Table.Briefing: Europe

Ska Keller vor dem Rückzug + Anton Hofreiter im Interview + Media Freedom Act

  • Europa-Grüne: Ska Keller vor dem Rückzug
  • Anton Hofreiter: “Die Krise lässt bei allen den Pragmatismus wachsen”
  • Media Freedom Act: Kann die Kommission Medienfreiheit?
  • Telefonat mit Putin: Scholz drängt auf diplomatische Lösung
  • Entwaldungsfreie Lieferketten: Parlament nimmt Standpunkt an
  • Fit for 55: Breiter Konsens bei Energie-Dossiers
  • EU will Strompreisbremse noch im September beschließen
  • Borrell: Situation um Taiwan realistisch sehen
  • Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan: EU-Ratschef fordert Waffenstillstand
  • Heads: Sanna Marin – mehr als die tanzende Ministerpräsidentin
Liebe Leserin, lieber Leser,

der Hashtag #SOTEU wird heute bei Twitter trenden, jedenfalls in der EU-Blase. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen stellt in ihrer Rede zur Lage der (Europäischen) Union ihre Agenda für die nächsten Monate vor, gekleidet in wohlklingende, bisweilen auch pathetische Worte. Einen Vorgeschmack zu ihrer Rede im Europaparlament haben wir Ihnen hier bereits gegeben. In der morgigen Ausgabe und bei einer Live-Diskussion am Donnerstag ordnen wir das Gesagte ausführlich für Sie ein. Diskutieren Sie gerne mit – anmelden können Sie sich hier.

Für die Grünen wird Ska Keller auf von der Leyens Rede antworten. Seit sechs Jahren führt sie die Fraktion gemeinsam mit dem Belgier Philippe Lamberts, war zudem Spitzenkandidatin bei der Europawahl. Wohl nicht mehr lange, wie mein Kollege Markus Grabitz erfahren hat: In der Partei wird damit gerechnet, dass die Politikerin in den nächsten Wochen ihren Rückzug aus der ersten Reihe der europäischen Grünen bekannt geben wird.

Noch mehr von der Grünen, diesmal aus dem Bundestag: Seit Dezember ist Anton Hofreiter Vorsitzender des Europaausschusses. Im Interview mit Falk Steiner und mir spricht der einstige Fraktionschef über die Bedeutung von Atomkraftwerken für die europäische Solidarität, eine Neuauflage des EU-Aufbaufonds und die Arbeit von Ursula von der Leyen.

Die Kommissionspräsidentin war bemüht, die Spannung vor ihrer Rede hochzuhalten: Sämtliche Legislativvorschläge, die die Kommission gestern beschlossen hat, blieben unter Verschluss. Corinna Visser hat sich dennoch den Entwurf für einen European Media Freedom Act bereits genauer angeschaut.

Ich wünsche Ihnen interessante Lektüre und einen schönen Tag!

Ihr
Till Hoppe
Bild von Till  Hoppe

Analyse

Europa-Grüne: Ska Keller vor dem Rückzug

Ska Keller ist Fraktionsvorsitzende der Grünen/EFA im Europäischen Parlament - nun plant sie wohl ihren Rückzug.
Ska Keller ist Fraktionsvorsitzende der Grünen/EFA im Europäischen Parlament.

Ska Keller ist seit 2016 die wichtigste Grünen-Politikerin auf EU-Ebene. Mit dem Belgier Philippe Lamberts (59) leitet sie seit sechs Jahren die Fraktion. Sie war Spitzenkandidatin der Europa-Grünen 2019 und kandidierte im selben Jahr auch auf Platz eins der deutschen Grünen. Im Europa-Parlament trat sie 2019 auch an, um Parlamentspräsidentin zu werden. Sie hielt eine engagierte Rede, konnte sich aber gegen David Sassoli, den Kandidaten der Sozialisten, nicht durchsetzen. Jetzt gibt sie auf.

Es wird damit gerechnet, dass die Politikerin in den nächsten Wochen ihren Rückzug aus der ersten Reihe der europäischen Grünen bekannt geben wird. Unwahrscheinlich, dass sie überhaupt noch einmal für einen Platz im Europa-Parlament kandidiert. Sie selbst hüllt sich in Schweigen. Mehrfache Aufforderungen von Europe.Table, sich zu den Berichten zu äußern, ließ Keller unbeantwortet.  

Die Enttäuschung in der Fraktion, die 72 Abgeordnete umfasst und damit die viertgrößte Gruppe im Straßburger Parlament ausmacht, ist mit Händen zu greifen. Nach außen wirkt Keller in diesen Tagen wie immer. Wenn sie im Plenum das Wort ergreift, strahlt sie Selbstsicherheit aus. Sie spricht akzentfrei Englisch, sie lächelt und wirkt souverän, wenn sie rhetorisch durchaus geschickt eine Rede hält.

Keller habe sich nie eingearbeitet

Fraktionsmitglieder berichten aber von der anderen Seite: Seit geraumer Zeit wirke sie lustlos, sie ergreife kaum mehr die politische Initiative. Über den Sommer war sie weitgehend abgetaucht, für parteiinterne Abstimmung zeitweise gar nicht zu haben. Auch Medienanfragen blieben unbeantwortet – im Fernsehen wurden dann Live-Interviews mit Politikern anderer Parteien gesendet.

Keller wurde 2009 erstmals ins EU-Parlament gewählt. Schon 2014 hätte sie die Führung der Fraktion übernehmen können. Sie wollte sich jedoch noch einarbeiten und bis 2016 warten, ließ sie die Spitze wissen. 2016 wollte sich ihre Vorgängerin Rebecca Harms sowieso zurückziehen. Doch eingearbeitet, hört man im Parlament, habe Keller sich nicht. Sie habe es auch die ganzen Jahre über versäumt, Beziehungen zu wichtigen Politikern anderer Parteien aufzubauen, selbst innerhalb ihrer eigenen Fraktion. Es reiche ihr, hört man, im Plenum die Rede vorzutragen, die ihre Leute für sie aufgeschrieben haben. In keiner einzigen Kontroverse, die innerparteilich in all den Jahren ausgefochten wurde, habe sie eine Rolle gespielt.

Im Januar standen zur Hälfte der Wahlperiode interne Wahlen an, schon damals habe sie knapp vor der Ablösung gestanden. Doch es fand sich niemand, der gegen sie kandidieren wollte. Noch einmal wird das nicht passieren. Es gilt bei den Grünen als ausgemacht, wer Keller ablösen wird: Terry Reintke, die 35-jährige Grünen-Abgeordnete aus dem Ruhrgebiet, soll übernehmen. In der Fraktion heißt es, im Januar hätte Reintke die Mehrheit gehabt, doch sie wollte nicht gegen Keller putschen. So wird Keller nun wohl die verbleibenden knapp zwei Jahre im Europa-Parlament absitzen. Reintke werden auch gute Chancen eingeräumt, Spitzenkandidatin bei der nächsten Europa-Wahl zu werden.

2023 stellt die Partei ihre Listen auf

Keller zieht es offenbar nach Brandenburg. Schon nach der letzten Landtagswahl 2019 wäre sie wohl gern dort Ministerin geworden. Doch der Landesverband, in dem die gebürtige Ostbrandenburgerin ihre Karriere startete, wollte ihr keinen Platz am Kabinettstisch geben. Sie wolle jetzt Spitzenkandidatin bei der Landtagswahl 2024 werden, hört man. Bis dahin könnte es für Keller, die Vorsitzende auf Abruf, und die Europa-Grünen eine bleierne Zeit werden.

Wie in den anderen Parteien auch beginnen die Grünen gerade mit dem innerparteilichen Wahlkampf. Realos und Linke sondieren, wer Unterstützung hätte, wenn 2023 auf Landes- und Bundesebene die Listen aufgestellt werden.

Die Spitzenämter bei den Grünen teilen sich immer jeweils eine Frau und ein Mann. Im EU-Parlament sitzt neben Ska Keller der Belgier Philippe Lamberts. Auch er hört 2024 auf, das verlangen die internen Regeln seiner Partei in Belgien. Welcher Mann auf ihn folgen könnte, darüber gibt es noch keine belastbaren Spekulationen.

Dafür bringen sich bei den deutschen Grünen die männlichen Kandidaten für den zweiten Platz auf der Liste in Stellung. Seitdem Sven Giegold im vergangenen Jahr beamteter Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium geworden ist, leitet Rasmus Andresen die 21 deutschen Grünen-Abgeordneten im Straßburger Parlament. Andresen ist noch nicht lange dabei, ihm fehlt noch die Sichtbarkeit, für die der prominente Giegold stand.

Im Hintergrund loten gerade mindestens vier Grünen-Abgeordnete ihre Chancen aus, auf Platz zwei gegen Andresen zu kandidieren: Der Stuttgarter Michael Bloss traut sich zu, bei der nächsten Europa-Wahl mit Klimapolitik zu punkten, der Aachener Daniel Freund setzt auf das Thema Rechtsstaatlichkeit und Transparenz, und der Berliner Sergey Lagodinsky könnte als Experte für Außenpolitik antreten. Aus der Deckung wagt sich noch keiner. Einer der Beteiligten kündigt aber an: “Es wird nicht mehr lange dauern, dann fallen die Entscheidungen.”

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Anton Hofreiter: “Die Krise lässt bei allen den Pragmatismus wachsen”

Anton Hofreiter (Grüne) ist seit 2021 Vorsitzender des Europaausschusses im Bundestag. Im Interview spricht Hofreiter über Reserve-Atomkraftwerke, die EU und mehr.
Anton Hofreiter (Grüne) ist Vorsitzender des Europaausschusses im Bundestag.

Herr Hofreiter, Ihr Parteifreund Robert Habeck hat angekündigt, die verbliebenen Atomkraftwerke in die Reserve zu schieben. Wie lässt sich eine solche Entscheidung inmitten einer Stromkrise den europäischen Nachbarn vermitteln?

Hofreiter: Wer sich im Strommarkt auskennt, findet das nicht unsolidarisch. Der Strommarkt funktioniert nicht nach dem Prinzip, dass der Strom günstiger wird, je mehr Strom man hineindrückt.

Sie sehen kein Risiko einer akuten Unterversorgung?

Doch, wir sehen die Gefahr. Deshalb stecken wir die Kernkraftwerke ja in die Reserve und holen Kohlekraftwerke in nicht unerheblicher Stückzahl zurück ans Netz.

Man kann Atomkraftwerke nicht von heute auf morgen wieder hochfahren.

Das plant auch niemand. Ende des Jahres wird entschieden: Werden die Atomkraftwerke benötigt oder nicht? Das hängt von den Kohlekraftwerken ab, insbesondere davon, wie es in Süddeutschland und dort insbesondere in Südbayern aussieht. Die CSU hat verhindert, dass Ersatzkraftwerke, Stromleitungen und Windkraftanlagen gebaut wurden.

Die EU-Kommission will die Mechanismen des Strommarktes reformieren. Ist das der richtige Ansatz?

Wir haben im Moment große Schwierigkeiten mit dem Merit-Order-Prinzip, bei dem das teuerste Kraftwerk den Strompreis bestimmt. Das müssen wir reformieren, zumindest für die Krise. Die Zeit drängt. Wenn es auf europäischer Ebene wegen der Komplexität nicht schnell genug geht, dann brauchen wir eine nationale Strompreisbremse.

“Wir müssen ein Einkaufskartell für Erdgas in Europa bilden”

Halten Sie auch einen Gaspreisdeckel für geboten?

Ich halte das für einen absolut richtigen Ansatz. Ich bin der Meinung, dass wir nicht auf freiwilliger Basis, wofür das Kanzleramt bislang geworben hat, sondern verpflichtend ein Einkaufskartell in Europa bilden müssen. Und das nicht nur für russisches Erdgas – wir kaufen dort kaum mehr ein – sondern generell für den Erdgaseinkauf. Viele Mittelständler sind wegen der hohen Gaspreise in Schwierigkeiten. Es ist aber nicht trivial, einen Preisdeckel so auszugestalten, dass es auch einen Anreiz gibt, mit Energie sparsam umzugehen.

Wenn Europa auch die Preise für LNG deckelt, werden die Tanker stattdessen nach Asien fahren.

Wenn die Slowakei oder Deutschland das sagen würde, hätten Sie Recht. Aber Europa hat eine so große Einkaufsmacht, dass man da durchaus einen niedrigeren Preis erzielen können sollte.

Die Solidarität unter den Mitgliedstaaten wird über diesen Winter hart strapaziert werden – glauben Sie, dass sie hält?

Entscheidend ist, dass jeder tut, was er in der Kürze der Zeit tun kann. Es hilft nichts, den Belgiern vorzuwerfen, dass sie marode Atomkraftwerke haben und den Ausbau der Erneuerbaren vernachlässigt haben. Es hilft auch nichts, Frankreich vorzuwerfen, dass sie ein völliges marodes Stromsystem haben und deshalb erhebliche Mengen aus Deutschland benötigen. Wir selbst können Kohlekraftwerke zurückbringen, Atomkraftwerke in der Reserve halten.

Die EU hat theoretisch einen Energiebinnenmarkt, aber es gibt nationale Egoismen. Frankreich sträubt sich etwa dagegen, die MidCat-Gaspipeline nach Spanien zu bauen. Wie verträgt sich das mit den Solidaritätserklärungen?

Wir haben halt Nationalstaaten. Damit muss man gelassen umgehen. Unter den 16 Bundesländern ist es mit der Solidarität im Konkreten auch schnell vorbei, etwa beim Finanzausgleich zwischen Bayern und Bremen. Und trotzdem muss man kontinuierlich daran arbeiten, dass man enger zusammenkommt. Vor allem muss man die Gemeinschaftsinstitutionen stärken, also EU-Kommission und Europaparlament. Die sind viel besser darin, Solidarität zu organisieren.

“Putin gelingt es nicht, Europa zu spalten”

In Italien wird gewählt, in anderen Ländern sind die Regierungen unter Druck. Fürchten Sie einen Kurswechsel in diesen Ländern und damit ein Ende ihrer Solidarität?

Nein. Das will uns Putin immer erzählen. Aber wenn es hart auf hart kommt, gelingt es ihm nicht, Europa zu spalten. Es muss uns aber bewusst sein, dass die rechtspopulistischen, rechtsradikalen Parteien, um die es sich hier handelt, de facto die Agenten unseres Gegners sind. Wenn man das Argument immer wiederholt und kombiniert mit der Erzählung, dass die Sanktionen nicht wirkten, ist man implizit – und bei den Rechtsextremen explizit – im Dienste Putins. Die Sanktionen wirken: Die Autoproduktion in Russland ist eingebrochen, die Flugzeuge stehen sukzessive still, es ist nur eine Frage der Zeit, wie lange sie ihre Metrosysteme aufrechterhalten können. Wenn du als Land so weit bist, dass du in Nordkorea einkaufen musst, dann kann man nicht behaupten, dass einen die Sanktionen nicht beeinträchtigen.

Ist die russisch-chinesische Partnerschaft hauptsächlich Rhetorik?

Schauen Sie sich die Zahlen an: Der Warenexport aus China nach Russland ist um fast 40 Prozent eingebrochen. Die Gründe sind, dass Hochtechnologie in China stark von westlichen Firmen produziert wird, und die chinesischen Firmen liefern diese auch nicht, weil sie Angst vor den US-Sekundärsanktionen haben.

Hochverschuldete Länder wie Italien haben Schwierigkeiten, die Entlastungspakete für ihre Bürger zu finanzieren. Braucht es neue europäische Instrumente?

Wir haben den Aufbaufonds Next Generation EU, das hilft uns auch jetzt. Wenn die Gelder eingesetzt werden, um Investitionen in erneuerbaren Energien in den Mitgliedsstaaten anzureizen, dann spart das auch teure fossile Energie. Ich persönlich bin der Meinung, dass es ein Nachfolgeprogramm für Next Generation EU geben sollte, um öffentliche Investitionen zu fördern in erneuerbare Energien, Stromnetze, Eisenbahnen usw..

Den Koalitionspartner FDP müssen Sie davon noch überzeugen. Bietet die aktuelle Krise vielleicht die Gelegenheit dazu?

Ich sage gar nicht, dass ein neues Programm jetzt aktuell nötig ist – Next Generation EU enthält noch viele Milliarden. Aber meine Sorge ist, dass die Krise nicht nächstes Jahr vorbei sein wird. Und ich bin davon überzeugt, dass die krisenhafte Entwicklung bei allen den Pragmatismus wachsen lässt.

“Über Neuauflage von SURE diskutieren”

Kanzler Scholz hat bei seiner europapolitischen Rede in Prag angedeutet, dass er sich eine Neuauflage des SURE-Programms vorstellen könnte. Dieses hat über EU-Anleihen in der Corona-Pandemie nationale Kurzarbeiterprogramme finanziert. Sollte man ein solches Programm angesichts der drohenden Rezession erneut aufsetzen?

SURE hat wirklich gut funktioniert, und es wäre klug, darüber zu diskutieren.

Scholz hat in seiner Rede in Prag einige Ideen aus dem Koalitionsvertrag nicht aufgegriffen, etwa einen europäischen Konvent einzuberufen oder die Kompetenzen des Europaparlaments zu stärken – Pragmatismus oder fehlende Ambition?

Ich glaube, manches muss man im Moment sehr pragmatisch gestalten. Ich sehe es vor allem als Aufgabe des Europaparlaments und auch der nationalen Parlamente, auf einen Konvent und mehr Rechte für das Europaparlament zu drängen.

Scholz hat mehrfach gefordert, das Einstimmigkeitsprinzip in der Außen- und der Steuerpolitik abzuschaffen. Aber wie bringt man Länder wie Polen oder Ungarn dazu, ihr Vetorecht fallenzulassen?

Bei Ungarn ist es wirklich kompliziert – da hilft nur massiver Druck über die Rechtsstaatsverfahren. Aber das Verhalten von Viktor Orbán in den vergangenen Monaten hat dazu geführt, dass in anderen, bislang ablehnenden Ländern wie Polen oder im Baltikum ein intensiver Nachdenkprozess eingesetzt hat. Sie empfinden es als unerträglich, dass ein einzelnes Land de facto als Agent Putins die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union in so einer zentralen Frage einschränken kann. Deshalb stehen die Chancen besser denn je.

Wie könnte eine solche Reform aussehen?

Im Baltikum gibt es bereits Ideen, wie man die Einstimmigkeit verändern kann, die ich sehr spannend finde. Zum Beispiel, dass man das Vetorecht darauf beschränkt, wenn das nationale Sicherheitsinteresse betroffen ist. Eine solche Entscheidung sollte dann anhand konkreter Kriterien überprüfbar werden durch den EuGH. Damit qualifiziert man das Veto. Das wäre in vielen Bereichen schon ein Fortschritt, auch wenn ich eine qualifizierte Mehrheit bevorzuge.

“Von der Leyens Bilanz ist gemischt”

Die Frage ist: Wer treibt solche Reformen voran? Setzen Sie auf Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und ihre State-of-the-Union-Rede? Oder erhoffen Sie sich eine deutsch-französische Initiative?

Das sollten alle vorantreiben, die sich berufen fühlen. Ich fände es sehr positiv, wenn wir eine intensive Debatte über unterschiedliche Modelle und Ideen hätten, um dann zu einem Modell zu kommen. Ich hoffe, dass Ursula von der Leyen diesen Prozess bei ihrer Rede vorantreibt.

Haben Sie sich von Frankreich Präsident Emmanuel Macron mehr Einsatz erhofft? Seit der Wahl ist es relativ ruhig geworden.

Absolut! Natürlich war es auch immer ein Problem, dass Deutschland nie auf seine Vorschläge geantwortet hat. Jetzt haben wir die Rede des Kanzlers in Prag. Es wäre gut, wenn Frankreich seine Vorstellungen nun mit konkreten Papieren hinterlegt.

Finden Sie, dass Frau von der Leyen gute Arbeit macht als Kommissionspräsidentin?

Ich würde sagen, die Bilanz ist gemischt. Sie gibt der EU ein Gesicht, hält gute Reden und hat auch gute Ideen. Allerdings könnte die Ausführung handwerklich noch etwas konsequenter sein.

“Von Personalspekulationen halte ich nichts”

Bei den Ölsanktionen gegen Russland zum Beispiel?

Ja, oder beim Thema Rechtsstaatlichkeit.

Wie fänden Sie es, wenn Frau von der Leyen eine zweite Amtszeit anstreben würde?

Dazu müsste sie sich erstmal entscheiden. Ich glaube aber, dass sie klug genug ist, ihre Überlegung dazu in einem kleineren Kreis zu halten.

Für die Grünen würde das ja bedeuten, dass sie ihr Vorgriffsrecht aus dem Koalitionsvertrag auf den deutschen Kommissarsposten 2024 verlieren würden.

Es geht bei Frau von der Leyen nicht um einen Kommissarsposten, sondern um den Kommissionspräsidenten. Das ist schon etwas anderes. Sie kann zudem auch Kommissionspräsidentin werden, wenn die Bundesregierung sie nicht vorschlägt – das entscheiden wir nicht allein.

Ihnen wird persönliches Interesse nachgesagt, nach der Wahl EU-Kommissar zu werden. Ist da etwas dran?

Ich halte von solchen Personalspekulationen überhaupt nichts. Das gilt umso mehr, wenn es noch so weit weg ist wie die Europawahl.

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Media Freedom Act: Kann die Kommission Medienfreiheit?

Noch gehört Europa zu den Regionen in der Welt, in der Journalistinnen und Journalisten vergleichsweise frei arbeiten können. Das zeigt die Rangliste der Pressefreiheit, die Reporter ohne Grenzen jährlich erstellt. Doch auch Medienschaffende in Europa erleben Gewalt, werden vom Staat gegängelt und an der freien Meinungsäußerung gehindert.

Mit dem European Media Freedom Act (EMFA, der Entwurf liegt Europe.Table vor) möchte die EU-Kommission “eine Reihe von Problemen (…) lösen, die das Funktionieren des Binnenmarktes für Mediendienste und die Tätigkeit der Mediendiensteanbieter beeinträchtigen”. Doch der Vorschlag stößt auf erheblichen Widerstand – die deutschen Verleger sehen die Pressefreiheit in Gefahr und fordern tiefgreifende Veränderungen am Media Freedom Act.

Die EU-Kommission begründet den neuen Rechtsakt unter anderem damit, dass sich Medienunternehmen in der EU mit Hindernissen konfrontiert sähen, die ihre Tätigkeit behinderten und sich auf die Investitionsbedingungen im Binnenmarkt auswirkten, wie etwa “unterschiedliche nationale Vorschriften und Verfahren in Bezug auf Medienfreiheit und -pluralismus”. Solche Vorschriften hätten zu einer Fragmentierung des Binnenmarktes geführt und die Rechtssicherheit für die Akteure des Medienmarktes beeinträchtigt.

Die vier Ziele des European Media Freedom Act

Der Vorschlag der Kommission gliedert sich in vier Bereiche

1. Die Förderung grenzüberschreitender Aktivitäten und Investitionen in Mediendienste durch die Harmonisierung der nationalen Rahmenregelungen.

2. Verstärkung der regulatorischen Zusammenarbeit und Konvergenz durch grenzüberschreitende Koordinierungsinstrumente und Stellungnahmen und Leitlinien auf EU-Ebene.

3. Verringerung des Risikos einer unzulässigen öffentlichen und privaten Einmischung in die redaktionelle Freiheit, damit Journalistinnen und Journalisten ungehindert arbeiten können und ihre Quellen und Kommunikation geschützt bleiben.

4. Gewährleistung einer transparenten und fairen Zuweisung wirtschaftlicher Ressourcen auf dem Medienbinnenmarkt durch mehr Transparenz und Fairness bei der Messung der Einschaltquoten und der Zuweisung staatlicher Werbung.

Die Kommission sieht ihren Vorschlag im Einklang mit den bestehenden horizontalen und sektoralen EU-Vorschriften für Medien und Online-Dienste und will damit Regelungslücken schließen – und der Gruppe Europäischer Regulierungsstellen für audiovisuelle Mediendienste (ERGA) einen größeren Handlungsspielraum und zusätzliche Aufgaben übertragen. Aus der ERGA soll der Europäische Ausschuss für Mediendienste werden.

Kritik der deutschen Verleger: EU zerstört Pressefreiheit

Der Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) sowie der Medienverband der freien Presse (MVFP) werten den vorliegenden Entwurf als “eine ‘Medienunfreiheitsverordnung’ und einen Affront gegen die Werte der Europäischen Union und der Demokratie”. Mit dem Plan, den Grundsatz der redaktionellen Freiheit von Verlegern “de facto außer Kraft” zu setzen, würde die EU die Pressefreiheit zerstören, meinen die Verbände.

Harte Kritik kommt auch von Heike Raab, Staatssekretärin und Bevollmächtigte des Landes Rheinland-Pfalz beim Bund und für Europa. Sie sieht dem Rechtsakt mit Sorge entgegen. “Wenn wir die Vielfalt und Unabhängigkeit der Medien sichern wollen, müssen wir sie vor staatlicher, ideologischer oder wirtschaftlicher Einflussnahme sowie einer unbeschränkten Plattformdominanz schützen. Deshalb ist Medienpolitik mehr als digitaler Binnenmarkt oder Plattformökonomie.” Sobald der Vorschlag der Kommission veröffentlicht werde, wollen die Bundesländer ihn “an unseren Maßstäben der Medienfreiheit und an Artikel 5 des Grundgesetzes” messen.

“Sollte die Kommission tatsächlich planen, eine zentralisierte Medienaufsichtsbehörde in Europa zu schaffen, oder Pressefreiheit als Teil der Marktregulierung verstehen, sähe ich die Freiheit und die Vielfalt der Medien tatsächlich in Gefahr”, erklärt Raab. “Ich begreife die kulturelle Vielfalt Europas als Stärke. Wie die Kommission mit diesem Rechtsakt quasi Freiheit in den Medien verordnen will und sie gleichzeitig einschränkt, erschließt sich nicht.”

Restriktivere Medienordnung für alle Mitgliedstaaten

Auch die Europaabgeordnete Petra Kammerevert (S&D), Mitglied im Ausschuss für Kultur und Bildung (CULT), warnt ausdrücklich vor einer solchen Verordnung. “Es ist falsch anzunehmen, dass man europäische Medienfreiheit und damit eine vielseitige und liberale Medienlandschaft in der EU absichern kann, indem man sie mit dem schärfsten zur Verfügung stehenden Mittel reguliert und dabei gleichzeitig tief in die Kompetenzen der Mitgliedsstaaten eingreift”, kritisiert Kammerevert.

Nur weil derzeit zwei Staaten, nämlich Polen und Ungarn, nicht ausreichend in der Lage seien, umfassende Medienfreiheit zu gewährleisten, reiche dies nicht aus, um allen EU-Mitgliedstaaten eine restriktivere Medienordnung vorzuschreiben. Hintergrund, warum eine Verordnung und keine Richtlinie geplant ist, wird jedoch wohl auch sein, dass der Rechtsakt dann auch für ausländische Unternehmen gilt, die innerhalb der EU tätig werden.

Kritik übt Kammerevert auch an der geplanten neuen Aufstellung der ERGA und betont, die staatsferne und unabhängige Organisation einer solchen Behörde sei unabdingbar. Die EU-Kommission müsse sich – wie die Mitgliedstaaten auch – aus der Kontrolle und Aufsicht der Medien heraushalten. “Wir müssen die Medien vor staatlicher Einflussnahme auch durch die EU-Kommission schützen”, warnt sie. Der deutsche Bundesrat hatte in einer Entschließung bereits im März für unabdingbar erklärt, dass die Aufsicht über die Medien und ihre Verbreitung “unabhängig, staatsfern und dezentral” sein müsse.

Auch Sabine Verheyen (EVP), Vorsitzende des CULT-Ausschusses, sagt: “Wir werden im Europaparlament vor allem darauf achten, dass eine europäische Regulierungsbehörde politisch vollständig unabhängig arbeiten kann und die redaktionelle Verantwortung der Medien erhalten bleibt”. Darüber hinaus sieht sie den Entwurf nicht so kritisch wie etwa die Verleger. Sie findet, die Entwicklungen der Medienfreiheit in einigen Mitgliedstaaten der EU seien besorgniserregend. “Oberstes Ziel muss es sein, die redaktionelle Unabhängigkeit der europäischen Medienhäuser zu wahren. Darüber hinaus brauchen wir mehr Konvergenz der nationalen Regulierungsbehörden sowie Maßnahmen gegen die vor allem im digitalen Bereich zunehmende Fragmentierung des Medienmarktes.”

Stärkere Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien

Ganz ähnlich lautet auch die Reaktion der NGO Reporter ohne Grenzen. “Wir sind der Meinung, dass der Entwurf des Europäischen Gesetzes über die Medienfreiheit ein Engagement für die Gewährleistung der Integrität von Informationen zeigt und ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung ist”, sagt Julie Majerczak, Leiterin des Brüsseler Büros. “Die Pressefreiheit hat sich in den letzten Jahren in der EU ernsthaft verschlechtert. Es ist höchste Zeit, etwas dagegen zu unternehmen, und der European Media Freedom Act wird dabei helfen.”

Majerczak hebt zwei Punkte hervor: Zum einen enthalte die Verordnung eine Reihe von Garantien für die Wahrung der redaktionellen Unabhängigkeit. So sei es den Mitgliedstaaten untersagt, sich in die redaktionelle Politik oder die Entscheidungen der Medien einzumischen. Zugleich müssten die Medien Maßnahmen ergreifen, um die redaktionelle Unabhängigkeit der Redakteure zu gewährleisten und sie müssten ihre Eigentümer und Anteilseigner, die “ihre strategischen Entscheidungen beeinflussen können” sowie mögliche Interessenkonflikte transparent darstellen.

Zum anderen solle auch die Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien gestärkt werden. “Die Medienwerbung durch öffentliche Einrichtungen oder Behörden – ein wichtiges Mittel der Medienkontrolle – wird ebenfalls besser geregelt”, sagt Majerczak. Sie müsse nach “transparenten, objektiven, verhältnismäßigen und nichtdiskriminierenden” Kriterien und Verfahren vergeben werden. “Einige Bestimmungen müssen verschärft werden“, findet Majerczak. Aber der Vorschlag der Kommission sei ein guter Anfang.

Ebenfalls umstritten: Artikel 17

Bereits bei der Diskussion um den Digital Services Act (DSA) hatten Medienkonzerne gefordert, Inhalte von Mediendienstleistern auf sehr großen Online-Plattformen wie Google oder Facebook anders zu behandeln als die Inhalte privater Anbieter. Beim DSA ist das Anliegen gescheitert, es gibt kein Medienprivileg. Nun nimmt die Kommission dieses Vorhaben in Artikel 17 wieder auf. “Hintergrund ist, dass die Medien bereits einer Kontrolle durch den Presserat oder die Medienaufsicht unterliegen und wir keinen Anlass sehen, dass sie einer weiteren Prüfung durch die ,Terms and Conditions’ der großen Plattformen unterliegen sollen”, erläutert Tobias Schmid, Direktor der Landesanstalt für Medien NRW und Europabeauftragter der Direktorenkonferenz der Medienanstalten.

In dem neuen Vorschlag der Kommission sieht Schmid einen Kompromissversuch. Es gebe zwar kein Privileg für Medien per se, wohl aber das Recht der Mediendienstleister, sich informieren und erklären zu lassen, warum etwas gesperrt werden soll. Außerdem bestehe das Recht auf ein Moderationsverfahren. “Ich erwarte nicht, dass das bei den Verlegern gut ankommen wird”, sagt Schmid. “Ich sehe darin jedoch aktuell den einzigen Ansatz für weitere Verhandlungen. Klar ist doch, dass wir nicht um die Regeln des DSA herumkommen.”

Maria Luisa Stasi, Leiterin der Abteilung Recht und Politik für digitale Märkte bei der NGO Article 19, sieht das Medienprivileg dagegen kritisch. Vor allem, weil es auf der Selbsteinstufung der Medien beruhe. Sie hält nichts von einer “Überholspur” für Medienunternehmen und sieht hier eine Gefahr für die Meinungsfreiheit, wenn Medien bevorzugt behandelt würden. “Die Frage ist doch: Brauchen wir das wirklich oder ist es nicht eher ein riskanter Ansatz?”

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Telefonat mit Putin: Scholz drängt auf diplomatische Lösung

Erstmals seit vielen Wochen hat Bundeskanzler Olaf Scholz wieder mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin telefoniert. In dem 90-minütigen Gespräch habe Scholz gestern darauf gedrungen, dass es so schnell wie möglich zu einer diplomatischen Lösung des russischen Krieges in der Ukraine komme. die auf einem Waffenstillstand, einem vollständigen Rückzug der russischen Truppen und Achtung der territorialen Integrität und Souveränität der Ukraine basiere, teilte Regierungssprecher Steffen Hebestreit mit.

“Der Bundeskanzler betonte, dass etwaige weitere russische Annexionsschritte nicht unbeantwortet blieben und keinesfalls anerkannt würden”, so Hebestreit weiter.

Die Mitteilung des Kremls zu dem Telefonat ließ auf keinerlei Einlenken Putins schließen. Der Präsident habe den Kanzler auf die “himmelschreienden Verstöße” der Ukrainer gegen das humanitäre Völkerrecht aufmerksam gemacht, hieß es. Die ukrainische Armee beschieße Städte im Donbass und töte dort Zivilisten. Im Streit über Gaslieferungen betonte Putin demnach, dass Russland ein zuverlässiger Lieferant sei. Westliche Sanktionen verhinderten aber eine ordnungsgemäße Wartung der Ostsee-Pipeline Nord Stream 1. Berlin hält diese bereits mehrfach vorgebrachte Begründung für den Lieferstopp über die Pipeline für vorgeschoben.

Olaf Scholz hatte nach Angaben eines Regierungssprechers zuletzt Ende Mai mit Wladimir Putin telefoniert. Damals sprachen Scholz und der französische Staatspräsident Emmanuel Macron gemeinsam mit dem russischen Präsidenten.

Seit dem Telefonat im Mai hat es im Kriegsgebiet weitere dramatische Entwicklungen gegeben. So ging es in dem Gespräch am Dienstag nach Angaben der Bundesregierung nun auch um die Lage am Atomkraftwerk Saporischschja. Scholz habe die Notwendigkeit betont, die Sicherheit des von russischen Kräften besetzten Atomkraftwerks zu gewährleisten. Zudem habe er gefordert, jegliche Eskalationsschritte zu vermeiden und die im Bericht der Internationalen Atomenergieagentur empfohlenen Maßnahmen umgehend umzusetzen, teilte Hebestreit mit. Putin sagte, für die Gefahr eines Nuklearunfalls seien die Ukrainer durch ihren dauernden Beschuss des AKW verantwortlich.

Thema war nach Angaben Hebestreits auch die globale Lebensmittellage, die infolge des russischen Angriffskrieges besonders angespannt ist. Russland hatte die Ukraine Ende Februar überfallen. Seither wehrt sich das Land auch mit Unterstützung aus dem Westen gegen die Angreifer. In den vergangenen Tagen gelang es ukrainischen Truppen, große Gebiete zurückzugewinnen. dpa

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Entwaldungsfreie Lieferketten: Parlament nimmt Standpunkt an

Das Europäische Parlament hat gestern seinen Standpunkt zur Verordnung über Entwaldungsfreie Lieferketten angenommen. 453 Abgeordnete stimmten in Straßburg für den Vorschlag. 57 stimmten dagegen und 123 enthielten sich. Damit ist das Parlament bereit, die Trilogverhandlungen über das endgültige Gesetz aufzunehmen.

Die Verordnung sieht ein Importverbot für zahlreiche Waren vor, wenn für ihre Produktion Wälder abgeholzt wurden. Sie würde Unternehmen entsprechende Sorgfaltspflichten auferlegen, sodass diese weltweit entlang der gesamten Lieferkette überprüfen müssten, dass in der EU verkaufte Waren nicht auf abgeholzten oder degradierten Flächen hergestellt wurden.

Das Parlament hatte die Kommission im Oktober 2020 aufgefordert, Rechtsvorschriften vorzulegen, um die von der EU verursachte weltweite Entwaldung zu stoppen. Den Vorschlag für die Verordnung stellte die Kommission im November 2021 vor. Die Mitgliedstaaten hatten sich bereits im Juni auf ihre Position im Europäischen Rat geeinigt.

Entwaldungsfreie Lieferketten: Stichtag 31. Dezember 2019?

Während sich der Vorschlag der Kommission auf Rinder, Kakao, Kaffee, Palmöl, Soja und Holz sowie auf Produkte, die diese Rohstoffe enthalten, bezieht, will das Parlament auch Schweinefleisch, Schafe und Ziegen, Geflügel, Mais und Kautschuk sowie Holzkohle und bedruckte Papierprodukte einbeziehen. Zudem fordern die Abgeordneten, den Stichtag um ein Jahr auf den 31. Dezember 2019 vorzuverlegen. In diesem Fall dürften keine der betroffenen Produkte mehr auf den EU-Markt gelangen, wenn sie auf Flächen hergestellt wurden, die nach Ende 2019 der Entwaldung oder Waldschädigung zum Opfer gefallen sind.

Das Parlament fordert im Standpunkt außerdem zusätzliche Auflagen für Finanzinstitute, damit deren Aktivitäten nicht zur Entwaldung beitragen. Unternehmen sollen auch nachweisen, dass Waren im Einklang mit internationalen Menschenrechtsbestimmungen produziert werden und die Rechte der indigenen Völker dabei respektiert werden.

Abgeordnete wollen Geltungsbereich erweitern

Unternehmen müssten die Risiken in ihren Lieferketten für den EU-Markt mit der gebotenen Sorgfalt bewerten, hieß es aus dem Parlament. Sie können etwa Satellitenüberwachungsinstrumente, Vor-Ort-Audits, den Aufbau von Kapazitäten bei den Lieferanten oder Isotopentests einsetzen, um zu prüfen, woher die Produkte stammen. Die EU-Behörden hätten Zugang zu den relevanten Informationen, wie etwa den geografischen Koordinaten. Anonymisierte Daten würden der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen.

Die Kommission müsste innerhalb von sechs Monaten nach Inkrafttreten der Verordnung Länder oder Regionen in drei Kategorien einteilen: geringes, normales oder hohes Risiko. Für Produkte aus Ländern mit geringem Risiko würden weniger Verpflichtungen gelten.

Entwaldung: bisher keine Produktkennzeichnungen

Derzeit könnten Verbraucherinnen und Verbraucher nicht sagen, ob sie mit dem Kauf eines Produktes zur Entwaldung beitragen oder nicht, sagte die SPD-Abgeordnete Delara Burkhardt vor der Abstimmung. Wälder würden im großen Stil abgeholzt und Brand gerodet, um Platz für die Produktion von Waren wie Palmöl, Soja, Kakao, Kaffee, Fleisch oder Leder zu schaffen.

“Da die EU für etwa 10 Prozent der weltweiten Entwaldung verantwortlich ist, haben wir keine andere Wahl, als unsere Anstrengungen zu verstärken, um die weltweite Entwaldung zu stoppen”, sagte Christophe Hansen (EVP), Berichterstatter im Parlament, nach der Abstimmung. “Wenn wir das richtige Gleichgewicht zwischen Ehrgeiz, Anwendbarkeit und WTO-Kompatibilität finden, hat dieses neue Instrument das Potenzial, den Weg zu entwaldungsfreien Lieferketten zu ebnen.”

Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) schätzt, dass zwischen 1990 und 2020 420 Millionen Hektar Wald – eine Fläche größer als die EU – durch Entwaldung verloren gegangen sind. leo/dpa

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Fit for 55: Breiter Konsens bei Energie-Dossiers

Am heutigen Mittwoch stimmt das Europäische Parlament über die Teile des Fit-for-55-Pakets zur Beschleunigung des Einsatzes erneuerbarer Energien (RED) und zur Senkung des Energieverbrauchs (EED) bis 2030 ab – dann können die Trilogverhandlungen beginnen. Beide Texte genießen einen breiten Konsens, wobei der größte Streitpunkt die Definition von grünem Wasserstoff ist.

“Fraktionsübergreifend gibt es eine große Akzeptanz der meisten Kompromisse” um RED, erklärte Markus Pieper (EVP), Berichterstatter im Industrieausschuss, gestern vor Journalisten in Straßburg – vorausgesetzt, die erreichten Kompromisse halten. Aber: “Jede Fraktion will irgendwie dabei sein, wenn es um den schnelleren und moderneren Ausbau der Erneuerbaren Energien geht. Es ist jetzt ein pragmatischer Ansatz, ein ‘Fahren auf Sicht’. Alles in allem haben wir jetzt sehr ehrgeizige Planungen, die aber erreichbar sind”.
 
Halten die Kompromisse, bleibt als einziger strittiger Punkt Artikel 27.3, so Pieper: “Wir wollen mit dieser Richtlinie die Kriterien für die Produktion von grünem Wasserstoff einfacher regeln, als es derzeit im Vorschlag für einen delegierten Rechtsakt der Kommission vorgesehen ist”.

Der Europaabgeordnete präzisiert: “Konkret wollen wir alle Anlagen für die Produktion von grünem Wasserstoff einbeziehen, das heißt, auch Bestandsanlagen und geförderte. Wir wollen den Nachweis für den Bezug und Verbrauch von Grünstrom zeitlich entzerren, damit hier Flautezeiten pragmatischer einfließen können und Wasserstoff zu einem wettbewerbsfähigen Preis hergestellt werden kann”. Zudem solle durch indirekte Buchungsmodell der Bezug von grünem Wasserstoff auch über weite Entfernungen und verschiedene Preiszonen erleichtert werden, erklärt Pieper.

Streit um Definition von grünem Wasserstoff

“Alles sehr technisch, aber im Kern geht es um eine Vereinfachung der Vorgaben für die Produktion von Wasserstoff und damit um eine Beschleunigung des Hochlaufs sowohl im Verkehrs-, als auch im Industriesektor”, so der Abgeordnete. Hinter den technischen Ausführungen verbirgt sich eine sehr politische Debatte, in der zwei Definitionen aufeinanderprallen: die des erneuerbaren Wasserstoffs, der aus erneuerbaren Energien hergestellt wird, und die des kohlenstoffarmen Wasserstoffs, der zum Beispiel durch Kernenergie erzeugt werden kann.

Die Kommission hatte in ihrer Überarbeitung der Erneuerbare-Energien-Richtlinie vorgeschlagen, den Anteil der erneuerbaren Energien am Bruttogesamtenergieverbrauchs bis 2030 von 32 Prozent (RED II) auf 40 Prozent (RED III) zu erhöhen statt ca. 20 Prozent wie der bisherige Plan vorsieht, erinnert Markus Pieper. “Das war und ist entscheidend für den europäischen Beitrag zum Pariser Klimaabkommen. Der russische Angriff auf die Ukraine hat jedoch eine Neuausrichtung unserer europäischen Energiepolitik erfordert”.

Zudem habe sich herausgestellt, dass vor allem der beschleunigte Ausbau der erneuerbaren Energien Europa eine größere Unabhängigkeit und Sicherheit bringen wird, führt der Parlamentarier fort. “Während der Verhandlungen im Europäischen Parlament hat sich schnell eine Mehrheit für den EVP-Berichterstatter-Vorschlag einer Erhöhung des Ziels auf 45 Prozent gefunden. Und auch die Kommission hat das neue Ziel in ihrer späteren REPowerEU-Strategie übernommen”.

EED: Warten auf den Rat

“Die billigste Energie ist die, die man nicht verbraucht” war wohl die am häufigsten verwendete Formulierung in den Debatten der Parlamentarier über die Richtlinie zur Energieeffizienz am vergangenen Montagabend. In der Tat genießt der zur Abstimmung stehende Text einen breiten Konsens. Niels Fuglsang, S&D-Abgeordneter und Verhandlungsführer des Parlaments für die Energieeffizienzrichtlinie, begrüßte eine “sehr positive” Debatte über einen Text, der “einen großen Konsens widerspiegelt, in dem sich jeder wiederfinden kann” und der gleichzeitig “ein hohes Maß an Ehrgeiz” beibehält. Er zeigte sich zuversichtlich, dass der Text angenommen wird. “Ich freue mich darauf, dass die Verhandlungen mit dem Rat beginnen”, fügte er hinzu.

Als Reaktion auf die Invasion in der Ukraine machte die Europäische Kommission einen Rechtsvorschlag, um das EU-Energieeffizienzziel für 2030 von 36 auf 39 Prozent zu erhöhen und es für die Mitgliedstaaten verbindlich zu machen. Die EU-Parlamentarier haben dieses Ziel um 1 Prozent erhöht. “Ein Ziel von 40 Prozent könnte die Gasimporte um 190 Milliarden Kubikmeter pro Jahr reduzieren. Das entspricht der dreieinhalbfachen Kapazität der russischen Gaspipeline Nord Stream 1”, betonte Fuglsang. Um die 40-Prozent-Reduktion zu erreichen, nahmen die Parlamentarier verbindliche nationale Ziele auf, die unter anderem eine jährliche Renovierungsrate von 3 Prozent für den öffentlichen Gebäudebestand einführen.

Zur Erinnerung: Der Industrieausschuss hat im Juli einen Bericht angenommen, in dem eine Senkung des Endenergieverbrauchs um 40 Prozent (Obergrenze 740 Mio. t RÖE) und des Primärenergieverbrauchs um 42,5 Prozent (Obergrenze 960 Mio. t RÖE) als Ziele festgelegt werden. Die Mitgliedstaaten wären somit verpflichtet, die verbindlichen nationalen Beiträge auf der Grundlage der beiden Energieverbrauchsindikatoren sowie die für 2025 und 2027 festgelegten Zwischenwerte einzuhalten, um sicherzustellen, dass sie sich auf dem richtigen Weg befinden. cst

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EU will Strompreisbremse noch im September beschließen

Die EU-Staaten wollen die geplante Strom- und Gaspreisbremse noch in diesem Monat beschließen. Dafür werde es am 30. September ein Sondertreffen der EU-Energieminister geben, kündigte der tschechische Industrie-Minister Jozef Sikela gestern an. Er habe die Minister dazu eingeladen.

Die Kommission schlägt unter anderem vor, einen Höchstpreis beim Verkauf von Strom von 180 Euro pro Megawattstunde einzuführen. Da die Großhandelspreise derzeit deutlich höher liegen, soll die Differenz als sogenannter Zufallsgewinn abgeschöpft und zur Preisdämpfung etwa bei Haushalten und Betrieben genutzt werden. Auch Öl-Händler und Raffinerien sollen über eine Abgabe ein Drittel des Profits abtreten, der noch höher als ein Fünftel über dem Schnitt des zu versteuernden Gewinns der letzten drei Jahre liegt. Dies geht aus einem neuen Vorschlag der Kommission von Dienstag hervor.

Unterscheidung zwischen Öko-, Atom- und Kohlestrom

Die Bundesregierung hatte sich bereits grundsätzlich hinter die Pläne gestellt. Sie will mit den Einnahmen für Haushalte und Betriebe ein Strom-Kontingent verbilligen. Wer darüber hinaus Strom verbraucht, soll dafür dann aber den Marktpreis zahlen. Damit soll ein Anreiz zum Sparen verbunden werden. Die EU-Kommission will zudem in Zeiten besonders hoher Strompreise an den Börsen die Staaten zu einer Einsparung von fünf Prozent ihres Verbrauchs zwingen.

Das Bundeswirtschaftsministerium hatte in der Debatte vorgeschlagen, bei der Abschöpfung der Gewinne zwischen Ökostrom-Produzenten und Atom- oder Kohlekraftwerke zu unterscheiden (Europe.Table berichtete). Da erneuerbarer Strom überwiegend über den kurzfristigen Spotmarkt verkauft werde, könne es hier eine Erlösobergrenze geben. Da der sonstige Strom meist über den Terminmarkt, also mittel- und langfristig verkauft werde, soll es hier einen “Krisenbeitrag” der Erzeuger geben.

Gewinnabschöpfung: Auch rückwirkend für 2022

Wirtschaftsminister Robert Habeck sagte, er wolle, dass die Abschöpfung der Gewinne auch rückwirkend für das Jahr 2022 greifen könne. Die Dämpfung der Preise etwa über ein Kontingent solle ab nächstes Jahr kommen.

Besonders strittig dürfte in der EU ein diskutierter Preisdeckel für Gas werden. Es wird erwartet, dass sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dazu am Mittwoch äußert. rtr

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Borrell: Situation um Taiwan realistisch sehen

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hat sich zuversichtlich gezeigt, dass China seinem Versprechen treu bleibe, im Krieg gegen die Ukraine keine Waffen an Russland zu liefern. Peking habe dazu immer eine sehr klare Position vertreten, sagte Borrell am Dienstag bei einer Debatte zur Außenpolitik im EU-Parlament in Straßburg. “Und zwar, dass sie Russland keine militärische Hilfe leisten würden.” Dass Nordkorea Russland nun Waffen verkaufe, liege außerhalb jeglicher Kontrolle der EU. “Aber was China angeht, war es bei jedem einzelnen Treffen, das wir hatten, ziemlich deutlich: Sie haben nicht vor, Russland militärische Hilfe zu leisten”, so Borrell.

Was Taiwan betreffe, sei er von Chinas Reaktion auf den Besuch von Nancy Pelosi nicht überrascht gewesen, betonte der EU-Außenbeauftragte. “Um es deutlich zu sagen: Besuche in Taiwan sollten keine Militärübungen oder Raketenstarts provozieren oder als Anlass für Einschüchterung genutzt werden.” Die EU habe kein Interesse an einem weiteren großen Konflikt. Die Lage in der Taiwan-Straße müsse aber realistisch gesehen werden, so Borrell. Die Spannungen dort würden nicht verschwinden. “Aber das wird uns nicht in unseren Bemühungen aufhalten, die Stabilität und den Status quo zu Taiwan zu bewahren.” Er selbst werde auf absehbare Zeit nicht nach Taiwan reisen, so Borrell.

Das Europaparlament stimmt am Donnerstag über seinen Standpunkt zur Situation um Taiwan ab. Die Vorschläge der einzelnen politischen Gruppen zu der geplanten Resolution unterscheiden sich derzeit aber noch sehr in Formulierungen und Forderungen. Die Gruppen verhandeln noch über den endgültigen Wortlaut, über den dann abgestimmt wird. Die Resolutionen sind Standpunkte des EU-Parlaments mit nicht bindenden Handlungsempfehlungen für die EU-Kommission. ari

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Michel fordert Waffenstillstand zwischen Armenien und Aserbaidschan 

EU-Ratschef Charles Michel hat angesichts der schweren Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan im Südkaukasus zu einer diplomatischen Lösung des Konflikts aufgerufen. Es brauche einen vollständigen und dauerhaften Waffenstillstand, schrieb der Belgier am Dienstag auf Twitter. “Es gibt keine Alternative zu Frieden und Stabilität – und es gibt keine Alternative zur Diplomatie, um dies zu gewährleisten.” Michel nannte die Berichte über Kämpfe extrem besorgniserregend.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell teilte mit, dass Michel Kontakt zu den Staats- und Regierungschefs der beiden Länder aufnehme. Auch er rief zu einer Rückkehr an den Verhandlungstisch auf. Die EU sei entschlossen, weiter zu vermitteln. Der EU-Sonderbeauftragte Toivo Klaar werde unverzüglich in beide Länder reisen.

In der Nacht zum Dienstag ist der jahrzehntelange Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien wieder in Gewalt umgeschlagen. Beide Nachbarstaaten gaben sich gegenseitig die Schuld am Wiederaufflammen der Kämpfe im Grenzgebiet. Armenien teilte mit, mindestens 49 seiner Soldaten seien getötet worden. Aserbaidschan nannte keine konkreten Opferzahlen, räumte aber ebenfalls “personelle Verluste” ein.

Die beiden ehemaligen Sowjetrepubliken streiten seit Jahrzehnten um das mehrheitlich von Armeniern bewohnte Bergkarabach. Völkerrechtlich gehört es zu Aserbaidschan, von dem es sich aber 1991 losgesagt hatte. Der Konflikt war 2020 in einem Krieg eskaliert, der nach sechs Wochen mit einer von Russland vermittelten Waffenruhe beendet wurde. Als Teil der Vereinbarung schickte Moskau anschließend Tausende Soldaten in die Region, um den Frieden zu überwachen. dpa/rtr

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Presseschau

Mindestens 49 getötete Soldaten: OSZE bietet sich als Vermittler zwischen Aserbaidschan und Armenien an TAGESSPIEGEL
Von der Leyen hält Rede zur Lage der Europäischen Union ZEIT
EU plant Preisdeckel für Strom bei 180 Euro SUEDDEUTSCHE
EU-Kommission entscheidet: Brüssel wird zunächst keinen Gaspreisdeckel vorschlagen FAZ
Schutz von Wäldern: EU-Parlament will Importverbot von Waren ZDF
Medienfreiheitsgesetz: EU will Presse vor Überwachung schützen NETZPOLITIK
EU schreibt über 5 Milliarden Euro Fördermittel für Verkehrsprojekte aus DVZ
Deutschland beteiligt sich an EU-Flotte von Löschflugzeugen WELT
Revolut Pay: PayPal-Konkurrent nun in Europa verfügbar STADT-BREMERHAVEN

Heads

Sanna Marin – mehr als die tanzende Premierministerin

Sanna Marin, Premierministerin von Finnland, am Dienstag im Europäischen Parlament in Straßburg.
Sanna Marin, Premierministerin von Finnland, am Dienstag im Europäischen Parlament in Straßburg.

Als Sanna Mirella Marin im Dezember 2019 zur Premierministerin Finnlands gewählt wurde, war sie längst nicht die erste Frau in diesem Amt. Aber sie war die jüngste Premierministerin in Finnlands Geschichte. Mit 34 Jahren war sie bei Amtsantritt sogar die jüngste Regierungschefin der Welt – zumindest bis im Januar 2020 Sebastian Kurz in Österreich wieder Bundeskanzler wurde.

Seit einigen Wochen hat die nun 36-jährige Sozialdemokratin ein außergewöhnliches Bekanntheitsmerkmal mehr – sie ist die Premierministerin, die tanzt. Nicht jedem gefällt das. Marin wurde von Konservativen teils heftig für die Videos kritisiert, die sie ausgelassen beim Tanzen zeigen. Sogar einen Drogentest forderten diese. Dem kam Marin ohne viel Aufhebens nach und legte kurz darauf wie erwartet ein negatives Ergebnis vor. In der finnischen Bevölkerung ist Marin beliebt, laut einer aktuellen Umfrage waren 68 Prozent mit ihrer Politik “zumindest ziemlich zufrieden” – ihre Popularität hat in den vergangenen Monaten noch zugenommen.

Auch aus dem EU-Parlament erfuhr Marin am Dienstag Rückendeckung. Nach ihrer Rede zur Situation in Europa sagte die belgische Abgeordnete Assita Kanko (EVP), die Menschen vergäßen gerne, dass auch Politiker Menschen und keine Maschinen seien. Frauen würden strenger kontrolliert und manche gäben ihre Ämter deswegen auf.

In ihrer Rede vor dem EU-Parlament in Straßburg machte Marin noch einmal deutlich, dass weitaus größere Probleme ins Haus stehen als tanzende Ministerinnen. “Mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Russland die wichtigsten Grundsätze der europäischen Sicherheitsordnung gebrochen. Der Energiemarkt leidet unter einer außergewöhnlichen Unsicherheit, die zusammen mit der Inflation zu einem wirtschaftlichen Abschwung in Europa führen kann”, sagte sie. “Die Rekorddürre und die Naturkatastrophen dieses Sommers zeigen, wie der Klimawandel voranschreitet. Wenn wir jetzt nicht handeln, wird es zu spät sein”.

“Letzter Warnschuss für die EU”

Paulo Rangel (EVP) gratulierte Marin zur Entscheidung, der Nato beitreten zu wollen. Es sei eine der wichtigsten geopolitischen Leistungen des 21. Jahrhunderts, nicht nur, weil es die Sicherheit Finnlands stärke, sondern auch, weil die gesamte euro-atlantische Gemeinschaft und die kollektive Sicherheit gestärkt werde.

Bei einem anschließenden Auftritt mit Parlamentspräsidentin Roberta Metsola forderte Marin von der EU-Kommission weitere Sanktionspakete. “Sanktionen sind unser einziger Weg, Russland zu schwächen und wir werden offen gegenüber den neuen Sanktionen der EU-Kommission sein.” Der Krieg Russlands gegen die Ukraine sei auch der letzte Warnschuss dafür, dass die EU fähig sein müsse, auf ihren eigenen Beinen zu stehen, wenn es darauf ankomme, sagte Marin. Metsola machte ebenso klar, dass die EU sich nicht länger auf unverlässliche Partner stützen und die Energiewende nicht länger herauszögern dürfe.

Sanna Marin: steht für eine junge Generation

Marin, geboren in Helsinki und aufgewachsen mit zwei Müttern, steht für eine junge Generation und eine moderne Politik. Sie interessiert sich früh für Politik, schreibt in ihrer Masterarbeit über “Finnland, das Land der Bürgermeister” und den Professionalisierungsprozess der politischen Führung in finnischen Städten.

Sie gilt als Shooting-Star und talentierte Politikerin, wird 2014 zweite Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei (SDP). 2015, bei ihrer ersten Kandidatur, wird sie ins finnische Parlament gewählt und arbeitet unter anderem im Haupt- und Umweltausschuss. In der Regierung um ihren Vorgänger Antti Rinne (SDP) wird sie Ministerin für Verkehr und Kommunikation. Seit August 2020 hält sie den Vorsitz der Sozialdemokratischen Partei. 

Umweltthemen begleiten sie bis heute. Ihre Regierung hat sich überaus ambitionierte Ziele gesteckt: Finnland will bis 2035 klimaneutral sein und die erste fossilfreie Wohlfahrtsgesellschaft der Welt werden. Deshalb, aber auch angesichts des Krieges Russlands gegen die Ukraine, plädiert Marin für den schnellen Ausbau erneuerbarer Energien, denn auch Finnland ist von russischen Energielieferungen abhängig. Lisa-Martina Klein

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Europe.Table Redaktion

EUROPE.TABLE REDAKTION

Licenses:
    • Europa-Grüne: Ska Keller vor dem Rückzug
    • Anton Hofreiter: “Die Krise lässt bei allen den Pragmatismus wachsen”
    • Media Freedom Act: Kann die Kommission Medienfreiheit?
    • Telefonat mit Putin: Scholz drängt auf diplomatische Lösung
    • Entwaldungsfreie Lieferketten: Parlament nimmt Standpunkt an
    • Fit for 55: Breiter Konsens bei Energie-Dossiers
    • EU will Strompreisbremse noch im September beschließen
    • Borrell: Situation um Taiwan realistisch sehen
    • Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan: EU-Ratschef fordert Waffenstillstand
    • Heads: Sanna Marin – mehr als die tanzende Ministerpräsidentin
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    der Hashtag #SOTEU wird heute bei Twitter trenden, jedenfalls in der EU-Blase. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen stellt in ihrer Rede zur Lage der (Europäischen) Union ihre Agenda für die nächsten Monate vor, gekleidet in wohlklingende, bisweilen auch pathetische Worte. Einen Vorgeschmack zu ihrer Rede im Europaparlament haben wir Ihnen hier bereits gegeben. In der morgigen Ausgabe und bei einer Live-Diskussion am Donnerstag ordnen wir das Gesagte ausführlich für Sie ein. Diskutieren Sie gerne mit – anmelden können Sie sich hier.

    Für die Grünen wird Ska Keller auf von der Leyens Rede antworten. Seit sechs Jahren führt sie die Fraktion gemeinsam mit dem Belgier Philippe Lamberts, war zudem Spitzenkandidatin bei der Europawahl. Wohl nicht mehr lange, wie mein Kollege Markus Grabitz erfahren hat: In der Partei wird damit gerechnet, dass die Politikerin in den nächsten Wochen ihren Rückzug aus der ersten Reihe der europäischen Grünen bekannt geben wird.

    Noch mehr von der Grünen, diesmal aus dem Bundestag: Seit Dezember ist Anton Hofreiter Vorsitzender des Europaausschusses. Im Interview mit Falk Steiner und mir spricht der einstige Fraktionschef über die Bedeutung von Atomkraftwerken für die europäische Solidarität, eine Neuauflage des EU-Aufbaufonds und die Arbeit von Ursula von der Leyen.

    Die Kommissionspräsidentin war bemüht, die Spannung vor ihrer Rede hochzuhalten: Sämtliche Legislativvorschläge, die die Kommission gestern beschlossen hat, blieben unter Verschluss. Corinna Visser hat sich dennoch den Entwurf für einen European Media Freedom Act bereits genauer angeschaut.

    Ich wünsche Ihnen interessante Lektüre und einen schönen Tag!

    Ihr
    Till Hoppe
    Bild von Till  Hoppe

    Analyse

    Europa-Grüne: Ska Keller vor dem Rückzug

    Ska Keller ist Fraktionsvorsitzende der Grünen/EFA im Europäischen Parlament - nun plant sie wohl ihren Rückzug.
    Ska Keller ist Fraktionsvorsitzende der Grünen/EFA im Europäischen Parlament.

    Ska Keller ist seit 2016 die wichtigste Grünen-Politikerin auf EU-Ebene. Mit dem Belgier Philippe Lamberts (59) leitet sie seit sechs Jahren die Fraktion. Sie war Spitzenkandidatin der Europa-Grünen 2019 und kandidierte im selben Jahr auch auf Platz eins der deutschen Grünen. Im Europa-Parlament trat sie 2019 auch an, um Parlamentspräsidentin zu werden. Sie hielt eine engagierte Rede, konnte sich aber gegen David Sassoli, den Kandidaten der Sozialisten, nicht durchsetzen. Jetzt gibt sie auf.

    Es wird damit gerechnet, dass die Politikerin in den nächsten Wochen ihren Rückzug aus der ersten Reihe der europäischen Grünen bekannt geben wird. Unwahrscheinlich, dass sie überhaupt noch einmal für einen Platz im Europa-Parlament kandidiert. Sie selbst hüllt sich in Schweigen. Mehrfache Aufforderungen von Europe.Table, sich zu den Berichten zu äußern, ließ Keller unbeantwortet.  

    Die Enttäuschung in der Fraktion, die 72 Abgeordnete umfasst und damit die viertgrößte Gruppe im Straßburger Parlament ausmacht, ist mit Händen zu greifen. Nach außen wirkt Keller in diesen Tagen wie immer. Wenn sie im Plenum das Wort ergreift, strahlt sie Selbstsicherheit aus. Sie spricht akzentfrei Englisch, sie lächelt und wirkt souverän, wenn sie rhetorisch durchaus geschickt eine Rede hält.

    Keller habe sich nie eingearbeitet

    Fraktionsmitglieder berichten aber von der anderen Seite: Seit geraumer Zeit wirke sie lustlos, sie ergreife kaum mehr die politische Initiative. Über den Sommer war sie weitgehend abgetaucht, für parteiinterne Abstimmung zeitweise gar nicht zu haben. Auch Medienanfragen blieben unbeantwortet – im Fernsehen wurden dann Live-Interviews mit Politikern anderer Parteien gesendet.

    Keller wurde 2009 erstmals ins EU-Parlament gewählt. Schon 2014 hätte sie die Führung der Fraktion übernehmen können. Sie wollte sich jedoch noch einarbeiten und bis 2016 warten, ließ sie die Spitze wissen. 2016 wollte sich ihre Vorgängerin Rebecca Harms sowieso zurückziehen. Doch eingearbeitet, hört man im Parlament, habe Keller sich nicht. Sie habe es auch die ganzen Jahre über versäumt, Beziehungen zu wichtigen Politikern anderer Parteien aufzubauen, selbst innerhalb ihrer eigenen Fraktion. Es reiche ihr, hört man, im Plenum die Rede vorzutragen, die ihre Leute für sie aufgeschrieben haben. In keiner einzigen Kontroverse, die innerparteilich in all den Jahren ausgefochten wurde, habe sie eine Rolle gespielt.

    Im Januar standen zur Hälfte der Wahlperiode interne Wahlen an, schon damals habe sie knapp vor der Ablösung gestanden. Doch es fand sich niemand, der gegen sie kandidieren wollte. Noch einmal wird das nicht passieren. Es gilt bei den Grünen als ausgemacht, wer Keller ablösen wird: Terry Reintke, die 35-jährige Grünen-Abgeordnete aus dem Ruhrgebiet, soll übernehmen. In der Fraktion heißt es, im Januar hätte Reintke die Mehrheit gehabt, doch sie wollte nicht gegen Keller putschen. So wird Keller nun wohl die verbleibenden knapp zwei Jahre im Europa-Parlament absitzen. Reintke werden auch gute Chancen eingeräumt, Spitzenkandidatin bei der nächsten Europa-Wahl zu werden.

    2023 stellt die Partei ihre Listen auf

    Keller zieht es offenbar nach Brandenburg. Schon nach der letzten Landtagswahl 2019 wäre sie wohl gern dort Ministerin geworden. Doch der Landesverband, in dem die gebürtige Ostbrandenburgerin ihre Karriere startete, wollte ihr keinen Platz am Kabinettstisch geben. Sie wolle jetzt Spitzenkandidatin bei der Landtagswahl 2024 werden, hört man. Bis dahin könnte es für Keller, die Vorsitzende auf Abruf, und die Europa-Grünen eine bleierne Zeit werden.

    Wie in den anderen Parteien auch beginnen die Grünen gerade mit dem innerparteilichen Wahlkampf. Realos und Linke sondieren, wer Unterstützung hätte, wenn 2023 auf Landes- und Bundesebene die Listen aufgestellt werden.

    Die Spitzenämter bei den Grünen teilen sich immer jeweils eine Frau und ein Mann. Im EU-Parlament sitzt neben Ska Keller der Belgier Philippe Lamberts. Auch er hört 2024 auf, das verlangen die internen Regeln seiner Partei in Belgien. Welcher Mann auf ihn folgen könnte, darüber gibt es noch keine belastbaren Spekulationen.

    Dafür bringen sich bei den deutschen Grünen die männlichen Kandidaten für den zweiten Platz auf der Liste in Stellung. Seitdem Sven Giegold im vergangenen Jahr beamteter Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium geworden ist, leitet Rasmus Andresen die 21 deutschen Grünen-Abgeordneten im Straßburger Parlament. Andresen ist noch nicht lange dabei, ihm fehlt noch die Sichtbarkeit, für die der prominente Giegold stand.

    Im Hintergrund loten gerade mindestens vier Grünen-Abgeordnete ihre Chancen aus, auf Platz zwei gegen Andresen zu kandidieren: Der Stuttgarter Michael Bloss traut sich zu, bei der nächsten Europa-Wahl mit Klimapolitik zu punkten, der Aachener Daniel Freund setzt auf das Thema Rechtsstaatlichkeit und Transparenz, und der Berliner Sergey Lagodinsky könnte als Experte für Außenpolitik antreten. Aus der Deckung wagt sich noch keiner. Einer der Beteiligten kündigt aber an: “Es wird nicht mehr lange dauern, dann fallen die Entscheidungen.”

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    Anton Hofreiter: “Die Krise lässt bei allen den Pragmatismus wachsen”

    Anton Hofreiter (Grüne) ist seit 2021 Vorsitzender des Europaausschusses im Bundestag. Im Interview spricht Hofreiter über Reserve-Atomkraftwerke, die EU und mehr.
    Anton Hofreiter (Grüne) ist Vorsitzender des Europaausschusses im Bundestag.

    Herr Hofreiter, Ihr Parteifreund Robert Habeck hat angekündigt, die verbliebenen Atomkraftwerke in die Reserve zu schieben. Wie lässt sich eine solche Entscheidung inmitten einer Stromkrise den europäischen Nachbarn vermitteln?

    Hofreiter: Wer sich im Strommarkt auskennt, findet das nicht unsolidarisch. Der Strommarkt funktioniert nicht nach dem Prinzip, dass der Strom günstiger wird, je mehr Strom man hineindrückt.

    Sie sehen kein Risiko einer akuten Unterversorgung?

    Doch, wir sehen die Gefahr. Deshalb stecken wir die Kernkraftwerke ja in die Reserve und holen Kohlekraftwerke in nicht unerheblicher Stückzahl zurück ans Netz.

    Man kann Atomkraftwerke nicht von heute auf morgen wieder hochfahren.

    Das plant auch niemand. Ende des Jahres wird entschieden: Werden die Atomkraftwerke benötigt oder nicht? Das hängt von den Kohlekraftwerken ab, insbesondere davon, wie es in Süddeutschland und dort insbesondere in Südbayern aussieht. Die CSU hat verhindert, dass Ersatzkraftwerke, Stromleitungen und Windkraftanlagen gebaut wurden.

    Die EU-Kommission will die Mechanismen des Strommarktes reformieren. Ist das der richtige Ansatz?

    Wir haben im Moment große Schwierigkeiten mit dem Merit-Order-Prinzip, bei dem das teuerste Kraftwerk den Strompreis bestimmt. Das müssen wir reformieren, zumindest für die Krise. Die Zeit drängt. Wenn es auf europäischer Ebene wegen der Komplexität nicht schnell genug geht, dann brauchen wir eine nationale Strompreisbremse.

    “Wir müssen ein Einkaufskartell für Erdgas in Europa bilden”

    Halten Sie auch einen Gaspreisdeckel für geboten?

    Ich halte das für einen absolut richtigen Ansatz. Ich bin der Meinung, dass wir nicht auf freiwilliger Basis, wofür das Kanzleramt bislang geworben hat, sondern verpflichtend ein Einkaufskartell in Europa bilden müssen. Und das nicht nur für russisches Erdgas – wir kaufen dort kaum mehr ein – sondern generell für den Erdgaseinkauf. Viele Mittelständler sind wegen der hohen Gaspreise in Schwierigkeiten. Es ist aber nicht trivial, einen Preisdeckel so auszugestalten, dass es auch einen Anreiz gibt, mit Energie sparsam umzugehen.

    Wenn Europa auch die Preise für LNG deckelt, werden die Tanker stattdessen nach Asien fahren.

    Wenn die Slowakei oder Deutschland das sagen würde, hätten Sie Recht. Aber Europa hat eine so große Einkaufsmacht, dass man da durchaus einen niedrigeren Preis erzielen können sollte.

    Die Solidarität unter den Mitgliedstaaten wird über diesen Winter hart strapaziert werden – glauben Sie, dass sie hält?

    Entscheidend ist, dass jeder tut, was er in der Kürze der Zeit tun kann. Es hilft nichts, den Belgiern vorzuwerfen, dass sie marode Atomkraftwerke haben und den Ausbau der Erneuerbaren vernachlässigt haben. Es hilft auch nichts, Frankreich vorzuwerfen, dass sie ein völliges marodes Stromsystem haben und deshalb erhebliche Mengen aus Deutschland benötigen. Wir selbst können Kohlekraftwerke zurückbringen, Atomkraftwerke in der Reserve halten.

    Die EU hat theoretisch einen Energiebinnenmarkt, aber es gibt nationale Egoismen. Frankreich sträubt sich etwa dagegen, die MidCat-Gaspipeline nach Spanien zu bauen. Wie verträgt sich das mit den Solidaritätserklärungen?

    Wir haben halt Nationalstaaten. Damit muss man gelassen umgehen. Unter den 16 Bundesländern ist es mit der Solidarität im Konkreten auch schnell vorbei, etwa beim Finanzausgleich zwischen Bayern und Bremen. Und trotzdem muss man kontinuierlich daran arbeiten, dass man enger zusammenkommt. Vor allem muss man die Gemeinschaftsinstitutionen stärken, also EU-Kommission und Europaparlament. Die sind viel besser darin, Solidarität zu organisieren.

    “Putin gelingt es nicht, Europa zu spalten”

    In Italien wird gewählt, in anderen Ländern sind die Regierungen unter Druck. Fürchten Sie einen Kurswechsel in diesen Ländern und damit ein Ende ihrer Solidarität?

    Nein. Das will uns Putin immer erzählen. Aber wenn es hart auf hart kommt, gelingt es ihm nicht, Europa zu spalten. Es muss uns aber bewusst sein, dass die rechtspopulistischen, rechtsradikalen Parteien, um die es sich hier handelt, de facto die Agenten unseres Gegners sind. Wenn man das Argument immer wiederholt und kombiniert mit der Erzählung, dass die Sanktionen nicht wirkten, ist man implizit – und bei den Rechtsextremen explizit – im Dienste Putins. Die Sanktionen wirken: Die Autoproduktion in Russland ist eingebrochen, die Flugzeuge stehen sukzessive still, es ist nur eine Frage der Zeit, wie lange sie ihre Metrosysteme aufrechterhalten können. Wenn du als Land so weit bist, dass du in Nordkorea einkaufen musst, dann kann man nicht behaupten, dass einen die Sanktionen nicht beeinträchtigen.

    Ist die russisch-chinesische Partnerschaft hauptsächlich Rhetorik?

    Schauen Sie sich die Zahlen an: Der Warenexport aus China nach Russland ist um fast 40 Prozent eingebrochen. Die Gründe sind, dass Hochtechnologie in China stark von westlichen Firmen produziert wird, und die chinesischen Firmen liefern diese auch nicht, weil sie Angst vor den US-Sekundärsanktionen haben.

    Hochverschuldete Länder wie Italien haben Schwierigkeiten, die Entlastungspakete für ihre Bürger zu finanzieren. Braucht es neue europäische Instrumente?

    Wir haben den Aufbaufonds Next Generation EU, das hilft uns auch jetzt. Wenn die Gelder eingesetzt werden, um Investitionen in erneuerbaren Energien in den Mitgliedsstaaten anzureizen, dann spart das auch teure fossile Energie. Ich persönlich bin der Meinung, dass es ein Nachfolgeprogramm für Next Generation EU geben sollte, um öffentliche Investitionen zu fördern in erneuerbare Energien, Stromnetze, Eisenbahnen usw..

    Den Koalitionspartner FDP müssen Sie davon noch überzeugen. Bietet die aktuelle Krise vielleicht die Gelegenheit dazu?

    Ich sage gar nicht, dass ein neues Programm jetzt aktuell nötig ist – Next Generation EU enthält noch viele Milliarden. Aber meine Sorge ist, dass die Krise nicht nächstes Jahr vorbei sein wird. Und ich bin davon überzeugt, dass die krisenhafte Entwicklung bei allen den Pragmatismus wachsen lässt.

    “Über Neuauflage von SURE diskutieren”

    Kanzler Scholz hat bei seiner europapolitischen Rede in Prag angedeutet, dass er sich eine Neuauflage des SURE-Programms vorstellen könnte. Dieses hat über EU-Anleihen in der Corona-Pandemie nationale Kurzarbeiterprogramme finanziert. Sollte man ein solches Programm angesichts der drohenden Rezession erneut aufsetzen?

    SURE hat wirklich gut funktioniert, und es wäre klug, darüber zu diskutieren.

    Scholz hat in seiner Rede in Prag einige Ideen aus dem Koalitionsvertrag nicht aufgegriffen, etwa einen europäischen Konvent einzuberufen oder die Kompetenzen des Europaparlaments zu stärken – Pragmatismus oder fehlende Ambition?

    Ich glaube, manches muss man im Moment sehr pragmatisch gestalten. Ich sehe es vor allem als Aufgabe des Europaparlaments und auch der nationalen Parlamente, auf einen Konvent und mehr Rechte für das Europaparlament zu drängen.

    Scholz hat mehrfach gefordert, das Einstimmigkeitsprinzip in der Außen- und der Steuerpolitik abzuschaffen. Aber wie bringt man Länder wie Polen oder Ungarn dazu, ihr Vetorecht fallenzulassen?

    Bei Ungarn ist es wirklich kompliziert – da hilft nur massiver Druck über die Rechtsstaatsverfahren. Aber das Verhalten von Viktor Orbán in den vergangenen Monaten hat dazu geführt, dass in anderen, bislang ablehnenden Ländern wie Polen oder im Baltikum ein intensiver Nachdenkprozess eingesetzt hat. Sie empfinden es als unerträglich, dass ein einzelnes Land de facto als Agent Putins die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union in so einer zentralen Frage einschränken kann. Deshalb stehen die Chancen besser denn je.

    Wie könnte eine solche Reform aussehen?

    Im Baltikum gibt es bereits Ideen, wie man die Einstimmigkeit verändern kann, die ich sehr spannend finde. Zum Beispiel, dass man das Vetorecht darauf beschränkt, wenn das nationale Sicherheitsinteresse betroffen ist. Eine solche Entscheidung sollte dann anhand konkreter Kriterien überprüfbar werden durch den EuGH. Damit qualifiziert man das Veto. Das wäre in vielen Bereichen schon ein Fortschritt, auch wenn ich eine qualifizierte Mehrheit bevorzuge.

    “Von der Leyens Bilanz ist gemischt”

    Die Frage ist: Wer treibt solche Reformen voran? Setzen Sie auf Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und ihre State-of-the-Union-Rede? Oder erhoffen Sie sich eine deutsch-französische Initiative?

    Das sollten alle vorantreiben, die sich berufen fühlen. Ich fände es sehr positiv, wenn wir eine intensive Debatte über unterschiedliche Modelle und Ideen hätten, um dann zu einem Modell zu kommen. Ich hoffe, dass Ursula von der Leyen diesen Prozess bei ihrer Rede vorantreibt.

    Haben Sie sich von Frankreich Präsident Emmanuel Macron mehr Einsatz erhofft? Seit der Wahl ist es relativ ruhig geworden.

    Absolut! Natürlich war es auch immer ein Problem, dass Deutschland nie auf seine Vorschläge geantwortet hat. Jetzt haben wir die Rede des Kanzlers in Prag. Es wäre gut, wenn Frankreich seine Vorstellungen nun mit konkreten Papieren hinterlegt.

    Finden Sie, dass Frau von der Leyen gute Arbeit macht als Kommissionspräsidentin?

    Ich würde sagen, die Bilanz ist gemischt. Sie gibt der EU ein Gesicht, hält gute Reden und hat auch gute Ideen. Allerdings könnte die Ausführung handwerklich noch etwas konsequenter sein.

    “Von Personalspekulationen halte ich nichts”

    Bei den Ölsanktionen gegen Russland zum Beispiel?

    Ja, oder beim Thema Rechtsstaatlichkeit.

    Wie fänden Sie es, wenn Frau von der Leyen eine zweite Amtszeit anstreben würde?

    Dazu müsste sie sich erstmal entscheiden. Ich glaube aber, dass sie klug genug ist, ihre Überlegung dazu in einem kleineren Kreis zu halten.

    Für die Grünen würde das ja bedeuten, dass sie ihr Vorgriffsrecht aus dem Koalitionsvertrag auf den deutschen Kommissarsposten 2024 verlieren würden.

    Es geht bei Frau von der Leyen nicht um einen Kommissarsposten, sondern um den Kommissionspräsidenten. Das ist schon etwas anderes. Sie kann zudem auch Kommissionspräsidentin werden, wenn die Bundesregierung sie nicht vorschlägt – das entscheiden wir nicht allein.

    Ihnen wird persönliches Interesse nachgesagt, nach der Wahl EU-Kommissar zu werden. Ist da etwas dran?

    Ich halte von solchen Personalspekulationen überhaupt nichts. Das gilt umso mehr, wenn es noch so weit weg ist wie die Europawahl.

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    Media Freedom Act: Kann die Kommission Medienfreiheit?

    Noch gehört Europa zu den Regionen in der Welt, in der Journalistinnen und Journalisten vergleichsweise frei arbeiten können. Das zeigt die Rangliste der Pressefreiheit, die Reporter ohne Grenzen jährlich erstellt. Doch auch Medienschaffende in Europa erleben Gewalt, werden vom Staat gegängelt und an der freien Meinungsäußerung gehindert.

    Mit dem European Media Freedom Act (EMFA, der Entwurf liegt Europe.Table vor) möchte die EU-Kommission “eine Reihe von Problemen (…) lösen, die das Funktionieren des Binnenmarktes für Mediendienste und die Tätigkeit der Mediendiensteanbieter beeinträchtigen”. Doch der Vorschlag stößt auf erheblichen Widerstand – die deutschen Verleger sehen die Pressefreiheit in Gefahr und fordern tiefgreifende Veränderungen am Media Freedom Act.

    Die EU-Kommission begründet den neuen Rechtsakt unter anderem damit, dass sich Medienunternehmen in der EU mit Hindernissen konfrontiert sähen, die ihre Tätigkeit behinderten und sich auf die Investitionsbedingungen im Binnenmarkt auswirkten, wie etwa “unterschiedliche nationale Vorschriften und Verfahren in Bezug auf Medienfreiheit und -pluralismus”. Solche Vorschriften hätten zu einer Fragmentierung des Binnenmarktes geführt und die Rechtssicherheit für die Akteure des Medienmarktes beeinträchtigt.

    Die vier Ziele des European Media Freedom Act

    Der Vorschlag der Kommission gliedert sich in vier Bereiche

    1. Die Förderung grenzüberschreitender Aktivitäten und Investitionen in Mediendienste durch die Harmonisierung der nationalen Rahmenregelungen.

    2. Verstärkung der regulatorischen Zusammenarbeit und Konvergenz durch grenzüberschreitende Koordinierungsinstrumente und Stellungnahmen und Leitlinien auf EU-Ebene.

    3. Verringerung des Risikos einer unzulässigen öffentlichen und privaten Einmischung in die redaktionelle Freiheit, damit Journalistinnen und Journalisten ungehindert arbeiten können und ihre Quellen und Kommunikation geschützt bleiben.

    4. Gewährleistung einer transparenten und fairen Zuweisung wirtschaftlicher Ressourcen auf dem Medienbinnenmarkt durch mehr Transparenz und Fairness bei der Messung der Einschaltquoten und der Zuweisung staatlicher Werbung.

    Die Kommission sieht ihren Vorschlag im Einklang mit den bestehenden horizontalen und sektoralen EU-Vorschriften für Medien und Online-Dienste und will damit Regelungslücken schließen – und der Gruppe Europäischer Regulierungsstellen für audiovisuelle Mediendienste (ERGA) einen größeren Handlungsspielraum und zusätzliche Aufgaben übertragen. Aus der ERGA soll der Europäische Ausschuss für Mediendienste werden.

    Kritik der deutschen Verleger: EU zerstört Pressefreiheit

    Der Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) sowie der Medienverband der freien Presse (MVFP) werten den vorliegenden Entwurf als “eine ‘Medienunfreiheitsverordnung’ und einen Affront gegen die Werte der Europäischen Union und der Demokratie”. Mit dem Plan, den Grundsatz der redaktionellen Freiheit von Verlegern “de facto außer Kraft” zu setzen, würde die EU die Pressefreiheit zerstören, meinen die Verbände.

    Harte Kritik kommt auch von Heike Raab, Staatssekretärin und Bevollmächtigte des Landes Rheinland-Pfalz beim Bund und für Europa. Sie sieht dem Rechtsakt mit Sorge entgegen. “Wenn wir die Vielfalt und Unabhängigkeit der Medien sichern wollen, müssen wir sie vor staatlicher, ideologischer oder wirtschaftlicher Einflussnahme sowie einer unbeschränkten Plattformdominanz schützen. Deshalb ist Medienpolitik mehr als digitaler Binnenmarkt oder Plattformökonomie.” Sobald der Vorschlag der Kommission veröffentlicht werde, wollen die Bundesländer ihn “an unseren Maßstäben der Medienfreiheit und an Artikel 5 des Grundgesetzes” messen.

    “Sollte die Kommission tatsächlich planen, eine zentralisierte Medienaufsichtsbehörde in Europa zu schaffen, oder Pressefreiheit als Teil der Marktregulierung verstehen, sähe ich die Freiheit und die Vielfalt der Medien tatsächlich in Gefahr”, erklärt Raab. “Ich begreife die kulturelle Vielfalt Europas als Stärke. Wie die Kommission mit diesem Rechtsakt quasi Freiheit in den Medien verordnen will und sie gleichzeitig einschränkt, erschließt sich nicht.”

    Restriktivere Medienordnung für alle Mitgliedstaaten

    Auch die Europaabgeordnete Petra Kammerevert (S&D), Mitglied im Ausschuss für Kultur und Bildung (CULT), warnt ausdrücklich vor einer solchen Verordnung. “Es ist falsch anzunehmen, dass man europäische Medienfreiheit und damit eine vielseitige und liberale Medienlandschaft in der EU absichern kann, indem man sie mit dem schärfsten zur Verfügung stehenden Mittel reguliert und dabei gleichzeitig tief in die Kompetenzen der Mitgliedsstaaten eingreift”, kritisiert Kammerevert.

    Nur weil derzeit zwei Staaten, nämlich Polen und Ungarn, nicht ausreichend in der Lage seien, umfassende Medienfreiheit zu gewährleisten, reiche dies nicht aus, um allen EU-Mitgliedstaaten eine restriktivere Medienordnung vorzuschreiben. Hintergrund, warum eine Verordnung und keine Richtlinie geplant ist, wird jedoch wohl auch sein, dass der Rechtsakt dann auch für ausländische Unternehmen gilt, die innerhalb der EU tätig werden.

    Kritik übt Kammerevert auch an der geplanten neuen Aufstellung der ERGA und betont, die staatsferne und unabhängige Organisation einer solchen Behörde sei unabdingbar. Die EU-Kommission müsse sich – wie die Mitgliedstaaten auch – aus der Kontrolle und Aufsicht der Medien heraushalten. “Wir müssen die Medien vor staatlicher Einflussnahme auch durch die EU-Kommission schützen”, warnt sie. Der deutsche Bundesrat hatte in einer Entschließung bereits im März für unabdingbar erklärt, dass die Aufsicht über die Medien und ihre Verbreitung “unabhängig, staatsfern und dezentral” sein müsse.

    Auch Sabine Verheyen (EVP), Vorsitzende des CULT-Ausschusses, sagt: “Wir werden im Europaparlament vor allem darauf achten, dass eine europäische Regulierungsbehörde politisch vollständig unabhängig arbeiten kann und die redaktionelle Verantwortung der Medien erhalten bleibt”. Darüber hinaus sieht sie den Entwurf nicht so kritisch wie etwa die Verleger. Sie findet, die Entwicklungen der Medienfreiheit in einigen Mitgliedstaaten der EU seien besorgniserregend. “Oberstes Ziel muss es sein, die redaktionelle Unabhängigkeit der europäischen Medienhäuser zu wahren. Darüber hinaus brauchen wir mehr Konvergenz der nationalen Regulierungsbehörden sowie Maßnahmen gegen die vor allem im digitalen Bereich zunehmende Fragmentierung des Medienmarktes.”

    Stärkere Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien

    Ganz ähnlich lautet auch die Reaktion der NGO Reporter ohne Grenzen. “Wir sind der Meinung, dass der Entwurf des Europäischen Gesetzes über die Medienfreiheit ein Engagement für die Gewährleistung der Integrität von Informationen zeigt und ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung ist”, sagt Julie Majerczak, Leiterin des Brüsseler Büros. “Die Pressefreiheit hat sich in den letzten Jahren in der EU ernsthaft verschlechtert. Es ist höchste Zeit, etwas dagegen zu unternehmen, und der European Media Freedom Act wird dabei helfen.”

    Majerczak hebt zwei Punkte hervor: Zum einen enthalte die Verordnung eine Reihe von Garantien für die Wahrung der redaktionellen Unabhängigkeit. So sei es den Mitgliedstaaten untersagt, sich in die redaktionelle Politik oder die Entscheidungen der Medien einzumischen. Zugleich müssten die Medien Maßnahmen ergreifen, um die redaktionelle Unabhängigkeit der Redakteure zu gewährleisten und sie müssten ihre Eigentümer und Anteilseigner, die “ihre strategischen Entscheidungen beeinflussen können” sowie mögliche Interessenkonflikte transparent darstellen.

    Zum anderen solle auch die Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien gestärkt werden. “Die Medienwerbung durch öffentliche Einrichtungen oder Behörden – ein wichtiges Mittel der Medienkontrolle – wird ebenfalls besser geregelt”, sagt Majerczak. Sie müsse nach “transparenten, objektiven, verhältnismäßigen und nichtdiskriminierenden” Kriterien und Verfahren vergeben werden. “Einige Bestimmungen müssen verschärft werden“, findet Majerczak. Aber der Vorschlag der Kommission sei ein guter Anfang.

    Ebenfalls umstritten: Artikel 17

    Bereits bei der Diskussion um den Digital Services Act (DSA) hatten Medienkonzerne gefordert, Inhalte von Mediendienstleistern auf sehr großen Online-Plattformen wie Google oder Facebook anders zu behandeln als die Inhalte privater Anbieter. Beim DSA ist das Anliegen gescheitert, es gibt kein Medienprivileg. Nun nimmt die Kommission dieses Vorhaben in Artikel 17 wieder auf. “Hintergrund ist, dass die Medien bereits einer Kontrolle durch den Presserat oder die Medienaufsicht unterliegen und wir keinen Anlass sehen, dass sie einer weiteren Prüfung durch die ,Terms and Conditions’ der großen Plattformen unterliegen sollen”, erläutert Tobias Schmid, Direktor der Landesanstalt für Medien NRW und Europabeauftragter der Direktorenkonferenz der Medienanstalten.

    In dem neuen Vorschlag der Kommission sieht Schmid einen Kompromissversuch. Es gebe zwar kein Privileg für Medien per se, wohl aber das Recht der Mediendienstleister, sich informieren und erklären zu lassen, warum etwas gesperrt werden soll. Außerdem bestehe das Recht auf ein Moderationsverfahren. “Ich erwarte nicht, dass das bei den Verlegern gut ankommen wird”, sagt Schmid. “Ich sehe darin jedoch aktuell den einzigen Ansatz für weitere Verhandlungen. Klar ist doch, dass wir nicht um die Regeln des DSA herumkommen.”

    Maria Luisa Stasi, Leiterin der Abteilung Recht und Politik für digitale Märkte bei der NGO Article 19, sieht das Medienprivileg dagegen kritisch. Vor allem, weil es auf der Selbsteinstufung der Medien beruhe. Sie hält nichts von einer “Überholspur” für Medienunternehmen und sieht hier eine Gefahr für die Meinungsfreiheit, wenn Medien bevorzugt behandelt würden. “Die Frage ist doch: Brauchen wir das wirklich oder ist es nicht eher ein riskanter Ansatz?”

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    Telefonat mit Putin: Scholz drängt auf diplomatische Lösung

    Erstmals seit vielen Wochen hat Bundeskanzler Olaf Scholz wieder mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin telefoniert. In dem 90-minütigen Gespräch habe Scholz gestern darauf gedrungen, dass es so schnell wie möglich zu einer diplomatischen Lösung des russischen Krieges in der Ukraine komme. die auf einem Waffenstillstand, einem vollständigen Rückzug der russischen Truppen und Achtung der territorialen Integrität und Souveränität der Ukraine basiere, teilte Regierungssprecher Steffen Hebestreit mit.

    “Der Bundeskanzler betonte, dass etwaige weitere russische Annexionsschritte nicht unbeantwortet blieben und keinesfalls anerkannt würden”, so Hebestreit weiter.

    Die Mitteilung des Kremls zu dem Telefonat ließ auf keinerlei Einlenken Putins schließen. Der Präsident habe den Kanzler auf die “himmelschreienden Verstöße” der Ukrainer gegen das humanitäre Völkerrecht aufmerksam gemacht, hieß es. Die ukrainische Armee beschieße Städte im Donbass und töte dort Zivilisten. Im Streit über Gaslieferungen betonte Putin demnach, dass Russland ein zuverlässiger Lieferant sei. Westliche Sanktionen verhinderten aber eine ordnungsgemäße Wartung der Ostsee-Pipeline Nord Stream 1. Berlin hält diese bereits mehrfach vorgebrachte Begründung für den Lieferstopp über die Pipeline für vorgeschoben.

    Olaf Scholz hatte nach Angaben eines Regierungssprechers zuletzt Ende Mai mit Wladimir Putin telefoniert. Damals sprachen Scholz und der französische Staatspräsident Emmanuel Macron gemeinsam mit dem russischen Präsidenten.

    Seit dem Telefonat im Mai hat es im Kriegsgebiet weitere dramatische Entwicklungen gegeben. So ging es in dem Gespräch am Dienstag nach Angaben der Bundesregierung nun auch um die Lage am Atomkraftwerk Saporischschja. Scholz habe die Notwendigkeit betont, die Sicherheit des von russischen Kräften besetzten Atomkraftwerks zu gewährleisten. Zudem habe er gefordert, jegliche Eskalationsschritte zu vermeiden und die im Bericht der Internationalen Atomenergieagentur empfohlenen Maßnahmen umgehend umzusetzen, teilte Hebestreit mit. Putin sagte, für die Gefahr eines Nuklearunfalls seien die Ukrainer durch ihren dauernden Beschuss des AKW verantwortlich.

    Thema war nach Angaben Hebestreits auch die globale Lebensmittellage, die infolge des russischen Angriffskrieges besonders angespannt ist. Russland hatte die Ukraine Ende Februar überfallen. Seither wehrt sich das Land auch mit Unterstützung aus dem Westen gegen die Angreifer. In den vergangenen Tagen gelang es ukrainischen Truppen, große Gebiete zurückzugewinnen. dpa

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    Entwaldungsfreie Lieferketten: Parlament nimmt Standpunkt an

    Das Europäische Parlament hat gestern seinen Standpunkt zur Verordnung über Entwaldungsfreie Lieferketten angenommen. 453 Abgeordnete stimmten in Straßburg für den Vorschlag. 57 stimmten dagegen und 123 enthielten sich. Damit ist das Parlament bereit, die Trilogverhandlungen über das endgültige Gesetz aufzunehmen.

    Die Verordnung sieht ein Importverbot für zahlreiche Waren vor, wenn für ihre Produktion Wälder abgeholzt wurden. Sie würde Unternehmen entsprechende Sorgfaltspflichten auferlegen, sodass diese weltweit entlang der gesamten Lieferkette überprüfen müssten, dass in der EU verkaufte Waren nicht auf abgeholzten oder degradierten Flächen hergestellt wurden.

    Das Parlament hatte die Kommission im Oktober 2020 aufgefordert, Rechtsvorschriften vorzulegen, um die von der EU verursachte weltweite Entwaldung zu stoppen. Den Vorschlag für die Verordnung stellte die Kommission im November 2021 vor. Die Mitgliedstaaten hatten sich bereits im Juni auf ihre Position im Europäischen Rat geeinigt.

    Entwaldungsfreie Lieferketten: Stichtag 31. Dezember 2019?

    Während sich der Vorschlag der Kommission auf Rinder, Kakao, Kaffee, Palmöl, Soja und Holz sowie auf Produkte, die diese Rohstoffe enthalten, bezieht, will das Parlament auch Schweinefleisch, Schafe und Ziegen, Geflügel, Mais und Kautschuk sowie Holzkohle und bedruckte Papierprodukte einbeziehen. Zudem fordern die Abgeordneten, den Stichtag um ein Jahr auf den 31. Dezember 2019 vorzuverlegen. In diesem Fall dürften keine der betroffenen Produkte mehr auf den EU-Markt gelangen, wenn sie auf Flächen hergestellt wurden, die nach Ende 2019 der Entwaldung oder Waldschädigung zum Opfer gefallen sind.

    Das Parlament fordert im Standpunkt außerdem zusätzliche Auflagen für Finanzinstitute, damit deren Aktivitäten nicht zur Entwaldung beitragen. Unternehmen sollen auch nachweisen, dass Waren im Einklang mit internationalen Menschenrechtsbestimmungen produziert werden und die Rechte der indigenen Völker dabei respektiert werden.

    Abgeordnete wollen Geltungsbereich erweitern

    Unternehmen müssten die Risiken in ihren Lieferketten für den EU-Markt mit der gebotenen Sorgfalt bewerten, hieß es aus dem Parlament. Sie können etwa Satellitenüberwachungsinstrumente, Vor-Ort-Audits, den Aufbau von Kapazitäten bei den Lieferanten oder Isotopentests einsetzen, um zu prüfen, woher die Produkte stammen. Die EU-Behörden hätten Zugang zu den relevanten Informationen, wie etwa den geografischen Koordinaten. Anonymisierte Daten würden der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen.

    Die Kommission müsste innerhalb von sechs Monaten nach Inkrafttreten der Verordnung Länder oder Regionen in drei Kategorien einteilen: geringes, normales oder hohes Risiko. Für Produkte aus Ländern mit geringem Risiko würden weniger Verpflichtungen gelten.

    Entwaldung: bisher keine Produktkennzeichnungen

    Derzeit könnten Verbraucherinnen und Verbraucher nicht sagen, ob sie mit dem Kauf eines Produktes zur Entwaldung beitragen oder nicht, sagte die SPD-Abgeordnete Delara Burkhardt vor der Abstimmung. Wälder würden im großen Stil abgeholzt und Brand gerodet, um Platz für die Produktion von Waren wie Palmöl, Soja, Kakao, Kaffee, Fleisch oder Leder zu schaffen.

    “Da die EU für etwa 10 Prozent der weltweiten Entwaldung verantwortlich ist, haben wir keine andere Wahl, als unsere Anstrengungen zu verstärken, um die weltweite Entwaldung zu stoppen”, sagte Christophe Hansen (EVP), Berichterstatter im Parlament, nach der Abstimmung. “Wenn wir das richtige Gleichgewicht zwischen Ehrgeiz, Anwendbarkeit und WTO-Kompatibilität finden, hat dieses neue Instrument das Potenzial, den Weg zu entwaldungsfreien Lieferketten zu ebnen.”

    Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) schätzt, dass zwischen 1990 und 2020 420 Millionen Hektar Wald – eine Fläche größer als die EU – durch Entwaldung verloren gegangen sind. leo/dpa

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    Fit for 55: Breiter Konsens bei Energie-Dossiers

    Am heutigen Mittwoch stimmt das Europäische Parlament über die Teile des Fit-for-55-Pakets zur Beschleunigung des Einsatzes erneuerbarer Energien (RED) und zur Senkung des Energieverbrauchs (EED) bis 2030 ab – dann können die Trilogverhandlungen beginnen. Beide Texte genießen einen breiten Konsens, wobei der größte Streitpunkt die Definition von grünem Wasserstoff ist.

    “Fraktionsübergreifend gibt es eine große Akzeptanz der meisten Kompromisse” um RED, erklärte Markus Pieper (EVP), Berichterstatter im Industrieausschuss, gestern vor Journalisten in Straßburg – vorausgesetzt, die erreichten Kompromisse halten. Aber: “Jede Fraktion will irgendwie dabei sein, wenn es um den schnelleren und moderneren Ausbau der Erneuerbaren Energien geht. Es ist jetzt ein pragmatischer Ansatz, ein ‘Fahren auf Sicht’. Alles in allem haben wir jetzt sehr ehrgeizige Planungen, die aber erreichbar sind”.
     
    Halten die Kompromisse, bleibt als einziger strittiger Punkt Artikel 27.3, so Pieper: “Wir wollen mit dieser Richtlinie die Kriterien für die Produktion von grünem Wasserstoff einfacher regeln, als es derzeit im Vorschlag für einen delegierten Rechtsakt der Kommission vorgesehen ist”.

    Der Europaabgeordnete präzisiert: “Konkret wollen wir alle Anlagen für die Produktion von grünem Wasserstoff einbeziehen, das heißt, auch Bestandsanlagen und geförderte. Wir wollen den Nachweis für den Bezug und Verbrauch von Grünstrom zeitlich entzerren, damit hier Flautezeiten pragmatischer einfließen können und Wasserstoff zu einem wettbewerbsfähigen Preis hergestellt werden kann”. Zudem solle durch indirekte Buchungsmodell der Bezug von grünem Wasserstoff auch über weite Entfernungen und verschiedene Preiszonen erleichtert werden, erklärt Pieper.

    Streit um Definition von grünem Wasserstoff

    “Alles sehr technisch, aber im Kern geht es um eine Vereinfachung der Vorgaben für die Produktion von Wasserstoff und damit um eine Beschleunigung des Hochlaufs sowohl im Verkehrs-, als auch im Industriesektor”, so der Abgeordnete. Hinter den technischen Ausführungen verbirgt sich eine sehr politische Debatte, in der zwei Definitionen aufeinanderprallen: die des erneuerbaren Wasserstoffs, der aus erneuerbaren Energien hergestellt wird, und die des kohlenstoffarmen Wasserstoffs, der zum Beispiel durch Kernenergie erzeugt werden kann.

    Die Kommission hatte in ihrer Überarbeitung der Erneuerbare-Energien-Richtlinie vorgeschlagen, den Anteil der erneuerbaren Energien am Bruttogesamtenergieverbrauchs bis 2030 von 32 Prozent (RED II) auf 40 Prozent (RED III) zu erhöhen statt ca. 20 Prozent wie der bisherige Plan vorsieht, erinnert Markus Pieper. “Das war und ist entscheidend für den europäischen Beitrag zum Pariser Klimaabkommen. Der russische Angriff auf die Ukraine hat jedoch eine Neuausrichtung unserer europäischen Energiepolitik erfordert”.

    Zudem habe sich herausgestellt, dass vor allem der beschleunigte Ausbau der erneuerbaren Energien Europa eine größere Unabhängigkeit und Sicherheit bringen wird, führt der Parlamentarier fort. “Während der Verhandlungen im Europäischen Parlament hat sich schnell eine Mehrheit für den EVP-Berichterstatter-Vorschlag einer Erhöhung des Ziels auf 45 Prozent gefunden. Und auch die Kommission hat das neue Ziel in ihrer späteren REPowerEU-Strategie übernommen”.

    EED: Warten auf den Rat

    “Die billigste Energie ist die, die man nicht verbraucht” war wohl die am häufigsten verwendete Formulierung in den Debatten der Parlamentarier über die Richtlinie zur Energieeffizienz am vergangenen Montagabend. In der Tat genießt der zur Abstimmung stehende Text einen breiten Konsens. Niels Fuglsang, S&D-Abgeordneter und Verhandlungsführer des Parlaments für die Energieeffizienzrichtlinie, begrüßte eine “sehr positive” Debatte über einen Text, der “einen großen Konsens widerspiegelt, in dem sich jeder wiederfinden kann” und der gleichzeitig “ein hohes Maß an Ehrgeiz” beibehält. Er zeigte sich zuversichtlich, dass der Text angenommen wird. “Ich freue mich darauf, dass die Verhandlungen mit dem Rat beginnen”, fügte er hinzu.

    Als Reaktion auf die Invasion in der Ukraine machte die Europäische Kommission einen Rechtsvorschlag, um das EU-Energieeffizienzziel für 2030 von 36 auf 39 Prozent zu erhöhen und es für die Mitgliedstaaten verbindlich zu machen. Die EU-Parlamentarier haben dieses Ziel um 1 Prozent erhöht. “Ein Ziel von 40 Prozent könnte die Gasimporte um 190 Milliarden Kubikmeter pro Jahr reduzieren. Das entspricht der dreieinhalbfachen Kapazität der russischen Gaspipeline Nord Stream 1”, betonte Fuglsang. Um die 40-Prozent-Reduktion zu erreichen, nahmen die Parlamentarier verbindliche nationale Ziele auf, die unter anderem eine jährliche Renovierungsrate von 3 Prozent für den öffentlichen Gebäudebestand einführen.

    Zur Erinnerung: Der Industrieausschuss hat im Juli einen Bericht angenommen, in dem eine Senkung des Endenergieverbrauchs um 40 Prozent (Obergrenze 740 Mio. t RÖE) und des Primärenergieverbrauchs um 42,5 Prozent (Obergrenze 960 Mio. t RÖE) als Ziele festgelegt werden. Die Mitgliedstaaten wären somit verpflichtet, die verbindlichen nationalen Beiträge auf der Grundlage der beiden Energieverbrauchsindikatoren sowie die für 2025 und 2027 festgelegten Zwischenwerte einzuhalten, um sicherzustellen, dass sie sich auf dem richtigen Weg befinden. cst

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    EU will Strompreisbremse noch im September beschließen

    Die EU-Staaten wollen die geplante Strom- und Gaspreisbremse noch in diesem Monat beschließen. Dafür werde es am 30. September ein Sondertreffen der EU-Energieminister geben, kündigte der tschechische Industrie-Minister Jozef Sikela gestern an. Er habe die Minister dazu eingeladen.

    Die Kommission schlägt unter anderem vor, einen Höchstpreis beim Verkauf von Strom von 180 Euro pro Megawattstunde einzuführen. Da die Großhandelspreise derzeit deutlich höher liegen, soll die Differenz als sogenannter Zufallsgewinn abgeschöpft und zur Preisdämpfung etwa bei Haushalten und Betrieben genutzt werden. Auch Öl-Händler und Raffinerien sollen über eine Abgabe ein Drittel des Profits abtreten, der noch höher als ein Fünftel über dem Schnitt des zu versteuernden Gewinns der letzten drei Jahre liegt. Dies geht aus einem neuen Vorschlag der Kommission von Dienstag hervor.

    Unterscheidung zwischen Öko-, Atom- und Kohlestrom

    Die Bundesregierung hatte sich bereits grundsätzlich hinter die Pläne gestellt. Sie will mit den Einnahmen für Haushalte und Betriebe ein Strom-Kontingent verbilligen. Wer darüber hinaus Strom verbraucht, soll dafür dann aber den Marktpreis zahlen. Damit soll ein Anreiz zum Sparen verbunden werden. Die EU-Kommission will zudem in Zeiten besonders hoher Strompreise an den Börsen die Staaten zu einer Einsparung von fünf Prozent ihres Verbrauchs zwingen.

    Das Bundeswirtschaftsministerium hatte in der Debatte vorgeschlagen, bei der Abschöpfung der Gewinne zwischen Ökostrom-Produzenten und Atom- oder Kohlekraftwerke zu unterscheiden (Europe.Table berichtete). Da erneuerbarer Strom überwiegend über den kurzfristigen Spotmarkt verkauft werde, könne es hier eine Erlösobergrenze geben. Da der sonstige Strom meist über den Terminmarkt, also mittel- und langfristig verkauft werde, soll es hier einen “Krisenbeitrag” der Erzeuger geben.

    Gewinnabschöpfung: Auch rückwirkend für 2022

    Wirtschaftsminister Robert Habeck sagte, er wolle, dass die Abschöpfung der Gewinne auch rückwirkend für das Jahr 2022 greifen könne. Die Dämpfung der Preise etwa über ein Kontingent solle ab nächstes Jahr kommen.

    Besonders strittig dürfte in der EU ein diskutierter Preisdeckel für Gas werden. Es wird erwartet, dass sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dazu am Mittwoch äußert. rtr

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    Borrell: Situation um Taiwan realistisch sehen

    Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hat sich zuversichtlich gezeigt, dass China seinem Versprechen treu bleibe, im Krieg gegen die Ukraine keine Waffen an Russland zu liefern. Peking habe dazu immer eine sehr klare Position vertreten, sagte Borrell am Dienstag bei einer Debatte zur Außenpolitik im EU-Parlament in Straßburg. “Und zwar, dass sie Russland keine militärische Hilfe leisten würden.” Dass Nordkorea Russland nun Waffen verkaufe, liege außerhalb jeglicher Kontrolle der EU. “Aber was China angeht, war es bei jedem einzelnen Treffen, das wir hatten, ziemlich deutlich: Sie haben nicht vor, Russland militärische Hilfe zu leisten”, so Borrell.

    Was Taiwan betreffe, sei er von Chinas Reaktion auf den Besuch von Nancy Pelosi nicht überrascht gewesen, betonte der EU-Außenbeauftragte. “Um es deutlich zu sagen: Besuche in Taiwan sollten keine Militärübungen oder Raketenstarts provozieren oder als Anlass für Einschüchterung genutzt werden.” Die EU habe kein Interesse an einem weiteren großen Konflikt. Die Lage in der Taiwan-Straße müsse aber realistisch gesehen werden, so Borrell. Die Spannungen dort würden nicht verschwinden. “Aber das wird uns nicht in unseren Bemühungen aufhalten, die Stabilität und den Status quo zu Taiwan zu bewahren.” Er selbst werde auf absehbare Zeit nicht nach Taiwan reisen, so Borrell.

    Das Europaparlament stimmt am Donnerstag über seinen Standpunkt zur Situation um Taiwan ab. Die Vorschläge der einzelnen politischen Gruppen zu der geplanten Resolution unterscheiden sich derzeit aber noch sehr in Formulierungen und Forderungen. Die Gruppen verhandeln noch über den endgültigen Wortlaut, über den dann abgestimmt wird. Die Resolutionen sind Standpunkte des EU-Parlaments mit nicht bindenden Handlungsempfehlungen für die EU-Kommission. ari

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    Michel fordert Waffenstillstand zwischen Armenien und Aserbaidschan 

    EU-Ratschef Charles Michel hat angesichts der schweren Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan im Südkaukasus zu einer diplomatischen Lösung des Konflikts aufgerufen. Es brauche einen vollständigen und dauerhaften Waffenstillstand, schrieb der Belgier am Dienstag auf Twitter. “Es gibt keine Alternative zu Frieden und Stabilität – und es gibt keine Alternative zur Diplomatie, um dies zu gewährleisten.” Michel nannte die Berichte über Kämpfe extrem besorgniserregend.

    Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell teilte mit, dass Michel Kontakt zu den Staats- und Regierungschefs der beiden Länder aufnehme. Auch er rief zu einer Rückkehr an den Verhandlungstisch auf. Die EU sei entschlossen, weiter zu vermitteln. Der EU-Sonderbeauftragte Toivo Klaar werde unverzüglich in beide Länder reisen.

    In der Nacht zum Dienstag ist der jahrzehntelange Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien wieder in Gewalt umgeschlagen. Beide Nachbarstaaten gaben sich gegenseitig die Schuld am Wiederaufflammen der Kämpfe im Grenzgebiet. Armenien teilte mit, mindestens 49 seiner Soldaten seien getötet worden. Aserbaidschan nannte keine konkreten Opferzahlen, räumte aber ebenfalls “personelle Verluste” ein.

    Die beiden ehemaligen Sowjetrepubliken streiten seit Jahrzehnten um das mehrheitlich von Armeniern bewohnte Bergkarabach. Völkerrechtlich gehört es zu Aserbaidschan, von dem es sich aber 1991 losgesagt hatte. Der Konflikt war 2020 in einem Krieg eskaliert, der nach sechs Wochen mit einer von Russland vermittelten Waffenruhe beendet wurde. Als Teil der Vereinbarung schickte Moskau anschließend Tausende Soldaten in die Region, um den Frieden zu überwachen. dpa/rtr

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    Mindestens 49 getötete Soldaten: OSZE bietet sich als Vermittler zwischen Aserbaidschan und Armenien an TAGESSPIEGEL
    Von der Leyen hält Rede zur Lage der Europäischen Union ZEIT
    EU plant Preisdeckel für Strom bei 180 Euro SUEDDEUTSCHE
    EU-Kommission entscheidet: Brüssel wird zunächst keinen Gaspreisdeckel vorschlagen FAZ
    Schutz von Wäldern: EU-Parlament will Importverbot von Waren ZDF
    Medienfreiheitsgesetz: EU will Presse vor Überwachung schützen NETZPOLITIK
    EU schreibt über 5 Milliarden Euro Fördermittel für Verkehrsprojekte aus DVZ
    Deutschland beteiligt sich an EU-Flotte von Löschflugzeugen WELT
    Revolut Pay: PayPal-Konkurrent nun in Europa verfügbar STADT-BREMERHAVEN

    Heads

    Sanna Marin – mehr als die tanzende Premierministerin

    Sanna Marin, Premierministerin von Finnland, am Dienstag im Europäischen Parlament in Straßburg.
    Sanna Marin, Premierministerin von Finnland, am Dienstag im Europäischen Parlament in Straßburg.

    Als Sanna Mirella Marin im Dezember 2019 zur Premierministerin Finnlands gewählt wurde, war sie längst nicht die erste Frau in diesem Amt. Aber sie war die jüngste Premierministerin in Finnlands Geschichte. Mit 34 Jahren war sie bei Amtsantritt sogar die jüngste Regierungschefin der Welt – zumindest bis im Januar 2020 Sebastian Kurz in Österreich wieder Bundeskanzler wurde.

    Seit einigen Wochen hat die nun 36-jährige Sozialdemokratin ein außergewöhnliches Bekanntheitsmerkmal mehr – sie ist die Premierministerin, die tanzt. Nicht jedem gefällt das. Marin wurde von Konservativen teils heftig für die Videos kritisiert, die sie ausgelassen beim Tanzen zeigen. Sogar einen Drogentest forderten diese. Dem kam Marin ohne viel Aufhebens nach und legte kurz darauf wie erwartet ein negatives Ergebnis vor. In der finnischen Bevölkerung ist Marin beliebt, laut einer aktuellen Umfrage waren 68 Prozent mit ihrer Politik “zumindest ziemlich zufrieden” – ihre Popularität hat in den vergangenen Monaten noch zugenommen.

    Auch aus dem EU-Parlament erfuhr Marin am Dienstag Rückendeckung. Nach ihrer Rede zur Situation in Europa sagte die belgische Abgeordnete Assita Kanko (EVP), die Menschen vergäßen gerne, dass auch Politiker Menschen und keine Maschinen seien. Frauen würden strenger kontrolliert und manche gäben ihre Ämter deswegen auf.

    In ihrer Rede vor dem EU-Parlament in Straßburg machte Marin noch einmal deutlich, dass weitaus größere Probleme ins Haus stehen als tanzende Ministerinnen. “Mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Russland die wichtigsten Grundsätze der europäischen Sicherheitsordnung gebrochen. Der Energiemarkt leidet unter einer außergewöhnlichen Unsicherheit, die zusammen mit der Inflation zu einem wirtschaftlichen Abschwung in Europa führen kann”, sagte sie. “Die Rekorddürre und die Naturkatastrophen dieses Sommers zeigen, wie der Klimawandel voranschreitet. Wenn wir jetzt nicht handeln, wird es zu spät sein”.

    “Letzter Warnschuss für die EU”

    Paulo Rangel (EVP) gratulierte Marin zur Entscheidung, der Nato beitreten zu wollen. Es sei eine der wichtigsten geopolitischen Leistungen des 21. Jahrhunderts, nicht nur, weil es die Sicherheit Finnlands stärke, sondern auch, weil die gesamte euro-atlantische Gemeinschaft und die kollektive Sicherheit gestärkt werde.

    Bei einem anschließenden Auftritt mit Parlamentspräsidentin Roberta Metsola forderte Marin von der EU-Kommission weitere Sanktionspakete. “Sanktionen sind unser einziger Weg, Russland zu schwächen und wir werden offen gegenüber den neuen Sanktionen der EU-Kommission sein.” Der Krieg Russlands gegen die Ukraine sei auch der letzte Warnschuss dafür, dass die EU fähig sein müsse, auf ihren eigenen Beinen zu stehen, wenn es darauf ankomme, sagte Marin. Metsola machte ebenso klar, dass die EU sich nicht länger auf unverlässliche Partner stützen und die Energiewende nicht länger herauszögern dürfe.

    Sanna Marin: steht für eine junge Generation

    Marin, geboren in Helsinki und aufgewachsen mit zwei Müttern, steht für eine junge Generation und eine moderne Politik. Sie interessiert sich früh für Politik, schreibt in ihrer Masterarbeit über “Finnland, das Land der Bürgermeister” und den Professionalisierungsprozess der politischen Führung in finnischen Städten.

    Sie gilt als Shooting-Star und talentierte Politikerin, wird 2014 zweite Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei (SDP). 2015, bei ihrer ersten Kandidatur, wird sie ins finnische Parlament gewählt und arbeitet unter anderem im Haupt- und Umweltausschuss. In der Regierung um ihren Vorgänger Antti Rinne (SDP) wird sie Ministerin für Verkehr und Kommunikation. Seit August 2020 hält sie den Vorsitz der Sozialdemokratischen Partei. 

    Umweltthemen begleiten sie bis heute. Ihre Regierung hat sich überaus ambitionierte Ziele gesteckt: Finnland will bis 2035 klimaneutral sein und die erste fossilfreie Wohlfahrtsgesellschaft der Welt werden. Deshalb, aber auch angesichts des Krieges Russlands gegen die Ukraine, plädiert Marin für den schnellen Ausbau erneuerbarer Energien, denn auch Finnland ist von russischen Energielieferungen abhängig. Lisa-Martina Klein

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