Table.Standpunkt
Erscheinungsdatum: 02. März 2025

Die Dramatik der „doppelten Zeitenwende“

Eingefahrene Denk- und Handlungsmuster in der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik müssten hinterfragt und angepasst werden, schreibt der Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung.

„Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“, beschrieb Außenministerin Annalena Baerbock die Lage am Morgen des russischen Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar 2022, drei Tage bevor Olaf Scholz in seiner denkwürdigen Regierungserklärung von einer „Zeitenwende“ sprach. Das war nicht falsch, aber auch nicht ganz richtig: Wenn man unter Zeitenwende den demonstrativen Bruch der vertraglich vereinbarten und regelmäßig feierlich bekräftigen europäischen Friedensordnung durch die gewalttätige Veränderung existierender Grenzen versteht, hatte diese spätestens acht Jahre zuvor mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 begonnen. Richtig ist hoffentlich, dass wir inzwischen wach geworden sind – denn die Herausforderungen sind seitdem noch drängender und die Lage noch prekärer geworden.

Drei Jahre nach Kriegsbeginn erleben wir die Aufkündigung der von den westlichen Demokratien propagierten und vermeintlich allgemein akzeptierten regelbasierten Weltordnung, ausgerechnet durch einen Präsidenten der Vereinigten Staaten, der sowohl bei seinen innenpolitischen Maßnahmen als auch außenpolitischen Ankündigungen keine Zweifel daran aufkommen lässt, seine Vorstellungen von einem „neuen goldenen Zeitalter Amerikas“ weder von geschriebenen Verfassungsregeln noch von internationalen Vertragsverpflichtungen abhängig zu machen. Folgerichtig sind die Zweifel an der Verlässlichkeit der wechselseitigen Beistandsverpflichtungen aller Nato-Mitglieder im konkreten Konfliktfall gewachsen. Manifest wurde dies bei den Abstimmungen in der UN-Vollversammlung wie im UN-Sicherheitsrat, ausgerechnet am dritten Jahrestag des russischen Angriffs, bei konkurrierenden Ukraine-Resolutionen, für deren kremlfreundliche Version die USA und Russland zusammen mit China votierten.

Die eigentliche Dramatik dieser insofern doppelten „Zeitenwende“ besteht in der Aufkündigung der regelbasierten internationalen Ordnung durch eine auf „Deals“ gestützte, jeweils bilaterale Vereinbarung. Für das Wachwerden in Anbetracht der nun abermals veränderten Realitäten braucht es hoffentlich nicht erneut acht Jahre. Vielmehr ist die Herstellung der Verteidigungsfähigkeit unseres Landes und Europas eine akute und dringende Herausforderung. Europa muss „sehr schnell und unverzüglich zur Macht werden, auch und gerade militärisch, koste es, was es wolle“, hat Joschka Fischer es formuliert (Handelsblatt, 18. Februar). In einer Welt, in der nicht gesetzte Regeln, sondern das Recht des Stärkeren wieder an Bedeutung gewinnt, sollte man jedenfalls nicht zu den Schwachen gehören.

Europa muss sich in einer veränderten Welt, gegenüber dem Nachbarn Russland und zwischen den Supermächten USA und China neu aufstellen. Die doppelte Zeitenwende ist der „ultimative, der letzte Weckruf jetzt. Wenn der nicht gehört wird, dann war es das mit einem vereinten Europa und seiner Fähigkeit, sich selbst zu behaupten.“ (Herfried Münkler, in: NZZ, 25. Februar). Einmal mehr sind dabei Deutschland und Frankreich gefordert. Für Frankreich hatte Präsident Emmanuel Macron bereits im Februar 2020 angeboten, den Dialog über die strategische Abschreckung mit den EU-Partnern zu stärken – mit damals zaghaften Reaktionen in anderen Mitgliedsstaaten. Spätestens jetzt muss konkret darüber nachgedacht werden, wie Europa weniger abhängig werden kann vom Schutzschirm der USA. Das wird am Ende ohne eine nukleare Kapazität einer europäischen Sicherheitsarchitektur glaubwürdig nicht zu haben sein, die nicht allein von Frankreich geleistet werden kann.

Für die Bundeswehr als „Parlamentsarmee“ muss der Bundestag seinen Parlamentsvorbehalt für Militäreinsätze jenseits der Landesverteidigung neu justieren, um Verpflichtungen gegenüber Bündnispartnern im Ernstfall rasch nachkommen und in akuten Krisen eine schnelle Reaktionsfähigkeit gewährleisten zu können. Im Rahmen der Debatte über die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht muss früher als von vielen erwartet über die Wiederaufnahme der Wehrpflicht nachgedacht werden.

Die in unserem Land nach der traumatischen Erfahrung von zwei Weltkriegen gering ausgeprägte strategische Kultur muss gestärkt werden, um als Gesellschaft resilient auf die sicherheits- und verteidigungspolitischen Gefahren unserer Zeit reagieren zu können. Das bedeutet auch, zu realisieren und zu akzeptieren, dass es Frieden, Freiheit und Sicherheit nicht zum Nulltarif gibt. Dass dafür künftig deutlich mehr als zwei Prozent Verteidigungsausgaben gemessen am Bruttoinlandsprodukt notwendig sein werden, ist inzwischen fast schon politischer Konsens – allein die zentrale Frage einer verlässlichen Finanzierung ist nach wie vor offen.

Wir müssen handlungsfähiger werden, nicht nur in Handelsfragen, sondern mehr als je zuvor auch im Bereich der Sicherheit und Verteidigung. Damit das endlich gelingt, müssen wir bereit sein, eingefahrene Denk- und Handlungsmuster zu hinterfragen und anzupassen. Wir müssen akzeptieren, dass sich manches ändern muss, damit bleiben kann, was nicht mehr selbstverständlich ist: Frieden, Freiheit und Sicherheit in Europa.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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