Interview
Erscheinungsdatum: 13. Dezember 2023

Ralph Brinkhaus: „Wir versuchen unsere Partner beim Thema Kernkraft auf allen Ebenen zu belehren"

Trotz aller Krisen will Ralph Brinkhaus optimistisch in die Zukunft blicken. Beim Blick auf Deutschland tut er das mit viel Kreativität. Beim Blick Richtung Russland fällt es ihm viel schwerer. Und beim Blick auf Trump hält er einen Braindrain aus den USA für möglich.

Herr Brinkhaus, was beschäftigt Sie zurzeit am meisten? Die Haushaltskrise, die Klimakrise oder die Gazakrise?

Der Ukraine-Krieg und Russland. Wir erleben hier gerade Entwicklungen, die mir größte Sorge bereiten.

Schauen wir ausgerechnet dort zu wenig hin?

Ja. Und das, obwohl der Trend nicht gut ist: Die ukrainische Offensive ist nicht so erfolgreich wie erhofft. Es gibt Ermüdungserscheinungen seitens der Ukraine, aber auch seitens der unterstützenden Länder. US-Präsident Joe Biden hat große Schwierigkeiten, in den USA die nötige Unterstützung zu organisieren – was bei einem Wahlsieg von Donald Trump noch viel schwieriger würde. Und die Bundeswehr ist nicht gut genug auf den Verteidigungsfall vorbereitet. Das ist es, was mir am meisten Kopfschmerzen bereitet.

Joschka Fischer und Herfried Münkler haben gerade entsprechende Warnrufe losgelassen. Ihre Botschaft: Europa müsse sich ganz anders um seine Verteidigung kümmern. Was heißt das?

Es schreit nach einer verstärkten Zusammenarbeit. Wir müssen als Europäer auch außerhalb der Nato Strukturen schaffen, um unsere Verteidigung zu organisieren. Dazu müssen insbesondere Frankreich und Deutschland über zwei, drei Schatten springen. Das fängt bei der Kooperation bei der Rüstung an und hört nicht damit auf, dass man mehr gemeinsame Truppenverbände hat, die man konsequent einem gemeinsamen Kommando unterstellt. Wir müssen alle europäischen Armeen noch entschlossener auf Verteidigungsfähigkeit ausrichten - im Übrigen auch die Bundeswehr.

Deutschland muss sich kriegstüchtig machen?

Leider. Ich gebe da Boris Pistorius ausdrücklich recht. Natürlich müssen wir kriegstüchtig und kriegsfähig werden. Nicht zum Krieg-Führen, sondern damit es keinen Krieg gibt. Da fehlen mir momentan in der deutschen Politik die Stringenz und das Bewusstsein.

Trotz des Sondervermögens?

Wenn ich mir die Verteidigungs- und Sicherheitspolitik nach dem Sondervermögen anschaue, dann ist da bei Weitem noch nicht genug passiert.

Joschka Fischer und Herfried Münkler sprechen ausdrücklich davon, dass Europa auch mehr Atomwaffen braucht, um Wladimir Putins Russland abschrecken zu können. Müssen wir Atomkraft und Atomwaffen neu denken?

Wir müssen erst mal die konventionelle Verteidigung neu denken. Ich würde jetzt ungerne den zweiten oder schon dritten Schritt vorher machen. Wir müssen uns auf neue Formen der Kriegsführung einstellen. Ob es um die Abwehr von Cyberbedrohungen geht oder um einen Drohnenkrieg, wie wir ihn in der Ukraine erleben. Vor zwanzig Jahren wurde die Bundeswehr auf Auslandseinsätze getrimmt. Jetzt geht es wieder um Landesverteidigung und zwar im großen Stil.

Sie klingen alarmiert.

Aber nicht alarmistisch. Nur konsequent. Wir müssen jetzt viel schneller sicherheitspolitisch erwachsen werden. Denn wir wissen nicht, ob wir uns auch in den nächsten Jahren – Stichwort Trump – auf die USA verlassen können.

Was heißt das?

Zuerst einmal: Schnell europäisch denken und handeln, trotz der Europawahl im nächsten Jahr. Wir müssen uns als Europäer fragen: Wie organisieren wir unsere gemeinsame Sicherheit? Was tun wir wirklich für strategische Partnerschaften, zum Beispiel mit Indien? Wie stärken wir das Verhältnis zu Afrika, auch sicherheitspolitisch? Das ist in Brüssel leider nicht das wirklich große Thema. Und das besorgt mich.

Das Thema Atomkraft spielt möglicherweise an zwei Stellen eine neue Rolle. Das eine ist die Abschreckung durch Atomwaffen, die ausgerechnet ein Grüner wie Fischer offensiv fordert. Das andere ist die Initiative von 22 Staaten auf der COP28, die eine Rückkehr zur Atomenergie anstreben. Und das eine hängt möglicherweise mit dem anderen zusammen. Halten Sie das für Unsinn oder für eine ernstzunehmende Alternative?

Ich denke, in Sachen Atomkraft ist in Deutschland eine Entscheidung getroffen worden. Und es würde sehr schwer werden, daran nochmal zu rütteln - technisch und finanziell. Zugleich ist richtig: CDU und CSU wollten die existierenden Meiler für eine Übergangszeit weiterlaufen lassen. Dass die Grünen das abgelehnt haben, war ein ideologiegetriebener Fehler. Aber wir sollten uns jetzt parteiübergreifend darauf einigen, dass wir zumindest bei der technologischen Entwicklung und bei der Forschung, insbesondere für die kleinen Kraftwerke, am Ball bleiben. Deswegen müssen wir auch zusehen, dass wir die Kernenergie nicht grundsätzlich verteufeln, sondern dass wir das mit einem gewissen Abstand und einer kritischen Distanz positiv begleiten.

Dann hat die Bundesregierung mit ihrer Ablehnung recht?

Nein. Was die Bundesregierung macht, ist das Gegenteil. Wir erleben, dass die Bundesregierung einen Kreuzzug gegen die Kernkraft führt. Auch in Brüssel. Und das halte ich für falsch. Wir versuchen unsere Partner beim Thema Kernkraft auf allen Ebenen zu belehren: Von der Taxonomie bis zum Net Zero Industry Act. Das wird nicht funktionieren, weil nicht nur Frankreich und Polen momentan anders denken.

Sie schildern, wie sehr sich die Welt verändert hat – und dass man darauf reagieren muss. Gilt das auch beim Blick auf die Schuldenbremse? Sie stammt aus einer Zeit, als die Energie sehr billig aus Russland kam, China noch ein Partner war und Amerika ein verlässlicher Verbündeter. Ist die neue Lage Grund genug, um eine Reform der Schuldenbremse anzugehen?

Die Schuldenbremse beinhaltet, dass in konkreten Notlagen Ausnahmeregelungen greifen. Klimawandel und China sind keine außergewöhnlichen Ereignisse, das war beides absehbar – Krieg dagegen schon. Für eine zukünftig vielleicht notwendige Reaktion auf eine noch größere Bedrohung durch Russland, ein geringeres Engagement der Amerikaner und eine negative Entwicklung in der Ukraine müssen wir die Schuldenbremse nicht aufgeben. Da ist das Signal ganz klar, die Ukraine bekommt, was immer sie braucht. Sorgen macht mir etwas ganz anderes.

Was?

Wir haben eine demografische Entwicklung, die unweigerlich Folgen hat. Wir müssen nicht nur schauen, wie groß die Schuldentragfähigkeit von Deutschland heute ist. Wir müssen schauen, wie sie in 30 Jahren ist. Und egal, wie wir es drehen: In 30 Jahren werden in einer älteren Gesellschaft weniger aktiv arbeitende Menschen die gleichen Schulden tragen müssen. Die Belastung wird also für den Einzelnen zunehmen. Dementsprechend habe ich bei allem, was ich heute vielleicht für wünschenswert halte, eine Verantwortung für die Zukunft.

Was leiten Sie daraus ab?

Selbst wenn ich nicht den Konsum, sondern nur Investitionen über Schulden finanziere, müssen diese Schulden tragbar bleiben. Und das bedeutet für mich: Politik, in diesem Fall die Regierung, darf nicht länger an ihrer schwersten, aber auch wichtigsten Aufgabe scheitern.

Worauf spielen Sie an?

Das Aufgeben der Schuldenbremse ist für mich zuallererst eine Entschuldigung dafür, dass ich nicht bereit bin, zu priorisieren. Aber das müssen wir tun. Wir müssen zwischen dem absolut Notwendigen und dem Wünschenswerten unterscheiden.

Dann fangen Sie doch mal damit an.

Ok – ein Beispiel: Wir brauchen Geld für den Kampf gegen den Klimawandel und die daraus resultierende Transformation der Wirtschaft; wir haben den Krieg in der Ukraine und seine Folgen; wir haben größte Herausforderungen durch Digitalisierung und künstliche Intelligenz. Und wir haben Migration. Das sind vier große Kostenblöcke. Mir stellt sich die Frage: Sind wir bereit und in der Lage, das zu priorisieren?

Sind Sie es?

Ja, und über das „Wie“ sollten wir in unserer Demokratie offen sprechen. Meine Meinung: Klimaschutz, Transformation der Wirtschaft und Sicherheit nach ganz vorne, Digitales und künstliche Intelligenz immer mitdenken und Migration am Schluss. Wir müssen uns fragen: Leisten wir uns weiterhin ein so teures Migrationssystem?

Mit der Antwort werden Sie ganz schnell alle gegen sich haben, die der Union sowieso Hartherzigkeit vorwerfen.

Ja, das ist mir klar. Und deshalb sage ich sofort: Natürlich wollen wir alles gleichzeitig möglich machen. Natürlich möchte ich gerne allen Menschen helfen. Aber genau darum geht es: Habe ich den Mut zuzugeben, dass wir nicht alles gleichzeitig schaffen – weder organisatorisch noch finanziell? Habe ich den Mut zu sagen, dass der Klimaschutz und der dafür nötige Umbau der Wirtschaft und die Sicherheit unseres Landes und Europas noch wichtiger sind als unsere aktuelle, sehr großzügige Migrationspolitik? Bis heute priorisieren wir einfach nicht. Wir versuchen immer, alles gleichzeitig möglich zu machen, was in vielen - auch sozialen - Fragen menschlich hochanständig ist. Aber die Aufgabe von verantwortungsvollen Politikern ist es, eine Machbarkeitsentscheidung zu treffen.

Parole an alle: Gürtel enger schnallen.

Nein, nicht automatisch. Erst mal lautet die Parole: Prüft alles, was geht. Und das heißt auch: Was ist eigentlich mit den Posten im Bundeshaushalt und den europäischen Mitteln, die noch gar nicht abgerufen wurden? Lasst uns doch mal das Geld ausgeben, was da ist. Wir hatten im Koalitionsvertrag 2017 stehen, dass der damalige Bundesfinanzminister Olaf Scholz eine Art Generalüberprüfung aller staatlichen Ausgaben machen sollte. Er sollte also prüfen, wie effizient wir unser Geld überhaupt ausgeben. Das hat Olaf Scholz nie gemacht. Und zugegeben, wir von der Union haben da nie konsequent nachgefragt. Das war ein schwerer Fehler und sollte dringend nachgeholt werden. Wo stecken wirklich umweltschädliche und andere nicht notwendige Subventionen? Wo geben wir im Sozialbudget Geld vernünftig aus – und wo nicht? Wo können wir besser Arbeit fördern und nicht Arbeitslosigkeit? Alles nicht einfach, aber alles überfällig.

Die Ampel hat nun priorisiert, nach langen Verhandlungen hat sich das Trio an der Spitze entschieden. Wie bewerten Sie die Einigung – und also auch Priorisierung?

Erst einmal ist es wichtig, dass es überhaupt eine Einigung gibt. Das Chaos der letzten Wochen hat für viel Verunsicherung gesorgt. Überzeugen tut mich das Paket, soweit es bekannt ist, nicht wirklich. Eine konsequente Priorisierung sehe ich nicht. Das war eher eine Operation nach dem Motto „Wir suchen den kleinsten gemeinsamen Nenner“. Da ist letztlich eine große Chance verpasst worden, im Haushalt alte Zöpfe abzuschneiden.

Es ist nicht lange her, da sprudelten die Steuereinnahmen noch. Wie konnte es passieren, dass wir trotzdem eine in weiten Teilen miserable Infrastruktur haben?

Man muss fairerweise sagen, dass wir auch in den vergangenen Jahren zu viele Schwerpunkte in den Konsum gelegt haben. Nehmen wir nur die Mütterrente von uns oder die Rente mit 63 der SPD. Aber das heißt nicht, dass wir nicht investiert haben. Entgegen dem, was die Grünen immer sagen, haben wir zum Beispiel die Klimawende im Gebäudebereich auch schon vor dem Regierungswechsel eingeleitet.

Aber nichts davon in Größenordnungen, die nötig gewesen wären.

Stimmt, was aber auch richtig ist: Wir haben uns bei vielen großen öffentlichen Infrastrukturprojekten sehr, sehr schwergetan, weil wir auch als Politiker nicht den Mut gehabt haben, auch mal für die Interessen des Landes und gegen die unmittelbar betroffenen Bürgerinnen und Bürger zu entscheiden. Natürlich habe ich sehr großes Verständnis für die Menschen, die eine Bahnstrecke oder eine Stromleitung vor ihre Nase gesetzt kriegen. Das will ich gar nicht kleinreden. Aber da musst du als Politiker auch mal stehen bleiben. Und so könnte ich einige Punkte nennen. Das ist keine Rechtfertigung, sondern wir müssen jetzt daraus lernen.

Wie stellen Sie sich das vor?

Im Haushalt konsequent die Schwerpunkte in Investitionen anstatt in den Konsum legen. Dazu schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren auch gegen Raumwiderstände, wie es so schön heißt. Da kann nicht jede Kröte einer neuen Bahnstrecke entgegenstehen. Das können wir nicht mehr so durchhalten, wie es in den letzten zehn Jahren war. Ein schlankeres Vergaberecht und schnell handelnde digitale Verwaltungen, damit wir effektiver, effizienter und auch günstiger bauen.

Wir erleben, wie die Regeln der Weltwirtschaft völlig neu definiert werden. Um nicht zu sagen: die alten der WTO werden über Bord geworfen. China und auch die USA subventionieren und bieten Bedingungen an, die mit unserer schönen alten sozialen Marktwirtschaft nicht viel zu tun haben. Kann man einfach so tun, als passiere das nicht?

Richtig: Viele andere Länder spielen nicht fair nach den Regeln der Marktwirtschaft. Und wir haben ein Wirtschaftssystem, das zusätzlich unter Feuer steht. Nicht, weil wir schlechter sind, sondern weil die anderen einfach besser werden. Das heißt: Wir haben von einem Vorsprung in Technologie und Qualität profitiert, der immer kleiner wird. Und deswegen brauchen wir auch eine Zeitenwende in der Industriepolitik. Peter Altmaier hatte als Wirtschaftsminister da etwas versucht, aber viel Ärger bei uns in der Union und mit einigen Wirtschaftsverbänden bekommen. Ich glaube, da müssen wir unsere Position verändern. Wenn die anderen nicht nach den Regeln spielen, kann ich auch nicht nach den Regeln spielen. Die Chinesen und auch die Amerikaner spielen momentan nicht mehr nach den Regeln. Die Chinesen noch viel stärker als die Amerikaner. Deswegen kann ich nicht mehr sagen: Egal, ich bleibe trotzdem bei der reinen ordnungspolitischen Lehre und mache nichts.

Was heißt das?

Sicherlich nicht in einen Wettlauf einzusteigen, welches Land die höchsten Subventionen zahlt. Wir haben keine Chance, wenn wir meinen, dass wir im internationalen Wettbewerb durch industriepolitische Maßnahmen schwächere Industrien noch am Leben erhalten können. Wir müssen gezielt Stärken stärken.

Um es konkret zu machen: Heißt das Autos schützen und Chips nicht finanzieren?

Eigentlich ja, aber als Europäer dürfen wir uns auch nicht zu sehr von anderen Staaten abhängig machen. Im Sinne der Souveränität kann es Sinn machen, auch Chipfabriken zu schützen. Da würde ich mir nur wünschen, dass wir etwas genauer hinschauen, welche Unternehmen und welche Chiptechnologie wir mit welchen Summen fördern. Aber um einige positive Beispiele zu nennen: Wir sind in Deutschland unglaublich stark in der Industrieautomatisierung oder in der Elektrotechnik. Wir haben immer noch sehr leistungsfähige Pharma- und Chemieunternehmen. Wir haben tolle Technologien im Bereich des autonomen Fahrens. Und da könnte ich noch einige weitere nennen. Aber es geht nicht nur um Geld.

Wenn es nicht nur um Geld geht – worum geht es noch?

Industriepolitik ist nicht nur eine Frage des Geldes. Es geht zum Beispiel um leistungsfähige, schnelle Verwaltung. Es geht um Freihandelsabkommen, die so unendlich viel wichtiger geworden sind. Es geht um Bildung. Und es geht um weiche Standortfaktoren, die andauernd unterschätzt werden. Wir kämpfen nicht nur um unseren Anteil am Weltmarkt, wir kämpfen auch und immer mehr um die besten Köpfe der Welt. Die sind global unterwegs und gehen dahin, wo sich das Leben für sie am meisten lohnt. Das merken wir bei Softwareingenieuren, das merken wir bei Wissenschaftlern. Deswegen tun wir gut daran, für sie ein attraktiver Platz zum Leben zu sein.

Tja, und wenn man genau hinschaut, gehen die meisten nach wie vor ins klassische Einwandererland USA.

Mag sein, aber jetzt lehne ich mich mal ganz weit aus dem Fenster. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich kreative Köpfe in der Welt einer sich verfestigenden Trump-Administration in den USA wohl fühlen werden. Ich glaube vielmehr, dass es dann einen „brain drain“, eine Flucht der ideenreichen Köpfe, geben wird. Und wir müssen gucken, dass wir diese Leute dann nach Deutschland und nach Europa holen, als offene, plurale Gesellschaft, in der sie ihre Kreativität ausleben können. Unsere Botschaft muss sein: Wir sind eine Gesellschaft, die euch nicht einengt und euch nicht vorschreibt, wie ihr zu leben habt. Mit diesen weichen Standortfaktoren können wir viel mehr erreichen als viele denken.

Das klingt angesichts des Rechtsextremismus im Land zu schön, um wahr zu sein. Aber was ist dafür nötig außer schönen Worten? Müssen wir dann nicht eine viel offenere, auch risikofreudigerer Forschung zulassen?

Ich bin froh, dass wir bei der Forschung ethische Grenzen haben, die anders sind als zum Beispiel in China. Und das sollten wir auch beibehalten. Aber der Raum zwischen China und dem, was wir momentan haben, ist groß genug, um mehr möglich zu machen. Nehmen Sie die Skepsis gegenüber der Gentechnik und der Biotechnologie. Da haben wir noch eine Menge Luft nach oben. Wir müssen immer im Rahmen des Vertretbaren viel offener werden. Wir müssen mehr mit Experimentierfeldern arbeiten, wo man Sachen ausprobieren kann, ohne dass man sofort reguliert wird. Wir in Deutschland sind teilweise schneller im Regulieren als in der Technik selbst - aus lauter Furcht, da könnte was aus dem Ruder laufen.

Muss sich Deutschland neu erfinden?

Im Forschungsbereich haben wir schon jetzt eine wunderbare Basis, für die uns die ganze Welt beneidet: Zum Beispiel unsere außeruniversitären Forschungsinstitute wie Fraunhofer, Helmholtz und Max Planck. Sie sind finanziell sehr gut ausgestattet - und wir müssen jetzt der Ort werden, wo die Leute sagen: Hey, hier habe ich die Freiheit, viele Dinge auszuprobieren. Viele Gesellschaften auf dieser Welt verengen sich gerade. Umso mehr können wir unsere Vorzüge zeigen. Wir wissen nicht, was jetzt in den Niederlanden passiert. Wir wissen nicht, was mit einigen osteuropäischen Ländern passiert. Wir haben die autoritären Systeme in Asien. Wir dürfen nur eines nicht machen: der politischen Gängelung von autoritären Systemen eine bürokratische Gängelung unseres Verwaltungsapparates entgegensetzen.

Im nächsten Jahr stehen vier sehr heikle Wahlen bevor. Welche Verantwortung trägt die CDU, damit die Feinde der Demokratie nicht immer stärker werden?

Die vier Parteien, die dieses Land tragen, also die Union, die SPD, die Grünen und die FDP, müssen alle ein großes Interesse daran haben, dass dieses Land funktioniert. Und wir müssen alle vier verstehen, dass es überhaupt nicht gut ist, wenn irgendjemand von uns da versagt oder nicht liefert. Aus diesem Grund werbe ich dafür, dass wir jetzt ein paar Sachen gemeinsam anpacken. Unsere Demokratie ist in einer kritischen Situation. Wenn man sich anguckt, wie viele Menschen in Bayern und in Hessen extrem oder populistisch gewählt haben, dann muss uns das beunruhigen.

Welchen Schluss ziehen Sie daraus?

Wir müssen lernen, dass Regierung und demokratische Opposition in einem Boot sitzen. Dass wir konkurrieren, aber gleichzeitig im Sinne der Sache und im Sinne der Demokratie kooperieren müssen. Diese Ambiguität müssen wir aushalten: kooperieren und konkurrieren. Damit das demokratische System nicht insgesamt in Misskredit gerät. Das ist uns in den letzten zwei Jahren auf beiden Seiten nur suboptimal gelungen.

Friedrich Merz, Markus Söder und auf seine Weise auch Boris Rhein haben zuletzt einen anderen Eindruck erweckt, vor allem mit Blick auf die Grünen. Nach dem Motto: die sind zu anstrengend, die wollen zu viel, mit denen geht es gar nicht. Sehen Sie das auch so?

Ich war acht Jahre in der großen Koalition und ehrlich gesagt, die SPD war auch anstrengend und nervend. Das ist deswegen für mich keine politische Kategorie. Da muss ich drüberstehen. Es geht um die Inhalte. Und es geht um persönliche Beziehungen. Nach jeder Wahl neu. Ich würde nie verabsolutieren. Und ich würde innerhalb der oben genannten Parteien keine von vornherein ausschließen. Wir tun immer so, als ob wir – Union, SPD, Grüne und FDP – uns vor allem unterscheiden. Aber eigentlich haben wir viel mehr Dinge gemeinsam.

Wie groß ist Ihre Sorge, dass die Welt in einem Jahr viel schlechter aussieht?

Ich bin ein grundlegender Optimist, jedenfalls bei allem, was in unseren eigenen Händen liegt. Das Wahlergebnis in den USA liegt nicht in unseren Händen. Vieles andere aber schon. Deswegen hoffe ich weiter, dass vieles gut wird. Ob wir uns verteidigen können, ob Europa zusammenhält, ob wir hier zusammenhalten – das liegt schon sehr an uns.

Hat die AfD die Welt verändert?

Extreme und populistische Parteien sind leider eine unschöne Entwicklung in vielen Demokratien. Darin steckt aber auch eine Chance. Nämlich dann, wenn die übrigen Parteien verstehen, was uns verbindet und uns gemeinsam von den Extremen unterscheidet. Vielleicht zwingt uns die Tendenz zu den politischen Rändern auch dazu, uns zu hinterfragen, neu zu positionieren und zu erkennen: Was sind die wesentlichen Dinge und was ist eigentlich nebensächlich?

Hat die Ampel mit Ihrer Einigung einen Anfang gemacht?

Leider nein, es war letztlich nur ein Herumdoktern am „Weiter-So“.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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