Analyse
Erscheinungsdatum: 09. November 2023

Verteidigung: Neue Richtlinien gehen vom möglichen Krieg in Mitteleuropa aus

Nach der russischen Aggression gegen die Ukraine ist die „Zeitenwende“ jetzt auch in der Verteidigungspolitischen Richtlinie angekommen: Das Ressort von Boris Pistorius erwartet von der gesamten Gesellschaft Anstrengungen für eine „kriegstüchtige Bundeswehr“.

Es sind Töne, die die Deutschen seit mehr als drei Jahrzehnten nicht mehr gehört haben: „Unsere Wehrhaftigkeit erfordert eine kriegstüchtige Bundeswehr.“ So gibt es das Verteidigungsministerium gleich in seinen ersten Aussagen in den neuen „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ (VPR) vor.

Und: „Die Russische Föderation bleibt ohne einen fundamentalen inneren Wandel dauerhaft die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum.“ Der Gegensatz zu den letzten vorangegangenen Richtlinien, erlassen 2011 vom damaligen Minister Thomas de Maizière, könnte kaum größer sein.

Im Zentrum stehen folgende Punkte:

Die Wahrscheinlichkeit eines drohenden Kriegs in Mitteleuropa bestimmt den Ton der neuen Ressortstrategie, die das Ministerium am Donnerstag veröffentlichte. Sie benennt die Ziele für die Ausrichtung der Streitkräfte – aber nicht allein. Die „Gesamtverteidigung als Ergebnis militärischer und ziviler Verteidigung“ nimmt auch die anderen Ministerien der Bundesregierung in die Pflicht.

Vor allem aber sollen die neuen Richtlinien deutlich machen, dass aus Sicht des Wehrressorts keine Zeit mehr zu verlieren ist: „Ein Leben in Frieden und Freiheit ist in der Mitte Europas keine Selbstverständlichkeit mehr. (…) Die Befähigung zur Verteidigung Deutschlands und seiner Verbündeten bedarf der umfassenden militärischen Vorbereitung bereits im Frieden und dient der Abschreckung.“ Dabei müsse die Bundeswehr ihre „Strukturen und Prozesse am Szenario des Kampfes gegen einen mindestens ebenbürtigen Gegner ausrichten“, wie „die brutale Realität des Krieges in der Ukraine“ deutlich gemacht habe.

Im Papier von de Maizière 2011 hieß es mit Blick auf das „strategische Sicherheitsumfeld“ noch: „Eine unmittelbare territoriale Bedrohung Deutschlands mit konventionellen militärischen Mitteln ist unverändert unwahrscheinlich.“ Die Folge war eine deutlich verkleinerte Bundeswehr,die für Auslandseinsätze optimiert wurde. Die Landes- und Bündnisverteidigung war zwar weiterhin formal ihr Auftrag, sie war dafür aber immer weniger aufgestellt.

Das soll sich jetzt auch konzeptionell grundlegend ändern. Eine „zeitgemäße Landes- und Bündnisverteidigung (ist) für die Bundeswehr strukturbestimmend“, legen die neuen VPR von Verteidigungsminister Boris Pistorius fest. Das bedeute einen „erheblichen Aufholbedarf“ für die Einsatzbereitschaft der Truppe, für den „dauerhaft mindestens zwei Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung“ erforderlich seien und damit ein stetig steigender Verteidigungshaushalt.

Die „Fähigkeit zu wirksamer Verteidigung“ sei dabei nicht nur die Aufgabe einer „einsatz- und kampfbereiten Bundeswehr“, sondern eine Verpflichtung für Deutschland insgesamt. „Bedingung erfolgreicher Gesamtverteidigung ist die Verzahnung aller relevanten Akteure bereits im Frieden: Staat, Gesellschaft und Wirtschaft“, heißt es in den VPR. Es gehe darum, die Widerstands- und Anpassungsfähigkeit „gesamtstaatlich zu maximieren“.

Trotz der Konzentration auf Landes- und Bündnisverteidigung sehen die neuen Richtlinien auch weiterhin eine Beteiligung deutscher Soldaten an internationalen Missionen für das sogenannte Internationale Krisenmanagement vor. Solche Beiträge zu „regionaler Sicherheit und Stabilität, insbesondere in der europäischen Nachbarschaft“ müssten auch künftig von der Entsendung einzelner Spezialisten „bis zum Einsatz umfänglich befähigter Kontingente“ möglich sein.

Für das nötige Personal, das angesichts der demografischen Entwicklung immer schwieriger zu gewinnen ist, nennen die VPR keine konkreten Zahlen. Insbesondere bleibt offen, ob die derzeit unverändert gültige Zielgröße von 203.000 Soldaten und Soldatinnen nach oben oder unten angepasst wird. „Das Erreichen der erforderlichen personellen Zielumfänge wird auf absehbare Zeit eine der zentralen Herausforderungen der Bundeswehr sein“, räumt das Ministerium in dem Papier ein. Dafür solle aber auch „ein agilerer Personalkörper“ an die Stelle ständiger Forderungen nach mehr Dienstposten treten. Was das bedeutet, bleibt vorerst unklar.

Allerdings wird in den Richtlinien ausdrücklich darauf verwiesen, dass eine „personelle Aufwuchsfähigkeit durch die Reserve“ geschaffen werden soll – auch mit einer Verstärkung für die Landes- und Bündnisverteidigung: „Im Falle der Landesverteidigung sind alle verfügbaren Kräfte einzusetzen.“ Die Einplanungen für die Reserve sollen erhöht werden – bislang hat die Bundeswehr nur rund 30.000 Reservisten auf sogenannten Beorderungsstellen vorgesehen, also auch fest auf konkrete Dienstposten eingeplant.

Das Thema Wehrpflicht wird in den VPR nicht gesondert angesprochen. Allerdings sollen mehr als ein Jahrzehnt nach ihrer Aussetzung auch wieder die Voraussetzungen für die Heranziehung von Wehrpflichtigen zurückgeholt werden, die dafür nötigen „Wehrersatzstrukturen“ sollen wieder aufgebaut werden. Die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr, warnt das Ministerium in der Strategie, sei aber nicht nur eine Forderung an die Soldaten und Soldatinnen: „Insbesondere die Bundeswehrverwaltung ist strukturell zur durchhaltefähigen Wahrnehmung unseres Kernauftrages zu ertüchtigen.“

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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