Interview
Erscheinungsdatum: 04. Januar 2024

Hildegard Müller: Krisen, Kriege und Konflikte sind das „New Normal“

Sie war JU-Vorsitzende und Staatsministerin im Kanzleramt, heute führt sie den VDA: Hildegard Müller. Im Interview kritisiert sie einen Brüsseler Protektionismus, warnt vor dem sinkenden Einfluss Europas und fordert eine mutige und offene Forschungspolitik.

Hildegard Müller wehrt sich gegen den Vorwurf, Deutschlands Autobauer seien nicht innovativ genug.

Frau Müller, was ist ihr größter Wunsch für das neue Jahr?

Dass die vielen Krisenherde zur Ruhe kommen. Der Krieg in der Ukraine oder der Terrorangriff der Hamas und seine Folgen – wir müssen erkennen, dass kriegerische Auseinandersetzungen auch in uns nahen Regionen zurückkommen. Die lange für uns so gute Nachkriegsordnung ist zu Ende.

Was folgern Sie daraus?

Krisen, Kriege und Konflikte sind momentan das "New Normal". Unsere großen Herausforderungen wie der Klimawandel müssen inmitten dieser Polykrise gemeistert werden. Dieser neue Normalzustand erfordert auch eine strategischere Politik: Wir dürfen nicht länger lediglich auf Krisen reagieren und sie managen - wir müssen vielmehr ins Agieren kommen.

Und das bedeutet?

Das heißt: Wir müssen uns so ausrüsten – wirtschaftlich, politisch und – ja auch – militärisch, dass wir wieder vor die Herausforderung kommen. Zurecht wird auch von uns, also von der Wirtschaft, mehr Resilienz gefordert: dass wir uns diversifizierter aufzustellen, um Krisen besser zu meistern. Das gilt im übertragenen Sinne auch für die Politik. Wir brauchen langfristige Strategien, wir müssen entscheiden und handeln, bevor Entwicklungen uns überrollen. Das ist mühsam, aber notwendig. Und es ist wichtiger für uns, als wir es uns bis jetzt eingestehen. Die Gesellschaft sollte diesen Weg daher ebenfalls unterstützen.

Sie wollen das Land rüsten, bevor Donald Trump wieder US-Präsident ist?

Nein. Ich möchte, dass Deutschland und Europa sich so ausstatten, dass sie – egal, was passiert – wieder sicher, unabhängiger und resilienter sind. Ich bin überzeugt: Wirtschaftlich generierte Stärke ist eine zentrale Voraussetzung für globale Klima- und Geopolitik in unserem Sinne.

Das heißt: Sie fürchten Trump gar nicht so sehr?

Fakt ist: Wir müssen mit jedem demokratischen Wahlergebnis umgehen. Den Inflation Reduction Act hat Joe Biden beschlossen. 'America first' gilt in Sachen Wirtschaftspolitik also auch für einen US-Präsidenten, der uns – der Europa – sehr zugewandt ist. Das zeigt, wie notwendig es ist, dass wir selbstständiger werden und verstehen, was auf uns zukommt. Vier Jahre sind nun fast vergangen, uns besser zu wappnen – Berlin und Brüssel haben die Zeit nicht genutzt.

Wie meinen Sie das?

Fest steht, dass die USA, egal, wer künftig dort regieren wird, mehr an sich als an Europa denken werden. Das heißt schlicht: Sie tun, was sie für sich als das Beste erachten. Die globalen Entscheidungen der USA werden immer mehr durch innenpolitische Entwicklungen geprägt. Europa muss mehr als bisher seine eigenen Aufgaben erledigen, bei der militärischen Sicherheit genauso wie bei der Beschaffung von Rohstoffen und vor allem beim Abschluss von Handelsabkommen.

Auf der Welt tobt ein wirtschaftlicher Ringkampf zwischen China, den USA und Europa. Wo stehen wir da?

Europa muss aufpassen, dass es seine gestaltende Rolle nicht verliert; dieser Prozess hat bereits begonnen. Früher hat die Wirtschaft Brücken gebaut und Politik konnte entsprechend folgen. Heute sehen wir, dass auch von anderen Regionen wirtschaftliche Stärke als Instrument eingesetzt wird, um politische Macht zu erreichen. Europa muss sich dem entgegenstellen und darum kämpfen, die weiteren Entwicklungen selbst zu prägen, statt sie sich von anderen auferlegen zu lassen.

Was verlangt das?

Wir brauchen einen Paradigmenwechsel, im Kopf und im Handeln aller in Europa. Das ist nicht auf die Politik beschränkt, aber es gilt für sie besonders. Wir müssen erkennen, dass Europa nicht mehr automatisch die Strahlkraft hat, die es lange hatte. Wir müssen um Partner und Allianzen werben, nicht nur anderen erklären, was wir als richtig und falsch empfinden. Was dabei oft vergessen wird: Wenn Deutschland und Europa Verantwortung übernehmen und Werte sowie Überzeugungen in Sachen Klimaschutz international langfristig verankern wollen, dann funktioniert das nur als wichtiger, weltweit führender Wirtschaftsraum.

Haben wir diesen Einfluss verloren?

Wenn wir nicht aufpassen, dann kann und wird das auf jeden Fall passieren. Wir brauchen eine andere Wirtschaftspolitik, um wieder zu der Stärke zu gelangen, die es braucht, um global zu gestalten. Viele in Brüssel sehen im Konzept der Regulierung einen Wettbewerbsvorteil – in der falschen Annahme, dass alle uns folgen. Dabei merken sie nicht, dass es aktuell immer stärker in eine Isolierung führt, statt zu einer prägenden Rolle in der Welt.

Was meinen Sie konkret?

Regulierung ist gut, wenn wir uns gemeinsame Ziele setzen. Regulierung ist allerdings kontraproduktiv und wirkt bremsend, wenn wir politisch nicht nur Ziele, sondern auch die Instrumente festlegen. Nicht nur, dass Politik ohnehin nicht alleine entscheiden sollte, welche Technologie sich wann und wie durchsetzt. Dieser Ansatz wird außerdem in Teilen der Welt zunehmend als Besserwisserei empfunden - und als Bevormundung abgelehnt. Das wiederum gefährdet den so wichtigen gesellschaftlichen Rückhalt in der Mission Klimaneutralität. Es gibt keinen Zweifel am Ziel: Wir wollen und werden CO₂-neutral werden. Gleichzeitig gilt: Wir müssen technologieoffener agieren, damit wir das tatsächlich schaffen und umsetzen können.

Wenn es um E-Autos geht, war es der VW-Konzern, der am rigidesten das Steuer herumgeworfen hat.

Es gibt einen großen Unterschied zwischen Politik und einzelnen Unternehmen. Ein Unternehmen darf und muss entscheiden, welchen Kurs es einschlägt. Politik muss den Rahmen festlegen. Wenn Ziele politisch gesetzt werden, braucht es flankierende Rahmenbedingungen, die die Zielerreichung ermöglichen. Wichtig dabei ist: Spielraum in der jeweiligen Umsetzung muss nicht nur zugelassen, sondern möglich gemacht werden.

Tut Politik das nicht andauernd, mit Investitionen in Chip-Fabriken – als Chance und Sicherheit für die Volkswirtschaft?

Grundsätzlich gilt: Wir müssen die Ursachen unserer Probleme bei der Wettbewerbsfähigkeit bekämpfen, wir dürfen nicht mehr nur an den Symptomen rumdoktern und sie zeitweise abmildern. Nehmen Sie die Debatte um den Industriestrompreis. Die Automobilbranche profitiert davon nicht direkt, nur indirekt z.B. bei Vorprodukten. Trotzdem haben wir gesagt, dass die Hilfe richtig und wichtig ist, weil man so strategisch wichtige Industrien hier sichern kann. Das gleiche gilt bei Batterien, Halbleitern und anderem. Diese Investitionen sind richtig - vor allem in dieser akuten Situation. Darüber hinaus brauchen wir jetzt eine offene Diskussion, wie wir unsere Klimaziele tatsächlich erreichen können - und was dafür notwendig ist, damit wir gleichzeitig wirtschaftlich erfolgreich bleiben. Standortpolitik ist dabei ein entscheidendes Kriterium. Mutige, große Reformen sind zwingend notwendig. Daher brauchen wir auch endlich eine Energiepolitik, die für ausreichend und damit bezahlbare Energie für alle sorgt.

Das klingt einfach, ist es aber nicht.

Es erfordert eine große gemeinsame Kraftanstrengung, eine Strategie, die kurz- mittel- und langfristige Konzepte entwirft - und hier und da auch etwas mehr Pragmatismus. Ein Beispiel: Ohne Frage brauchen wir daher eine aktivere Energiepolitik, das ist keine Überraschung. Trotzdem fehlt noch immer die Kraftwerksstrategie der Bundesregierung. Es ist sicher, dass wir in der Zukunft wesentlich mehr Energie, vor allem viel mehr Strom brauchen werden. Dafür müssen wir jetzt maximal investieren – und bei Genehmigungs- und Planungsverfahren maximal vereinfachen. Oder nehmen Sie die Rohstoffe, die für die Transformation unverzichtbar sind. Wo sind die Handelsabkommen, die wir dringend brauchen? Stichwort Mercosur. Hier drohen wir, eine große Chance zu verpassen. Der ewige Verhandlungsmarathon ohne Ergebnis ist nicht gerade Werbung für andere Regionen in der Welt, mit uns Abkommen zu schließen. Auch in Afrika sind wir zu inaktiv – und zu spät.

Wem werfen Sie das vor?

Berlin und Brüssel. Wir hatten seit 2005 eine entsprechende Afrika-Strategie. Politisch wurde sie nie so unterlegt und mit Leben gefüllt, dass wir heute etwas davon hätten. Berlin und Brüssel hätten sich früher und stärker darum kümmern müssen. In einer Position der Stärke wäre es einfacher gewesen als in der jetzigen. Nun sehen wir, dass auch andere selbstbewusst eine Gestaltungsrolle einnehmen – und unser Einfluss und unsere Strahlkraft verblassen.

Sind wir zu belehrend?

Wir treten gerne belehrend auf. Natürlich muss unser Wertekanon auch unser politisches Handeln leiten. Gleichzeitig gilt: Zu viel Moral in der Politik führt nicht selten dazu, dass die richtigen Ziele umso weniger erreicht werden. Hier müssen wir ehrlicher und selbstkritischer sein, um am Ende mehr zu erreichen.

Entgleitet uns Europäern die Welt?

Soweit würde ich nicht gehen. Aber wenn man auf die BRICS-Staaten schaut, sieht man, wie sich die Welt verändert. Dass es neue Bündnisse gibt, die nicht mehr nur von unserer Werteordnung geprägt oder begeistert sind. Ich kann mich also nur wiederholen: Eine aktive Energie- und Rohstoffaußenpolitik und eine Handelspolitik mit entsprechenden Abkommen, die auf Diversifizierung, Effizienz sowie Resilienz fokussieren, sind Bedingung für unseren Wohlstand und unsere wirtschaftliche Stärke. Und somit am Ende auch für unseren Einfluss in der Welt.

Auch wenn Klimaschutzziele oder Arbeitsrechte nicht unseren Vorstellungen entsprechen?

Wenn wir keine Abkommen schließen, werden es andere tun und wir erreichen gar nichts. Natürlich wollen wir bessere Standards durchsetzen, als andere Länder. Und selbst wenn nicht alles in Perfektion ausverhandelt ist, ist es auf jeden Fall wichtig, Handelsabkommen abzuschließen und ggf. zunächst Teile in Kraft zu setzen. Noch einmal: Unsere Rolle hat sich verändert. Wir müssen um unseren Standort kämpfen, wir müssen attraktiv für Investitionen bleiben. Ich hatte zum letzten Jahreswechsel diese aktive Standortpolitik, Relevanz durch wirtschaftliche Stärke, gefordert – und mit entsprechenden Vorschlägen unterlegt. Nach diesem Jahr muss ich leider sagen: Unser Standort ist nicht attraktiver geworden.

Heißt das, Chipindustrie, Batterieforschung, Zellproduktion sollten wieder nach Europa verlagert werden?

Wir sind uns einig, dass wir Mobilität der Zukunft - und andere Zukunftsfelder - aus Deutschland und Europa heraus gestalten und das Zentrum für die Transformationstechnologien sein wollen. Um dieses Zielbild zu ermöglichen, müssen wir der weltweit führende, der attraktivste und innovationsfreundlichste Standort sein. Ja, Wir müssen uns den Zugang zu Zukunftstechnologen sichern – daher ist es richtig, in bestimmten Bereichen eine aktive Ansiedlung zu forcieren.

Aber?

Aber gleichzeitig müssen wir in der Wahl der Instrumente insgesamt freier denken. Durch den Inflation Reduction Act wird sich in den USA sehr viel Green Tech entwickeln. Das wäre auch hier möglich, weil die Entwickler in einem hohen Maße nach wie vor von hier kommen. Wir haben gute Forschungsinstitutionen und auch ein fast einzigartiges gemeinschaftliches Zusammenspiel zwischen Wirtschaft und Wissenschaft, meist gut flankiert durch die Politik. Aber wir machen daraus viel zu wenig. Wir müssen uns fragen: Was ist an neuen Themen, Technologien, Ideen wichtig für uns, um als Forschungsstandort führend zu bleiben? Ohne Scheuklappen. Ohne die Angst, dass wir uns als Gesellschaft Debatten nicht zumuten dürfen. Einfach offen, pragmatisch und dabei strategisch. Fest steht: Wenn wir die Entwicklungszentren nicht mehr hier haben, haben wir in Folge oft auch die Werke nicht mehr hier.

Make Germany great again?

Der Slogan kommt von Ihnen (lacht). Tatsächlich stimmt: Wenn ich über De-Risking rede, muss De-Risking auch ermöglicht werden. Leitformel: So autonom wie notwendig und so offen, global und marktorientiert wie möglich. Wir leben von freiem Handel und unser Ziel muss freier Handel bleiben. Deshalb bin ich sehr kritisch, was die protektionistischen Bestrebungen in Brüssel angeht. Meine Sorge ist, dass wir uns dadurch als Exportnation am Ende selbst schaden.

Klingt geschmeidig, aber bleibt in der Kernfrage unkonkret: Wie viel muss der Staat jetzt machen? Ist es an der Zeit, Investitionen und staatliche Standort-Politik neu zu denken, also wie die USA und China auch viel Geld für eine bessere Wettbewerbssituation in die Hand zu nehmen?

Das hat mehrere Komponenten. Das Erste ist: Wenn wir in Europa Ziele und nicht auch noch immer mehr Instrumente bekommen, wäre das ungleich besser. Wir sagen zurzeit: Nur diese Technik ist die einzig Richtige. An vielen Stellen. Stattdessen müssen wir wieder dazu kommen, zu sagen: Das Ziel heißt CO₂-Verzicht. Und jetzt setzt ihr Wissenschaftler, Unternehmer, Forscher usw. das bestmöglich um. In den USA sagen sie den Unternehmen: Setzt den Dollar so ein, dass er maximal CO₂ reduziert. Wie Ihr das macht, ist eure Entscheidung. Das ist ein riesiger Unterschied.

Sie spielen auf das Verbot von Verbrennern an?

Das ist nur eines von vielen Beispielen. Wenn wir global denken, wird klar, dass wir die Probleme im Verkehrssektor mit Elektromobilität alleine nicht lösen können. Für uns ist dieser Weg richtig, aber wir haben weltweit 1,5 Milliarden Fahrzeuge im Bestand. Wir können es uns nicht einfach machen und sagen: Irgendwann fahren alle Menschen E-Autos. Nein, wir müssen auch über synthetische Kraftstoffe oder anderes für den Bestand nachdenken. Andernfalls erreichen wir global unsere Klimaziele nicht.

Was fordern sie konkret?

Ich bin einigermaßen entsetzt über die Art, wie Brüssel mit E-Fuels umgeht. Das ist weder konstruktiv noch weitsichtig. Man agiert zunehmen abgekapselt – als ob es keine Welt da draußen gäbe. Brüssel wird nicht weltweit bestimmen, welche Autos wann und wie unterwegs sein dürfen. Mehr Einfluss haben wir, wenn wir offen gestalterisch statt dirigistisch an die Sache ran gehen.

Will die Kommission nicht einfach, dass der Politik nicht alles entgleitet? Zum Beispiel durch einen unregulierten Umgang mit Künstlicher Intelligenz?

Ich halte es für problematisch und falsch, was die EU in Sachen Künstliche Intelligenz gemacht hat. Natürlich plädiere ich nicht dafür, alles, was KI ermöglicht, einfach zu machen. Aber wenn wir uns jetzt abkoppeln, werden andere die Entwicklung dominieren. Was dann? Wir müssen den Mut haben, Entwicklung und Ausprobieren möglich zu machen. Regulierung ist der zweite Schritt. Sie darf nicht der erste sein.

Sie sagen, Politik müsse neu denken. Machen wir es konkret: Sollte angesichts des weltweiten Machtkampfs die Schuldenbremse doch reformiert werden, um die Wirtschaft stark zu machen und das Land besser gegen Krisen und Krieg zu wappnen?

Vor einer Antwort darauf muss man sich eine andere Aufgabe setzen. Seit 2002 haben sich die Steuereinnahmen verdoppelt, die Kosten sind etwa um die Hälfte gestiegen. Ein ehrlicher Ansatz würde sagen: Wir messen erst mal die Effektivität dessen, was wir mit diesem Haushalt tun. Noch nie hat der Staat so viel Geld ausgegeben. Gleichzeitig sagen viele: Das ist alles unverzichtbar. Ich finde, bei einer Verdopplung der Einnahmen des Staates darf man diese These hinterfragen. Ob und wie man gegebenenfalls für langfristige Infrastrukturinvestitionen noch Geld braucht, hängt von der Beantwortung der ersten Frage ab und darf nicht direkt die Antwort sein.

Sie waren auch mal Regierung. Warum hat diese Art von Kassensturz noch nie eine Regierung geschafft? Weil es am Ende gar nicht geht?

Natürlich geht das. Das machen unsere Unternehmen jeden Tag. Sie investieren in den Jahren von 2023 bis 2027 rund 250 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung neuer Antriebe und etwa 130 Milliarden in den Werksumbau. Wenn Sie so ein gewaltiges Projekt vor sich haben, müssen Sie vorab durch Ihre Bilanz kehren und schauen: Wo geben Sie was wie aus? Gibt es Projekte, die Sie einstellen müssen? Und genau so geht es am Ende auch bei einem Haushalt. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir überprüfen müssen, ob das öffentliche Geld effektiv eingesetzt wird. Zumal, wenn wir das Gefühl haben, dass trotz immer mehr Geld die Dinge nicht unbedingt besser werden.

Jetzt klingen Sie wie die CDU.

Nein. Wie die besorgte Vertreterin einer wichtigen Industrie. Durch das Urteil gab es die Chance für eine neue Prioritätensetzung, für den Umschwung von Symptom- auf Ursachenbekämpfung – und diese Chance wurde bisher nicht genutzt. Die Debatte war emotional aufgeladen, als ginge es um die Abschaffung des Sozialstaats. Keiner will das, er macht unsere menschliche Gesellschaft aus und die Autoindustrie leistet ihren Beitrag dazu. Wir sollten in der Debatte Argumente und Fragen nicht in dieser Form zuspitzen. Wir müssen uns mit den Folgen unseres demografischen Wandels befassen. Wenn wir sehen, wie viel heute in die Sozialsysteme geht, dann müssen wir fragen: Können wir das auch in zehn oder zwanzig Jahren noch? Das ist gegenüber künftigen Generationen zwingend notwendig. Unabhängig von jeder Partei.

Kann es sein, dass Koalitionsregierungen dazu nicht in der Lage sind, weil jede Partei zu viele eigene Interessen hat?

Das ist nicht trivial. Die Ampel ist mit dem Ansatz gestartet, Fortschrittskoalition zu sein - und sich in der Zusammenarbeit gegenseitig Erfolge zu ermöglichen, Kompromisse als gemeinsamen Gewinn und nicht als Niederlage Einzelner zu definieren. Das hat leider nicht lange gehalten. Ich erwarte allerdings gerade in schwierigen Zeiten, dass auch eine Regierung, die zugegebenermaßen schwere Krisen zu bewältigen hat, in der Lage ist, nicht nur mal eben Geld zusammenzukratzen, sondern sagt: Okay, ich muss vielleicht ad hoc handeln, aber ich nehme mir vor, mich strategisch mit dem gesamten Haushalt zu befassen. Dass die Steuereinnahmen auf diesem hohen Niveau bleiben, ist alles andere als sicher.

Ist das nicht zu pessimistisch?

Es ist in erster Linie realistisch. Wir sind 2024 voraussichtlich Schlusslicht beim Wirtschaftswachstum im Euroraum. Wir beobachten eine massive Verlagerung bei den Investitionen. Es gibt kaum eine Branche, die für die nächste Zeit bessere Zahlen anmeldet. Das heißt: Wir müssen uns mit diesem Szenario auseinandersetzen. Und dann doch lieber so früh wie möglich. Ich sage es noch einmal: Die Politik muss vor die Krise kommen.

Warum bauen die deutschen Autobauer bei den E-Autos fast nur im Premiumsegment? Es gibt kaum ein Elektroauto von deutschen Herstellern, das nicht mindestens 40.000 € kostet.

Das ist eine unternehmerische Entscheidung. Fest steht: Unsere Investitionen werden sich auszahlen: Das E-Auto ist auf dem Weg zum Massenprodukt, das heißt Skaleneffekte und Technologiesprünge werden dafür sorgen, dass die Preise für E-Autos sinken werden. Die deutschen Hersteller haben bereits deutlich günstigere Autos angekündigt. Auch hier ist der Standort und die Wettbewerbsfähigkeit wieder entscheidend: Wenn alle Kosten, ob bei Energie oder grundsätzlich, immer weiter steigen, wird die Mission nicht einfacher.

Trotzdem wirkt die deutsche Autoindustrie viel verwundbarer als die französische. Zum Beispiel im Wettbewerb mit China.

Das möchte ich doch deutlich zurückweisen. Die französischen Hersteller verkaufen kaum Autos in China, der Marktanteil ist gering, mit und ohne Elektroauto. Das verändert den Blick. Unser Anspruch ist und bleibt, die weltweit besten, effizientesten, sichersten, digitalisiertesten und klimafreundlichsten Autos der Welt zu bauen. Und im Übrigen steigt unser Angebot unterschiedlicher E-Modelle stetig an. Um nochmals auf die von Ihnen angesprochenen Kleinwagen zu kommen: Die deutschen Hersteller bieten in Deutschland bei den E-Klein- und Kleinstwagen vier Modelle an. Insgesamt gibt es elf Modelle im Segment der E-Kleinwagen und darunter, die aktuell in Deutschland erhältlich sind. Und: Die deutschen Hersteller haben bei den E-Klein- und Kleinstwagen in Deutschland den mit Abstand größten Marktanteil: In den ersten elf Monaten des letzten Jahres erreichten die deutschen Hersteller einen Marktanteil bei den E-Kleinwagen von 46 Prozent. Das heißt: Fast jeder zweite E-Kleinwagen, der in Deutschland neu zugelassen wird, stammt von einem deutschen Hersteller. Und: Alle vier Modelle, die die deutschen Hersteller bei den E-Klein- und Kleinstwagen anbieten, sind für unter 40.000 Euro erhältlich.

Es bleibt das Gefühl, dass die anderen einen großen Vorsprung haben.

Waren Sie bei der IAA Mobility? Da haben wir eindrucksvoll demonstriert, dass wir mit unseren Innovationen im weltweiten Wettbewerb weiterhin Standards setzen. Wir haben die Willensstärke und die Innovationsfähigkeit, die es braucht, um die Transformation zu einer gemeinsamen Erfolgsgeschichte zu machen. Und unsere Hersteller und Zulieferer sind in allen Innovationsrankings auf den ersten Plätzen - und das alles, während sie den größten Wandel ihrer Geschichte stemmen.

Das gilt aber für alle Hersteller.

Falsch. Die Chinesen haben nie wirklich gute Verbrenner gebaut; sie starten direkt mit der Elektromobilität. Unsere Unternehmen stecken in einer riesigen Transformation. Sie rüsten Werke um, richten sich neu aus und denken Sie dabei bitte auch an die Herausforderungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das ist eine ganz andere Leistung. Und wenn Sie dann noch sehen, dass es in China viele direkte Subventionen für die Automobilindustrie gibt, sind die Autos natürlich entsprechend um einiges günstiger. Es geht also um ein sehr komplexes Thema. Und über ein anderes Thema haben wir da noch gar nicht gesprochen.

Welches?

Dass wir viel mehr könnten, wenn die Infrastruktur schon da wäre. Für PKW natürlich, aber gerade auch im Bereich der Nutzfahrzeuge. Auch hier sind unsere Unternehmen sehr innovativ, haben die klimafreundlichen Fahrzeuge bereits marktreif entwickelt - und produzieren entsprechend. Um dieses Potenzial nochmals zu verdeutlichen: Rund 30 Prozent der CO2-Emissionen im Straßenverkehr kommen von den Nutzfahrzeugen. Wir sollten also diesen Bereich immer mitdenken. Viele Spediteure würden die neuen Modelle auch schon gerne kaufen. Das Problem: Ganz oft sagt der örtliche Stromnetzbetreiber: Wir können Dir deinen Fuhrpark nicht anschließen. Wir schaffen das entsprechende Stromnetz erst in vier, fünf Jahren. Das meine ich mit vorausschauender Strategie.

Wären Strafzölle eine Option, den chinesischen Subventionen zu begegnen? Die Franzosen bejahen sie, die Deutschen lehnen sie überwiegend ab.

Grundsätzlich ist es für einen Kontinent, der vom Export abhängt, nicht unbedingt die klügste Lösung, mit Strafzöllen zu arbeiten. Das hat immer Rückwirkungen. Bei den Chips ist es nicht anders. Wir müssen zuallererst an unserer Wettbewerbsfähigkeit arbeiten. Das tun wir nicht ausreichend in Europa.

Können da nicht Strafzölle helfen?

Ich hätte mir gewünscht, die Vor- und Nachteile breiter zu diskutieren, bevor man Strafzölle auf den Weg bringt. Denn natürlich wird es Rückstoßeffekte geben. Gut möglich ist eine Negativ-Spirale, die letztlich alle Beteiligten Wirtschaftswachstum kostet. Dazu kommt etwas, an das viele gar nicht denken, nämlich dass auch deutsche Unternehmen von den Zöllen direkt betroffen sein können. Es sind ja nicht nur wir Autobauer; viele deutsche Industrien produzieren in China. Und alle, die Produktionen nach China verlagert haben und Produkte reimportieren, könnten schließlich davon betroffen sein. Natürlich ist es wichtig, gegenüber China selbstbewusst aufzutreten – und natürlich sehen wir auch viele Entwicklungen dort äußerst kritisch. Wirtschaftliche und innovative Stärke sind entscheidend, wenn wir uns auf Dauer behaupten wollen.

Wenn Sie sich die Welt mit Russland, China, den BRICS-Staaten ansehen: Ist das Konzept Wandel durch Handel gescheitert?

Nein. Es ist zu einfach, dieses Konzept als gescheitert zu erklären, weil wir uns von russischem Gas abhängig gemacht haben und dafür nun den Preis bezahlen. Ich glaube im Gegenteil nach wie vor, dass Menschen und Märkte, die miteinander verbunden sind besser miteinander Zukunft gestalten. Bestes Beispiel: Die Unternehmen der deutschen Autoindustrie, die in Südafrika Werke gebaut haben; die örtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingestellt haben. Mitarbeitende, die inzwischen in festen Häusern wohnen, deren Kinder in Schulen gehen können, die Arbeitsrechte genießen, unsere Wertvorstellungen erleben. Das ist moderne, strategische und zukunftsorientierte Wirtschaftspolitik – mit positiven Effekten für beide Seiten.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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