Trotz stundenlanger Gespräche und Bemühungen, im Streit um das sogenannte Zustrombegrenzungsgesetz doch noch irgendwie zusammenzukommen, haben Union, Grüne, FDP und SPD am Ende des Tages nur ein Ergebnis produziert; dass sie mit all diesen Versuchen kollektiv gescheitert sind. Auch wenn das von der Union eingebrachte und von der AfD und der FDP unterstützte Gesetz keine Mehrheit fand, stand nach Ende der Sitzung vor allem ein Resultat: die AfD kann noch einmal behaupten, dass die von der Union erklärte Brandmauer zu ihr noch ein bisschen brüchiger geworden ist. Der Tag war von zwei Entwicklungen geprägt: Erst gab es unterschiedliche Bemühungen, der AfD nicht noch einmal diese Bühne zu bieten. Am Ende aber bleibt von der Debatte vor allem hängen, dass sich Union und Rot-Grün unter lautem Getöse gegenseitig Lügenvorwürfe machten. Die politische Mitte fand nicht zusammen, sie lag am Ende noch weiter auseinander.
Für Friedrich Merz ist das Scheitern des Gesetzes Niederlage und Chance zugleich. Es ist eine Niederlage, weil er keine Mehrheit fand – auch weil sich fast ein Dutzend Unionsabgeordnete der Abstimmung entzogen. Merz konnte so auch nicht beweisen, dass er einen Politikwechsel nicht nur verspricht, sondern auch umsetzt. Die Heftigkeit der Debatte und die anschließende Niederlage werden es ihm schwerer machen, nach dem 23. Februar einen Partner zu finden und mit dem die angestrebte „Asylwende“ durchzusetzen. Die Führung der Union wollte mit den Anträgen vom Mittwoch und dem Gesetz von Freitag Handlungsfähigkeit beweisen; am Ende des Tages bleibt eher das Gegenteil hängen. Die einzige Chance, die er nun hat: Er kann und wird mit dem Finger auf die anderen zeigen.
Nach der Abstimmung rief Merz die Fraktion zum dritten Mal an diesem Tag zusammen. Zum einen bedankte er sich für die Unterstützung: „Ich habe mich gut aufgehoben gefühlt.“ Zum anderen aber wollte er unbedingt die Schuldigen für diesen Tag benennen. „Der Name des Scheiterns ist Rot und Grün“, sagte Merz vor den Abgeordneten. Die Union habe ihre Vorstellungen zur Abstimmung gestellt. „Wir versprechen den Menschen im Land, dass es in der Mitte des Parlaments eine Kurskorrektur geben wird.“ Was Merz nur andeutete: dass auch in seiner Fraktion die Zahl derer gestiegen ist, die ihm nicht gefolgt sind. Und er ließ bewusst unerwähnt, dass vor allem die Grünen, namentlich Robert Habeck und Franziska Brantner, in den letzten 48 Stunden zahlreiche Versuche unternommen hatten, um ihn für einen anderen Weg zu gewinnen. Merz wollte nicht. Merz wollte sich durchsetzen.
Wie vergiftet das Klima zwischen den potenziellen künftigen Koalitionspartner mittlerweile ist, zeigte sich auch im Ton der meisten Debattenbeiträge am Freitag. Was am Mittwoch geschehen sei, das sei ein „Sündenfall gewesen, der Sie für immer begleiten wird“, rief SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich dem Oppositionsführer im Bundestag zu. Sollte aber erstmals ein Gesetzentwurf mit den Stimmen der AfD eine Mehrheit bekommen, dann werde „die Lebensader der Demokratie“ zerschnitten. Mützenich forderte Merz auf, dieses „Tor zur Hölle“ zu schließen.
Telefonate und persönliche Gespräche zwischen Mützenich und Merz am Donnerstag und Freitag hatten keine Annäherung gebracht. Der Unionskanzlerkandidat sei nicht zu Beratungen auf Augenhöhe bereit gewesen, sagte Mützenich. Sein Urteil: Der CDU-Chef wolle nur zu seinen Bedingungen verhandeln. „Das geht nicht in einer Demokratie.“ Allerdings wurde auch klar: Auch Mützenich wollte nicht einfach Zugeständnisse machen, sondern nach dem Mittwoch eine Entschuldigung von Merz hören, die er nicht bekam. Die im Wahlkampf unter Druck stehenden Sozialdemokraten dürften nun auf einen Mobilisierungseffekt hoffen.
Die Debatte war zwischenzeitlich geprägt von gegenseitigen Vorwürfen, ehrliche Verhandlungen zu verweigern. Die Darstellungen, was wer wem angeboten oder nicht hatte, gingen weit auseinander. „Dass Männer, wenn sie nicht mehr weiterwissen, mit Lügen um sich werfen, mit dem Wort Lüge um sich werfen, das bin ich ja schon gewohnt“, donnerte etwa Annalena Baerbock dem intervenierenden Thorsten Frei entgegen.
Die Grünen gehen nun mit einer Mischung aus Erleichterung und neuer Beklemmung aus dem Tag. Mit denkbar großer Nervosität war die Fraktion in die Debatte gestartet, denn bis in Spitzenkreise hinein war für viele klar: Sollte die Union zum zweiten Mal in dieser Woche ihr Ansinnen nur mithilfe von AfD-Stimmen durchsetzen, ließe sich eine schwarz-grüne Koalition unter Merz kaum mehr anstreben. Auch vorsichtigere Stimmen formulierten: Grundsätzlich ausschließen wolle man nichts, aber mit Merz sei es nun wirklich schwer vorstellbar. Eine Einigung abseits der großen Bühne wäre den Grünen lieber gewesen. Bemühungen darum sind gescheitert. Deeskalierend haben aber auch sie im Plenarsaal nicht auf die Debatte eingewirkt.
Die FDP rang an diesem Tag mit ihrer Position. In einer digitalen Konferenz von Fraktion, Bundesvorstand und Landeschefs hatten mehrere Teilnehmer dafür plädiert, dem Gesetz nicht zuzustimmen – darunter namhafte Liberale wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Konstantin Kuhle und Franziska Brandmann. Wohl auch getrieben von diesem Rumoren, unternahm Fraktionschef Christian Dürr als Erster an diesem Tag den Versuch, das Gesetz in den Innenausschuss zu verweisen. Nach Gesprächen zwischen den Fraktionsspitzen in einer fast vierstündigen Sitzungsunterbrechung machte er jedoch die Rolle rückwärts und eröffnete mit einem kurzen Pressestatement das Ringen um die Deutungshoheit, das Rolf Mützenich zeitgleich im Plenum des Parlaments fortzusetzen begann.
Der SPD und insbesondere den Grünen habe die Bereitschaft gefehlt, sich inhaltlich mit dem Gesetz zu befassen und eine fraktionsübergreifende Lösung zu finden, die Zuwanderung zu begrenzen, so die Sichtweise der Liberalen. Auch das von Dürr unterbreitete Angebot, sowohl die von Rot-Grün vorgeschlagene GEAS-Reform als auch das Zustrombegrenzungsgesetz zu verabschieden, sei nicht mehrheitsfähig gewesen. Die FDP stimmte daher schlussendlich mit Union, AfD und BSW gegen den ursprünglich selbst gemachten Vorschlag zur Verweisung. Dennoch konnten Dürr, Hauptredner Wolfgang Kubicki und Christian Lindner ihre eigenen Leute nicht vollends vom Kurs überzeugen, das Gesetz mit Union und AfD zu verabschieden: 23 Fraktionsmitglieder – und damit jeder Vierte – stimmten nicht für das Gesetz.