asia Today (今日亚洲), die etwa zur gleichen Zeit mit Xinwen Lianbo ausgestrahlt wird, aber nicht einmal auf ein Fünftel der Zuschauerzahl. Der Sender ist unter anderem auf YouTube einsehbar und richtet sich vor allem an Auslandschinesen und das chinesischsprachige Publikum in Hongkong, Macau und Taiwan.
Eine genauere Betrachtung der Berichterstattung der letzten Tage zeigt jedoch auch, dass die CCTV-4-Redaktion ihre Meldungen zu großen Teilen aus russischen Quellen bezieht. Das tägliche Ukraine-Segment wird meist mit einem Update aus dem russischen Verteidigungsministerium eingeleitet. Die Berichte beinhalten außerdem lange Ausschnitte von russischen TV-Journalisten, die in Russlands Truppenverbänden “embedded” sind.
Ein Bericht aus der Sendung China News (中国新闻) vom Montagabend begann derweil mit der “Anschuldigung ukrainischer Medien”, dass russische Truppen in Butscha mehrere hundert Zivilisten getötet hätten. “Die ukrainische Regierung beschuldigt Russland, Kriegsverbrechen begangen zu haben,” so die Moderatorin. Der Rest des Beitrags beschäftigte sich dann mit Moskaus Dementi: Alle sogenannten Beweisvideos und -fotos seien inszeniert. Es handele sich um eine Inszenierung der Ukrainer für die westlichen Medien und eine erneute Provokation gegenüber Russland. “Das russische Außenministerium betonte: In dem Zeitraum, in dem Butscha unter russischer Kontrolle war, ist keinem einzigen Zivilisten Gewalt widerfahren. Die Anwohner konnten sich frei bewegen und Mobilfunk frei nutzen. Auch die Evakuierungskorridore aus Butscha wurden nicht blockiert.”
Der Bericht von China News ging noch weiter: Russische Truppen hätten unter den Anwohnern des Oblasts Kiew 452 Tonnen humanitäre Hilfsgüter verteilt. Die Inszenierung der Ukraine ziele darauf ab, die laufenden Friedensverhandlungen zu torpedieren, wird die Sprecherin des russischen Außenministeriums zitiert. “Hinter dieser erneuten Provokation stecken die USA und Nato.”
Das russische Narrativ, die Ukraine sei ein Spielball der USA und handle nicht selbstbestimmt, findet sich in den chinesischen Staatsmedien immer wieder. Erst am Dienstagabend zitierte Xinwen Lianbo Außenminister Lawrow mit den Worten, er hoffe, die Ukraine könne im Rahmen der Friedensverhandlungen “selbstständig die richtige Entscheidung treffen”. Auch in diesem Bericht wird zwar erwähnt, dass der Westen neue Sanktionen gegen Russland plant und dass Deutschland und Frankreich russische Diplomaten ausgewiesen haben. Verheimlicht wird den Zuschauern aber, warum: Zu den Opfern von Butscha wurde auch hier geschwiegen.
Der Bericht endet mit dem Hinweis, die Waffenlieferungen der USA seien Öl im Feuer des Konflikts. Als Kronzeuge wird ausgerechnet ein angebliches Mitglied eines amerikanischen Thinktanks vorgeführt: Seit 2014 werde die Ukraine aus Washington regiert und die USA hätten gegenüber Russlands Sicherheitsforderungen ein arrogantes Verhalten an den Tag gelegt. “Die Krise die daraus folgte wurde von den USA und der Nato herbeigeführt,” so George Szamuely im Interview. Das ihm zugeschriebene Global Policy Institute liegt allerdings nicht in den USA, sondern in London. Und Szamuely ist dort, anders als in seinem englischsprachigen Wikipedia-Eintrag angegeben, schon lange nicht mehr als Fellow geführt.
In den sozialen Medien diskutieren chinesische Internetnutzer derweil kontrovers über die Ereignisse in Butscha. Einige einflussreiche Blogger ziehen Belege für Kriegsverbrechen in Zweifel und bezichtigen die Ukraine der Fälschung. Andere, wie der bekannte Fudan-Professor und Kommentator Shen Yi (沈逸), argumentieren, dass die Strategie der ukrainischen Regierung und der USA, Zivilisten zu bewaffnen, diese zu legitimen Zielen gemacht habe.
Russland-kritische Beiträge in Sozialmedien, die zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen, fallen dagegen immer wieder der Zensur zum Opfer. Im Gegensatz dazu müssen Internetnutzer, die Ukrainer verunglimpfen und als Nazis bezeichnen, die es nicht anders verdient hätten, kaum mit Konsequenzen rechnen.
Vor diesem Hintergrund wird Chinas Versuch, sich im aktuellen Konflikt nach außen als neutraler Akteur zu präsentieren, der sowohl gute Beziehungen zu Russland als auch zur Ukraine pflegt, ad absurdum geführt. Allein die Tatsache, dass die wichtigste Nachrichtensendung des Landes die Toten von Butscha noch immer mit keinem Wort erwähnt hat, spricht Bände. David Demes
Der Hongkonger Sicherheitschef John Lee hat seine Kandidatur zur Wahl des neuen Regierungschefs in der Stadt bekannt gegeben. Der 64-Jährige hat bereits sein Rücktrittsgesuch eingereicht, das gemäß dem Basic Law noch von der chinesischen Zentralregierung angenommen werden muss. Dieser Schritt gilt nur noch als formeller Akt, weil Lee laut Medienberichten bei seiner Kandidatur die Rückendeckung Pekings genießt.
Am 8. Mai bestimmt das neu zusammengesetzte Hongkonger Parlament den neuen Regierungschef der Stadt. Die bisherige Chief Executive Carrie Lam verzichtet auf eine weitere Kandidatur und wird am 30. Juni die Amtsgeschäfte niederlegen.
Lee war 2017 von Lam ins Amt des Sicherheitschefs berufen worden. Im vergangenen Jahr übernahm er zudem die Rolle des Leitenden Geschäftsführers der Hongkonger Regierung und nahm damit hinter Lam Rang zwei in der Verwaltungs-Hierarchie ein. Lee arbeitet seit mehr als 40 Jahren im öffentlichen Dienst. In seiner Rolle als Sicherheitschef hat er maßgeblichen Anteil an der politischen Säuberung der Stadt seit Einführung des Nationalen Sicherheitsgesetzes. grz
Die Stadtregierung von Shanghai verspricht, die Versorgungslage im Lockdown zu verbessern. Die Zahl der aktiven Lieferfahrer werde dazu auf 11.000 erhöht. Kooperationspartner sind weiterhin Privatfirmen wie Meituan, Hema (auf Englisch Freshippo), Dingdong und Ele.me. Meituan allein kündigte an, tausend zusätzliche Fahrer einzusetzen.
Je länger der Lockdown sich hinzieht, desto leerer werden die Vorratskammern der Bürger. Es seien grundsätzlich genug Grundnahrungsmittel für alle da, doch es hapere weiterhin an der Verteilung auf den letzten Metern, sagte Vizebürgermeister Chen Tong in einer Pressekonferenz. Bei der Lebensmittelverteilung tun sich zugleich immer wieder Lücken auf. So sind Einwohner ohne Shanghaier Meldestatus (Hukou) oder Hotelgäste nur unzureichend erfasst.
Trotz über einer Woche mit der Ausgangssperre steigen die Fallzahlen in der Metropole weiter. Shanghai meldete am Donnerstag 19.989 bestätigte Neuinfektionen mit dem Coronavirus. Am Tag zuvor waren es noch 17.007. Ein Ende des Lockdowns ist daher nicht absehbar. Auch in anderen Städten nehmen wegen örtlichen Ausbrüchen die Einschränkungen zu.
Die Behörden wollen unterdessen auch Flüge mit Ziel Shanghai strengere Vorschriften auferlegen. Schon jetzt gilt die Regel, dass internationale Verbindungen chinesischer Airlines auf andere Flughäfen ausweichen sollen. Dies gilt noch mindestens bis zum 1. Mai. Zusätzlich sollen die verbleibenden Shanghai-Flüge mindestens zu 60 Prozent leer fliegen. Die freien Sitze sollen die Wahrscheinlichkeit einer Infektion an Bord senken, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters. Bisher mussten die Anbieter mindestens 25 Prozent der Sitze freibleiben. Die Verschärfung soll dem Bericht zufolge kommenden Montag in Kraft treten.
Die Kommunistische Partei verstärkt derweil ihre Propagandaanstrengungen, um sich als unermüdliche Kämpferin gegen das Virus zu präsentieren. In einem Brief an Mitglieder schwor die KP in Shanghai, das “Schwert gegen all diejenigen zu schwingen, die den Bemühungen gegen die Pandemie entgegenstehen”. Die Staatsmedien vermeldeten eine Disziplinarstrafe gegen einen mittelhohen Kader aus der Provinz Hebei. Dieser hatte online geprahlt, die Grenzen gesperrter Zonen mit seinem Dienstausweis mühelos überschreiten zu können. Das war legal, aber ungeschickt. Man sei nicht für die Bequemlichkeit Teil der Partei, lautete der Kommentar. Wer ihrem Image schade, müsse bestraft werden. fin
In Tibet ist es binnen weniger Wochen erneut zu einer Selbstanzündung mit Todesfolge gekommen. Ein 81-Jähriger namens Taphun hatte sich nach Angaben der International Campaign for Tibet (ICT) am 27. März vor einer Polizeistation im osttibetischen Landkreis Aba in der Provinz Sichuan in Brand gesteckt und war später seinen Verletzungen erlegen. Bereits Ende Februar hatte sich der 25-jährige tibetische Sänger Tsewang Norbu vor dem Potala-Palast in Lhasa selbst angezündet. (China.Table berichtete.) Auch er war einige Tage später verstorben.
Selbstanzündungen sind eine extreme Form des Protestes der Tibeter gegen die chinesische Besatzung. Seit 2009 haben sich knapp 160 Tibeter selbst in Brand gesteckt, um gegen chinesische Repressionen zu protestieren. Ein Drittel der Selbstverbrennungen unternahmen Bewohner der Region Aba. Seit 2015 aber hatte die Zahl solcher Vorfälle drastisch abgenommen.
Die chinesischen Behörden machen die Selbstverbrennungen nicht publik, sondern vermeiden eine öffentliche Wahrnehmung. Durch die hermetische Informationspolitik schaffen es Nachrichten über solche Tragödien erst Tage oder Wochen über die chinesische Staatsgrenze hinaus. grz
Fu Zhenghua, zuvor ein hoher Kader, wurde aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen. Er war von 2018 bis 2020 Justizminister. Zuvor war er als Vizeminister für Öffentliche Sicherheit und damit Geheimdienstchef. Seit Oktober liefen Ermittlungen gegen Fu wegen Verstößen gegen die Disziplin (China.Table berichtete). Wie in anderen aktuellen Fällen wurde hier ein Jäger zum Gejagten: Im Jahr 2013 leitete er im Auftrag von Xi Jinping die Korruptionsermittlungen gegen Zhou Yongkang, dem zuvor allmächtigen Sicherheitschef. Fu hat stets besonders streng gegen Regierungskritiker, Anwälte und Aktivisten ermitteln lassen.
Das Beispiel Fu Zhenghua zeigt, dass gerade im Jahr des Parteikongresses kein hoher Politiker vor einem tiefen Sturz sicher ist (China.Table berichtete). Vor anderthalb Wochen wurden auch Ermittlungen gegen Shen Deyong bekannt. Dieser war einst Vizepräsident des Obersten Volksgerichts. fin
Shahnura Kasim verbringt viel Zeit in den sozialen Netzwerken. Tiktok, Instagram und Co. sind eine Art Szenetreff für junge Menschen. Kasim ist 19 Jahre alt, lebt in München und bereitet sich gerade auf das Abitur vor. Wie viele ihrer Altersgenoss:innen postet auch sie fleißig und hat sich im Wetteifern um Abonnent:innen schon knapp 14.000 Follower erarbeitet.
Doch statt lustige Szenen aus ihrem Alltag oder Selfies zu veröffentlichen, lenkt die junge Frau die Aufmerksamkeit auf das Schicksal der Uiguren in Xinjiang im Nordwesten Chinas. Kasim möchte darüber aufklären, was in der Autonomen Region der Volksrepublik mit der weitgehend muslimischen Bevölkerungsgruppe passiert. Eine Tragödie, die ihr noch immer viel zu wenig beleuchtet wird.
Wer sich mit China beschäftigt, weiß, dass die Uiguren Opfer von gravierenden Menschenrechtsverletzungen sind. Doch viele junge Menschen in Deutschland, für die China ein weit entfernter, eigener Kosmos ist, wissen das noch nicht. Genau diejenigen will Kasim mit ihren Botschaften über Tiktok erreichen.
Es brauche dringend Aufklärung, betont sie im Gespräch mit China.Table. Gerade auch in den Schulen. Doch da stoße sie auf taube Ohren. “In der Oberstufe wird ein halbes Jahr über Nationalsozialismus gelehrt. Weshalb finden wir nicht eine Doppelstunde Zeit, um über etwas Aktuelles zu sprechen, das Parallelen aufzeigt?”, fragt sie. Tatsächlich bezeichnen zahlreiche demokratische Regierungen, Parlamente und Politiker der Welt die Vorgänge in Xinjiang als Genozid.
Mehr als eine Million Uigur:innen sitzen in Internierungslagern, wo ihre Identität mit allen nötigen Mitteln sinisiert werden soll. Folter und Prügel gehört laut Dutzenden Augenzeugen zu den gängigen Mitteln. Auch Kasim hat Verwandte in Xinjiang, die eingesperrt sind oder vielleicht auch tot. So genau weiß sie das nicht, weil der Kontakt vor Jahren abbrach.
2019 bekam sie die Nachricht, dass ihre Großmutter in einem Umerziehungslager ist und ihre Tante vermisst wird. Ihr Onkel kam wahrscheinlich in einem der Lager ums Leben. Details kennt sie nicht. Doch für Kasim war das der Auslöser, über soziale Medien eine Öffentlichkeit für die Menschenrechtsverbrechen in Xinjiang zu schaffen. Die Reaktionen bestürzten sie: “Viele haben mir geschrieben, dass sie noch nie davon gehört haben. Dass sie nicht einmal wussten, dass eine Volksgruppe der Uiguren existiert.”
Manche ihrer Videos erreichen Zehntausende Klicks. Darin wendet Kasim zum Teil jene stilistischen Mittel an, die der Aufmerksamkeitsspanne in sozialen Medien gerecht werden: kurze Botschaften, untermalt mit Mimik oder Musik. Sie tanzt und lächelt, während kurze Schriftzüge über den Bildschirm flimmern, die auf das Elend der Uiguren hinweisen.
Vor Beginn der Olympischen Spiele im Februar in Peking lud Kasim ein Video hoch, in dem sie ihre Zuschauer dazu aufforderte, mit ihr zu tanzen, wenn sie für einen diplomatischen Boykott der Spiele seien. Statt ausführliche Einzelheiten über die Situation in Xinjiang darzustellen, verbreitet sie meistens kurze Parolen, die ihre Zuschauer:innen dazu verleiten sollen, sich selbst mit dem Thema zu befassen. Manchmal erzählt sie aber auch vom Schicksal ihrer Familie und versucht, Wissenslücken zu schließen und mit Vorurteilen aufzuräumen.
Kasim und ihre Geschwister sind in Deutschland geboren und aufgewachsen. Schon in den 1990er-Jahren flüchtete Kasims Vater vor der Unterdrückung durch die chinesische Regierung, die damals noch weitgehend von der Weltöffentlichkeit ignoriert wurde. Das ändert sich zwar, aber in Kasims Augen nicht schnell genug. Sie ärgert sich, wenn sie lesen oder hören muss, dass die Unterdrückung der Uiguren eine Reaktion der chinesischen Regierung auf uigurische Terrorattacken sei. “Die Unterdrückung dauert schon seit Jahrzehnten an”, klagt sie. Kasim fürchtet, dass Medien und Politik der chinesischen Propaganda in die Falle gehen und sich deren Darstellung der Situation zu eigen machen.
Seitens der Politik wünscht sie sich schärfere Kritik an der chinesischen Regierung und wirtschaftliche Sanktionen. Die regelmäßigen Debatten im Menschenrechts-Ausschuss des Bundestages, die anstehenden Implementierung von Lieferkettengesetzen gegen Zwangsarbeit oder die EU-Sanktionen gegen Funktionäre der Kommunistischen Partei reichen ihr nicht aus. Deutschland müsse allein aufgrund der eigenen Geschichte die Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang als Völkermord anerkennen, fordert sie. So wie es die US-Regierung und die britische Regierung es getan haben oder zuletzt die französische Nationalversammlung.
Zu ihrer Familie in China hatte sie in den vergangenen Jahren nur wenig Kontakt. “Wir durften niemals offen mit unseren Verwandten sprechen”, erzählt sie. “Meine Mutter hat immer gesagt: Pass auf, was du sagst. Erwähne China nicht.” Kasim belastet es bis heute, dass sie ihre Familie nicht richtig kennt.
Doch Aufgeben kommt nicht infrage. Dass sich ihr Aktivismus in Deutschland negativ auf die Situation ihrer Familie in China auswirken könne, müsse sie notgedrungen in Kauf nehmen. “Wir dürfen nicht mehr egoistisch sein. Wenn ich auch schweige, und der andere auch schweigt, dann existieren wir bald nicht mehr.” Dann, so Kasim, gäbe es bald ein Volk, eine Kultur, eine Sprache weniger. Lisa Winter
wenn es um die Kerninteressen der Volksrepublik China geht, spielt die eigene internationale Reputation für die Kommunistische Partei keine Rolle mehr. Im Gegenteil scheint sie jedes Maß zu verlieren für die Verhältnismäßigkeit ihres Handelns. Das von Peking lancierte Ausmaß an Gewalt gegen die Bürgerinnen und Bürger Hongkongs und die Entdemokratisierung der Stadt in den vergangenen knapp zwei Jahren lieferte ein Lehrbuch-Kapitel für die verabscheuenswürdige Gnadenlosigkeit autoritärer Systeme.
Dem politischen Westen hat das Beispiel Hongkong deutlich vor Augen geführt, wie wenig Einfluss er auf die Autokraten in Peking tatsächlich hat. Zumal Hongkong nicht eine x-beliebige chinesische Großstadt ist, sondern eine Metropole, deren Rechtssystem bis heute ausländische Richter beruft, um letztinstanzlich Zivil- oder Verfassungsfragen zu beantworten. Diese Richter waren eigentlich dafür gedacht, die Aufrechterhaltung demokratischer Grundsätze und Rechte bis 2047 zu gewährleisten.
Bis vergangene Woche waren es noch zwölf Briten, Australier, Neuseeländer und Kanadier, die als nichtständige Mitglieder dem Obersten Gerichtshof der Stadt angehörten. Die beiden prominentesten, die Briten Lord Reed und Lord Hodge, haben nun resigniert. Sie haben die Bedeutungslosigkeit ihrer Berufung eingesehen und die Konsequenzen gezogen. Richtig so. Denn wenn der Westen schon hilflos ist, die KP zu beschwichtigen, dann sollte er zumindest klare Signal setzen, dass er sich meilenweit von autokratischem Gebaren entfernt.
Der Sinneswandel von Lord Robert Reed benötigte sieben Monate. Noch im August des vergangenen Jahres hatte der Richter des Obersten Gerichtshofs des Vereinigten Königreichs die Justiz in Hongkong als “weitgehend unabhängig von der Regierung” und deren Entscheidungen “im Einklang mit der Rechtsstaatlichkeit” beurteilt. Auf Basis dieser Einschätzung setzten Reed und sein Amtskollege Lord Patrick Hodge ihre Tätigkeit als nichtständige Mitglieder am Court of Final Appeal (CFA), dem höchsten Gremium des Hongkonger Rechtssystems, bis auf Weiteres fort.
Vor wenigen Tagen folgte die Kehrtwende. Reed und Hodge beendeten ihre Berufung in den CFA mit einem Knall (China.Table berichtete). Die beiden Repräsentanten des britischen Obersten Gerichtshofs könnten ihre Tätigkeit nicht weiter fortsetzen, “ohne eine Regierung zu unterstützen, die sich von den Werten der politischen Freiheit und der Meinungsfreiheit entfernt hat”. So ihre Begründung. Ausschlaggebend für diese Entwicklung sei die Einführung des Nationalen Sicherheitsgesetzes in Hongkong im Juli 2020 gewesen. Es ist das erste Mal, dass ausländische Richter das Sicherheitsgesetz konkret für die Erosion der Hongkonger Demokratie verantwortlich machten.
Mehrere Rechtsexperten:innen wie Eva Pils, die bis 2014 an der Chinese University of Hongkong Rechtswissenschaft lehrte, bewerten den Schritt des britischen Duos gegenüber China.Table als “überfällig”. Andere kommentierten auf Twitter, so wie Eric Lai vom Georgetown University Law Centre in Washington: “Die Erklärung scheint zu implizieren, dass die Rücktritte Misstrauensvoten gegen die Stadtverwaltung sind.”
Viel zu lange hätten die ausländischen nichtständigen Mitglieder aus Großbritannien, Kanada, Neuseeland und Australien nach Auffassung vieler Experten mehr oder minder stillschweigend zugeschaut, wie der Einfluss der Politik auf die Hongkonger Rechtssprechung zunahm. “Vermutlich hatte es die Hoffnung gegeben, dass sich der CFA gegen die aggressive Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten wehren könnte”, sagt der Jurist Michael Davis im Gespräch mit China.Table. Er ist Autor des Buches “Making Hong Kong China: The Rollback of Human Rights and the Rule of Law”.
Doch mit dem Ausbruch von Massenprotesten in der Metropole gegen den wachsenden autoritären Einfluss der Volksrepublik China auf die Stadt und vor allem mit der Einführung des Sicherheitsgesetzes seien “die Gerichte unter enormen offiziellen Druck geraten”, sagt Davis. “Richter, die sich nicht an die Strafverfolgung durch die Regierung halten, werden von Pekings Unterstützern und den pro-Pekingern Medien an den Pranger gestellt.”
Ein anderer wichtiger Faktor: Die Gestaltung des Gesetzes befugt die Regierung indirekt dazu, selbst auszuwählen, welche Richter:innen in der Jury sitzen, wenn Verstöße gegen das Sicherheitsgesetz vor dem CFA landen. So wie im Fall des pro-demokratischen Verlegers Jimmy Lai, dem das Revisionsgericht eine Freilassung auf Kaution verweigerte. (China.Table berichtete) Kein Ausländer war bei dem Verfahren Mitglied des Gerichts.
“So werden die ausländischen Richter effektiv von der Eindämmung der Übergriffe durch die Regierung abgehalten, obwohl das der eigentliche Grund für ihre Teilnahme im CFA ist”, erklärt Davis. Die Richter Reed und Hodge hätten entschieden, “dass ihre Rolle nicht länger tragfähig ist, weil sie keine vollständige richterliche Unabhängigkeit sehen. Sie fürchten, sich an der Unterdrückung politischer Aktionen und der Meinungsfreiheit mitschuldig zu machen.”
Das CFA ist das höchste Gericht der Stadt Hongkong. Es befasst sich letztinstanzlich mit Zivil-, aber auch mit Verfassungsrecht. Hongkong selbst hat nominell zwar keine eigene Verfassung. Allerdings wird das sogenannte Basic Law, das bei der Rückgabe der Stadt von Großbritannien an die Volksrepublik China 1997 eingeführt wurde, als Mini-Verfassung bezeichnet. Damals wurde auch der CFA eingerichtet. Er hat drei ständige und 30 nichtständige Mitglieder.
1984 hatten Peking und London vereinbart, dass auch ausländische Richter aus dem Commonwealth als nichtständige Mitglieder in den CFA berufen werden können. Einerseits sollte damit der Mangel an geeigneten Hongkonger Richtern für die verantwortungsvolle Rolle kompensiert werden. Andererseits sollten die Juristen aus dem Ausland die Funktionalität des Prinzips “ein Land, zwei Systeme” repräsentieren. Die jahrelang schleichende und seit 2019 stark beschleunigte Entdemokratisierung Hongkongs durch die Politik konnten jedoch auch die ausländischen Richter nicht verhindern. Stattdessen bietet ihre Anwesenheit der örtlichen Regierung eine willkommene Form der Legitimation, vor allem in Richtung der eigenen Bevölkerung.
Entsprechend aufgebracht reagierte Hongkongs scheidende Regierungschefin Carrie Lam und versuchte, die Rechtfertigung des Rückzugs von Reed und Hodge mit dem Sicherheitsgesetz als konstruiert darzustellen. “Wir müssen alle unbegründeten Behauptungen vehement zurückweisen, dass der Rücktritt der Richter irgendetwas mit der Einführung des Sicherheitsgesetzes von Hongkong oder der Ausübung der Redefreiheit und der politischen Freiheit zu tun habe”, sagte Lam. Stattdessen wolle die britische Regierung den CFA politisieren, klagte sie. Tatsächlich hielten Reed und Hodge regelmäßig Rücksprache mit der britischen Politik über die Situation in Hongkong. Das Außenministerium in London ist den Richtern jedoch nicht weisungsbefugt.
Alvin Cheung von der New York University, glaubt, dass Lam hinter den Kulissen “in Panik gerate”. “In den vergangenen Jahren hat Lam im Ausland immer wieder darauf hingewiesen, dass die anhaltende Präsenz von ausländischen Richtern im CFA zeige, dass das gesamte Rechtssystem der Stadt auf solider Rechtsstaatlichkeit basiere. Nun gibt es ein großes Fragezeichen hinter dieser Behauptung”, sagt Cheung, der bis 2013 in Hongkong als Anwalt praktizierte.
Der Jurist findet es “unerhört”, dass die verbliebenen zehn ausländischen CFA-Richter, darunter sechs Briten, bislang nicht die gleiche Entscheidung wie Reed und Hodge getroffen haben. “Der Reputationsgewinn für die Regierung von Hongkong ist viel größer als das Maß an Kontrolle, das diese Richter mit einem Sitz im CFA in Bezug auf das Gerichtssystem als Ganzes ausüben können”, sagt Cheung.
Im vergangenen Jahr hatte Baronesse Brenda Hale, die erste Frau an der Spitze des Obersten Gerichts in Großbritannien, ihren Verzicht auf eine weitere Amtszeit als CFA-Richterin bekannt gegeben. Direkte Kritik verkniff sie sich, sendete aber zwischen den Zeilen eine Botschaft. Sie betonte damals, dass “Wirtschaftsprozesse” in Hongkong weiterhin rechtsstaatlichen Ansprüchen genügten. Kein Wort aber sagte sie über Zivil- oder Menschenrechtsverfahren.
Während die schrecklichen Bilder aus dem ukrainischen Butscha die Titelseiten internationaler Zeitungen füllen, findet eine Berichterstattung über diese Geschehnisse in Chinas staatlichen Medien praktisch nicht statt. Weder in der Parteizeitung People’s Daily (人民日报) noch im staatlichen Fernsehen wird über das Ausmaß der mutmaßlichen russischen Kriegsverbrechen offen berichtet.
Eine Suche nach den beiden chinesischen Schreibweisen für den Ort Butscha (布查 und 布恰) in den jüngsten Printausgaben der People’s Daily bleibt ohne Ergebnis. Auf der Internetseite der Zeitung findet sich ein einziger Artikel der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua, der die Toten von Butscha nur im Zusammenhang mit dem russischen Dementi erwähnt. Ausgiebig zitiert werden dagegen der Pressesprecher des russischen Präsidenten Dmitri Peskow und Außenminister Sergej Lawrow. Allgemein hält sich die Volkszeitung mit aktueller Berichterstattung zur Invasion in der Ukraine eher zurück. Wenn der Krieg erwähnt wird, dann vor allem in den Kommentarspalten, die regelmäßig den USA und der Nato die Schuld an der Eskalation geben.
In den Nachrichten des chinesischen Staatsfernsehens wird täglich über die “Lage in der Ukraine” (乌克兰局势) und den dortigen “Konflikt” (冲突 chongtu) berichtet. Bis heute weigert man sich, offen von einem Krieg (战争 zhanzheng) zu sprechen und verwendet auch weiterhin den russischen Euphemismus einer “militärischen Spezialoperation” (特别军事行动). Der Inhalt der Nachrichten unterscheidet sich derweil dramatisch von den Meldungen, die wir in Europa zur Lage in der Ukraine bekommen. So auch über die Toten von Butscha.
Im Laufe der vergangenen drei Tage erwähnte der Staatssender CCTV in der wichtigsten Nachrichtensendung des Landes, Xinwen Lianbo (新闻联播), Butscha ein einziges Mal: Am Sonntag (03.04.) berichtete Nachrichtensprecher Pan Tao in der Sendung um 19 Uhr, dass ukrainische Streitkräfte die gesamte Oblast Kiew wieder unter ihre Kontrolle gebracht haben, nachdem sich russische Truppen aus dem Gebiet zurückgezogen hatten. Seitdem kein Wort über den Kreis Butscha oder die zivilen Opfer.
Mit 35 Prozent hat Xinwen Lianbo den größten Marktanteil in China und wird außer auf dem Hauptsender CCTV-1 auch gleichzeitig auf dem Militär- und Verteidigungssender CCTV-7 und dem 24-Stunden-Nachrichtensender CCTV-13 übertragen. In ihrer Bedeutung ist die Sendung etwa mit der deutschen Tagesschau vergleichbar. Anstatt über die Toten in Butscha berichtete der Nachrichtensender CCTV-13 am Montag ausgiebig über den ukrainischen Angriff auf ein Tanklager im russischen Belgorod. In aus dem russischen Fernsehen übernommenen Interviews mit Anwohnern von Belgorod hörten chinesische Zuschauer, dass die Ukrainer “alles im Umkreis [der Tanklager] zerbombt” hätten.
Im Gegensatz zu den für ein chinesisches Publikum gedachten Hauptnachrichten berichtet der chinesischsprachige Auslandssender CCTV-4 (中文国际) ausgiebig über die Lage in der Ukraine und die Ereignisse in Butscha. Obwohl die Zuschauerzahlen des Senders seit Kriegsbeginn stark zugenommen haben, kommt die Sendung Asia Today (今日亚洲), die etwa zur gleichen Zeit mit Xinwen Lianbo ausgestrahlt wird, aber nicht einmal auf ein Fünftel der Zuschauerzahl. Der Sender ist unter anderem auf YouTube einsehbar und richtet sich vor allem an Auslandschinesen und das chinesischsprachige Publikum in Hongkong, Macau und Taiwan.
Eine genauere Betrachtung der Berichterstattung der letzten Tage zeigt jedoch auch, dass die CCTV-4-Redaktion ihre Meldungen zu großen Teilen aus russischen Quellen bezieht. Das tägliche Ukraine-Segment wird meist mit einem Update aus dem russischen Verteidigungsministerium eingeleitet. Die Berichte beinhalten außerdem lange Ausschnitte von russischen TV-Journalisten, die in Russlands Truppenverbänden “embedded” sind.
Ein Bericht aus der Sendung China News (中国新闻) vom Montagabend begann derweil mit der “Anschuldigung ukrainischer Medien”, dass russische Truppen in Butscha mehrere hundert Zivilisten getötet hätten. “Die ukrainische Regierung beschuldigt Russland, Kriegsverbrechen begangen zu haben,” so die Moderatorin. Der Rest des Beitrags beschäftigte sich dann mit Moskaus Dementi: Alle sogenannten Beweisvideos und -fotos seien inszeniert. Es handele sich um eine Inszenierung der Ukrainer für die westlichen Medien und eine erneute Provokation gegenüber Russland. “Das russische Außenministerium betonte: In dem Zeitraum, in dem Butscha unter russischer Kontrolle war, ist keinem einzigen Zivilisten Gewalt widerfahren. Die Anwohner konnten sich frei bewegen und Mobilfunk frei nutzen. Auch die Evakuierungskorridore aus Butscha wurden nicht blockiert.”
Der Bericht von China News ging noch weiter: Russische Truppen hätten unter den Anwohnern des Oblasts Kiew 452 Tonnen humanitäre Hilfsgüter verteilt. Die Inszenierung der Ukraine ziele darauf ab, die laufenden Friedensverhandlungen zu torpedieren, wird die Sprecherin des russischen Außenministeriums zitiert. “Hinter dieser erneuten Provokation stecken die USA und Nato.”
Das russische Narrativ, die Ukraine sei ein Spielball der USA und handle nicht selbstbestimmt, findet sich in den chinesischen Staatsmedien immer wieder. Erst am Dienstagabend zitierte Xinwen Lianbo Außenminister Lawrow mit den Worten, er hoffe, die Ukraine könne im Rahmen der Friedensverhandlungen “selbstständig die richtige Entscheidung treffen”. Auch in diesem Bericht wird zwar erwähnt, dass der Westen neue Sanktionen gegen Russland plant und dass Deutschland und Frankreich russische Diplomaten ausgewiesen haben. Verheimlicht wird den Zuschauern aber, warum: Zu den Opfern von Butscha wurde auch hier geschwiegen.
Der Bericht endet mit dem Hinweis, die Waffenlieferungen der USA seien Öl im Feuer des Konflikts. Als Kronzeuge wird ausgerechnet ein angebliches Mitglied eines amerikanischen Thinktanks vorgeführt: Seit 2014 werde die Ukraine aus Washington regiert und die USA hätten gegenüber Russlands Sicherheitsforderungen ein arrogantes Verhalten an den Tag gelegt. “Die Krise die daraus folgte wurde von den USA und der Nato herbeigeführt,” so George Szamuely im Interview. Das ihm zugeschriebene Global Policy Institute liegt allerdings nicht in den USA, sondern in London. Und Szamuely ist dort, anders als in seinem englischsprachigen Wikipedia-Eintrag angegeben, schon lange nicht mehr als Fellow geführt.
In den sozialen Medien diskutieren chinesische Internetnutzer derweil kontrovers über die Ereignisse in Butscha. Einige einflussreiche Blogger ziehen Belege für Kriegsverbrechen in Zweifel und bezichtigen die Ukraine der Fälschung. Andere, wie der bekannte Fudan-Professor und Kommentator Shen Yi (沈逸), argumentieren, dass die Strategie der ukrainischen Regierung und der USA, Zivilisten zu bewaffnen, diese zu legitimen Zielen gemacht habe.
Russland-kritische Beiträge in Sozialmedien, die zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen, fallen dagegen immer wieder der Zensur zum Opfer. Im Gegensatz dazu müssen Internetnutzer, die Ukrainer verunglimpfen und als Nazis bezeichnen, die es nicht anders verdient hätten, kaum mit Konsequenzen rechnen.
Vor diesem Hintergrund wird Chinas Versuch, sich im aktuellen Konflikt nach außen als neutraler Akteur zu präsentieren, der sowohl gute Beziehungen zu Russland als auch zur Ukraine pflegt, ad absurdum geführt. Allein die Tatsache, dass die wichtigste Nachrichtensendung des Landes die Toten von Butscha noch immer mit keinem Wort erwähnt hat, spricht Bände. David Demes
Der Hongkonger Sicherheitschef John Lee hat seine Kandidatur zur Wahl des neuen Regierungschefs in der Stadt bekannt gegeben. Der 64-Jährige hat bereits sein Rücktrittsgesuch eingereicht, das gemäß dem Basic Law noch von der chinesischen Zentralregierung angenommen werden muss. Dieser Schritt gilt nur noch als formeller Akt, weil Lee laut Medienberichten bei seiner Kandidatur die Rückendeckung Pekings genießt.
Am 8. Mai bestimmt das neu zusammengesetzte Hongkonger Parlament den neuen Regierungschef der Stadt. Die bisherige Chief Executive Carrie Lam verzichtet auf eine weitere Kandidatur und wird am 30. Juni die Amtsgeschäfte niederlegen.
Lee war 2017 von Lam ins Amt des Sicherheitschefs berufen worden. Im vergangenen Jahr übernahm er zudem die Rolle des Leitenden Geschäftsführers der Hongkonger Regierung und nahm damit hinter Lam Rang zwei in der Verwaltungs-Hierarchie ein. Lee arbeitet seit mehr als 40 Jahren im öffentlichen Dienst. In seiner Rolle als Sicherheitschef hat er maßgeblichen Anteil an der politischen Säuberung der Stadt seit Einführung des Nationalen Sicherheitsgesetzes. grz
Die Stadtregierung von Shanghai verspricht, die Versorgungslage im Lockdown zu verbessern. Die Zahl der aktiven Lieferfahrer werde dazu auf 11.000 erhöht. Kooperationspartner sind weiterhin Privatfirmen wie Meituan, Hema (auf Englisch Freshippo), Dingdong und Ele.me. Meituan allein kündigte an, tausend zusätzliche Fahrer einzusetzen.
Je länger der Lockdown sich hinzieht, desto leerer werden die Vorratskammern der Bürger. Es seien grundsätzlich genug Grundnahrungsmittel für alle da, doch es hapere weiterhin an der Verteilung auf den letzten Metern, sagte Vizebürgermeister Chen Tong in einer Pressekonferenz. Bei der Lebensmittelverteilung tun sich zugleich immer wieder Lücken auf. So sind Einwohner ohne Shanghaier Meldestatus (Hukou) oder Hotelgäste nur unzureichend erfasst.
Trotz über einer Woche mit der Ausgangssperre steigen die Fallzahlen in der Metropole weiter. Shanghai meldete am Donnerstag 19.989 bestätigte Neuinfektionen mit dem Coronavirus. Am Tag zuvor waren es noch 17.007. Ein Ende des Lockdowns ist daher nicht absehbar. Auch in anderen Städten nehmen wegen örtlichen Ausbrüchen die Einschränkungen zu.
Die Behörden wollen unterdessen auch Flüge mit Ziel Shanghai strengere Vorschriften auferlegen. Schon jetzt gilt die Regel, dass internationale Verbindungen chinesischer Airlines auf andere Flughäfen ausweichen sollen. Dies gilt noch mindestens bis zum 1. Mai. Zusätzlich sollen die verbleibenden Shanghai-Flüge mindestens zu 60 Prozent leer fliegen. Die freien Sitze sollen die Wahrscheinlichkeit einer Infektion an Bord senken, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters. Bisher mussten die Anbieter mindestens 25 Prozent der Sitze freibleiben. Die Verschärfung soll dem Bericht zufolge kommenden Montag in Kraft treten.
Die Kommunistische Partei verstärkt derweil ihre Propagandaanstrengungen, um sich als unermüdliche Kämpferin gegen das Virus zu präsentieren. In einem Brief an Mitglieder schwor die KP in Shanghai, das “Schwert gegen all diejenigen zu schwingen, die den Bemühungen gegen die Pandemie entgegenstehen”. Die Staatsmedien vermeldeten eine Disziplinarstrafe gegen einen mittelhohen Kader aus der Provinz Hebei. Dieser hatte online geprahlt, die Grenzen gesperrter Zonen mit seinem Dienstausweis mühelos überschreiten zu können. Das war legal, aber ungeschickt. Man sei nicht für die Bequemlichkeit Teil der Partei, lautete der Kommentar. Wer ihrem Image schade, müsse bestraft werden. fin
In Tibet ist es binnen weniger Wochen erneut zu einer Selbstanzündung mit Todesfolge gekommen. Ein 81-Jähriger namens Taphun hatte sich nach Angaben der International Campaign for Tibet (ICT) am 27. März vor einer Polizeistation im osttibetischen Landkreis Aba in der Provinz Sichuan in Brand gesteckt und war später seinen Verletzungen erlegen. Bereits Ende Februar hatte sich der 25-jährige tibetische Sänger Tsewang Norbu vor dem Potala-Palast in Lhasa selbst angezündet. (China.Table berichtete.) Auch er war einige Tage später verstorben.
Selbstanzündungen sind eine extreme Form des Protestes der Tibeter gegen die chinesische Besatzung. Seit 2009 haben sich knapp 160 Tibeter selbst in Brand gesteckt, um gegen chinesische Repressionen zu protestieren. Ein Drittel der Selbstverbrennungen unternahmen Bewohner der Region Aba. Seit 2015 aber hatte die Zahl solcher Vorfälle drastisch abgenommen.
Die chinesischen Behörden machen die Selbstverbrennungen nicht publik, sondern vermeiden eine öffentliche Wahrnehmung. Durch die hermetische Informationspolitik schaffen es Nachrichten über solche Tragödien erst Tage oder Wochen über die chinesische Staatsgrenze hinaus. grz
Fu Zhenghua, zuvor ein hoher Kader, wurde aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen. Er war von 2018 bis 2020 Justizminister. Zuvor war er als Vizeminister für Öffentliche Sicherheit und damit Geheimdienstchef. Seit Oktober liefen Ermittlungen gegen Fu wegen Verstößen gegen die Disziplin (China.Table berichtete). Wie in anderen aktuellen Fällen wurde hier ein Jäger zum Gejagten: Im Jahr 2013 leitete er im Auftrag von Xi Jinping die Korruptionsermittlungen gegen Zhou Yongkang, dem zuvor allmächtigen Sicherheitschef. Fu hat stets besonders streng gegen Regierungskritiker, Anwälte und Aktivisten ermitteln lassen.
Das Beispiel Fu Zhenghua zeigt, dass gerade im Jahr des Parteikongresses kein hoher Politiker vor einem tiefen Sturz sicher ist (China.Table berichtete). Vor anderthalb Wochen wurden auch Ermittlungen gegen Shen Deyong bekannt. Dieser war einst Vizepräsident des Obersten Volksgerichts. fin
Shahnura Kasim verbringt viel Zeit in den sozialen Netzwerken. Tiktok, Instagram und Co. sind eine Art Szenetreff für junge Menschen. Kasim ist 19 Jahre alt, lebt in München und bereitet sich gerade auf das Abitur vor. Wie viele ihrer Altersgenoss:innen postet auch sie fleißig und hat sich im Wetteifern um Abonnent:innen schon knapp 14.000 Follower erarbeitet.
Doch statt lustige Szenen aus ihrem Alltag oder Selfies zu veröffentlichen, lenkt die junge Frau die Aufmerksamkeit auf das Schicksal der Uiguren in Xinjiang im Nordwesten Chinas. Kasim möchte darüber aufklären, was in der Autonomen Region der Volksrepublik mit der weitgehend muslimischen Bevölkerungsgruppe passiert. Eine Tragödie, die ihr noch immer viel zu wenig beleuchtet wird.
Wer sich mit China beschäftigt, weiß, dass die Uiguren Opfer von gravierenden Menschenrechtsverletzungen sind. Doch viele junge Menschen in Deutschland, für die China ein weit entfernter, eigener Kosmos ist, wissen das noch nicht. Genau diejenigen will Kasim mit ihren Botschaften über Tiktok erreichen.
Es brauche dringend Aufklärung, betont sie im Gespräch mit China.Table. Gerade auch in den Schulen. Doch da stoße sie auf taube Ohren. “In der Oberstufe wird ein halbes Jahr über Nationalsozialismus gelehrt. Weshalb finden wir nicht eine Doppelstunde Zeit, um über etwas Aktuelles zu sprechen, das Parallelen aufzeigt?”, fragt sie. Tatsächlich bezeichnen zahlreiche demokratische Regierungen, Parlamente und Politiker der Welt die Vorgänge in Xinjiang als Genozid.
Mehr als eine Million Uigur:innen sitzen in Internierungslagern, wo ihre Identität mit allen nötigen Mitteln sinisiert werden soll. Folter und Prügel gehört laut Dutzenden Augenzeugen zu den gängigen Mitteln. Auch Kasim hat Verwandte in Xinjiang, die eingesperrt sind oder vielleicht auch tot. So genau weiß sie das nicht, weil der Kontakt vor Jahren abbrach.
2019 bekam sie die Nachricht, dass ihre Großmutter in einem Umerziehungslager ist und ihre Tante vermisst wird. Ihr Onkel kam wahrscheinlich in einem der Lager ums Leben. Details kennt sie nicht. Doch für Kasim war das der Auslöser, über soziale Medien eine Öffentlichkeit für die Menschenrechtsverbrechen in Xinjiang zu schaffen. Die Reaktionen bestürzten sie: “Viele haben mir geschrieben, dass sie noch nie davon gehört haben. Dass sie nicht einmal wussten, dass eine Volksgruppe der Uiguren existiert.”
Manche ihrer Videos erreichen Zehntausende Klicks. Darin wendet Kasim zum Teil jene stilistischen Mittel an, die der Aufmerksamkeitsspanne in sozialen Medien gerecht werden: kurze Botschaften, untermalt mit Mimik oder Musik. Sie tanzt und lächelt, während kurze Schriftzüge über den Bildschirm flimmern, die auf das Elend der Uiguren hinweisen.
Vor Beginn der Olympischen Spiele im Februar in Peking lud Kasim ein Video hoch, in dem sie ihre Zuschauer dazu aufforderte, mit ihr zu tanzen, wenn sie für einen diplomatischen Boykott der Spiele seien. Statt ausführliche Einzelheiten über die Situation in Xinjiang darzustellen, verbreitet sie meistens kurze Parolen, die ihre Zuschauer:innen dazu verleiten sollen, sich selbst mit dem Thema zu befassen. Manchmal erzählt sie aber auch vom Schicksal ihrer Familie und versucht, Wissenslücken zu schließen und mit Vorurteilen aufzuräumen.
Kasim und ihre Geschwister sind in Deutschland geboren und aufgewachsen. Schon in den 1990er-Jahren flüchtete Kasims Vater vor der Unterdrückung durch die chinesische Regierung, die damals noch weitgehend von der Weltöffentlichkeit ignoriert wurde. Das ändert sich zwar, aber in Kasims Augen nicht schnell genug. Sie ärgert sich, wenn sie lesen oder hören muss, dass die Unterdrückung der Uiguren eine Reaktion der chinesischen Regierung auf uigurische Terrorattacken sei. “Die Unterdrückung dauert schon seit Jahrzehnten an”, klagt sie. Kasim fürchtet, dass Medien und Politik der chinesischen Propaganda in die Falle gehen und sich deren Darstellung der Situation zu eigen machen.
Seitens der Politik wünscht sie sich schärfere Kritik an der chinesischen Regierung und wirtschaftliche Sanktionen. Die regelmäßigen Debatten im Menschenrechts-Ausschuss des Bundestages, die anstehenden Implementierung von Lieferkettengesetzen gegen Zwangsarbeit oder die EU-Sanktionen gegen Funktionäre der Kommunistischen Partei reichen ihr nicht aus. Deutschland müsse allein aufgrund der eigenen Geschichte die Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang als Völkermord anerkennen, fordert sie. So wie es die US-Regierung und die britische Regierung es getan haben oder zuletzt die französische Nationalversammlung.
Zu ihrer Familie in China hatte sie in den vergangenen Jahren nur wenig Kontakt. “Wir durften niemals offen mit unseren Verwandten sprechen”, erzählt sie. “Meine Mutter hat immer gesagt: Pass auf, was du sagst. Erwähne China nicht.” Kasim belastet es bis heute, dass sie ihre Familie nicht richtig kennt.
Doch Aufgeben kommt nicht infrage. Dass sich ihr Aktivismus in Deutschland negativ auf die Situation ihrer Familie in China auswirken könne, müsse sie notgedrungen in Kauf nehmen. “Wir dürfen nicht mehr egoistisch sein. Wenn ich auch schweige, und der andere auch schweigt, dann existieren wir bald nicht mehr.” Dann, so Kasim, gäbe es bald ein Volk, eine Kultur, eine Sprache weniger. Lisa Winter