Analyse
Erscheinungsdatum: 15. August 2023

Höckes Inklusions-Thesen anschlussfähig an den NS

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Im MDR-Sommerinterview entwirft Björn Höcke ein Programm für Schulen, das die Gesellschaft spalten würde. Eine Analyse der Bezüge der AfD-Bildungspolitik zum Nationalsozialismus - und ihre Alleinstellungsmerkmale heute.

Der Moderator des MDR konnte einem leid tun. Lars Sänger versuchte das, was bei Gesprächen mit AfD-Politikern stets empfohlen wird: über Sachpolitik reden, sich konkrete Antworten aufzeigen lassen. Im Gespräch mit Björn Höcke ging das nach hinten los. Der rechtsextremistische Thüringer Landeschef konnte im Sommerinterview ein schul- und gesellschaftspolitisches Programm entwerfen, das Elemente des Nationalsozialismus (NS) enthält : „gesunde Schulen“, in denen kein Platz mehr für Kinder mit Handicaps ist und in denen maximal zehn Prozent Zuwandererkinder sein dürfen.

Höcke brauchte nur wenige Minuten, um die von Sänger gestellte Schulfrage mit konkreten Maßnahmen zu beantworten – und dabei nationalsozialistische Leitsätze zu verbreiten. Höcke sagte : „Wir müssen das Bildungssystem von Ideologie-Projekten befreien, beispielsweise der Inklusion, beispielsweise dem Gendermainstreaming-Ansatz. Das sind alles Projekte, die unsere Schüler nicht weiter bringen, die unsere Kinder nicht leistungsfähiger machen und die nicht dazu führen, dass wir aus unseren Kindern und Jugendlichen die Fachkräfte der Zukunft machen.“

Dazu stellte Höcke den Satz, „ gesunde Gesellschaften haben gesunde Schulen “. Auf diese Weise machte der Partei- und Fraktionschef aus Erfurt seine Ideologie deutlich: Es gebe gesunde Kinder, das sind „unsere Kinder“, die sind leistungsfähig und die gehören zu einer gesunden Schule. Und es gebe kranke Kinder – die zählen in seinen Augen nicht dazu. Inklusion hingegen bedeutet, dass Kinder mit Behinderungen selbstverständlich in Regelschulen gehen.

Der Rechtsextremist ergänzte diese Bemerkungen mit einem im politischen Tagesgeschäft kaum bekannten Begriff, dem des agonalen Prinzips. Er streifte ihn nur kurz, aber dieser Terminus ist wichtig. Er umfasst gleichermaßen Menschenbild und Regierungsform, die laut Höcke nach einer möglichen Regierungsbeteiligung in Thüringen im Jahr 2024 zu gelten habe. Das agonale Prinzip kommt aus dem Griechischen und steht für Bestenauslese. Kurz gesagt: Wer in einem AfD-regierten Staat dazugehören darf und wer nicht, das bestimmt eine Elite.

Der Mann, der vom Verfassungsschutz beobachtet wird, sagte aber auch sehr konkrete Sätze, die wohl jeder unterschreiben könnte. Man habe mittlerweile „in Schulen Ausgangsbedingungen, die die Lehrer auch mit bestem Einsatz nicht mehr korrigieren können.“ Die AfD hat hier ein Alleinstellungsmerkmal: Keine andere Partei kann sich aus der Verantwortung für den dramatischen Lehrermangel herausreden. Von CDU und SPD über FDP, Grüne, selbst die Linke und die Freien Wähler tragen als Parteien gewesener oder amtierender Schulminister die politische Verantwortung dafür, dass bis zum Jahr 2030 rund 80.000 Lehrkräfte in deutschen Klassenzimmern fehlen.

Wenn stimmt, was sich bereits andeutet, dass nämlich die Montagsdemonstrationen im Osten den Lehrermangel aufgreifen wollen, dann hat die AfD eine außerparlamentarische Opposition an ihrer Seite – mit einem massenwirksamen Thema. Mit der Skandalisierung von Unterrichtsausfall kann man Wahlen gewinnen. Und ab dem neuen Schuljahr wird so viel Unterricht ausfallen wie nie zuvor.

Der Moderator des Gesprächs warf Björn Höcke vor, dass seine AfD-Fraktion nicht besonders fleißig auf dem Feld der Schulpolitik sei. In der laufenden Wahlperiode habe sie nur zwei Gesetzentwürfe im Landtag zustande gebracht, bemerkte Lars Sänger. Aber diese Anträge haben es in sich. Sie enthalten die typische Höcke-Kombination von breitenwirksamer Sachpolitik - und identitärer Ideologie.

Antrag Nummer eins von Höckes Fraktion lautet, die Digitalisierung der Schulen nur behutsam vorzunehmen. Zum Beispiel soll Digitales in Grundschulen überhaupt nicht stattfinden. Und in den oberen Klassen nur dann, wenn die Vorteile digitaler Bildungsmedien erwiesen sind. Es dürfte viele Wähler geben, die das richtig finden. Die Vorreiter der Digitalisierung, nämlich Staaten wie die Niederlande oder Schweden, schlagen diesen Weg gerade ein. Auch hier kann die AfD für sich beanspruchen, eine Alternative zu den anderen Parteien zu sein.

Antrag Nummer zwei der Höcke-Fraktion läuft darauf hinaus, den Anteil der Schüler mit Migrationshintergrund in Klassen bei zehn Prozent zu deckeln. Wörtlich heißt es in dem Gesetzentwurf: „Der Anteil von Schülern mit Förderbedarf zum Erwerb der deutschen Sprache darf bei der Klassenbildung an allgemeinbildenden Schulen einen Anteil von zehn Prozent nicht überschreiten.“ Das lässt zwar noch etwas Interpretationsspielraum zu. Aber die Folge einer solchen Politik wäre dramatisch. In vielen Großstädten Deutschlands beträgt der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund 50 und mehr Prozent. Die Frage an Höcke hätte lauten müssen: Wo sollen Zuwanderer- und Flüchtlingskindern lernen, die jenseits der 10-Prozent-Quote liegen? Haben die kein Menschenrecht auf Bildung mehr? Werden für sie besondere Schulen gegründet? Oder was soll mit den Menschen geschehen?

Auch hier zeigt Höckes Thüringer AfD weit über Schulpolitik hinaus. Die AfD ist bereit, Menschenrechte außer Kraft zu setzen. Sie sprengt nicht nur den Verfassungsbogen, sondern die ethische Grundlage der Politik. Die Bezeichnung von Inklusion als Ideologieprojekt ist dafür prototypisch. Das selbstverständliche Dazugehören von Kindern mit Behinderungen ist keine Ideologie, sondern geltendes Recht. Die Bundesrepublik Deutschland hat die UN-Konvention für Menschen mit Behinderung ratifiziert. Das bedeutet unter anderem, Eltern können in Deutschland einklagen, dass ihr Kind in eine Regelschule kommt – egal, ob es eine sogenannte Lernbehinderung hat oder im Rollstuhl sitzt.

Inklusion zu einer falschen Idee zu erklären, die andere am Fortkommen hindert, hat in Deutschland eine unselige Tradition. Der Begriff Sonderpädagogik, der bis heute der Name der Disziplin ist, wird in der Zeit des Nationalsozialismus geprägt. Er hat eine brutale Entstehungsgeschichte. Der Erfinder, Karl Tornow, agitierte zunächst als Pädagoge, erst später wurde er Mitarbeiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP. Er wollte mit dem Terminus Sonderpädagogik deutlich machen, dass es um grundlegend andersartige Menschen gehe – die vom allgemeinbildenden Schulwesen streng zu separieren seien.

„Die Hilfsschule ist notwendig, damit die deutsche Volksschule erfolgreich arbeiten und wirken kann.“ So lautet ein Satz von Tornow, der Schüler gern in brauchbare und unbrauchbare Menschen unterteilte. Der einflussreiche Sonderpädagoge nahm für sich in Anspruch, den Nationalsozialisten die Schließung der Hilfsschulen ausgeredet zu haben. Das nämlich galt als der ursprüngliche Plan der NSDAP – mit einem mörderischen Hintergedanken. Hilfsschulen brauche man nicht mehr, so die perfide Konstruktion, denn behinderte Kinder würden ohnehin getötet.

Karl Tornow aber rettete diesen Schulzweig, indem er einen neuen Sinn für die Sonderschulen fand : sie sollten dem „ Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses “ dienen. Das heißt, sie sollten der erste Experimentierraum für sogenannte rassehygienische und eugenische Maßnahmen werden. Und sie wurden es auch. Viele Insassen der Sonderschulen für – wie Nazis und Sonderschullehrer sie damals nannten – „schwach Begabte“, „Schwach- und Blödsinnige“, „Erbkranke“, „Idioten“ oder „Krüppel“ gehörten zu den ersten, die dem Probelauf des Holocaust zum Opfer fielen: Menschenversuchen und Hinrichtungen der sogenannten „Aktion T4“, bei der 70.000 Menschen ausgelöscht wurden.

Die Rolle der Sonderpädagogik in diesem Vernichtungsprozess ist ein Nazi-Erbe, von dem sich die Bundesrepublik bislang nicht energisch gelöst hat. Nicht umsonst trägt die Sonderpädagogik noch heute ihren Namen aus der Nazizeit. Erst besagte UN-Konvention des Jahres 2009 erteilt eine klare Absage an ein abgesondertes Schulwesen, das neben den allgemeinbildenden Schulen errichtet wird.

Björn Höckes Ablehnung der Inklusion ist somit ein erneuertes Bekenntnis zur Selektion in seiner doppelbödigen und grausamen Bedeutung. Die Referenz ist tiefbraun. Dennoch hat die Abtrennung behinderter Kinder aus allgemeinbildenden Schulen auch heute noch Anhänger bis weit in bürgerliche Kreise hinein. Kinder mit Handikaps in Regelschulen zu unterrichten, das mag in den Augen vieler Eltern in niederen Schulformen möglich sein - aber nicht im Gymnasium. Eine Bremer Schulleiterin etwa klagte vor Gericht gegen die dort gesetzlich festgeschriebene Pflicht, behinderte Kinder in ihr Gymnasium aufzunehmen. Es gibt Pädagogen wie den in vielen Zeitungen publizierenden Michael Felten, der schreibt, Inklusion habe sich „für nicht wenige zur Plage entwickelt“. Felten geht es nicht um das Ob der Inklusion, sondern um das Wie: ihre praktische Umsetzung. Aber Inklusion und Plage in einem Satz? Auf Nachfrage distanzierte sich Felten von Höcke. Einige Bundesländer freilich ignorieren die UN-Konvention bis heute.

Björn Höcke befindet sich, so gesehen, in bester Gesellschaft. Was Höcke macht und der MDR-Interviewer nicht durchschaute, ist so geschickt wie perfide: als Inklusionsgegner knüpft er an Vorbehalte gegen die halbherzige, schlecht vorbereitete und unterfinanzierte Inklusion in Deutschland an. Und als Faschist, wie er im politischen Meinungsstreit bezeichnet werden kann, jubelt Höcke den Umsetzungskritikern die alten Tornow‘sche Idee einer streng separierten Behinderten-Schule unter. Das ist brandgefährlich. Denn eine Brandmauer gibt es in der Bildungspolitik bislang nicht.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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