für Emmanuel Macron ist es ein Triumph: Frankreichs Staatspräsident hat sich in der Stichwahl durchgesetzt, sein Vorsprung war deutlicher als von allen Umfrageinstituten vorhergesehen. Der klare Sieg dürfte seiner Partei LREM Rückenwind geben für die dritte Runde der Wahlen – jene zur Nationalversammlung am 12. und 19. Juni.
Für Frankreichs Demokratie und für die europäische Idee aber bedeutet der Wahlausgang ein weiteres Warnsignal: Die politischen Ränder sind so stark wie nie, die “republikanische Front” bröckelt. Macron hat dazu beigetragen, dass die anderen Parteien der Mitte nur noch Schatten ihrer selbst sind. Unzufriedenen Wählern bleibt somit im Grunde nur, extreme Parteien zu wählen oder eben gar nicht. Die Zahl der Nichtwähler stieg entsprechend auf Rekordniveau.
Fürs Erste aber haben die liberalen, proeuropäischen Kräfte gewonnen – in Frankreich ebenso wie in Slowenien. Dort musste der Möchtegern-autoritäre, bei Twitter bisweilen Kritiker anpöbelnde Ministerpräsident Janez Jansa eine Niederlage einstecken. Geschlagen wurde er von einem Quereinsteiger, dem einstigen Energiemanager Robert Golob.
Kurz vor der Wahl hatte die französische Ratspräsidentschaft noch einen Erfolg erzielt: In der Nacht zum Samstag einigten sich Rat und Europaparlament auf den Digital Services Act. Das Gesetzeswerk aktualisiert die gut 20 Jahre alten Grundregeln für die Digitalwirtschaft. Die nun vereinbarten Vorgaben für die Onlinewerbung lassen jedoch erhebliche Schlupflöcher offen, wie Torsten Kleinz analysiert.
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche.
Die letzten Wahllokale hatten soeben erst geschlossen, und die Prognosen TV-Sender einen klaren Sieg von Emmanuel Macron vorhergesagt, da wurden bereits die ersten Gratulanten vorstellig. “Ich freue mich darauf, unsere exzellente Zusammenarbeit fortsetzen zu können”, twitterte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Bundeskanzler Olaf Scholz beglückwünschte Macron kurz darauf telefonisch, die Entscheidung der französischen Wähler bedeute “auch ein klares Bekenntnis zu Europa und dem europäischen Einigungsprozess”. Auch der niederländische Premier Mark Rutte, der litauische Präsident Gitanas Nauseda und der kanadische Ministerpräsident Justin Trudeau beeilten sich, ihre Glückwünsche zu übermitteln.
Die Erleichterung ist groß bei den Partnern in EU und Nato, dass sie auch künftig mit Macron zusammenarbeiten können, und nicht mit dessen Rivalin Marine Le Pen. “Die Franzosen haben eine historische Bankrotterklärung an Europa gerade noch abgewandt“, sagte die Vizepräsidentin des Europaparlaments, Nicola Beer (FDP), zu Europe.Table. Mit Le Pen habe eine fremdenfeindliche Grande Nation gedroht, die der EU feindselig gegenüberstehe.
Der Wahlsieg Macrons fiel mit 59 Prozent deutlicher aus als es noch vor zwei Wochen, nach dem ersten Wahlgang, zu erwarten gewesen war. Viele Wähler des drittplatzierten Linken Jean-Luc Mélenchon entschieden sich angesichts der Alternative, doch für den Amtsinhaber zu stimmen. Macron dankte es bei seinem Auftritt in der Nähe des Eiffelturms sichtlich bewegt. Er wisse, dass nicht alle Wähler aus Überzeugung für ihn gestimmt hätten, sagte Macron, das verpflichte ihn für die kommenden fünf Jahre.
Die Wahl zeige, “wie tief gespalten das Land ist, wie tief die Frustration vieler Französinnen und Franzosen ist”, sagte der Chef der SPD-Gruppe im Europaparlament, Jens Geier. Macron müsse daher mehr für die soziale Gerechtigkeit tun. Nicht nur stimmten weit mehr Wähler für Le Pen als bei der Stichwahl vor fünf Jahren (33,9 Prozent) – die Chefin des rechtsextremen Rassemblement National (RN) selbst verkaufte ihre Niederlage daher als “strahlenden Sieg”. Noch dazu war die Wahlbeteiligung mit 71,8 Prozent historisch niedrig.
“Ein politischer Frühling der 5. Republik sieht anders aus”, konstatiert denn auch Nicola Beer: “Emmanuel Macron steht vor einem politisch tief gespaltenen Land, in einer Zeit, in der eine historische Stärke von Europa erwartet wird – das geeint und mit voller Kraft dem Krieg in Europa entgegentreten muss”. Wie stark der Präsident diese Rolle ausfüllen kann, hänge jetzt vor allem am Ausgang der Parlamentswahlen im Juni.
Sowohl Le Pens RN als auch Mélenchons “La France Insoumise” rechnen sich Chancen aus, in der Nationalversammlung die Mehrheit zu stellen. Eine sogenannte Cohabitation würde eine langwierige Regierungsbildung bedeuten, warnt Beer. “Für Europa wäre ein Frankreich, das Monate mit sich selbst beschäftigt ist, ein herber Dämpfer in Sachen Handlungsfähigkeit”.
Der unerwartet klare Sieg Macrons in der Stichwahl dürfte dessen Partei LREM aber Rückenwind geben. Marine Le Pen hat es auch beim dritten Anlauf nicht geschafft, in den Élysée-Palast einzuziehen. Alle Bemühungen, ihre Partei zu normalisieren, haben nicht ausgereicht.
Im Fernsehduell gegen Macron hatte sie fast defensiv gewirkt. Macron wies immer wieder darauf hin, dass Le Pens neue Strategie nur Verpackung ist. Unter dieser stecke immer noch die Rechtsextreme, die Europa schaden wolle, Immigranten abschrecken und nationalistisch denke. So betonte Macron immer wieder in den letzten Tagen: “Die Wahl ist auch ein Referendum über Europa”. Gestern Abend kündigte er an, seine erste Auslandsreise werde ihn nach Berlin führen.
Wenn Le Pen es fast geschafft hätte, ist das aber auch Macrons Schuld. Er hat Frankreichs Krisen gemeistert und wird von vielen dafür geschätzt, ebenso gilt er als Reformer, der die französische Wirtschaft wieder angekurbelt hat.
Doch es gibt auch viele Franzosen, die ihn kritisieren, gar verachten. Er ist immer noch der “Präsident der Reichen”, der privilegierten Elite, seine Wählerschicht. Diesen Ruf hat er weg, seit er die Vermögenssteuer abschaffte und in eine Steuer für Immobilienbesitz umwandelte.
Die ärmeren Franzosen sind wütend auf ihn. Sie sind verärgert darüber, abgehängt zu sein. Jede Entscheidung, die ihre Kaufkraft einschränkt, bestätigt sie in ihrer Einstellung zu Macron. So kam es durch eine geplante Spritpreiserhöhung zum Protest der Gelbwesten. Aber auch viele junge Leute sind von ihm enttäuscht, weil er sich nicht sozial genug zeigt und sich beim Klimaschutz ihrer Meinung nach nicht genug engagiert.
Le Pen dagegen konnte mit ihrer Bürgernähe punkten. Wenn sie es doch nicht geschafft hat, liegt der Grund auch in einer Anti-Le-Pen-Front, die sich einige Tage vor der Stichwahl gebildet hat. Im Inland und Ausland häuften sich die Medienberichte, wie Frankreich und Europa leiden könnten, wenn Le Pen an die Macht komme. Ökonomen schilderten den wirtschaftlichen Abstieg des Landes.
Auf Facebook riefen viele Franzosen gegen eine Wahl von Le Pen auf. Eltern versuchten, auf ihre Kinder einzuwirken, damit sie sich bei der Wahl nicht enthalten und für Macron und Europa stimmen. Im ganzen Land gab es Proteste gegen den Rechtspopulismus, aber das bedeutet noch keine Unterstützung für Macron. Der Slogan war: “Besser eine Wahl, die stinkt, als eine Wahl, die tötet”.
Alle Blicke waren auf die Wähler von Jean-Luc Mélenchon im ersten Wahlgang gerichtet. Viele von ihnen sind junge, gut ausgebildete Leute. Sagten viele nach der Wahl, sie wollen nicht wählen gehen, entschieden sie sich dann um. Lieber Macron als Le Pen. Laut Wählerbefragungen stimmten schließlich rund 40 Prozent der Mélenchon-Wähler für Macron, 17 Prozent für Le Pen. Von Tanja Kuchenbecker und Till Hoppe
Auf den Verhandlungsmarathon folgten die Superlative: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nannte die in der Nacht zu Samstag erzielte Einigung auf den Digital Services Act als “historisch”, die Berichterstatterin des Europaparlaments, Christel Schaldemose (S&D), sprach von einem neuen “globalen Goldstandard”. Bundesjustizminister Marco Buschmann lobte, nun sei “der Weg frei für einheitliche Vorgaben für soziale Netzwerke und andere Online-Plattformen in Europa”.
Zumindest die Regeln für die Onlinewerbung fallen aber weniger streng aus als von vielen besonders im Europaparlament erhofft. Demgemäß fällt auch das Echo aus: Der Digitalverband BVDW sieht “viel Licht”, befürchtet aber auch Schatten, der Abgeordnete Patrick Breyer (Piratenpartei) beklagte, dass sich “Industrie- und Regierungsinteressen” gegen digitale Bürgerrechte durchgesetzt hätten.
Im Parlament hatten Sozialdemokraten, Grüne und Linke ursprünglich ein Komplettverbot der “Überwachungswerbung” gefordert (Europe.Table berichtete), konnten sich damit aber bereits intern nicht durchsetzen. Stattdessen verlangte das Parlament im Trilog ein Verbot der Auswertung persönlicher Daten von Minderjährigen zu Werbezwecken, erweitere Informationspflichten und ein Verbot für irreführende Designs, sogenannte Dark Patterns.
Diese Forderungen finden sich nun im finalen Verhandlungsergebnis wieder. Martin Schirdewan, der Berichterstatter der Linken, sprach anschließend denn auch von einem “großen Erfolg für den Schutz von Nutzer:innen, auch wenn ein komplettes Verbot von personalisierter Werbung wünschenswert wäre”.
Allerdings hat der nächtliche Kompromiss erhebliche Lücken in den Artikeln 23 und 24 des DSA, die Europe.Table in der finalen Fassung vorliegen. Er ignoriert etwa die verteilte Natur des heutigen Werbegeschäfts. Zwar sollen Online-Plattformen keine Werbung mehr aufgrund bestimmter Kategorien wie sexueller Orientierung oder Gesundheitsdaten ausspielen. Doch das hält Mittelsmänner nicht davon ab, dieses Targeting außerhalb der Plattformen vorzunehmen. Statt Diabetes-Kranken kann man etwa Nutzer adressieren, die eine Diabetes-Hilfegruppe abonniert haben.
Aus personalisierter Werbung würde so kontextbezogene Werbung, die von den Gegnern des heutigen Werbegeschäfts als durchweg bessere Alternative gesehen wird. Doch bereits die Wahlkampfkampagne von Donald Trump soll 2016 ähnliche Methoden genutzt haben, um insbesondere afroamerikanische Wähler von der Wahl seiner Konkurrentin Hillary Clinton abzuhalten.
Heute kann man solche Daten von vielen Datenbrokern zukaufen. Zudem etabliert sich im Zuge der Abschaffung der Werbe-Cookies grade eine neue Klasse von ID-Lösungen, die Werbekunden eine breite Auswahl lassen, wo sie ihr Werbetargeting letztlich betreiben. Diese Infrastruktur kann auch genutzt werden, um die nun kommenden Informationspflichten zu umgehen. Die größten Werbekunden verarbeiten bereits heute viele Kundeninformationen selbst und sind daher wenig auf die Angebote der Plattformen angewiesen.
Die Targeting-Mechanismen müssten bei solchen Werbungen von den Plattformen nicht offenbart werden, weil sie dort gar nicht vorliegen. Schon heute zeigen etwa Facebook oder Twitter in den entsprechenden Infoboxen meist nur sehr generische Kategorien.
Auch der Schutz von Minderjährigen ist sehr dehnbar. In der Vergangenheit hatten sich Plattformen von Jugendschutzgesetzen unabhängig erklärt, indem sie kurzerhand das Mindestalter ab 13 Jahren per Geschäftsbedingungen festlegten. Oder sie markierten gar ihre Angebote für Jugendschutzprogramme als bedenklich, sodass die Eltern gefordert waren, ihren Kindern den Zugang zu Angeboten wie YouTube zu erlauben. Wo die Grenze zu ziehen ist, muss letztlich die Exekutive bestimmen. Außerhalb der Plattformen führt der Digital Services Act der EU ein solches Alterslimit erst gar nicht ein, sodass der Werbung hier keine neuen Grenzen gesetzt werden.
An dieser Stelle zeigt sich auch die Schwächen des im Parlament erzielten Kompromisses. So hatten die Abgeordneten das Verbot personalisierter Werbung für Minderjährige gegen den einhelligen Rat von Experten in das Gesetz geschrieben, da sie keinen allgemeinen Bann der Werbeform beschließen wollten. Die Voraussetzung dafür wäre jedoch eine genaue Erfassung von Kindern durch die Betreiber gewesen. Diese Pflicht wurde nun ausdrücklich ausgeschlossen, sodass es im Prinzip genügen könnte, die Alterskategorien aus den Werbetools der Plattformen zu streichen. Wie Aufsichtsbehörden mit Angeboten wie TikTok umgehen, muss sich noch in der Praxis zeigen.
Das Verbot von “Dark Patterns” hingegen ist etwas konkreter formuliert. Allerdings soll es auch nur für Online-Plattformen und nicht für jedes Unternehmen gelten. Zudem wurde die Liste der verbotenen Praktiken auf Initiative des Rats zusammengestrichen. Explizit verboten wird beispielsweise, die Nutzer per Größe oder Farbgebung eines Buttons zu einer bestimmten Entscheidung zu bringen oder sie immer wieder zu fragen, wenn sie sich bereits gegen eine Option entschieden hatte.
Dem Parlament hatte noch vorgeschwebt, dass die Unternehmen sogar die genauen Daten vorlegen sollten, die zu bestimmten Designs geführt hatten (Europe.Table berichtete). Davon ist nun keine Rede mehr – wohl auch, weil keine Aufsichtsbehörde so detaillierte Daten in vertretbarer Zeit analysieren könnte (Europe.Table berichtete).
Auf die unbeliebten Cookie-Banner hat das wohl sehr geringen Einfluss. Zum einen zeigen die von der Regulierung betroffenen Plattformen die Banner in der Praxis nur selten an. Zum anderen ist hier die Datenschutzgrundverordnung und die ePrivacy-Richtlinie weiterhin entscheidend (Europe.Table berichtete).
Dass sie bereits heute geltenden Regeln nicht so zahnlos sind wie befürchtet, zeigte Google in dieser Woche, als der Konzern einen neuen Cookie-Banner für europäische Nutzer ankündigte. Zuvor hatte die französische Datenschutzbehörde CNIL dem Konzern Bußgelder in Höhe von von 150 Millionen Euro verhängt (Europe.Table berichtete). Von Torsten Kleinz
China hat in der vergangenen Woche zwei Konventionen der Internationalen Arbeitsagentur (ILO) gegen Zwangsarbeit ratifiziert (China.Table berichtete). Der Schritt kam überraschend – reicht aus EU-Sicht aber nicht aus, um das Investitionsabkommen zwischen der Europäischen Union und China (CAI) wiederzubeleben.
Von der Generaldirektion für Handel (DG Trade) kommt eine klare Absage: Zum jetzigen Zeitpunkt gebe es “keine Aussicht auf ein Fortkommen des Ratifizierungsprozesses des CAI”, teilte ein Sprecher mit. Die EU messe zwar der Ratifizierung der Kernübereinkommen der ILO durch China, einschließlich derjenigen in Bezug auf Zwangsarbeit, große Bedeutung bei und begrüße den Schritt. Aber solange die von Peking verhängten Sanktionen gegen EU-Parlamentarier in Kraft seien, werde CAI nicht angefasst.
Dass die Volksrepublik die ILO-Konventionen nicht ratifizieren, sondern sich lediglich um einen Fortschritt dabei “bemühen” wollte, war einer der Hauptkritikpunkte an dem Investitionsabkommen zwischen der EU und China. Die unter deutscher Ratspräsidentschaft zustande gekommene Vereinbarung liegt seit Anfang 2021 auf Eis: Die EU hatte zunächst wegen Menschenrechtsverletzungen an den Uiguren gegen mehrere führende Beamte und eine Organisation in Xinjiang Sanktionen verhängt. Peking reagierte darauf mit Strafmaßnahmen unter anderem gegen EU-Abgeordnete.
Auch Experten rechnen nicht damit, dass das Abkommen nun bald wieder auf die Agenda kommt. “Die Ratifizierung der ILO-Konventionen ist zwar eine große Geste Pekings gegenüber Brüssel, beseitigt aber nicht die Haupthindernisse für die CAI-Ratifizierung”, sagte Merics-Analyst Grzegorz Stec. Wegen der gegenseitigen Sanktionen und des Handelsstreits um Litauen bleibe CAI weiterhin blockiert:. “Keines dieser Probleme dürfte auf absehbare Zeit gelöst werden, auch im Kontext der politischen Spannungen um die Ausrichtung Pekings mit Moskau“, so Stec.
Peking scheine sich gegenüber der EU aber in einem “Schadensbegrenzungsmodus” zu befinden, so der Experte. Der jüngste EU-China-Gipfel lief nicht sonderlich gut und blieb ohne Ergebnisse. Der Fokus der EU-China-Beziehungen verschiebe sich vermehrt in Richtung “systemische Rivalität” und Peking könnte Schwierigkeiten haben, den negativen Trend in seiner Beziehung zu Brüssel abzumildern, erklärt Stec.
Peking hatte vergangene Woche nach Jahrzehnten der Verhandlungen zwei altehrwürdige ILO-Übereinkommen ratifiziert:
Eine nachhaltige Verbesserung für die Arbeiter vor Ort erwarten Beobachter jedoch nicht. Der Schritt sei eine “diplomatische Entscheidung” gewesen, die zu keinen bedeutenden innerstaatlichen Veränderungen führen werde, sagte Aidan Chau von der Nichtregierungsorganisation China Labour Bulletin zu China.Table. Die in Hongkong sitzende Organisation setzt sich für Arbeitnehmerrechte in der Volksrepublik ein. China habe auch das Übereinkommen über Sicherheit im Bauwesen von 1988 und die Konvention über Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz von 1981 ratifiziert, so Chau.
Viel geändert habe das aber nicht: “Wir beobachten weiterhin, dass Arbeitsunfälle auf Baustellen wie beispielsweise Kran-Einstürze in China weit verbreitet sind”. Große Fortschritte bei den Interessen und Rechten der Arbeiter könne es nur durch Arbeitnehmerorganisationen und Tarifverhandlungen geben, so Chau. Gewerkschaftliche Organisierung und Engagement sei aber immer noch schwach in China.
Die Möglichkeiten der ILO, die Durchsetzung der Konventionen in der Praxis zu überprüfen, sind generell begrenzt. China weist den Vorwurf der Zwangsarbeit – vor allem in der Region Xinjiang – zurück. Vor-Ort-Untersuchung durch unabhängige Experten wird Peking kaum zustimmen. Die ILO-Ratifizierung verpflichtet die Volksrepublik aber, regelmäßig über die Fortschritte bei der Umsetzung Bericht zu erstatten.
Ganz zufällig ist der Zeitpunkt der Ratifizierung nicht gewählt: Im Mai steht erstmals ein Besuch der Hohen Kommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen, Michelle Bachelet, in China an – auch in der Region Xinjiang. Mit der Ratifizierung wolle China nun signalisieren, dass der Schutz der Arbeitnehmerrechte ernst genommen werden, sagte Surya Deva, Rechtsprofessor an der Macquarie University in Australien, der Zeitung “South China Morning Post”. Mit der Ratifizierung könne China eine bessere Erfolgsbilanz in Bezug auf Arbeitnehmerrechte auf ILO-Ebene vorlegen, so Deva.
Deva zufolge ist es jedoch unwahrscheinlich, dass die ILO-Konventionen vor Ort große Auswirkungen auf die Abschaffung der Zwangsarbeit haben werden. Peking mache den Schritt auch, “um seine Beziehungen zur EU angesichts der zunehmenden Kluft mit den USA wegen der russischen Invasion in die Ukraine zu verbessern und zu versuchen, CAI wiederzubeleben”.
Ministerpräsident Janez Jansa hat bei der Parlamentswahl in Slowenien eine Niederlage erlitten. Seine bislang regierende rechtsnationale Partei SDS kam gestern nach Auszählung fast aller abgegebenen Stimmen auf knapp 24 Prozent. Der 63-Jährige, dem Kritiker Korruption und einen autoritären Regierungsstil vorgeworfen haben, hat damit wenig Aussichten, im Parlament eine Mehrheit zu bilden.
Wahlsieger ist demnach die liberale Freiheitsbewegung des Energie-Managers und Quereinsteigers Robert Golob mit 34 Prozent der Stimmen. Sie kann damit mit 40 der 90 Parlamentsmandate rechnen. Golob könnte mit anderen Linksparteien eine Mehrheit bilden. Eine Koalition von Jansas SDS mit der konservativen Partei Neues Slowenien (NSi, 7 Prozent, 9 Mandate) hätte hingegen nicht die nötigen Sitze.
Der 55-jährige Golob dürfte damit nächster Ministerpräsident Sloweniens werden. Der studierte Elektroingenieur war bis vor kurzem Generaldirektor des staatlichen Stromhandelsunternehmens Gen-I, das er seit 2006 gelenkt hatte. Jansa veranlasste Ende vergangenen Jahres, dass sein Vertrag nicht mehr verlängert wurde. Daraufhin übernahm Golob eine kleine Grünpartei und formte sie zur Freiheitsbewegung um. Golob musste per Briefwahl votieren, weil er sich mit dem Coronavirus angesteckt hatte.
Jansa hatte in seiner Regierungszeit versucht, Medien und Justiz unter seine Kontrolle zu bringen. Im Wahlkampf nutzte er die Ressourcen der Regierung für seine SDS-Partei. Politische Gegner und Journalisten pflegt er über den Kurznachrichtendienst Twitter oft unflätig anzugreifen.
Jansa ist überdies ein enger Verbündeter des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Ungarische Geschäftsleute, die von Orban abhängen, finanzieren seit Jahren Fernsehstationen, Zeitungen und Internet-Portale der SDS-Partei. Unter Jansa näherte sich das EU-Land Slowenien der “illiberalen” Achse an, die die EU-skeptischen Regierungen in Budapest und Warschau bilden.
An die Regierung kam Jansa Anfang 2020 durch den Zerfall der 2018 gebildeten Mitte-Links-Koalition. Abgeordnete zweier Kleinparteien, die Teil dieser Koalition waren, waren zu Jansa übergelaufen. Auf diese Weise erlangte dessen Rechts-Koalition im 90-sitzigen Parlament eine hauchdünne Mehrheit. dpa/tho
Der ukrainische Staatskonzern Naftogaz hat vor einem Einbruch des russischen Gastransits über die Ukraine gewarnt. “Wir schätzen, dass ein Drittel der von Russland in die EU über die Ukraine exportierten Gasmenge verloren gehen kann, wenn die Besatzungskräfte nicht damit aufhören, die Funktion unserer Stationen zu stören”, schrieb Naftogaz-Chef Jurij Witrenko am Samstag bei Twitter. Naftogaz betreibt das ukrainische Gastransportsystem. Nach Angaben des Unternehmens wurden am Freitag mehr als 58 Millionen Kubikmeter Erdgas aus Russland über die Ukraine nach Westen transportiert.
Trotz des russischen Angriffs vor zwei Monaten hat die Ukraine weder den Erdgas-, noch den Erdöltransit nach Westen eingestellt. Auch die kurzzeitige Besetzung großer Teile der Nordukraine einschließlich der Pumpstationen an der russischen Grenze durch russische Truppen zu Kriegsbeginn führten nicht zu einem Rückgang. Seit Kriegsbeginn wurden über das Territorium der Ukraine mehr als fünf Milliarden Kubikmeter Erdgas nach Westen gepumpt. Zugleich verlangt Kiew von den EU-Staaten einen Boykott russischer Energieträger, um Russland die Finanzierung des Krieges gegen die Ukraine zu erschweren.
Währenddessen kündigte die EU-Kommission an, Unternehmen aus der Europäischen Union könnten russische Gaslieferungen womöglich doch in Rubel bezahlen, ohne damit die EU-Sanktionen gegen Moskau zu verletzen.
Vor den Zahlungen sollten sie allerdings eine Erklärung abgeben, heißt es in einem der Nachrichtenagentur Reuters vorliegenden Dokument der EU-Kommission. Danach sollten sie ihre vertraglichen Verpflichtungen als erfüllt betrachten, wenn sie Euro oder Dollar bei der Gazprombank einzahlen – und nicht erst später, nachdem die Zahlung in Rubel umgewandelt wurde. “Es wäre ratsam, sich von der russischen Seite bestätigen zu lassen, dass dieses Verfahren nach den Regeln des Dekrets möglich ist”, heißt es in dem Dokument.
Moskau hat Europa gewarnt, dass die Gaslieferungen unterbrochen werden könnten, wenn künftig nicht in der russischen Währung gezahlt wird. Dazu wurde im März ein entsprechendes Dekret erlassen. Darin wird vorgeschlagen, dass Energiekäufer Konten bei der russischen Gazprombank eröffnen, um Zahlungen in Euro oder Dollar zu leisten, die dann in Rubel umgerechnet werden. Die EU-Sanktionsregelung verbiete es Unternehmen nicht, Konten bei der Gazprombank zu eröffnen oder mit ihr in Kontakt zu treten, um eine Lösung zu finden, so die Brüsseler Behörde. dpa/rtr
Die Verantwortlichen der Europäischen Zentralbank (EZB) sind bereit, ihr Programm zum Aufkauf von Vermögenswerten so schnell wie möglich zu beenden und die Zinssätze bereits im Juli 2022 zu erhöhen, wie neun Quellen gegenüber Reuters erklärten.
Mehrere Zentralbanken wie die US-amerikanische Federal Reserve (Fed) und die Bank of England haben bereits begonnen, ihre Zinsen zu erhöhen, um den derzeitigen Preisanstieg einzudämmen. Die EZB war bislang zurückhaltend. In den vergangenen Monaten stieg die Inflation in der Eurozone aufgrund der hohen Rohstoff– und Energiepreise jedoch auf 7,5 Prozent an, die höchste Inflationsrate seit Beginn der Einheitswährung.
Seit 2014 hat die EZB im Rahmen ihrer Strategie der “quantitativen Lockerung” öffentliche und private Anleihen im Wert von fast fünf Billionen Euro aufgekauft, um die Kreditvergabe zu unterstützen und die Inflation auf ihren Zielwert von 2 Prozent pro Jahr zu bringen. rtr/leo
Die EU und Indien wollen in Fragen der Technologie-Entwicklung enger zusammenarbeiten. “Wir sind der Meinung, dass die Beziehungen zu Indien ein großes Potenzial haben, und wir müssen dieses Potenzial nutzen”, sagte ein hochrangiger EU-Beamter. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen werde bei ihrem Besuch in dem asiatischen Land heute zusammen mit Premierminister Narendra Modi einen gemeinsamen Handels- und Technologierat starten. Ein ähnliches Format hat die EU im vergangenen Jahr bereits mit den USA begonnen.
In Handelsfragen arbeite man bereits eng mit Indien zusammen, in Technologiefragen weniger, sagte der Beamte. Dabei stehe Indien etwa bei 5G, 6G oder Cloud Computing den gleichen Herausforderungen gegenüber wie die EU. Man müsse gemeinsam über vertrauenswürdige Technologien sprechen.
Man wolle Indien zudem dabei helfen, bei der militärischen Ausrüstung unabhängiger von Russland zu werden. Das Land habe sich zwar wirtschaftlich breiter aufgestellt, aber nicht in dieser Frage. Bislang sei es für die meisten EU-Länder wegen notwendiger Ausfuhrgenehmigungen schwierig, militärische Ausrüstung nach Indien zu liefern. Man sei jedoch entschlossen, die Märkte zu öffnen. Zudem würde russische Militärausrüstung, etwa mit Blick auf die High-Tech-Komponenten, stark von den EU-Sanktionen getroffen.
Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) hat hohe Erwartungen an den Besuch. “In der aktuellen weltpolitischen Lage ist es notwendig, dass die EU die seit langem stockenden Gespräche zu einem Handelsabkommen mit Indien wieder aktiviert“, sagte DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben der Deutschen Presse-Agentur. “Eine auf verlässlichen Regeln basierte EU-Handelspolitik, die die Wirtschaftsbeziehungen mit bedeutenden Partnern wie Indien fördert und stabilisiert, ist für die vielen international agierenden deutschen Unternehmen wichtig.” dpa
Die Grünen/EFA-Mitglieder Jutta Paulus, Tilly Metz, Margrete Auken, Michèle Rivasi und Kim van Sparrentak haben beim Europäischen Gerichtshof eine Klage gegen die Europäische Kommission eingereicht. Die EU-Abgeordneten fordern Zugang zu den vollständigen Verträgen zum Kauf von Covid-19-Impfstoffen, die bisher nur in geschwärzten Fassungen vorliegen. “Geheimhaltung ist ein Nährboden für Misstrauen und Skepsis und hat in öffentlichen Vereinbarungen mit Pharmaunternehmen nichts zu suchen”, teilte Jutta Paulus mit. “Käufe, die mit öffentlichen Geldern getätigt werden, sollten mit öffentlichen Informationen einhergehen, insbesondere in Gesundheitsfragen. Wir setzen uns für das Recht der Öffentlichkeit auf Information ein.”
In den von der Kommission im Jahr 2021 veröffentlichten eingeschränkten Fassungen waren alle Informationen, die sich unter anderem auf Preise, Zahlungs- und Lieferfristen, Produktionsstandorte sowie Schlüsselinformationen in Bezug auf Haftung und Entschädigung, Rechte des geistigen Eigentums, Kündigungsklauseln, Weiterverkauf und Schenkungen bezogen, unkenntlich gemacht worden. Die Schwärzungen würden es unmöglich machen, die Verträge zu verstehen, argumentieren die Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Transparenz schaffe dagegen Vertrauen in die Fähigkeit der Institutionen, öffentliche Gesundheitsprogramme umzusetzen.
“Die Weigerung der Europäischen Kommission, die Impfstoffverträge transparent zu machen, beeinträchtigt das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Fähigkeit der EU-Kommission, in Handelsabkommen mit der Pharmaindustrie die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt zu stellen”, bekräftigte Tilly Metz.
Im Oktober 2021 zogen die fünf grünen Europaabgeordneten schon einmal gegen die EU-Kommission vor Gericht und forderten die Offenlegung der Verträge zum Kauf der Impfstoffe. Im Februar 2022 gewährten die Kommission einen teilweise erweiterten Zugang zu den (Vorab-)Kaufverträgen. Wichtige Passagen und Informationen blieben jedoch geschwärzt. Die Kommission argumentierte, dass die geschwärzten Teile unter den Schutz der geschäftlichen Interessen fallen würden.
Den fünf grünen EP-Mitgliedern reichte das aber nicht. Sie bekräftigten die Forderung nach Zugang zu den wichtigsten Informationen und reichten nun eine neue Klage ein. Die Abgeordneten fordern unter anderem eine Offenlegung der Preise für die Impfdosen, der Vorauszahlungen, der Bedingungen für das Spenden von Impfdosen sowie der Verantwortlichkeiten und Entschädigungen. ank
Im Krieg des russischen Präsidenten Wladimir Putin gegen die Ukraine gibt es viel mehr Opfer als die Ukrainer, die von den russischen Streitkräften gezielt angegriffen werden. Die russische Aggression bedroht auch die globale Nachhaltigkeitsagenda – mit möglicherweise verheerenden Folgen für den gesamten Planeten.
Schon in der Coronapandemie haben sich die Länder auf die unmittelbare Gesundheitsgefahr konzentriert und weltweit Aufmerksamkeit und Ressourcen von den auf der UN-Klimakonferenz in Paris beschlossenen Zielen abgezogen. Jetzt verstärkt Putins Krieg den wirtschaftlichen, sozialen und geopolitischen Druck, unter dem viele Länder stehen, und vertieft die Gräben zwischen ihnen. Für den gemeinsamen Kampf gegen den Klimawandel verheißt das nichts Gutes.
Um unsere Chancen zu verbessern, die Nachhaltigkeitsagenda doch noch zu retten, müssen wir die Probleme und Gebote der aktuellen Krise anerkennen und unseren Ansatz entsprechend anpassen. Das bedeutet auch, dass unsere Kriterien zu den Aspekten Umwelt, Soziales und Governance (ESG-Kriterien) einerseits ganzheitlicher und andererseits detaillierter werden müssen.
Vor allem muss jede Diskussion zur Energiepolitik nun sowohl das nicht verhandelbare Ziel der Klimaneutralität bis 2050 als auch die Notwendigkeit berücksichtigen, die Energiesicherheit und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gewährleisten. Wenn sich Energiepolitik nur noch auf Sicherheitsfragen konzentriert, läuft sie Gefahr, die Nachhaltigkeitsagenda zu untergraben.
Der europäische Versuch, russisches Gas durch Flüssigerdgas (LNG) aus den USA oder Katar zu ersetzen, ist ein typisches Beispiel. Nun könnte man sagen, das sei nur eine “Übergangslösung” für ein akutes Problem. Solche Systeme können sich aber schnell verfestigt und alle Anstrengungen zur Dekarbonisierung der Stromerzeugung zunichtemachen, zum Beispiel, wenn die Betreiber von den Regierungen langfristige vertragliche Verpflichtungen fordern.
Natürlich muss auf den Krieg in der Ukraine schnell reagiert werden, unter Umständen auch mit Übergangslösungen. Diese Maßnahmen müssen jedoch sorgfältig in eine umfassende Strategie integriert werden, zu der ein schnellerer Umstieg auf erneuerbare Energien – der in der Europäischen Union womöglich nur durch eine Aufstockung der Mittel des Wiederaufbaufonds “Next Generation EU” möglich ist – und eine Neubewertung der Atomkraft gehört.
Die EU hat die endgültige Position der Atomkraft in ihrer Nachhaltigkeitstaxonomie, die Unternehmen, Investoren und Politik den Weg zu klimafreundlichen Tätigkeiten und Investitionen weisen soll, noch nicht gefunden. In diesem Zusammenhang ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Internationale Energieagentur in ihrem World Energy Outlook 2021 empfiehlt, den Anteil der Atomkraft am Energiemix zu erhöhen.
Das betrifft aber nicht nur die Politik; alle Investoren müssen das Energieproblem ganzheitlich betrachten und dabei ein Gleichgewicht zwischen dem zwingenden Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen und den geopolitischen Bedingungen des jeweiligen Landes finden. Und sie müssen lernen, ökologische und soziale Aspekte gemeinsam zu bewerten.
Die Idee einer “gerechten Energiewende“ ist nicht neu. Durch Russlands Krieg gegen die Ukraine, der nicht nur die weltweiten Preise für Energie, sondern auch die Lebensmittelpreise in die Höhe getrieben hat, gewinnt sie jedoch neue Aktualität. Denn der Krieg unterbricht auch die Lebensmittellieferungen aus Russland und der Ukraine und bedroht dadurch die globale Ernährungssicherheit.
Landwirtschaft und Nahrungsmittelindustrie – zwei energieintensive Sektoren mit weitreichenden Auswirkungen auf die Artenvielfalt – waren für das Erreichen der Klimaneutralität schon immer von zentraler Bedeutung. Nun hat der Ukrainekrieg gezeigt, dass jede Strategie, die Umweltverträglichkeit dieser Sektoren zu verbessern, gleichzeitig die Ernährungssicherheit gewährleisten muss, zum Beispiel durch die Diversifizierung der Lebensmittelversorgung.
Aber nicht nur Unternehmen müssen ökologische und soziale Fragen zusammen denken, sondern auch – und vielleicht noch viel mehr – Regierungen. Bisher stellt die Finanzbranche hierfür noch keine ausreichend detaillierte einheitliche Methodologie bereit. Dafür muss sie einen Ansatz entwickeln, der berücksichtigt, wie wirksam die Regierungen die Umverteilungseffekte der Maßnahmen steuern, mit denen sie die Energiewende umsetzen. Wenn die Belastungen nicht gerecht verteilt werden, schwindet der Rückhalt für den Klimaschutz in der Bevölkerung.
Ein weiterer Bereich, in dem die politischen Strategien aufgrund des Kriegs in der Ukraine feiner abgestimmt werden müssen, sind Kryptowährungen. Bisher lag der Schwerpunkt auf den ökologischen Auswirkungen des äußerst energieintensiven “Schürfens” von Kryptowährungen. Der Krieg wirft nun ein Schlaglicht auf die sozialen und geopolitischen Dimensionen von Kryptowährungen, die die Ukraine bereits zum Crowdfunding seines Militärs nutzt, und Russland nutzen könnte, um internationale Sanktionen zu umgehen.
Schließlich müssen Investoren auch die Verteidigungsindustrie nuancierter betrachten. In der Regel schließen Investoren, die nach ESG-Kriterien entscheiden, diese Unternehmen aus ihren Portfolios aus. Zwar gibt es keinen Grund, nun plötzlich in die Entwicklung und Herstellung umstrittener Waffen zu investieren, allerdings sollten an Nachhaltigkeit interessierte Investoren vielleicht ihre Einstellung zu Firmen überdenken, deren Produkte die Verteidigungsbereitschaft gegen Aggressoren erhöhen. Wir brauchen dringend zuverlässigere Grundsätze für die Integration der Menschenrechte in Investitionsstrategien.
In dieser – und sehr wahrscheinlich vieler anderer – Hinsicht hat der Krieg in der Ukraine das Investieren nach ESG-Kriterien verkompliziert. Das kann sich auf die Nachhaltigkeitsagenda verheerend auswirken, insbesondere, wenn es als Ausrede dafür genutzt wird, ökologische und soziale Überlegungen ganz zurückzustellen. Das große Schweigen, mit dem die Welt auf den jüngsten Bericht des Weltklimawandels reagiert hat, zeigt, wie akut diese Gefahr ist.
Um das zu vermeiden, müssen Wirtschaft und Zivilgesellschaft gemeinsam den Weg in die Zukunft weisen. Investoren, Verbraucher, Arbeitnehmer und Unternehmen müssen gemeinsam Verantwortung übernehmen und ein neues System entwickeln, das der Vision des Übereinkommens von Paris gerecht wird und dazu auch die ESG-Kriterien erweitert und verfeinert.
In Kooperation mit Project Syndicate, 2022.
für Emmanuel Macron ist es ein Triumph: Frankreichs Staatspräsident hat sich in der Stichwahl durchgesetzt, sein Vorsprung war deutlicher als von allen Umfrageinstituten vorhergesehen. Der klare Sieg dürfte seiner Partei LREM Rückenwind geben für die dritte Runde der Wahlen – jene zur Nationalversammlung am 12. und 19. Juni.
Für Frankreichs Demokratie und für die europäische Idee aber bedeutet der Wahlausgang ein weiteres Warnsignal: Die politischen Ränder sind so stark wie nie, die “republikanische Front” bröckelt. Macron hat dazu beigetragen, dass die anderen Parteien der Mitte nur noch Schatten ihrer selbst sind. Unzufriedenen Wählern bleibt somit im Grunde nur, extreme Parteien zu wählen oder eben gar nicht. Die Zahl der Nichtwähler stieg entsprechend auf Rekordniveau.
Fürs Erste aber haben die liberalen, proeuropäischen Kräfte gewonnen – in Frankreich ebenso wie in Slowenien. Dort musste der Möchtegern-autoritäre, bei Twitter bisweilen Kritiker anpöbelnde Ministerpräsident Janez Jansa eine Niederlage einstecken. Geschlagen wurde er von einem Quereinsteiger, dem einstigen Energiemanager Robert Golob.
Kurz vor der Wahl hatte die französische Ratspräsidentschaft noch einen Erfolg erzielt: In der Nacht zum Samstag einigten sich Rat und Europaparlament auf den Digital Services Act. Das Gesetzeswerk aktualisiert die gut 20 Jahre alten Grundregeln für die Digitalwirtschaft. Die nun vereinbarten Vorgaben für die Onlinewerbung lassen jedoch erhebliche Schlupflöcher offen, wie Torsten Kleinz analysiert.
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche.
Die letzten Wahllokale hatten soeben erst geschlossen, und die Prognosen TV-Sender einen klaren Sieg von Emmanuel Macron vorhergesagt, da wurden bereits die ersten Gratulanten vorstellig. “Ich freue mich darauf, unsere exzellente Zusammenarbeit fortsetzen zu können”, twitterte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Bundeskanzler Olaf Scholz beglückwünschte Macron kurz darauf telefonisch, die Entscheidung der französischen Wähler bedeute “auch ein klares Bekenntnis zu Europa und dem europäischen Einigungsprozess”. Auch der niederländische Premier Mark Rutte, der litauische Präsident Gitanas Nauseda und der kanadische Ministerpräsident Justin Trudeau beeilten sich, ihre Glückwünsche zu übermitteln.
Die Erleichterung ist groß bei den Partnern in EU und Nato, dass sie auch künftig mit Macron zusammenarbeiten können, und nicht mit dessen Rivalin Marine Le Pen. “Die Franzosen haben eine historische Bankrotterklärung an Europa gerade noch abgewandt“, sagte die Vizepräsidentin des Europaparlaments, Nicola Beer (FDP), zu Europe.Table. Mit Le Pen habe eine fremdenfeindliche Grande Nation gedroht, die der EU feindselig gegenüberstehe.
Der Wahlsieg Macrons fiel mit 59 Prozent deutlicher aus als es noch vor zwei Wochen, nach dem ersten Wahlgang, zu erwarten gewesen war. Viele Wähler des drittplatzierten Linken Jean-Luc Mélenchon entschieden sich angesichts der Alternative, doch für den Amtsinhaber zu stimmen. Macron dankte es bei seinem Auftritt in der Nähe des Eiffelturms sichtlich bewegt. Er wisse, dass nicht alle Wähler aus Überzeugung für ihn gestimmt hätten, sagte Macron, das verpflichte ihn für die kommenden fünf Jahre.
Die Wahl zeige, “wie tief gespalten das Land ist, wie tief die Frustration vieler Französinnen und Franzosen ist”, sagte der Chef der SPD-Gruppe im Europaparlament, Jens Geier. Macron müsse daher mehr für die soziale Gerechtigkeit tun. Nicht nur stimmten weit mehr Wähler für Le Pen als bei der Stichwahl vor fünf Jahren (33,9 Prozent) – die Chefin des rechtsextremen Rassemblement National (RN) selbst verkaufte ihre Niederlage daher als “strahlenden Sieg”. Noch dazu war die Wahlbeteiligung mit 71,8 Prozent historisch niedrig.
“Ein politischer Frühling der 5. Republik sieht anders aus”, konstatiert denn auch Nicola Beer: “Emmanuel Macron steht vor einem politisch tief gespaltenen Land, in einer Zeit, in der eine historische Stärke von Europa erwartet wird – das geeint und mit voller Kraft dem Krieg in Europa entgegentreten muss”. Wie stark der Präsident diese Rolle ausfüllen kann, hänge jetzt vor allem am Ausgang der Parlamentswahlen im Juni.
Sowohl Le Pens RN als auch Mélenchons “La France Insoumise” rechnen sich Chancen aus, in der Nationalversammlung die Mehrheit zu stellen. Eine sogenannte Cohabitation würde eine langwierige Regierungsbildung bedeuten, warnt Beer. “Für Europa wäre ein Frankreich, das Monate mit sich selbst beschäftigt ist, ein herber Dämpfer in Sachen Handlungsfähigkeit”.
Der unerwartet klare Sieg Macrons in der Stichwahl dürfte dessen Partei LREM aber Rückenwind geben. Marine Le Pen hat es auch beim dritten Anlauf nicht geschafft, in den Élysée-Palast einzuziehen. Alle Bemühungen, ihre Partei zu normalisieren, haben nicht ausgereicht.
Im Fernsehduell gegen Macron hatte sie fast defensiv gewirkt. Macron wies immer wieder darauf hin, dass Le Pens neue Strategie nur Verpackung ist. Unter dieser stecke immer noch die Rechtsextreme, die Europa schaden wolle, Immigranten abschrecken und nationalistisch denke. So betonte Macron immer wieder in den letzten Tagen: “Die Wahl ist auch ein Referendum über Europa”. Gestern Abend kündigte er an, seine erste Auslandsreise werde ihn nach Berlin führen.
Wenn Le Pen es fast geschafft hätte, ist das aber auch Macrons Schuld. Er hat Frankreichs Krisen gemeistert und wird von vielen dafür geschätzt, ebenso gilt er als Reformer, der die französische Wirtschaft wieder angekurbelt hat.
Doch es gibt auch viele Franzosen, die ihn kritisieren, gar verachten. Er ist immer noch der “Präsident der Reichen”, der privilegierten Elite, seine Wählerschicht. Diesen Ruf hat er weg, seit er die Vermögenssteuer abschaffte und in eine Steuer für Immobilienbesitz umwandelte.
Die ärmeren Franzosen sind wütend auf ihn. Sie sind verärgert darüber, abgehängt zu sein. Jede Entscheidung, die ihre Kaufkraft einschränkt, bestätigt sie in ihrer Einstellung zu Macron. So kam es durch eine geplante Spritpreiserhöhung zum Protest der Gelbwesten. Aber auch viele junge Leute sind von ihm enttäuscht, weil er sich nicht sozial genug zeigt und sich beim Klimaschutz ihrer Meinung nach nicht genug engagiert.
Le Pen dagegen konnte mit ihrer Bürgernähe punkten. Wenn sie es doch nicht geschafft hat, liegt der Grund auch in einer Anti-Le-Pen-Front, die sich einige Tage vor der Stichwahl gebildet hat. Im Inland und Ausland häuften sich die Medienberichte, wie Frankreich und Europa leiden könnten, wenn Le Pen an die Macht komme. Ökonomen schilderten den wirtschaftlichen Abstieg des Landes.
Auf Facebook riefen viele Franzosen gegen eine Wahl von Le Pen auf. Eltern versuchten, auf ihre Kinder einzuwirken, damit sie sich bei der Wahl nicht enthalten und für Macron und Europa stimmen. Im ganzen Land gab es Proteste gegen den Rechtspopulismus, aber das bedeutet noch keine Unterstützung für Macron. Der Slogan war: “Besser eine Wahl, die stinkt, als eine Wahl, die tötet”.
Alle Blicke waren auf die Wähler von Jean-Luc Mélenchon im ersten Wahlgang gerichtet. Viele von ihnen sind junge, gut ausgebildete Leute. Sagten viele nach der Wahl, sie wollen nicht wählen gehen, entschieden sie sich dann um. Lieber Macron als Le Pen. Laut Wählerbefragungen stimmten schließlich rund 40 Prozent der Mélenchon-Wähler für Macron, 17 Prozent für Le Pen. Von Tanja Kuchenbecker und Till Hoppe
Auf den Verhandlungsmarathon folgten die Superlative: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nannte die in der Nacht zu Samstag erzielte Einigung auf den Digital Services Act als “historisch”, die Berichterstatterin des Europaparlaments, Christel Schaldemose (S&D), sprach von einem neuen “globalen Goldstandard”. Bundesjustizminister Marco Buschmann lobte, nun sei “der Weg frei für einheitliche Vorgaben für soziale Netzwerke und andere Online-Plattformen in Europa”.
Zumindest die Regeln für die Onlinewerbung fallen aber weniger streng aus als von vielen besonders im Europaparlament erhofft. Demgemäß fällt auch das Echo aus: Der Digitalverband BVDW sieht “viel Licht”, befürchtet aber auch Schatten, der Abgeordnete Patrick Breyer (Piratenpartei) beklagte, dass sich “Industrie- und Regierungsinteressen” gegen digitale Bürgerrechte durchgesetzt hätten.
Im Parlament hatten Sozialdemokraten, Grüne und Linke ursprünglich ein Komplettverbot der “Überwachungswerbung” gefordert (Europe.Table berichtete), konnten sich damit aber bereits intern nicht durchsetzen. Stattdessen verlangte das Parlament im Trilog ein Verbot der Auswertung persönlicher Daten von Minderjährigen zu Werbezwecken, erweitere Informationspflichten und ein Verbot für irreführende Designs, sogenannte Dark Patterns.
Diese Forderungen finden sich nun im finalen Verhandlungsergebnis wieder. Martin Schirdewan, der Berichterstatter der Linken, sprach anschließend denn auch von einem “großen Erfolg für den Schutz von Nutzer:innen, auch wenn ein komplettes Verbot von personalisierter Werbung wünschenswert wäre”.
Allerdings hat der nächtliche Kompromiss erhebliche Lücken in den Artikeln 23 und 24 des DSA, die Europe.Table in der finalen Fassung vorliegen. Er ignoriert etwa die verteilte Natur des heutigen Werbegeschäfts. Zwar sollen Online-Plattformen keine Werbung mehr aufgrund bestimmter Kategorien wie sexueller Orientierung oder Gesundheitsdaten ausspielen. Doch das hält Mittelsmänner nicht davon ab, dieses Targeting außerhalb der Plattformen vorzunehmen. Statt Diabetes-Kranken kann man etwa Nutzer adressieren, die eine Diabetes-Hilfegruppe abonniert haben.
Aus personalisierter Werbung würde so kontextbezogene Werbung, die von den Gegnern des heutigen Werbegeschäfts als durchweg bessere Alternative gesehen wird. Doch bereits die Wahlkampfkampagne von Donald Trump soll 2016 ähnliche Methoden genutzt haben, um insbesondere afroamerikanische Wähler von der Wahl seiner Konkurrentin Hillary Clinton abzuhalten.
Heute kann man solche Daten von vielen Datenbrokern zukaufen. Zudem etabliert sich im Zuge der Abschaffung der Werbe-Cookies grade eine neue Klasse von ID-Lösungen, die Werbekunden eine breite Auswahl lassen, wo sie ihr Werbetargeting letztlich betreiben. Diese Infrastruktur kann auch genutzt werden, um die nun kommenden Informationspflichten zu umgehen. Die größten Werbekunden verarbeiten bereits heute viele Kundeninformationen selbst und sind daher wenig auf die Angebote der Plattformen angewiesen.
Die Targeting-Mechanismen müssten bei solchen Werbungen von den Plattformen nicht offenbart werden, weil sie dort gar nicht vorliegen. Schon heute zeigen etwa Facebook oder Twitter in den entsprechenden Infoboxen meist nur sehr generische Kategorien.
Auch der Schutz von Minderjährigen ist sehr dehnbar. In der Vergangenheit hatten sich Plattformen von Jugendschutzgesetzen unabhängig erklärt, indem sie kurzerhand das Mindestalter ab 13 Jahren per Geschäftsbedingungen festlegten. Oder sie markierten gar ihre Angebote für Jugendschutzprogramme als bedenklich, sodass die Eltern gefordert waren, ihren Kindern den Zugang zu Angeboten wie YouTube zu erlauben. Wo die Grenze zu ziehen ist, muss letztlich die Exekutive bestimmen. Außerhalb der Plattformen führt der Digital Services Act der EU ein solches Alterslimit erst gar nicht ein, sodass der Werbung hier keine neuen Grenzen gesetzt werden.
An dieser Stelle zeigt sich auch die Schwächen des im Parlament erzielten Kompromisses. So hatten die Abgeordneten das Verbot personalisierter Werbung für Minderjährige gegen den einhelligen Rat von Experten in das Gesetz geschrieben, da sie keinen allgemeinen Bann der Werbeform beschließen wollten. Die Voraussetzung dafür wäre jedoch eine genaue Erfassung von Kindern durch die Betreiber gewesen. Diese Pflicht wurde nun ausdrücklich ausgeschlossen, sodass es im Prinzip genügen könnte, die Alterskategorien aus den Werbetools der Plattformen zu streichen. Wie Aufsichtsbehörden mit Angeboten wie TikTok umgehen, muss sich noch in der Praxis zeigen.
Das Verbot von “Dark Patterns” hingegen ist etwas konkreter formuliert. Allerdings soll es auch nur für Online-Plattformen und nicht für jedes Unternehmen gelten. Zudem wurde die Liste der verbotenen Praktiken auf Initiative des Rats zusammengestrichen. Explizit verboten wird beispielsweise, die Nutzer per Größe oder Farbgebung eines Buttons zu einer bestimmten Entscheidung zu bringen oder sie immer wieder zu fragen, wenn sie sich bereits gegen eine Option entschieden hatte.
Dem Parlament hatte noch vorgeschwebt, dass die Unternehmen sogar die genauen Daten vorlegen sollten, die zu bestimmten Designs geführt hatten (Europe.Table berichtete). Davon ist nun keine Rede mehr – wohl auch, weil keine Aufsichtsbehörde so detaillierte Daten in vertretbarer Zeit analysieren könnte (Europe.Table berichtete).
Auf die unbeliebten Cookie-Banner hat das wohl sehr geringen Einfluss. Zum einen zeigen die von der Regulierung betroffenen Plattformen die Banner in der Praxis nur selten an. Zum anderen ist hier die Datenschutzgrundverordnung und die ePrivacy-Richtlinie weiterhin entscheidend (Europe.Table berichtete).
Dass sie bereits heute geltenden Regeln nicht so zahnlos sind wie befürchtet, zeigte Google in dieser Woche, als der Konzern einen neuen Cookie-Banner für europäische Nutzer ankündigte. Zuvor hatte die französische Datenschutzbehörde CNIL dem Konzern Bußgelder in Höhe von von 150 Millionen Euro verhängt (Europe.Table berichtete). Von Torsten Kleinz
China hat in der vergangenen Woche zwei Konventionen der Internationalen Arbeitsagentur (ILO) gegen Zwangsarbeit ratifiziert (China.Table berichtete). Der Schritt kam überraschend – reicht aus EU-Sicht aber nicht aus, um das Investitionsabkommen zwischen der Europäischen Union und China (CAI) wiederzubeleben.
Von der Generaldirektion für Handel (DG Trade) kommt eine klare Absage: Zum jetzigen Zeitpunkt gebe es “keine Aussicht auf ein Fortkommen des Ratifizierungsprozesses des CAI”, teilte ein Sprecher mit. Die EU messe zwar der Ratifizierung der Kernübereinkommen der ILO durch China, einschließlich derjenigen in Bezug auf Zwangsarbeit, große Bedeutung bei und begrüße den Schritt. Aber solange die von Peking verhängten Sanktionen gegen EU-Parlamentarier in Kraft seien, werde CAI nicht angefasst.
Dass die Volksrepublik die ILO-Konventionen nicht ratifizieren, sondern sich lediglich um einen Fortschritt dabei “bemühen” wollte, war einer der Hauptkritikpunkte an dem Investitionsabkommen zwischen der EU und China. Die unter deutscher Ratspräsidentschaft zustande gekommene Vereinbarung liegt seit Anfang 2021 auf Eis: Die EU hatte zunächst wegen Menschenrechtsverletzungen an den Uiguren gegen mehrere führende Beamte und eine Organisation in Xinjiang Sanktionen verhängt. Peking reagierte darauf mit Strafmaßnahmen unter anderem gegen EU-Abgeordnete.
Auch Experten rechnen nicht damit, dass das Abkommen nun bald wieder auf die Agenda kommt. “Die Ratifizierung der ILO-Konventionen ist zwar eine große Geste Pekings gegenüber Brüssel, beseitigt aber nicht die Haupthindernisse für die CAI-Ratifizierung”, sagte Merics-Analyst Grzegorz Stec. Wegen der gegenseitigen Sanktionen und des Handelsstreits um Litauen bleibe CAI weiterhin blockiert:. “Keines dieser Probleme dürfte auf absehbare Zeit gelöst werden, auch im Kontext der politischen Spannungen um die Ausrichtung Pekings mit Moskau“, so Stec.
Peking scheine sich gegenüber der EU aber in einem “Schadensbegrenzungsmodus” zu befinden, so der Experte. Der jüngste EU-China-Gipfel lief nicht sonderlich gut und blieb ohne Ergebnisse. Der Fokus der EU-China-Beziehungen verschiebe sich vermehrt in Richtung “systemische Rivalität” und Peking könnte Schwierigkeiten haben, den negativen Trend in seiner Beziehung zu Brüssel abzumildern, erklärt Stec.
Peking hatte vergangene Woche nach Jahrzehnten der Verhandlungen zwei altehrwürdige ILO-Übereinkommen ratifiziert:
Eine nachhaltige Verbesserung für die Arbeiter vor Ort erwarten Beobachter jedoch nicht. Der Schritt sei eine “diplomatische Entscheidung” gewesen, die zu keinen bedeutenden innerstaatlichen Veränderungen führen werde, sagte Aidan Chau von der Nichtregierungsorganisation China Labour Bulletin zu China.Table. Die in Hongkong sitzende Organisation setzt sich für Arbeitnehmerrechte in der Volksrepublik ein. China habe auch das Übereinkommen über Sicherheit im Bauwesen von 1988 und die Konvention über Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz von 1981 ratifiziert, so Chau.
Viel geändert habe das aber nicht: “Wir beobachten weiterhin, dass Arbeitsunfälle auf Baustellen wie beispielsweise Kran-Einstürze in China weit verbreitet sind”. Große Fortschritte bei den Interessen und Rechten der Arbeiter könne es nur durch Arbeitnehmerorganisationen und Tarifverhandlungen geben, so Chau. Gewerkschaftliche Organisierung und Engagement sei aber immer noch schwach in China.
Die Möglichkeiten der ILO, die Durchsetzung der Konventionen in der Praxis zu überprüfen, sind generell begrenzt. China weist den Vorwurf der Zwangsarbeit – vor allem in der Region Xinjiang – zurück. Vor-Ort-Untersuchung durch unabhängige Experten wird Peking kaum zustimmen. Die ILO-Ratifizierung verpflichtet die Volksrepublik aber, regelmäßig über die Fortschritte bei der Umsetzung Bericht zu erstatten.
Ganz zufällig ist der Zeitpunkt der Ratifizierung nicht gewählt: Im Mai steht erstmals ein Besuch der Hohen Kommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen, Michelle Bachelet, in China an – auch in der Region Xinjiang. Mit der Ratifizierung wolle China nun signalisieren, dass der Schutz der Arbeitnehmerrechte ernst genommen werden, sagte Surya Deva, Rechtsprofessor an der Macquarie University in Australien, der Zeitung “South China Morning Post”. Mit der Ratifizierung könne China eine bessere Erfolgsbilanz in Bezug auf Arbeitnehmerrechte auf ILO-Ebene vorlegen, so Deva.
Deva zufolge ist es jedoch unwahrscheinlich, dass die ILO-Konventionen vor Ort große Auswirkungen auf die Abschaffung der Zwangsarbeit haben werden. Peking mache den Schritt auch, “um seine Beziehungen zur EU angesichts der zunehmenden Kluft mit den USA wegen der russischen Invasion in die Ukraine zu verbessern und zu versuchen, CAI wiederzubeleben”.
Ministerpräsident Janez Jansa hat bei der Parlamentswahl in Slowenien eine Niederlage erlitten. Seine bislang regierende rechtsnationale Partei SDS kam gestern nach Auszählung fast aller abgegebenen Stimmen auf knapp 24 Prozent. Der 63-Jährige, dem Kritiker Korruption und einen autoritären Regierungsstil vorgeworfen haben, hat damit wenig Aussichten, im Parlament eine Mehrheit zu bilden.
Wahlsieger ist demnach die liberale Freiheitsbewegung des Energie-Managers und Quereinsteigers Robert Golob mit 34 Prozent der Stimmen. Sie kann damit mit 40 der 90 Parlamentsmandate rechnen. Golob könnte mit anderen Linksparteien eine Mehrheit bilden. Eine Koalition von Jansas SDS mit der konservativen Partei Neues Slowenien (NSi, 7 Prozent, 9 Mandate) hätte hingegen nicht die nötigen Sitze.
Der 55-jährige Golob dürfte damit nächster Ministerpräsident Sloweniens werden. Der studierte Elektroingenieur war bis vor kurzem Generaldirektor des staatlichen Stromhandelsunternehmens Gen-I, das er seit 2006 gelenkt hatte. Jansa veranlasste Ende vergangenen Jahres, dass sein Vertrag nicht mehr verlängert wurde. Daraufhin übernahm Golob eine kleine Grünpartei und formte sie zur Freiheitsbewegung um. Golob musste per Briefwahl votieren, weil er sich mit dem Coronavirus angesteckt hatte.
Jansa hatte in seiner Regierungszeit versucht, Medien und Justiz unter seine Kontrolle zu bringen. Im Wahlkampf nutzte er die Ressourcen der Regierung für seine SDS-Partei. Politische Gegner und Journalisten pflegt er über den Kurznachrichtendienst Twitter oft unflätig anzugreifen.
Jansa ist überdies ein enger Verbündeter des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Ungarische Geschäftsleute, die von Orban abhängen, finanzieren seit Jahren Fernsehstationen, Zeitungen und Internet-Portale der SDS-Partei. Unter Jansa näherte sich das EU-Land Slowenien der “illiberalen” Achse an, die die EU-skeptischen Regierungen in Budapest und Warschau bilden.
An die Regierung kam Jansa Anfang 2020 durch den Zerfall der 2018 gebildeten Mitte-Links-Koalition. Abgeordnete zweier Kleinparteien, die Teil dieser Koalition waren, waren zu Jansa übergelaufen. Auf diese Weise erlangte dessen Rechts-Koalition im 90-sitzigen Parlament eine hauchdünne Mehrheit. dpa/tho
Der ukrainische Staatskonzern Naftogaz hat vor einem Einbruch des russischen Gastransits über die Ukraine gewarnt. “Wir schätzen, dass ein Drittel der von Russland in die EU über die Ukraine exportierten Gasmenge verloren gehen kann, wenn die Besatzungskräfte nicht damit aufhören, die Funktion unserer Stationen zu stören”, schrieb Naftogaz-Chef Jurij Witrenko am Samstag bei Twitter. Naftogaz betreibt das ukrainische Gastransportsystem. Nach Angaben des Unternehmens wurden am Freitag mehr als 58 Millionen Kubikmeter Erdgas aus Russland über die Ukraine nach Westen transportiert.
Trotz des russischen Angriffs vor zwei Monaten hat die Ukraine weder den Erdgas-, noch den Erdöltransit nach Westen eingestellt. Auch die kurzzeitige Besetzung großer Teile der Nordukraine einschließlich der Pumpstationen an der russischen Grenze durch russische Truppen zu Kriegsbeginn führten nicht zu einem Rückgang. Seit Kriegsbeginn wurden über das Territorium der Ukraine mehr als fünf Milliarden Kubikmeter Erdgas nach Westen gepumpt. Zugleich verlangt Kiew von den EU-Staaten einen Boykott russischer Energieträger, um Russland die Finanzierung des Krieges gegen die Ukraine zu erschweren.
Währenddessen kündigte die EU-Kommission an, Unternehmen aus der Europäischen Union könnten russische Gaslieferungen womöglich doch in Rubel bezahlen, ohne damit die EU-Sanktionen gegen Moskau zu verletzen.
Vor den Zahlungen sollten sie allerdings eine Erklärung abgeben, heißt es in einem der Nachrichtenagentur Reuters vorliegenden Dokument der EU-Kommission. Danach sollten sie ihre vertraglichen Verpflichtungen als erfüllt betrachten, wenn sie Euro oder Dollar bei der Gazprombank einzahlen – und nicht erst später, nachdem die Zahlung in Rubel umgewandelt wurde. “Es wäre ratsam, sich von der russischen Seite bestätigen zu lassen, dass dieses Verfahren nach den Regeln des Dekrets möglich ist”, heißt es in dem Dokument.
Moskau hat Europa gewarnt, dass die Gaslieferungen unterbrochen werden könnten, wenn künftig nicht in der russischen Währung gezahlt wird. Dazu wurde im März ein entsprechendes Dekret erlassen. Darin wird vorgeschlagen, dass Energiekäufer Konten bei der russischen Gazprombank eröffnen, um Zahlungen in Euro oder Dollar zu leisten, die dann in Rubel umgerechnet werden. Die EU-Sanktionsregelung verbiete es Unternehmen nicht, Konten bei der Gazprombank zu eröffnen oder mit ihr in Kontakt zu treten, um eine Lösung zu finden, so die Brüsseler Behörde. dpa/rtr
Die Verantwortlichen der Europäischen Zentralbank (EZB) sind bereit, ihr Programm zum Aufkauf von Vermögenswerten so schnell wie möglich zu beenden und die Zinssätze bereits im Juli 2022 zu erhöhen, wie neun Quellen gegenüber Reuters erklärten.
Mehrere Zentralbanken wie die US-amerikanische Federal Reserve (Fed) und die Bank of England haben bereits begonnen, ihre Zinsen zu erhöhen, um den derzeitigen Preisanstieg einzudämmen. Die EZB war bislang zurückhaltend. In den vergangenen Monaten stieg die Inflation in der Eurozone aufgrund der hohen Rohstoff– und Energiepreise jedoch auf 7,5 Prozent an, die höchste Inflationsrate seit Beginn der Einheitswährung.
Seit 2014 hat die EZB im Rahmen ihrer Strategie der “quantitativen Lockerung” öffentliche und private Anleihen im Wert von fast fünf Billionen Euro aufgekauft, um die Kreditvergabe zu unterstützen und die Inflation auf ihren Zielwert von 2 Prozent pro Jahr zu bringen. rtr/leo
Die EU und Indien wollen in Fragen der Technologie-Entwicklung enger zusammenarbeiten. “Wir sind der Meinung, dass die Beziehungen zu Indien ein großes Potenzial haben, und wir müssen dieses Potenzial nutzen”, sagte ein hochrangiger EU-Beamter. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen werde bei ihrem Besuch in dem asiatischen Land heute zusammen mit Premierminister Narendra Modi einen gemeinsamen Handels- und Technologierat starten. Ein ähnliches Format hat die EU im vergangenen Jahr bereits mit den USA begonnen.
In Handelsfragen arbeite man bereits eng mit Indien zusammen, in Technologiefragen weniger, sagte der Beamte. Dabei stehe Indien etwa bei 5G, 6G oder Cloud Computing den gleichen Herausforderungen gegenüber wie die EU. Man müsse gemeinsam über vertrauenswürdige Technologien sprechen.
Man wolle Indien zudem dabei helfen, bei der militärischen Ausrüstung unabhängiger von Russland zu werden. Das Land habe sich zwar wirtschaftlich breiter aufgestellt, aber nicht in dieser Frage. Bislang sei es für die meisten EU-Länder wegen notwendiger Ausfuhrgenehmigungen schwierig, militärische Ausrüstung nach Indien zu liefern. Man sei jedoch entschlossen, die Märkte zu öffnen. Zudem würde russische Militärausrüstung, etwa mit Blick auf die High-Tech-Komponenten, stark von den EU-Sanktionen getroffen.
Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) hat hohe Erwartungen an den Besuch. “In der aktuellen weltpolitischen Lage ist es notwendig, dass die EU die seit langem stockenden Gespräche zu einem Handelsabkommen mit Indien wieder aktiviert“, sagte DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben der Deutschen Presse-Agentur. “Eine auf verlässlichen Regeln basierte EU-Handelspolitik, die die Wirtschaftsbeziehungen mit bedeutenden Partnern wie Indien fördert und stabilisiert, ist für die vielen international agierenden deutschen Unternehmen wichtig.” dpa
Die Grünen/EFA-Mitglieder Jutta Paulus, Tilly Metz, Margrete Auken, Michèle Rivasi und Kim van Sparrentak haben beim Europäischen Gerichtshof eine Klage gegen die Europäische Kommission eingereicht. Die EU-Abgeordneten fordern Zugang zu den vollständigen Verträgen zum Kauf von Covid-19-Impfstoffen, die bisher nur in geschwärzten Fassungen vorliegen. “Geheimhaltung ist ein Nährboden für Misstrauen und Skepsis und hat in öffentlichen Vereinbarungen mit Pharmaunternehmen nichts zu suchen”, teilte Jutta Paulus mit. “Käufe, die mit öffentlichen Geldern getätigt werden, sollten mit öffentlichen Informationen einhergehen, insbesondere in Gesundheitsfragen. Wir setzen uns für das Recht der Öffentlichkeit auf Information ein.”
In den von der Kommission im Jahr 2021 veröffentlichten eingeschränkten Fassungen waren alle Informationen, die sich unter anderem auf Preise, Zahlungs- und Lieferfristen, Produktionsstandorte sowie Schlüsselinformationen in Bezug auf Haftung und Entschädigung, Rechte des geistigen Eigentums, Kündigungsklauseln, Weiterverkauf und Schenkungen bezogen, unkenntlich gemacht worden. Die Schwärzungen würden es unmöglich machen, die Verträge zu verstehen, argumentieren die Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Transparenz schaffe dagegen Vertrauen in die Fähigkeit der Institutionen, öffentliche Gesundheitsprogramme umzusetzen.
“Die Weigerung der Europäischen Kommission, die Impfstoffverträge transparent zu machen, beeinträchtigt das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Fähigkeit der EU-Kommission, in Handelsabkommen mit der Pharmaindustrie die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt zu stellen”, bekräftigte Tilly Metz.
Im Oktober 2021 zogen die fünf grünen Europaabgeordneten schon einmal gegen die EU-Kommission vor Gericht und forderten die Offenlegung der Verträge zum Kauf der Impfstoffe. Im Februar 2022 gewährten die Kommission einen teilweise erweiterten Zugang zu den (Vorab-)Kaufverträgen. Wichtige Passagen und Informationen blieben jedoch geschwärzt. Die Kommission argumentierte, dass die geschwärzten Teile unter den Schutz der geschäftlichen Interessen fallen würden.
Den fünf grünen EP-Mitgliedern reichte das aber nicht. Sie bekräftigten die Forderung nach Zugang zu den wichtigsten Informationen und reichten nun eine neue Klage ein. Die Abgeordneten fordern unter anderem eine Offenlegung der Preise für die Impfdosen, der Vorauszahlungen, der Bedingungen für das Spenden von Impfdosen sowie der Verantwortlichkeiten und Entschädigungen. ank
Im Krieg des russischen Präsidenten Wladimir Putin gegen die Ukraine gibt es viel mehr Opfer als die Ukrainer, die von den russischen Streitkräften gezielt angegriffen werden. Die russische Aggression bedroht auch die globale Nachhaltigkeitsagenda – mit möglicherweise verheerenden Folgen für den gesamten Planeten.
Schon in der Coronapandemie haben sich die Länder auf die unmittelbare Gesundheitsgefahr konzentriert und weltweit Aufmerksamkeit und Ressourcen von den auf der UN-Klimakonferenz in Paris beschlossenen Zielen abgezogen. Jetzt verstärkt Putins Krieg den wirtschaftlichen, sozialen und geopolitischen Druck, unter dem viele Länder stehen, und vertieft die Gräben zwischen ihnen. Für den gemeinsamen Kampf gegen den Klimawandel verheißt das nichts Gutes.
Um unsere Chancen zu verbessern, die Nachhaltigkeitsagenda doch noch zu retten, müssen wir die Probleme und Gebote der aktuellen Krise anerkennen und unseren Ansatz entsprechend anpassen. Das bedeutet auch, dass unsere Kriterien zu den Aspekten Umwelt, Soziales und Governance (ESG-Kriterien) einerseits ganzheitlicher und andererseits detaillierter werden müssen.
Vor allem muss jede Diskussion zur Energiepolitik nun sowohl das nicht verhandelbare Ziel der Klimaneutralität bis 2050 als auch die Notwendigkeit berücksichtigen, die Energiesicherheit und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gewährleisten. Wenn sich Energiepolitik nur noch auf Sicherheitsfragen konzentriert, läuft sie Gefahr, die Nachhaltigkeitsagenda zu untergraben.
Der europäische Versuch, russisches Gas durch Flüssigerdgas (LNG) aus den USA oder Katar zu ersetzen, ist ein typisches Beispiel. Nun könnte man sagen, das sei nur eine “Übergangslösung” für ein akutes Problem. Solche Systeme können sich aber schnell verfestigt und alle Anstrengungen zur Dekarbonisierung der Stromerzeugung zunichtemachen, zum Beispiel, wenn die Betreiber von den Regierungen langfristige vertragliche Verpflichtungen fordern.
Natürlich muss auf den Krieg in der Ukraine schnell reagiert werden, unter Umständen auch mit Übergangslösungen. Diese Maßnahmen müssen jedoch sorgfältig in eine umfassende Strategie integriert werden, zu der ein schnellerer Umstieg auf erneuerbare Energien – der in der Europäischen Union womöglich nur durch eine Aufstockung der Mittel des Wiederaufbaufonds “Next Generation EU” möglich ist – und eine Neubewertung der Atomkraft gehört.
Die EU hat die endgültige Position der Atomkraft in ihrer Nachhaltigkeitstaxonomie, die Unternehmen, Investoren und Politik den Weg zu klimafreundlichen Tätigkeiten und Investitionen weisen soll, noch nicht gefunden. In diesem Zusammenhang ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Internationale Energieagentur in ihrem World Energy Outlook 2021 empfiehlt, den Anteil der Atomkraft am Energiemix zu erhöhen.
Das betrifft aber nicht nur die Politik; alle Investoren müssen das Energieproblem ganzheitlich betrachten und dabei ein Gleichgewicht zwischen dem zwingenden Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen und den geopolitischen Bedingungen des jeweiligen Landes finden. Und sie müssen lernen, ökologische und soziale Aspekte gemeinsam zu bewerten.
Die Idee einer “gerechten Energiewende“ ist nicht neu. Durch Russlands Krieg gegen die Ukraine, der nicht nur die weltweiten Preise für Energie, sondern auch die Lebensmittelpreise in die Höhe getrieben hat, gewinnt sie jedoch neue Aktualität. Denn der Krieg unterbricht auch die Lebensmittellieferungen aus Russland und der Ukraine und bedroht dadurch die globale Ernährungssicherheit.
Landwirtschaft und Nahrungsmittelindustrie – zwei energieintensive Sektoren mit weitreichenden Auswirkungen auf die Artenvielfalt – waren für das Erreichen der Klimaneutralität schon immer von zentraler Bedeutung. Nun hat der Ukrainekrieg gezeigt, dass jede Strategie, die Umweltverträglichkeit dieser Sektoren zu verbessern, gleichzeitig die Ernährungssicherheit gewährleisten muss, zum Beispiel durch die Diversifizierung der Lebensmittelversorgung.
Aber nicht nur Unternehmen müssen ökologische und soziale Fragen zusammen denken, sondern auch – und vielleicht noch viel mehr – Regierungen. Bisher stellt die Finanzbranche hierfür noch keine ausreichend detaillierte einheitliche Methodologie bereit. Dafür muss sie einen Ansatz entwickeln, der berücksichtigt, wie wirksam die Regierungen die Umverteilungseffekte der Maßnahmen steuern, mit denen sie die Energiewende umsetzen. Wenn die Belastungen nicht gerecht verteilt werden, schwindet der Rückhalt für den Klimaschutz in der Bevölkerung.
Ein weiterer Bereich, in dem die politischen Strategien aufgrund des Kriegs in der Ukraine feiner abgestimmt werden müssen, sind Kryptowährungen. Bisher lag der Schwerpunkt auf den ökologischen Auswirkungen des äußerst energieintensiven “Schürfens” von Kryptowährungen. Der Krieg wirft nun ein Schlaglicht auf die sozialen und geopolitischen Dimensionen von Kryptowährungen, die die Ukraine bereits zum Crowdfunding seines Militärs nutzt, und Russland nutzen könnte, um internationale Sanktionen zu umgehen.
Schließlich müssen Investoren auch die Verteidigungsindustrie nuancierter betrachten. In der Regel schließen Investoren, die nach ESG-Kriterien entscheiden, diese Unternehmen aus ihren Portfolios aus. Zwar gibt es keinen Grund, nun plötzlich in die Entwicklung und Herstellung umstrittener Waffen zu investieren, allerdings sollten an Nachhaltigkeit interessierte Investoren vielleicht ihre Einstellung zu Firmen überdenken, deren Produkte die Verteidigungsbereitschaft gegen Aggressoren erhöhen. Wir brauchen dringend zuverlässigere Grundsätze für die Integration der Menschenrechte in Investitionsstrategien.
In dieser – und sehr wahrscheinlich vieler anderer – Hinsicht hat der Krieg in der Ukraine das Investieren nach ESG-Kriterien verkompliziert. Das kann sich auf die Nachhaltigkeitsagenda verheerend auswirken, insbesondere, wenn es als Ausrede dafür genutzt wird, ökologische und soziale Überlegungen ganz zurückzustellen. Das große Schweigen, mit dem die Welt auf den jüngsten Bericht des Weltklimawandels reagiert hat, zeigt, wie akut diese Gefahr ist.
Um das zu vermeiden, müssen Wirtschaft und Zivilgesellschaft gemeinsam den Weg in die Zukunft weisen. Investoren, Verbraucher, Arbeitnehmer und Unternehmen müssen gemeinsam Verantwortung übernehmen und ein neues System entwickeln, das der Vision des Übereinkommens von Paris gerecht wird und dazu auch die ESG-Kriterien erweitert und verfeinert.
In Kooperation mit Project Syndicate, 2022.