„Vera gehört zerschlagen“

Timo Off ist Schulleiter der Gemeinschaftsschule Nortorf und sagt Vera den Kampf an.
Timo Off ist Schulleiter der Gemeinschaftsschule Nortorf.

Ein Gastbeitrag von Timo Off

„Vera“ oder genauer, die „VERgleichsArbeit“ für jährliche Kompetenztests von Schüler:innen, erblickte vor 15 Jahren das Licht der Welt. Zunächst als „Vera 3“ für die dritten Klassen, dann mal kurz „Vera 4“ für die Vierte, dann Vera 8, dann in Teilen Vera 6. Mal freiwillig, mal vollständig verpflichtend – aber nicht in allen Fächern. Nun wird es in fast allen Bundesländern umgesetzt, nur Niedersachsen nimmt gar nicht mehr teil. 

Die Aufgabenentwickler stellen für jedes Fach unterschiedliche Testheftvarianten bereit, die sich teilweise überlappen. Jedes Bundesland entscheidet selbst, welche Varianten es wie einsetzt oder sogar lokal anpasst. Es ist so verwirrend, wie es sich liest. Der Chor aus 16 Bundesländern, dem koordinierenden, aber machtlosen „Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen“ (IQB) in Berlin und der Konferenz der Kultusminister (KMK) ist vielstimmig. Kein Dirigent vermochte diese Gruppe bislang auf eine gemeinsame Melodie zu einen. 

Vera als Kontrolle empfunden

Nehmen wir Schleswig-Holstein. Dort wurden zunächst sogenannte Parallelarbeiten eingeführt: In jedem Jahrgang schreibt man gemeinsam eine Arbeit. Von Kolleg:innen entwickelt. Um das Gespräch über Unterricht zu fördern. Um gemeinsame Bewertungsgrundlagen festzulegen und sich über Inhalte und Methoden auszutauschen. Was für sinnvolle Ideen! Kurze Zeit später wurden dann bundesweit Vergleichsarbeiten (Vera) für den dritten Jahrgang erfunden. Dabei sollten die Arbeiten ans Land gesandt werden: „Um allgemeine Entwicklungen in einem Land bzw. länderübergreifend beschreiben zu können, werden die Ergebnisse von ca. 10 Prozent aller Grundschulen in Schleswig-Holstein zentral erfasst und einer Analyse unterzogen.“ (Vera Erlass SH 2006)

Leider vermischte man in weiteren Gesetzestexten sprachlich die Einführung der beiden Diagnoseinstrumente, sodass die Kollegien die Parallel- und die Vergleichsarbeiten synonym verwendeten. Die Bitte um Einsendung, um landesweite Entwicklungen beschreiben zu können, wurden zudem als Kontrolle empfunden.

Vera fehlt der Fokus

Im Anschluss dann folgten „Vera 8“ Mathematik, dann Deutsch, Englisch, schließlich noch in wenigen Ländern Vera 6. Die Dateneingabe wurde länderübergreifend organisiert. Beteiligte Lehrkräfte sollten die Ergebnisse auf Datenplattformen übertragen – was niemand schätzte. Die Auswertung erfolgte jedoch immer strikt bundeslandbezogen. Denn die Aufgabenentwickler stellten ja unterschiedliche Testheftvarianten bereit und auch die an die Lehrkräfte zurückgemeldeten Daten unterscheiden sich 16-fach. So waren und sind die Ergebnisse eigentlich nie bundeslandübergreifend zu interpretieren.

Vera hat keinen klaren Fokus. Was will Vera? Will Vera Leistungsdaten der Bundesländer im Vergleich aufzeigen? Dann sollte es mit Testleitern durchgeführt werden. Nur dann herrschten überall gleiche Bedingungen. Dies kann sich aber nur ein Stadtstaat wie Hamburg leisten. In einem Flächenland wäre dies nicht umzusetzen. Zudem gibt es ja bereits einen Ländervergleich, vorgenommen durch das IQB. Dieser Vergleich könnte, wie es sich die Open Knowledge Foundation wünscht, über „den Erfolg bildungspolitischer Maßnahmen“ Aussagen treffen – viel besser und genauer als der Vera-Test.

Oder soll Vera das jeweilige Bundesland untersuchen? Auch hierfür ließen sich die Aufgaben verwenden – wenn man denn erläutern würde, dass genau dies der Zweck der Erhebung sein soll. Post aus dem Ministerium: „Wir wollen wissen, wie unsere Schulen dastehen. Daher findet am Tag XY ein Test statt. Überall zur gleichen Zeit, überall dieselben Aufgaben. Die Ergebnisse werden zentral eingeben und Schulaufsicht wird die Daten nutzen, um im Anschluss über Förderprogramme für Schulen zu befinden.“ Solche High-Stake-Tests gibt es in Deutschland nicht, anders als in den USA. Hier herrscht einfach eine andere Kultur. Daher findet die Übergabe der Daten an die Schulaufsicht eher verschämt statt. 

Mit Vera auf Schulebene die Unterrichtsentwicklung zu fördern, das ist eines der offiziell ausgegeben Ziele. Hier wären dann die Schulleitungen und Koordinatoren gefordert. Wie kommt man bei jährlich wechselnden Aufgaben, Lehrkräften und Schülerschaften zu sinnvollen Vergleichen? Wie kann man die Vera-Werte des letzten Jahrgangs angemessen zu denen des aktuellen Jahrgangs ins Verhältnis setzen? Was wäre eigentlich eine signifikante Verbesserung? Es bleibt Aufgabe der Schulleitung hier unglaublich behutsam, nicht zu vorschnell urteilend und umsichtig Schlüsse zu ziehen.

Der Begriff „Vera“ ist bei Lehrer:innen verbrannt

An dieser Stelle zeigt sich die oben beschriebene begriffliche Schwierigkeit in der Einführung. Da den Lehrkräften vor Ort nicht klar ist, was Vera alles kann und soll (Systemmonitoring? Kontrolle? Unterrichtsentwicklung? Individuelle Förderung?), erscheint der Begriff „Vera“ vielerorts verbrannt.

Seit über 15 Jahren wird versucht, die Nutzung von Vera zu vermitteln. Noch immer nutzen die Schulen die Daten „nicht richtig“. So kamen auch KMK und IQB unlängst dazu, eine Vera-Arbeitstagung zu veranstalten, um erneut und wieder einmal die Weiterentwicklung zu diskutieren. 

Mittlerweile gibt es sogar eine aufwändig entwickelte Onlinetestung. Auch hier kulturhoheitliches Tohuwabohu: die eine Schule testet vollständig online, die nächste teilweise, die dritte nur auf Papier. 

Vielleicht könnte man einmal überlegen, ob die Schwierigkeit mit Vera an den sich widersprechenden Zielen des Instruments liegen könnte.

Was macht nun die Open Knowledge Foundation aus diesem inhaltlichen Drama?

Sie springt mitten rein und mischt in diesem Durcheinander als weiterer Konfusionstreiber mit. Die OKF vergisst vor allem, dass Vera verwirrend teil-freiwillig ist. Sie führt Niedersachsen noch als Teilnehmer auf, obwohl die (wie eigentlich?) aus Vera ausgestiegen sind. Man könnte auch erläutern, warum die Daten einiger Bundesländer, unvollständig sind: Weil die Teilnahme in einer Domäne z. B. in einem Jahr ausgesetzt wurde oder schlichtweg so nicht vorliegen.

Vera neu formatieren

Die OKF versteht grundsätzlich unter Vera nur Vera 3, ohne das zu sagen oder zu begründen. Sie vergibt auf ihrer Seite Wo-ist-Vera? für „Auflösung der Daten“ 3 Punkte, wenn diese auf Kreis-/Bezirksebene oder 2 Punkte, wenn diese auf regionaler Ebene veröffentlicht wurden. Im Datensatz stellt sie diese regionalen Daten aber selbst nicht zur Verfügung und erklärt auch nicht, was eigentlich regionale von Bezirksebene unterscheiden würde. Nicht zuletzt: Was soll diese Datenveröffentlichung auf regionaler Ebene aussagen, wenn die Teilnahme so divers ist?

Was also wäre zu tun? Vera gehört zerschlagen – und auf dreifache Art neu formatiert. Als ein Instrument zum Systemmonitoring des Bundeslandes, eines zur Schulentwicklung. Und zusätzlich eines, mit dem Lehrer ihre Schüler diagnostizieren. Jedes hätte für sich ein klares Ziel, einen klaren Aufbau und eine auf dieses Ziel ausgerichtete Rückmeldung.

Timo Off ist seit 2015 Schulleiter der Gemeinschaftsschule mit Oberstufe in Nortorf. Zuvor war er in Landesinstitut und Bildungsministerium (SH) sechs Jahre für die VERA-Koordination zuständig. 

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