Table.Briefing: Europe

Gassparen ab August + Draghi gewinnt Vertrauensvotum + Sanktionen gegen Russland

  • Mit dem Gassparen wird es ernst
  • Draghi gewinnt Vertrauensvotum mit nur wenigen Stimmen 
  • Buchungen für Nord Stream 1 liegen bei 40 Prozent der Kapazität
  • Gaskrise: Kommission lockert Beihilferegeln
  • Neue Russland-Sanktionen sollen diesen Donnerstag in Kraft treten
  • Getreideexporte: Erdogan will Abkommen über Korridor noch diese Woche
  • Kommission erhöht Druck auf Orbán
  • Nur noch Sunak und Truss im Rennen um Johnson-Nachfolge
  • EU-Staaten wollen Verbraucherschutz stärken
  • EU will Apple-Ermittlung mit neuen Beweisen unterstützen
  • Presseschau
  • Michael Clauß – Mann für die Langstrecke
Liebe Leserin, lieber Leser,

von weiteren Manövern aus Moskau in Sachen Energieversorgung will man sich in Brüssel nicht weiter beeindrucken lassen. Schon ab August sollen die EU-Staaten 15 Prozent Gas einsparen – notfalls verpflichtend. Warum diese pauschale Rasenmäher-Methode gefährlich werden könnte, analysiert mein Kollege Manuel Berkel.

In Italien bahnen sich vorgezogene Neuwahlen an. Ministerpräsident Mario Draghi hat gestern zwar das Vertrauensvotum gewonnen, erwartet wird aber, dass er trotzdem bald erneut seinen Rücktritt bei Staatschef Sergio Mattarella anbieten wird. Isabel Cuesta Camacho berichtet aus Italien.

Allen Krisen und Konflikten zum Trotz bereitet sich auch Brüssel langsam aber sicher auf die Sommerpause vor. Doch EU-Diplomaten wie Michael Clauß arbeiten weiter unter Hochdruck. Der Deutsche muss mit den anderen Ständigen Vertretern der EU-Staaten neben den Sanktionen auch noch im Schnellverfahren den neuen Gas-Notfallplan der Kommission beraten.Till Hoppe stellt den Langstreckenläufer im Portrait vor.

Und hier noch einmal der Veranstaltungshinweis für Kurzentschlossene: Manuel Berkel diskutiert heute von 10 bis 11 Uhr mit Lion Hirth, Assistant Professor an der Hertie School, und Jens Völler, Head of Business Unit Gas Markets bei TEAM CONSULT, den Notfallplan für die Energieversorgung ohne russisches Gas. Die kostenfreie Registrierung ist bis kurz vor Veranstaltungsbeginn hier möglich.

Eine spannende Lektüre oder, um es mit den Worten von Boris Johnson bei seinem letzten parlamentarischen Auftritt gestern zu sagen: “Hasta la Vista, Baby”.

Ihre
Lisa-Martina Klein
Bild von Lisa-Martina  Klein

Analyse

Mit dem Gassparen wird es ernst

So viel Geschlossenheit wie in der Kommission, so viel Einigkeit wünscht sich Brüssel auch unter den EU-Mitgliedern. Gleich vier Mitglieder des Kollegiums präsentierten gestern den Gas-Notfallplan für den Winter – von Präsidentin Ursula von der Leyen über ihren Vize Frans Timmermans bis zu den Verantwortlichen für Energie und Binnenmarkt, Kadri Simson und Thierry Breton.

Den Ernst der Lage machte von der Leyen klar: “Russland erpresst uns und benutzt Energie als Waffe“. Mit dem Plan “Save gas for a safe winter” wolle sich die EU auf sämtliche möglichen Verläufe vorbereiten, sei es ein teilweiser oder auch ein vollständiger Stopp der Gas-Lieferungen aus Russland. Putin soll also kein Raum mehr gelassen werden, eine entschlossene Antwort der Staatengemeinschaft mit immer neuen Manövern hinauszuzögern.

EU rechnet mit Gas-Stopp Russlands ab Juli

Die Schritte entsprechen weitgehend den am Dienstag und vor einer Woche bekannt gewordenen Entwürfen (Europe.Table berichtete). Der Rat soll schon am 26. Juli eine Verordnung beschließen, deren Entwurf die Kommission gestern ebenfalls vorlegte. Klar ist seit gestern der Zeitplan: Schon ab August und bis Ende März soll jeder Mitgliedstaat seinen Gasverbrauch um 15 Prozent reduzieren. Vergleichszeitraum soll der Durchschnitt der Jahre 2016 bis 2021 sein, um auch härtere Winter zu berücksichtigen.

In einem ersten Schritt ist das Ziel noch freiwillig. Bis zum Ende der Heizperiode sollen so 45 Milliarden Kubikmeter (bcm) Gas eingespart werden. Nach den jüngsten Szenarien der Kommission bliebe in den Speichern Ende März so ein Puffer von 15 Prozent, wobei ein vollständiger russischer Lieferstopp ab Juli unterstellt wurde. Auch wenn wochenweise wieder etwas Gas aus Russland in die EU fließen sollte, wäre das aber kein Grund zur Entwarnung – und zwar mit Blick auf die übernächste Heizsaison.

Übernächster Winter macht Sorge

Schon mit den enormen Einsparungen in diesem Jahr ließen sich die Speicher bis Oktober 2023 nur zu 56 Prozent füllen. Angestrebt werden eigentlich 80 bis 90 Prozent, der übernächste Winter wird also voraussichtlich noch schwieriger.

Damit es nicht so weit kommt, setzt die Kommission auf die wirtschaftliche Rationalität der Mitgliedstaaten. Falls die Industrie eines Landes einknicke, seien auch andere Staaten durch die Abhängigkeiten in den gemeinsamen Lieferketten gefährdet, erklärt ein Kommissionsbeamter. Und falls ein Land keine geeigneten Einsparmaßnahmen umsetze und es zu einem regionalen Gasmangel komme, könnten Produktionsanlagen geschädigt werden, was zu hohen Kosten führe. Nicht zuletzt wirke sich eine funktionierende Solidarität auch dämpfend auf die Gaspreise aus.

Kommission könnte jederzeit Alarm ausrufen

Falls dies nicht ausreicht, will sich die Kommission mit der Verordnung die Befugnis einräumen lassen, auf eigene Initiative einen unionsweiten Alarm ausrufen zu können. Alternativ können mindestens drei Mitgliedstaaten darum ersuchen. Als Konsequenz wird das 15-prozentige Einsparziel verpflichtend. Voraussetzung ist eine starke Verknappung der Gasversorgung oder ein außergewöhnlich hoher Verbrauch.

In ihrer Mitteilung stellt die Kommission klar, dass der Alarm jederzeit in den nächsten Wochen oder Monaten ausgerufen werden könnte. Am kommenden Dienstag wird sich zeigen, ob die Energieminister im Rat diesen weitreichenden Befugnissen tatsächlich zustimmen.

Dabei würden viele Staaten mit dem pauschalen Ziel von 15 Prozent noch gut gestellt, denn die Rasenmäher-Methode berücksichtigt nicht den Zustand des europäischen Gasnetzes. Die Denkfabrik Bruegel hatte sich vor Kurzem ebenfalls für durchschnittliche Einsparungen in gleicher Höhe ausgesprochen, allerdings mit erheblichen Unterschieden in einzelnen europäischen Regionen.

Pauschale Einsparungen lassen Gasnetz außer Acht

Während Italien nur neun Prozent einsparen müsste, wären es in Deutschland satte 29 Prozent. Auch viele weitere Staaten müssten auf wesentlich mehr Gas verzichten als 15 Prozent. Grund sind die begrenzten Leitungskapazitäten, die nicht auf den Gasfluss von West nach Ost ausgelegt sind. Mit dem Stopp der russischen Lieferungen kommt mehr Gas aus Norwegen, den Niederlanden und den LNG-Terminals an der Nordsee, das etwa bis in die Slowakei fließen muss. “Der EU-Gasbinnenmarkt ist nicht perfekt vernetzt, was bedeutet, dass bestimmte Ländergruppen eine wesentlich stärkere Nachfragesenkung benötigen werden”, schreibt Bruegel.

Das pauschale 15-Prozent-Ziel der Kommission könnte also in vielen Staaten die wahren nötigen Einschnitte verschleiern. Für das einheitliche Ziel habe man sich entschieden, weil es transparent und schnell umzusetzen sei, begründete Timmermans gestern die Entscheidung.

Entschärfen könnten die Lage rasche Investitionen in die Leitungen und neue LNG-Terminals. Angekündigte Infrastruktur hat Bruegel bei seiner Berechnung nämlich nicht berücksichtigt. Erst am Dienstag hatte das Bundeswirtschaftsministerium angekündigt, dass bis Anfang 2023 drei neue schwimmende Regasifizierungsanlagen an der deutschen Nord- und Ostseeküste in Betrieb gehen sollen.

Auch mit LNG-Terminals müsste Deutschland 20 Prozent sparen

Nach einer überschlägigen Berechnung brächten die neuen LNG-Terminals Deutschland wohl näher an eine nötige Verbrauchsreduktion von 20 Prozent, sagte gestern Bruegel-Experte Ben McWilliams zu Europe.Table. Auch mit den milliardenteuren FSRUs wären in Deutschland also wohl immer noch überproportionale Anstrengungen nötig.

Immerhin: 20 Prozent Gaseinsparung sind genau die Größe, mit der zuletzt die Bundesnetzagentur in ihren Szenarien rechnete. Offiziell wurde dies als “gegriffene Zahl” heruntergespielt. Doch an ihr könnten Deutschlands Nachbarn im Winter die europäische Solidarität messen. “Tschechien, Österreich, die Slowakei und Slowenien werden stark von Deutschland abhängig sein, wenn die russischen Gaslieferungen durch die Ukraine ausbleiben”, schreibt Bruegel. “Ein Schlüsselfaktor wird sein, wie die Nachfrage in Süddeutschland reagiert und ob weiterhin ausreichend Gas nach Tschechien und Österreich fließt.”

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Draghi gewinnt Vertrauensvotum mit nur wenigen Stimmen 

Die Rechtsparteien Forza Italia von Silvio Berlusconi und Lega Nord von Matteo Salvini haben sich von Premierminister Mario Draghi abgewandt und am Mittwochmorgen erklärt, dass sie sich bei der Vertrauensabstimmung enthalten werden. Die Fünf-Sterne-Bewegung von Giuseppe Conte, die bereits in der vergangenen Woche der größte Verursacher der Regierungskrise war (Europe.Table berichtete), hatte der Koalition seit letzter Woche den Rücken gekehrt.

Draghi wartete nicht auf das Ergebnis der Abstimmung, die aufgrund der mangelnden Beteiligung als ungültig betrachtet werden könnte, und verließ den Saal des Palazzo Madame, bevor die offiziellen Ergebnisse bekannt gegeben wurden. Es wird erwartet, dass Draghi seinen Rücktritt erneut bei Staatspräsident Sergio Mattarella einreichen wird, was vorgezogene Neuwahlen auslösen und eine politische Krise verschärfen könnte. 

Obwohl die Regierung mit 95 Ja-Stimmen das Vertrauen erhielt, haben Forza Italia, Lega Nord und M5S nicht abgestimmt. Die M5S-Abgeordneten haben die Quorumsfähigkeit gewährleistet, indem sie im Plenarsaal geblieben sind.  Die Zahlen dieser Wahlen waren letztlich irrelevant, denn es ging darum, zu prüfen, ob er noch eine einheitliche Unterstützung hatte.  

Mario Draghi dankt Unterstützern der Regierung Italiens   

Der Tag der Abstimmung begann mit einer Rede Draghis, in der er die großen Erfolge seiner Exekutive in den letzten 17 Monaten skizzierte und auf die Gründe für den Zusammenbruch und die Notwendigkeit hinwies, die nationale Einheit wiederherzustellen, um voranzukommen. “Der Vertrauenspakt ist gebrochen, der einzige Weg nach vorne ist ein Neuanfang”, sagte Mario Draghi bei seinem Auftritt vor dem Senat am Mittwoch im Vorfeld der Abstimmung über das Vertrauensvotum.

Draghi hat daraufhin seine Bedingungen für das Vorankommen als Regierungschef formuliert und gegenüber den politischen Kräften sehr harsche Töne angeschlagen. Mario Draghi bezog sich dabei vor allem auf die Fünf-Sterne-Bewegung, die der Regierung Italiens in der vergangenen Woche nicht das Vertrauen ausgesprochen hat: “Einer Regierung, der man angehört, nicht das Vertrauen auszusprechen, hat eine klare politische Bedeutung. Es kann nicht ignoriert werden, weil es bedeuten würde, das Parlament zu ignorieren, es kann nicht ignoriert werden, weil es bedeuten würde, zuzulassen, dass es wieder passiert. Sie ist nicht zu verharmlosen, denn sie kommt nach Monaten des Konflikts und der Ultimaten”. 

Draghi erklärte, dass es nach seinem Rücktritt in der vergangenen Woche (Europe.Table berichtete) zwei Möglichkeiten gegeben habe: “Die eine war, vor das Parlament zu gehen, meinen Rücktritt zu bestätigen und ohne Abstimmung zu gehen. Die Unterstützung, die ich im Lande für die Kontinuität der Regierung gesehen habe, ist beispiellos und nicht zu übersehen. Diese Unterstützung hat mich veranlasst, in den Plenarsaal zu kommen und den Regierungspakt zur Abstimmung zu stellen.” Sowohl in Brüssel als auch in Washington und beim ukrainischen Präsidenten Volodymyr Selenskyj wurde Draghi in den letzten Tagen aufgefordert, seine Rücktrittsentscheidung vom Donnerstag rückgängig zu machen. 

Regierungskrise vor dem Hintergrund unvollendeter Reformen 

Draghi hatte wiederholt erklärt, dass er nur dann an der Spitze der Regierung bleiben würde, wenn er von den Parteien der großen Koalition so viel Unterstützung wie möglich bekäme. Forza Italia und die Lega Nord ließen Draghi mit einem Antrag auf eine neue Exekutive ohne die Fünf-Sterne-Bewegung allein. 

Der Premierminister forderte die Vollendung des Sanierungsplans für die Zeit nach der Pandemie und die von der Europäischen Union geforderten Reformen, damit die vereinbarten Mittel (bis zu 230 Milliarden Euro) weiter fließen können. Er verwies auch auf internationale Angelegenheiten, insbesondere auf die Unterstützung für die Ukraine, die auf fortgesetzten Waffenlieferungen beruht. Eine Maßnahme, die die 5-Sterne-Bewegung ablehnt.  

Die Tageszeitung La Repubblica kommentierte die politische Krise und die wahrscheinlichen letzten Stunden der Regierung mit den Worten: “Conte hat die Dinge durcheinander gebracht. Vielleicht hat Draghi ihm zu viel Bedeutung beigemessen, aber es besteht kein Zweifel daran, dass Mitte-Rechts heute die entscheidende Wahl getroffen hat”. 

Auch die Forza Italia hat heute einige ihrer Mitglieder verloren. Maria Stella Gelmini, Ministerin für regionale Angelegenheiten, hat Forza Italia verlassen: “Ich verlasse die Partei, sie hat sich von den Italienern abgewandt. Heute müsse man ohne Wenn und Aber zu Draghi stehen. Die Mitte-Rechts-Bewegung hat es geschafft, Conte die Verantwortung für die Krise abzunehmen. Diese Forza Italia ist nicht die politische Bewegung, in der ich mich seit fast fünfundzwanzig Jahren engagiere”, fuhr Gelmini fort, “ich kann nicht eine Minute länger in dieser Partei bleiben”. 

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  • Mario Draghi

Termine

21.07.2022 – 10:00-11:00 Uhr, online
Europe.Table, Podiumsdiskussion Gas-Notfallplan der EU-Kommission
Die Referenten analysieren den Notfallplan für die Energieversorgung der EU-Kommission und diskutieren Möglichkeiten, die Gas-Krise zu bewältigen. INFOS & ANMELDUNG

22.07.2022 – 20:00-21:30 Uhr, Augsburg
FNS, Diskussion Das Comeback der NATO – Das Bündnis zwischen Erweiterung und Krisenbewältigung
Bei dieser Veranstaltung der Friedrich Naumann Stiftung (FNS) werden Putins Krieg in der Ukraine sowie die Erweiterung der NATO thematisiert. INFOS & ANMELDUNG

News

Reduzierte Gasmengen durch Nord Stream 1 erwartet

Nach der Wartung der Gaspipeline Nord Stream 1 nimmt Russland die Gaslieferungen voraussichtlich nur in reduzierter Menge wieder auf. Die Buchungen für Gaslieferungen über Nord Stream 1 lägen auf der selben Höhe wie vor den angekündigten Wartungsarbeiten, teilte der Netzwerkbetreiber Gascade am Mittwoch mit. Die gemeldeten Nominierungen entsprächen damit einer Gasmenge von etwa 40 Prozent der eigentlichen Kapazität.

Der Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, betonte, die Nominierungen könnten sich auch noch ändern. Nach zunächst nominierten 800 Gigawattstunden lägen sie nach einer Änderung durch Gazprom nun für Donnerstag bei 530 Gigawattstunden, teilte Müller mit. Das entspreche 30 Prozent der Auslastung. “Weitere Änderungen sind möglich”, betonte Müller.

Gaspipeline Nord Stream 1 war zahn Tage außer Betrieb

Am 10. Juli, dem letzten Tag vor der jährlichen Wartung, war Gas mit einer Energiemenge von knapp 700 Gigawattstunden geflossen. Die Nominierungen geben einen Hinweis auf die tatsächlichen Gasflüsse, der erst später einsetzen.

Über die Pipeline erhält Deutschland einen Großteil des Gases aus Russland. Wegen einer geplanten Wartung war sie insgesamt zehn Tage außer Betrieb. Gespannt wird nun auf Anzeichen gewartet, dass Russland den Gashahn wieder aufdreht. Zwei den Plänen für den russischen Gas-Export vertraute Personen hatten Reuters gesagt, Russland wolle seine Gas-Lieferungen über Nord Stream 1 wieder aufnehmen – allerdings in reduziertem Umfang. Schon vor Wartungsbeginn hatte der russische Gas-Monopolist Gazprom die Kapazität der Lieferungen durch Nord Stream 1 auf 40 Prozent beschnitten. rtr

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Gaskrise: Kommission lockert Beihilferegeln

Die Europäische Kommission lockert vorübergehend die Regeln für staatliche Beihilfen, um die Bemühungen der EU zu unterstützen, die Abhängigkeit von russischer Energie zu verringern. Ziel sei es, den Ausbau von erneuerbare Energien und die Dekarbonisierung der Industrie zu unterstützen, sagte Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager gestern im Rahmen der Vorstellung der Notfallsplans für den Winter.

Der befristete Beihilferahmen soll es den Mitgliedstaaten erleichtern, Förderprogramme für Projekte etwa für grünen Wasserstoff, Biogas oder Wärmepumpen aufzulegen. Zudem sollen sie Unternehmen besser dabei unterstützen können, auf nicht-fossilen Brennstoffe umzusteigen und Energie einzusparen.

EU vergrößert Spielraum bei Beihilfen für Unternehmen

Zudem vergrößert die Kommission als Wettbewerbshüterin in der EU den Spielraum für die finanzielle Unterstützung von Unternehmen, die unter den Sanktionen gegen Russland leiden. Die maximal zulässigen Beihilfen steigen von bisher 400.000 Euro auf 500.000 Euro. Bei Unternehmen im Agrarsektor liegt die neue Obergrenze bei 62.000 Euro.

In Einzelfällen dürfen die Regierungen überdies Firmen helfen, die wegen Engpässen von der Gasversorgung abgeschnitten werden. Sie dürfen überdies Energieversorger beim Füllen der Gasspeicher finanziell, oder, unter bestimmten Bedingungen, wenn diese in der jetzigen Lage klimaschädliche Kohlekraftwerke wieder ans Netz nehmen. rtr/tho

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Neue Russland-Sanktionen sollen heute in Kraft treten

Die neuen Russland-Sanktionen der EU sollen noch heute (Donnerstag) in Kraft treten. Der Ausschuss der ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten brachte am Mittwoch in Brüssel das schriftliche Beschlussverfahren auf den Weg, wie Diplomaten der Deutschen Presse-Agentur in Brüssel bestätigten. Es gilt als Formalie, da der Einleitung des Verfahrens normalerweise nur zugestimmt wird, wenn alle EU-Hauptstädte keine Einwände mehr haben.

Das neue Paket mit Russland-Sanktionen der EU (Europe.Table berichtete) umfasst ein Einfuhrverbot für russisches Gold und sieht vor, die Exportkontrollen für Spitzentechnologie sowie militärisch nutzbare zivile Güter zu verschärfen. Weitere Personen, die den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine unterstützen, müssen damit rechnen, dass ihre Vermögenswerte in der EU eingefroren werden und dass sie nicht mehr in die EU einreisen dürfen. Dazu gehören unter anderem Mitglieder der russisch-nationalistischen Motorradrockergruppe “Nachtwölfe” sowie der Schauspieler Wladimir Maschkow (“Mission: Impossible – Phantom Protokoll”). dpa

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Getreideexporte: Erdogan will Abkommen über Korridor noch diese Woche

Der Präsident der Türkei Recep Tayyip Erdogan kündigte an, dass eine mögliche Vereinbarung über die Wiederaufnahme der Getreide-Exporte aus der Ukraine durch das Schwarze Meer noch in dieser Woche getroffen werden könnte (Europe.Table berichtete). Vergangene Woche war bereits auf Initiative der Vereinten Nationen eine allgemeine Einigung erzielt worden.

“Bei den Gesprächen in Istanbul in der vergangenen Woche wurde eine Einigung über die allgemeinen Grundzüge des Prozesses im Rahmen des UN-Plans erzielt”, sagte Erdogan auf dem Rückflug von Teheran, wo er mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin zusammentraf. Jetzt wolle man diese Vereinbarung in einem schriftlichen Dokument festhalten. “Wir hoffen, dass der Plan in den kommenden Tagen umgesetzt werden kann”, fügte Erdogan hinzu. Am Montag hieß es aus Ankara bereits, dass ein Treffen zwischen Russland, der Ukraine, der Türkei und den Vereinten Nationen “wahrscheinlich” noch diese Woche stattfinden werde.

Erdogan betonte außerdem, dass die Türkei und Russland ihre Solidarität in Bezug auf Erdgas und das Atomkraftwerk Akkuyu fortsetzen würden. Er und Putin hätten auch über die Beschaffung von Amphibienflugzeugen aus Russland gesprochen. rtr/luk

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Kommission erhöht Druck auf Orbán

Die EU-Kommission will mit finanziellen Sanktionen gegen Ungarn Ernst machen, wenn Regierungschef Viktor Orbán nicht wirksam gegen die Korruption vorgeht. Die bisher angebotenen Maßnahmen seien nicht ausreichend, sagte ein Kommissionssprecher gestern Abend. Ungarn habe nun einen Monat Zeit, nachzulegen. Dann werde die Behörde entscheiden, ob sie dem Rat der Mitgliedstaaten Maßnahmen nach dem Konditionalitätsmechanismus vorschlage.

Gesetzesentwürfe der Orbán-Regierung gegen Korruption

Die Behörde erhöht damit deutlich den Druck im Verfahren wegen rechtsstaatlicher Mängel in Ungarn. Sollte Budapest den Forderungen – vor allem nach einem entschiedeneren Vorgehen gegen den Missbrauch von EU-Geldern – nicht nachkommen, könnten Rat und Kommission einen Teil der Milliardentransfers aus dem EU-Haushalt einfrieren. Ohne weitreichende Zugeständnisse dürfte die Orbán-Regierung auch keinen Zugriff auf die 7,2 Milliarden Euro erhalten, die dem Land eigentlich aus dem Wiederaufbaufonds zustehen.

Die Regierung hatte in letzter Minute Zugeständnisse gemacht. Justizministerin Judit Varga reichte am Dienstag im Parlament zwei Gesetzesentwürfe ein, die für eine wirksamere Korruptionsbekämpfung sowie für eine transparentere Gesetzgebung sorgen sollen. Diese und mögliche weitere Maßnahmen würden in den kommenden Wochen analysiert, sagte der Kommissionssprecher. “Die Kommission ist weiter offen für einen Dialog, um Lösungen zu finden.”

Neue Gesetze nur nach öffentlicher Debatte

Die von Varga vorgelegten Gesetzesentwürfe sehen zum einen vor, dass Bürger künftig vor Gericht klagen können, wenn die Staatsanwaltschaft aus ihrer Sicht Korruptionsermittlungen willkürlich einstellt. Der zweite Entwurf sieht vor, dass Gesetze vor ihrer Billigung im Parlament grundsätzlich einer öffentlichen Debatte unterworfen werden müssen. Derzeit ist es häufig der Fall, dass wichtige Gesetze in Dringlichkeitsverfahren innerhalb von 24 Stunden durchs Parlament gepeitscht werden.

Die Anti-Korruptions-Organisation Transparency International begrüßte die Gesetzesinitiativen als “nützlich und notwendig”. Zugleich hält sie das neue Klagerecht für Bürger gegen eingestellte Korruptionsermittlungen für ungenügend. “Es bringt keine Abhilfe, wenn die Strafbehörden jahrelang auf einem Fall sitzen”, hieß es in einer Stellungnahme der Organisation. tho/dpa

  • Europapolitik
  • Rechtsstaatlichkeit
  • Ungarn

Nur noch Sunak und Truss im Rennen um Johnson-Nachfolge

Im Rennen um die Nachfolge des britischen Premierministers Boris Johnson sind nur noch zwei Finalisten. Ex-Finanzminister Rishi Sunak und Außenministerin Liz Truss erhielten bei der jüngsten Abstimmung der konservativen Abgeordneten am Mittwoch genügend Stimmen, um in die Endrunde einzuziehen (Europe.Table berichtete). Die wenigsten Stimmen bekam Handelsstaatsekretärin Penny Mordaunt, die damit aus dem Wettbewerb ausschied. Für Sunak votierten 137 Abgeordnete, für Truss 113 und für Mordaunt 105.

Entscheidung zwischen Rishi Sunak und Liz Truss per Briefwahl

Nach dem 21. Juli sollen dann die 200.000 Mitglieder der Partei per Briefwahl zwischen Sunak und Truss als zukünftigen Vorsitzenden entscheiden. Das Ergebnis wird am 5. September bekanntgegeben. Der Nachfolger Johnsons als Vorsitzender der Partei steht automatisch an der Spitze der Regierung, da die Tories die größte Partei im Unterhaus sind.

Johnson hatte sich auch nach mehreren Verfehlungen nicht zu einem Rücktritt durchringen können. Erst nach dem Abgang zahlreicher Mitarbeiter aus Protest gegen Johnsons Vorgehen hatte er sein Ausscheiden angekündigt (Europe.Table berichtete). Er will aber im Amt bleiben, bis die Nachfolge geklärt ist. rtr

  • Boris Johnson
  • Großbritannien

EU-Staaten wollen Verbraucherschutz stärken

Der Schutz für Verbraucher, die im Internet einkaufen, soll nach dem Willen der EU-Staaten gestärkt werden. Zudem einigten sich die 27 Mitgliedstaaten am Mittwoch auf neue Vorgaben, die technische Produkte wie drahtlose Kopfhörer sicherer machen sollen, wie der Rat der EU-Staaten mitteilte.

Demnach müssen Online-Marktplätze künftig etwa sicherstellen, dass sie ihre Händler und deren Angebote kennen. Zudem sollen sie verpflichtet werden, eine Kontaktperson zu benennen, die für die Produktsicherheit zuständig ist. Außerdem sollten etwa die Vorschriften für den Rückruf von Produkten verbessert werden. Bevor die Regeln in Kraft treten können, müssen die EU-Staaten sich nun mit dem Europaparlament auf eine gemeinsame Position einigen.

Die EU-Kommission hatte die neuen Regeln im vergangenen Jahr unter Verweis auf den gestiegenen Anteil an Online-Käufen sowie den technologischen Wandel vorgeschlagen. In diesem Zusammenhang nannte die Behörde etwa Risiken bei der Cybersicherheit. dpa

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EU will Apple-Ermittlung mit neuen Beweisen unterstützen

Die EU-Wettbewerbshüter werden ihre Ermittlungen gegen Apple mit neuen Beweisen, aber nicht mit neuen Anklagen verstärken. Die Hoffnung ist, dass dies den Fall beschleunigt, erklärten mit der Angelegenheit vertraute Personen.

Die EU-Kommission hatte dem iPhone-Hersteller im vergangenen Jahr vorgeworfen, dass seine App-Store-Regeln den Wettbewerb auf dem Musik-Streaming-Markt verzerren. Apple verpflichtet die Entwickler dazu, das Apple-eigene In-App-Zahlungssystem zu verwenden (Europe.Table berichtete). Außerdem hindert Apple sie daran, die Nutzer über andere Kaufoptionen zu informieren.

Apple war ins Fadenkreuz der Europäischen Kommission geraten, nachdem Spotify sich beschwert hatte, dass der US-Technologiekonzern die Konkurrenz zu seinem eigenen Musik-Streaming-Dienst Apple Music auf iPhones in unfairer Weise einschränkt. Die EU-Wettbewerbsbehörde legte ihre Vorwürfe in einer sogenannten Mitteilung der Beschwerdepunkte dar.

EU wird Apple wahrscheinlich Tatbestandsschreiben senden

Die Aufsichtsbehörde erwog daraufhin, eine zusätzliche Mitteilung der Beschwerdepunkte zu versenden, wie eine mit der Angelegenheit vertraute Person Anfang des Jahres gegenüber Reuters erklärte. In solchen Dokumenten werden in der Regel neue Vorwürfe oder Änderungen an den ursprünglichen Vorwürfen dargelegt.

Es wird nun erwartet, dass die Kommission stattdessen ein Tatbestandsschreiben an Apple schickt, sagten andere mit der Angelegenheit vertraute Personen und fügten hinzu, dass es noch keine endgültige Entscheidung gebe. Ein Tatbestandsschreiben enthält in der Regel neue Beweise, die die ursprünglichen Vorwürfe gegen die Unternehmen bekräftigen, die dann mit einer schriftlichen Stellungnahme antworten können. Die Kommission lehnte eine Stellungnahme ab. Apple reagierte bislang nicht auf Anfragen zur Stellungnahme. rtr

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  • Wettbewerbsverfahren

Presseschau

Erneuerbare Energien: Spanien und Portugal gehen beim Ausbau voran RND
Historische Dürre in Portugal: Wer bekommt noch Wasser, wenn es kaum mehr welches gibt? HANDELSBLATT
Griechenland als Vorreiter beim Transport von “grüner” Energie DERSTANDARD
Andere Partner hätten Vorrang: Polen will Gasvorräte ungern mit Deutschland teilen RND

Heads

Michael Clauß – Mann für die Langstrecke

Botschafter Michael Clauß ist Ständiger Vertreter Deutschlands bei der EU.
Michael Clauß ist Ständiger Vertreter Deutschlands bei der EU.

Es ist 9 Uhr morgens, aber Clauß verzichtet dankend auf einen Kaffee. Er habe schon zwei Frühstückstermine hinter sich, sagt der deutsche EU-Botschafter Michael Clauß. Sein Koffeinbedarf ist daher gedeckt. Der nächste Termin steht bereits an, er führt Clauß in den sogenannten Beichtstuhl. Das Kabinett von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen lotet wieder einmal mehr in kleinen Gruppen aus, welche Befindlichkeiten die Mitgliedstaaten in Bezug auf die neuen Sanktionen gegen Russland haben (Europe.Table berichtete).

Der Brüsseler Politikbetrieb geht im August wieder in die obligatorische Sommerpause, Krieg und Krisen zum Trotz. Ausklingen lassen aber kann Clauß es nicht. Die Ständigen Vertreter der EU-Staaten müssen neben den Sanktionen auch noch im Schnellverfahren den neuen Gas-Notfallplan der Kommission beraten, bevor sich am kommenden Dienstag die Energieminister damit beschäftigen.

Krise türmt sich inzwischen auf Krise, und Clauß ist mittendrin in den politischen Bemühungen der EU, diese zu bewältigen. Die großen Linien handeln die Chefs untereinander aus – von der Leyen, Olaf Scholz, Emmanuel Macron und deren Sherpas. Für Vorbereitung und Umsetzung aber brauchen sie den AStV, den Ausschuss der Ständigen Vertreter. Die Brüsseler Statthalter prüfen und beschließen im Eiltempo die Sanktionspakete und beugen sich so lange über die Entwürfe der Schlussfolgerungen für die Europäischen Räte, bis das allermeiste konsentiert ist. Sonst kämen die Staats- und Regierungschefs in den Gipfelnächten gar nicht mehr ins Bett.

Der 60-Jährige kennt den EU-Betrieb wie kaum ein anderer. Michael Clauß hat die vergangenen beiden Ratspräsidentschaften Deutschlands gemanagt, 2020 als Botschafter, 2007 als stellvertretender Abteilungsleiter im Auswärtigen Amt. Den Prozess zur Erarbeitung einer europäischen Verfassung hat er als Leiter des deutschen Konventsekretariats begleitet, vom Start 2002 weg bis zu dessen bitteren Ende – den ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden. Wegen seiner Europakompetenz hatte der damalige Staatssekretär Gunter Pleuger den Diplomaten zuvor zu sich geholt, zunächst als persönlichen Referenten, dann als Leiter des Büros der Staatssekretäre.  

Michael Clauß wurde Botschafter in Brüssel statt Freetown

Vorgestellt hatte sich Clauß das ganz anders. Er sollte nach seinen ersten Jahren im AA eigentlich Botschafter in Sierra Leone werden. “Meine Frau und ich fanden das Abenteuer sehr reizvoll”, sagt er. Wenige Stunden vor Abflug aber wurde in dem westafrikanischen Land geputscht, die deutsche Vertretung in der Hauptstadt Freetown musste evakuiert werden. Also musste eine andere Verwendung für Clauß gefunden werden – als Botschaftsrat an der EU-Vertretung. “Dass ich stattdessen nach Brüssel entsandt wurde, war reiner Zufall”, sagt er.

Begeistert war Clauß davon zunächst nicht. Er kannte Belgien aus der Schulzeit, sein Vater war als Bundeswehr-Offizier zeitweise beim Nato-Oberkommando in Mons stationiert. Clauß aber wollte ferne Länder kennenlernen. Auch deshalb hatte er sich, nach zweijährigem Dienst als Zeitsoldat, für den diplomatischen Dienst entschieden – und gegen die Truppe, in der es sein Vater bis zum Vier-Sterne General brachte.

So aber wurde es Brüssel statt Freetown. Anschließend folgten 14 Jahre in der Zentrale des AA am Werderschen Markt, zuletzt als Leiter der Europaabteilung. 2013 sei es dann Zeit für einen Tapetenwechsel gewesen, sagt Michael Clauß: Er wurde Botschafter in China. “Es ist heilsam und hilfreich, die Dinge auch mal von außen zu betrachten”, meint er. “Von Peking aus betrachtet ist Brüssel nicht der Nabel der Welt.” Verglichen mit der enormen Dynamik in China seien die Prozesse in Europa oft mühsam und bürokratisch.

Tür zu einer abgeschirmten Welt

Für Ausländer ist es schwierig, in Peking hinter die Kulissen des chinesischen Systems zu blicken. Kontakt zu westlichen Diplomaten ist für KP-Kader unerwünscht. Seine Frau aber verschaffte Clauß Einblicke, die er sonst nicht bekommen hätte. Über sie bekam er Zugang zur chinesischen Elite, Mitgliedern der sogenannten Revolutionary Families: Söhne, Töchter und Enkel der einstigen Weggefährten von Mao, ohne offizielle Parteiposition, aber dennoch einflussreich und gut informiert. Viele von ihnen wurden an US-Eliteuniversitäten ausgebildet, sprechen daher sehr gut Englisch.

“Die Frauen haben sich am Wochenende hin und wieder verabredet und wir Männer sind einfach mitgekommen”, erzählt Clauß. In diesem Rahmen sei es möglich gewesen, teils recht offen miteinander zu sprechen. “Das hat mir die Tür aufgestoßen zu einer abgeschirmten Welt. Und es half dabei, die offiziellen Informationen einzuordnen.”

Illusionen über Funktionsweise und Machtanspruch des Systems macht er sich seither keine mehr. “China leitet aus seiner Entwicklung ein großes Selbstbewusstsein ab und stellt unser politisches und gesellschaftliches System infrage”, sagt er. Die KP werde zunehmend repressiv und versuche, die internationale Ordnung in ihrem Sinne umzukrempeln. So diene die Belt-and-Road-Initiative dazu, ein hierarchisches Verhältnis zu anderen Staaten zu etablieren, mit Peking an der Spitze. “In Europa wurde lange nicht gesehen, dass China ein systemischer Rivale ist. Mir war wichtig, hier in Brüssel zu vermitteln, dass wir diese Naivität ablegen müssen.”

Inzwischen ist diese Botschaft angekommen. Clauß hat nach der Versetzung nach Brüssel 2018 dazu beigetragen, Hand in Hand mit anderen China-Kennern wie dem Grünen-Europaabgeordneten Reinhard Bütikofer. Inzwischen hat die EU ein 300 Milliarden Euro schweres Gegenstück zur Neuen Seidenstraße aufgelegt (Europe.Table berichtete). “Global Gateway hat das Potenzial, eine echte Alternative zu sein”, ist Clauß überzeugt. “Jetzt aber müssen wir voranschreiten, und zwar wertebasiert, aber auch realistisch vorgehen, um möglichst viele Länder einzubinden.”

Parteiübergreifend geschätzt

In Berlin wird der Diplomat für seine Kompetenz und seine Sachlichkeit parteiübergreifend geschätzt, auch die Ampel-Regierung hält an ihm fest. Clauß selbst hat kein Parteibuch, das verträgt sich nicht mit seinem Beamtenethos. Er versucht, die Brüsseler Einblicke in die europapolitischen Abstimmungsprozesse in der Bundesregierung einzuspeisen, etwa was die Mehrheitsverhältnisse im Rat und Europaparlament betrifft.

Bisweilen muss er seine Verbindungen in die Ministerien und ins Kanzleramt auch einsetzen, wenn sich die Ministerien schwer damit tun, eine abgestimmte Position zu formulieren. Das “German Vote” ist in Brüssel sprichwörtlich (Europe.Table berichtete), in Clauß’ Amtszeit musste sich Deutschland aber erst einmal mangels Einigkeit im Rat der Stimme enthalten – beim jüngsten Treffen der Innenminister war das der Fall.

Um den Stress abzuschütteln, geht Clauß jedes Wochenende viele, viele Kilometer laufen. Bisweilen steigt er auch aufs Rennrad. Unter der Woche versucht er, sich einen weiteren Termin im Kalender dafür freizuhalten. “Ich bin Langstreckenläufer, das ist eine echte Leidenschaft”, sagt er. Er brauche den sportlichen Ausgleich für die physische Gesundheit, aber auch für die geistige Hygiene.

Dass ihn seine Karriere statt in den afrikanischen Regenwald in den EU-Paragrafendschungel geführt hat, damit hat Clauß längst seinen Frieden gemacht. “Brüssel ist zwar nicht so exotisch”, findet er. “Abenteuerlich geht es hier aber bisweilen auch zu.” Till Hoppe

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  • Europapolitik

Europe.Table Redaktion

EUROPE.TABLE REDAKTION

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    • Neue Russland-Sanktionen sollen diesen Donnerstag in Kraft treten
    • Getreideexporte: Erdogan will Abkommen über Korridor noch diese Woche
    • Kommission erhöht Druck auf Orbán
    • Nur noch Sunak und Truss im Rennen um Johnson-Nachfolge
    • EU-Staaten wollen Verbraucherschutz stärken
    • EU will Apple-Ermittlung mit neuen Beweisen unterstützen
    • Presseschau
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    Liebe Leserin, lieber Leser,

    von weiteren Manövern aus Moskau in Sachen Energieversorgung will man sich in Brüssel nicht weiter beeindrucken lassen. Schon ab August sollen die EU-Staaten 15 Prozent Gas einsparen – notfalls verpflichtend. Warum diese pauschale Rasenmäher-Methode gefährlich werden könnte, analysiert mein Kollege Manuel Berkel.

    In Italien bahnen sich vorgezogene Neuwahlen an. Ministerpräsident Mario Draghi hat gestern zwar das Vertrauensvotum gewonnen, erwartet wird aber, dass er trotzdem bald erneut seinen Rücktritt bei Staatschef Sergio Mattarella anbieten wird. Isabel Cuesta Camacho berichtet aus Italien.

    Allen Krisen und Konflikten zum Trotz bereitet sich auch Brüssel langsam aber sicher auf die Sommerpause vor. Doch EU-Diplomaten wie Michael Clauß arbeiten weiter unter Hochdruck. Der Deutsche muss mit den anderen Ständigen Vertretern der EU-Staaten neben den Sanktionen auch noch im Schnellverfahren den neuen Gas-Notfallplan der Kommission beraten.Till Hoppe stellt den Langstreckenläufer im Portrait vor.

    Und hier noch einmal der Veranstaltungshinweis für Kurzentschlossene: Manuel Berkel diskutiert heute von 10 bis 11 Uhr mit Lion Hirth, Assistant Professor an der Hertie School, und Jens Völler, Head of Business Unit Gas Markets bei TEAM CONSULT, den Notfallplan für die Energieversorgung ohne russisches Gas. Die kostenfreie Registrierung ist bis kurz vor Veranstaltungsbeginn hier möglich.

    Eine spannende Lektüre oder, um es mit den Worten von Boris Johnson bei seinem letzten parlamentarischen Auftritt gestern zu sagen: “Hasta la Vista, Baby”.

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    Lisa-Martina Klein
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    Analyse

    Mit dem Gassparen wird es ernst

    So viel Geschlossenheit wie in der Kommission, so viel Einigkeit wünscht sich Brüssel auch unter den EU-Mitgliedern. Gleich vier Mitglieder des Kollegiums präsentierten gestern den Gas-Notfallplan für den Winter – von Präsidentin Ursula von der Leyen über ihren Vize Frans Timmermans bis zu den Verantwortlichen für Energie und Binnenmarkt, Kadri Simson und Thierry Breton.

    Den Ernst der Lage machte von der Leyen klar: “Russland erpresst uns und benutzt Energie als Waffe“. Mit dem Plan “Save gas for a safe winter” wolle sich die EU auf sämtliche möglichen Verläufe vorbereiten, sei es ein teilweiser oder auch ein vollständiger Stopp der Gas-Lieferungen aus Russland. Putin soll also kein Raum mehr gelassen werden, eine entschlossene Antwort der Staatengemeinschaft mit immer neuen Manövern hinauszuzögern.

    EU rechnet mit Gas-Stopp Russlands ab Juli

    Die Schritte entsprechen weitgehend den am Dienstag und vor einer Woche bekannt gewordenen Entwürfen (Europe.Table berichtete). Der Rat soll schon am 26. Juli eine Verordnung beschließen, deren Entwurf die Kommission gestern ebenfalls vorlegte. Klar ist seit gestern der Zeitplan: Schon ab August und bis Ende März soll jeder Mitgliedstaat seinen Gasverbrauch um 15 Prozent reduzieren. Vergleichszeitraum soll der Durchschnitt der Jahre 2016 bis 2021 sein, um auch härtere Winter zu berücksichtigen.

    In einem ersten Schritt ist das Ziel noch freiwillig. Bis zum Ende der Heizperiode sollen so 45 Milliarden Kubikmeter (bcm) Gas eingespart werden. Nach den jüngsten Szenarien der Kommission bliebe in den Speichern Ende März so ein Puffer von 15 Prozent, wobei ein vollständiger russischer Lieferstopp ab Juli unterstellt wurde. Auch wenn wochenweise wieder etwas Gas aus Russland in die EU fließen sollte, wäre das aber kein Grund zur Entwarnung – und zwar mit Blick auf die übernächste Heizsaison.

    Übernächster Winter macht Sorge

    Schon mit den enormen Einsparungen in diesem Jahr ließen sich die Speicher bis Oktober 2023 nur zu 56 Prozent füllen. Angestrebt werden eigentlich 80 bis 90 Prozent, der übernächste Winter wird also voraussichtlich noch schwieriger.

    Damit es nicht so weit kommt, setzt die Kommission auf die wirtschaftliche Rationalität der Mitgliedstaaten. Falls die Industrie eines Landes einknicke, seien auch andere Staaten durch die Abhängigkeiten in den gemeinsamen Lieferketten gefährdet, erklärt ein Kommissionsbeamter. Und falls ein Land keine geeigneten Einsparmaßnahmen umsetze und es zu einem regionalen Gasmangel komme, könnten Produktionsanlagen geschädigt werden, was zu hohen Kosten führe. Nicht zuletzt wirke sich eine funktionierende Solidarität auch dämpfend auf die Gaspreise aus.

    Kommission könnte jederzeit Alarm ausrufen

    Falls dies nicht ausreicht, will sich die Kommission mit der Verordnung die Befugnis einräumen lassen, auf eigene Initiative einen unionsweiten Alarm ausrufen zu können. Alternativ können mindestens drei Mitgliedstaaten darum ersuchen. Als Konsequenz wird das 15-prozentige Einsparziel verpflichtend. Voraussetzung ist eine starke Verknappung der Gasversorgung oder ein außergewöhnlich hoher Verbrauch.

    In ihrer Mitteilung stellt die Kommission klar, dass der Alarm jederzeit in den nächsten Wochen oder Monaten ausgerufen werden könnte. Am kommenden Dienstag wird sich zeigen, ob die Energieminister im Rat diesen weitreichenden Befugnissen tatsächlich zustimmen.

    Dabei würden viele Staaten mit dem pauschalen Ziel von 15 Prozent noch gut gestellt, denn die Rasenmäher-Methode berücksichtigt nicht den Zustand des europäischen Gasnetzes. Die Denkfabrik Bruegel hatte sich vor Kurzem ebenfalls für durchschnittliche Einsparungen in gleicher Höhe ausgesprochen, allerdings mit erheblichen Unterschieden in einzelnen europäischen Regionen.

    Pauschale Einsparungen lassen Gasnetz außer Acht

    Während Italien nur neun Prozent einsparen müsste, wären es in Deutschland satte 29 Prozent. Auch viele weitere Staaten müssten auf wesentlich mehr Gas verzichten als 15 Prozent. Grund sind die begrenzten Leitungskapazitäten, die nicht auf den Gasfluss von West nach Ost ausgelegt sind. Mit dem Stopp der russischen Lieferungen kommt mehr Gas aus Norwegen, den Niederlanden und den LNG-Terminals an der Nordsee, das etwa bis in die Slowakei fließen muss. “Der EU-Gasbinnenmarkt ist nicht perfekt vernetzt, was bedeutet, dass bestimmte Ländergruppen eine wesentlich stärkere Nachfragesenkung benötigen werden”, schreibt Bruegel.

    Das pauschale 15-Prozent-Ziel der Kommission könnte also in vielen Staaten die wahren nötigen Einschnitte verschleiern. Für das einheitliche Ziel habe man sich entschieden, weil es transparent und schnell umzusetzen sei, begründete Timmermans gestern die Entscheidung.

    Entschärfen könnten die Lage rasche Investitionen in die Leitungen und neue LNG-Terminals. Angekündigte Infrastruktur hat Bruegel bei seiner Berechnung nämlich nicht berücksichtigt. Erst am Dienstag hatte das Bundeswirtschaftsministerium angekündigt, dass bis Anfang 2023 drei neue schwimmende Regasifizierungsanlagen an der deutschen Nord- und Ostseeküste in Betrieb gehen sollen.

    Auch mit LNG-Terminals müsste Deutschland 20 Prozent sparen

    Nach einer überschlägigen Berechnung brächten die neuen LNG-Terminals Deutschland wohl näher an eine nötige Verbrauchsreduktion von 20 Prozent, sagte gestern Bruegel-Experte Ben McWilliams zu Europe.Table. Auch mit den milliardenteuren FSRUs wären in Deutschland also wohl immer noch überproportionale Anstrengungen nötig.

    Immerhin: 20 Prozent Gaseinsparung sind genau die Größe, mit der zuletzt die Bundesnetzagentur in ihren Szenarien rechnete. Offiziell wurde dies als “gegriffene Zahl” heruntergespielt. Doch an ihr könnten Deutschlands Nachbarn im Winter die europäische Solidarität messen. “Tschechien, Österreich, die Slowakei und Slowenien werden stark von Deutschland abhängig sein, wenn die russischen Gaslieferungen durch die Ukraine ausbleiben”, schreibt Bruegel. “Ein Schlüsselfaktor wird sein, wie die Nachfrage in Süddeutschland reagiert und ob weiterhin ausreichend Gas nach Tschechien und Österreich fließt.”

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    Draghi gewinnt Vertrauensvotum mit nur wenigen Stimmen 

    Die Rechtsparteien Forza Italia von Silvio Berlusconi und Lega Nord von Matteo Salvini haben sich von Premierminister Mario Draghi abgewandt und am Mittwochmorgen erklärt, dass sie sich bei der Vertrauensabstimmung enthalten werden. Die Fünf-Sterne-Bewegung von Giuseppe Conte, die bereits in der vergangenen Woche der größte Verursacher der Regierungskrise war (Europe.Table berichtete), hatte der Koalition seit letzter Woche den Rücken gekehrt.

    Draghi wartete nicht auf das Ergebnis der Abstimmung, die aufgrund der mangelnden Beteiligung als ungültig betrachtet werden könnte, und verließ den Saal des Palazzo Madame, bevor die offiziellen Ergebnisse bekannt gegeben wurden. Es wird erwartet, dass Draghi seinen Rücktritt erneut bei Staatspräsident Sergio Mattarella einreichen wird, was vorgezogene Neuwahlen auslösen und eine politische Krise verschärfen könnte. 

    Obwohl die Regierung mit 95 Ja-Stimmen das Vertrauen erhielt, haben Forza Italia, Lega Nord und M5S nicht abgestimmt. Die M5S-Abgeordneten haben die Quorumsfähigkeit gewährleistet, indem sie im Plenarsaal geblieben sind.  Die Zahlen dieser Wahlen waren letztlich irrelevant, denn es ging darum, zu prüfen, ob er noch eine einheitliche Unterstützung hatte.  

    Mario Draghi dankt Unterstützern der Regierung Italiens   

    Der Tag der Abstimmung begann mit einer Rede Draghis, in der er die großen Erfolge seiner Exekutive in den letzten 17 Monaten skizzierte und auf die Gründe für den Zusammenbruch und die Notwendigkeit hinwies, die nationale Einheit wiederherzustellen, um voranzukommen. “Der Vertrauenspakt ist gebrochen, der einzige Weg nach vorne ist ein Neuanfang”, sagte Mario Draghi bei seinem Auftritt vor dem Senat am Mittwoch im Vorfeld der Abstimmung über das Vertrauensvotum.

    Draghi hat daraufhin seine Bedingungen für das Vorankommen als Regierungschef formuliert und gegenüber den politischen Kräften sehr harsche Töne angeschlagen. Mario Draghi bezog sich dabei vor allem auf die Fünf-Sterne-Bewegung, die der Regierung Italiens in der vergangenen Woche nicht das Vertrauen ausgesprochen hat: “Einer Regierung, der man angehört, nicht das Vertrauen auszusprechen, hat eine klare politische Bedeutung. Es kann nicht ignoriert werden, weil es bedeuten würde, das Parlament zu ignorieren, es kann nicht ignoriert werden, weil es bedeuten würde, zuzulassen, dass es wieder passiert. Sie ist nicht zu verharmlosen, denn sie kommt nach Monaten des Konflikts und der Ultimaten”. 

    Draghi erklärte, dass es nach seinem Rücktritt in der vergangenen Woche (Europe.Table berichtete) zwei Möglichkeiten gegeben habe: “Die eine war, vor das Parlament zu gehen, meinen Rücktritt zu bestätigen und ohne Abstimmung zu gehen. Die Unterstützung, die ich im Lande für die Kontinuität der Regierung gesehen habe, ist beispiellos und nicht zu übersehen. Diese Unterstützung hat mich veranlasst, in den Plenarsaal zu kommen und den Regierungspakt zur Abstimmung zu stellen.” Sowohl in Brüssel als auch in Washington und beim ukrainischen Präsidenten Volodymyr Selenskyj wurde Draghi in den letzten Tagen aufgefordert, seine Rücktrittsentscheidung vom Donnerstag rückgängig zu machen. 

    Regierungskrise vor dem Hintergrund unvollendeter Reformen 

    Draghi hatte wiederholt erklärt, dass er nur dann an der Spitze der Regierung bleiben würde, wenn er von den Parteien der großen Koalition so viel Unterstützung wie möglich bekäme. Forza Italia und die Lega Nord ließen Draghi mit einem Antrag auf eine neue Exekutive ohne die Fünf-Sterne-Bewegung allein. 

    Der Premierminister forderte die Vollendung des Sanierungsplans für die Zeit nach der Pandemie und die von der Europäischen Union geforderten Reformen, damit die vereinbarten Mittel (bis zu 230 Milliarden Euro) weiter fließen können. Er verwies auch auf internationale Angelegenheiten, insbesondere auf die Unterstützung für die Ukraine, die auf fortgesetzten Waffenlieferungen beruht. Eine Maßnahme, die die 5-Sterne-Bewegung ablehnt.  

    Die Tageszeitung La Repubblica kommentierte die politische Krise und die wahrscheinlichen letzten Stunden der Regierung mit den Worten: “Conte hat die Dinge durcheinander gebracht. Vielleicht hat Draghi ihm zu viel Bedeutung beigemessen, aber es besteht kein Zweifel daran, dass Mitte-Rechts heute die entscheidende Wahl getroffen hat”. 

    Auch die Forza Italia hat heute einige ihrer Mitglieder verloren. Maria Stella Gelmini, Ministerin für regionale Angelegenheiten, hat Forza Italia verlassen: “Ich verlasse die Partei, sie hat sich von den Italienern abgewandt. Heute müsse man ohne Wenn und Aber zu Draghi stehen. Die Mitte-Rechts-Bewegung hat es geschafft, Conte die Verantwortung für die Krise abzunehmen. Diese Forza Italia ist nicht die politische Bewegung, in der ich mich seit fast fünfundzwanzig Jahren engagiere”, fuhr Gelmini fort, “ich kann nicht eine Minute länger in dieser Partei bleiben”. 

    • Italien
    • Mario Draghi

    Termine

    21.07.2022 – 10:00-11:00 Uhr, online
    Europe.Table, Podiumsdiskussion Gas-Notfallplan der EU-Kommission
    Die Referenten analysieren den Notfallplan für die Energieversorgung der EU-Kommission und diskutieren Möglichkeiten, die Gas-Krise zu bewältigen. INFOS & ANMELDUNG

    22.07.2022 – 20:00-21:30 Uhr, Augsburg
    FNS, Diskussion Das Comeback der NATO – Das Bündnis zwischen Erweiterung und Krisenbewältigung
    Bei dieser Veranstaltung der Friedrich Naumann Stiftung (FNS) werden Putins Krieg in der Ukraine sowie die Erweiterung der NATO thematisiert. INFOS & ANMELDUNG

    News

    Reduzierte Gasmengen durch Nord Stream 1 erwartet

    Nach der Wartung der Gaspipeline Nord Stream 1 nimmt Russland die Gaslieferungen voraussichtlich nur in reduzierter Menge wieder auf. Die Buchungen für Gaslieferungen über Nord Stream 1 lägen auf der selben Höhe wie vor den angekündigten Wartungsarbeiten, teilte der Netzwerkbetreiber Gascade am Mittwoch mit. Die gemeldeten Nominierungen entsprächen damit einer Gasmenge von etwa 40 Prozent der eigentlichen Kapazität.

    Der Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, betonte, die Nominierungen könnten sich auch noch ändern. Nach zunächst nominierten 800 Gigawattstunden lägen sie nach einer Änderung durch Gazprom nun für Donnerstag bei 530 Gigawattstunden, teilte Müller mit. Das entspreche 30 Prozent der Auslastung. “Weitere Änderungen sind möglich”, betonte Müller.

    Gaspipeline Nord Stream 1 war zahn Tage außer Betrieb

    Am 10. Juli, dem letzten Tag vor der jährlichen Wartung, war Gas mit einer Energiemenge von knapp 700 Gigawattstunden geflossen. Die Nominierungen geben einen Hinweis auf die tatsächlichen Gasflüsse, der erst später einsetzen.

    Über die Pipeline erhält Deutschland einen Großteil des Gases aus Russland. Wegen einer geplanten Wartung war sie insgesamt zehn Tage außer Betrieb. Gespannt wird nun auf Anzeichen gewartet, dass Russland den Gashahn wieder aufdreht. Zwei den Plänen für den russischen Gas-Export vertraute Personen hatten Reuters gesagt, Russland wolle seine Gas-Lieferungen über Nord Stream 1 wieder aufnehmen – allerdings in reduziertem Umfang. Schon vor Wartungsbeginn hatte der russische Gas-Monopolist Gazprom die Kapazität der Lieferungen durch Nord Stream 1 auf 40 Prozent beschnitten. rtr

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    Gaskrise: Kommission lockert Beihilferegeln

    Die Europäische Kommission lockert vorübergehend die Regeln für staatliche Beihilfen, um die Bemühungen der EU zu unterstützen, die Abhängigkeit von russischer Energie zu verringern. Ziel sei es, den Ausbau von erneuerbare Energien und die Dekarbonisierung der Industrie zu unterstützen, sagte Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager gestern im Rahmen der Vorstellung der Notfallsplans für den Winter.

    Der befristete Beihilferahmen soll es den Mitgliedstaaten erleichtern, Förderprogramme für Projekte etwa für grünen Wasserstoff, Biogas oder Wärmepumpen aufzulegen. Zudem sollen sie Unternehmen besser dabei unterstützen können, auf nicht-fossilen Brennstoffe umzusteigen und Energie einzusparen.

    EU vergrößert Spielraum bei Beihilfen für Unternehmen

    Zudem vergrößert die Kommission als Wettbewerbshüterin in der EU den Spielraum für die finanzielle Unterstützung von Unternehmen, die unter den Sanktionen gegen Russland leiden. Die maximal zulässigen Beihilfen steigen von bisher 400.000 Euro auf 500.000 Euro. Bei Unternehmen im Agrarsektor liegt die neue Obergrenze bei 62.000 Euro.

    In Einzelfällen dürfen die Regierungen überdies Firmen helfen, die wegen Engpässen von der Gasversorgung abgeschnitten werden. Sie dürfen überdies Energieversorger beim Füllen der Gasspeicher finanziell, oder, unter bestimmten Bedingungen, wenn diese in der jetzigen Lage klimaschädliche Kohlekraftwerke wieder ans Netz nehmen. rtr/tho

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    Neue Russland-Sanktionen sollen heute in Kraft treten

    Die neuen Russland-Sanktionen der EU sollen noch heute (Donnerstag) in Kraft treten. Der Ausschuss der ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten brachte am Mittwoch in Brüssel das schriftliche Beschlussverfahren auf den Weg, wie Diplomaten der Deutschen Presse-Agentur in Brüssel bestätigten. Es gilt als Formalie, da der Einleitung des Verfahrens normalerweise nur zugestimmt wird, wenn alle EU-Hauptstädte keine Einwände mehr haben.

    Das neue Paket mit Russland-Sanktionen der EU (Europe.Table berichtete) umfasst ein Einfuhrverbot für russisches Gold und sieht vor, die Exportkontrollen für Spitzentechnologie sowie militärisch nutzbare zivile Güter zu verschärfen. Weitere Personen, die den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine unterstützen, müssen damit rechnen, dass ihre Vermögenswerte in der EU eingefroren werden und dass sie nicht mehr in die EU einreisen dürfen. Dazu gehören unter anderem Mitglieder der russisch-nationalistischen Motorradrockergruppe “Nachtwölfe” sowie der Schauspieler Wladimir Maschkow (“Mission: Impossible – Phantom Protokoll”). dpa

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    Getreideexporte: Erdogan will Abkommen über Korridor noch diese Woche

    Der Präsident der Türkei Recep Tayyip Erdogan kündigte an, dass eine mögliche Vereinbarung über die Wiederaufnahme der Getreide-Exporte aus der Ukraine durch das Schwarze Meer noch in dieser Woche getroffen werden könnte (Europe.Table berichtete). Vergangene Woche war bereits auf Initiative der Vereinten Nationen eine allgemeine Einigung erzielt worden.

    “Bei den Gesprächen in Istanbul in der vergangenen Woche wurde eine Einigung über die allgemeinen Grundzüge des Prozesses im Rahmen des UN-Plans erzielt”, sagte Erdogan auf dem Rückflug von Teheran, wo er mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin zusammentraf. Jetzt wolle man diese Vereinbarung in einem schriftlichen Dokument festhalten. “Wir hoffen, dass der Plan in den kommenden Tagen umgesetzt werden kann”, fügte Erdogan hinzu. Am Montag hieß es aus Ankara bereits, dass ein Treffen zwischen Russland, der Ukraine, der Türkei und den Vereinten Nationen “wahrscheinlich” noch diese Woche stattfinden werde.

    Erdogan betonte außerdem, dass die Türkei und Russland ihre Solidarität in Bezug auf Erdgas und das Atomkraftwerk Akkuyu fortsetzen würden. Er und Putin hätten auch über die Beschaffung von Amphibienflugzeugen aus Russland gesprochen. rtr/luk

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    Kommission erhöht Druck auf Orbán

    Die EU-Kommission will mit finanziellen Sanktionen gegen Ungarn Ernst machen, wenn Regierungschef Viktor Orbán nicht wirksam gegen die Korruption vorgeht. Die bisher angebotenen Maßnahmen seien nicht ausreichend, sagte ein Kommissionssprecher gestern Abend. Ungarn habe nun einen Monat Zeit, nachzulegen. Dann werde die Behörde entscheiden, ob sie dem Rat der Mitgliedstaaten Maßnahmen nach dem Konditionalitätsmechanismus vorschlage.

    Gesetzesentwürfe der Orbán-Regierung gegen Korruption

    Die Behörde erhöht damit deutlich den Druck im Verfahren wegen rechtsstaatlicher Mängel in Ungarn. Sollte Budapest den Forderungen – vor allem nach einem entschiedeneren Vorgehen gegen den Missbrauch von EU-Geldern – nicht nachkommen, könnten Rat und Kommission einen Teil der Milliardentransfers aus dem EU-Haushalt einfrieren. Ohne weitreichende Zugeständnisse dürfte die Orbán-Regierung auch keinen Zugriff auf die 7,2 Milliarden Euro erhalten, die dem Land eigentlich aus dem Wiederaufbaufonds zustehen.

    Die Regierung hatte in letzter Minute Zugeständnisse gemacht. Justizministerin Judit Varga reichte am Dienstag im Parlament zwei Gesetzesentwürfe ein, die für eine wirksamere Korruptionsbekämpfung sowie für eine transparentere Gesetzgebung sorgen sollen. Diese und mögliche weitere Maßnahmen würden in den kommenden Wochen analysiert, sagte der Kommissionssprecher. “Die Kommission ist weiter offen für einen Dialog, um Lösungen zu finden.”

    Neue Gesetze nur nach öffentlicher Debatte

    Die von Varga vorgelegten Gesetzesentwürfe sehen zum einen vor, dass Bürger künftig vor Gericht klagen können, wenn die Staatsanwaltschaft aus ihrer Sicht Korruptionsermittlungen willkürlich einstellt. Der zweite Entwurf sieht vor, dass Gesetze vor ihrer Billigung im Parlament grundsätzlich einer öffentlichen Debatte unterworfen werden müssen. Derzeit ist es häufig der Fall, dass wichtige Gesetze in Dringlichkeitsverfahren innerhalb von 24 Stunden durchs Parlament gepeitscht werden.

    Die Anti-Korruptions-Organisation Transparency International begrüßte die Gesetzesinitiativen als “nützlich und notwendig”. Zugleich hält sie das neue Klagerecht für Bürger gegen eingestellte Korruptionsermittlungen für ungenügend. “Es bringt keine Abhilfe, wenn die Strafbehörden jahrelang auf einem Fall sitzen”, hieß es in einer Stellungnahme der Organisation. tho/dpa

    • Europapolitik
    • Rechtsstaatlichkeit
    • Ungarn

    Nur noch Sunak und Truss im Rennen um Johnson-Nachfolge

    Im Rennen um die Nachfolge des britischen Premierministers Boris Johnson sind nur noch zwei Finalisten. Ex-Finanzminister Rishi Sunak und Außenministerin Liz Truss erhielten bei der jüngsten Abstimmung der konservativen Abgeordneten am Mittwoch genügend Stimmen, um in die Endrunde einzuziehen (Europe.Table berichtete). Die wenigsten Stimmen bekam Handelsstaatsekretärin Penny Mordaunt, die damit aus dem Wettbewerb ausschied. Für Sunak votierten 137 Abgeordnete, für Truss 113 und für Mordaunt 105.

    Entscheidung zwischen Rishi Sunak und Liz Truss per Briefwahl

    Nach dem 21. Juli sollen dann die 200.000 Mitglieder der Partei per Briefwahl zwischen Sunak und Truss als zukünftigen Vorsitzenden entscheiden. Das Ergebnis wird am 5. September bekanntgegeben. Der Nachfolger Johnsons als Vorsitzender der Partei steht automatisch an der Spitze der Regierung, da die Tories die größte Partei im Unterhaus sind.

    Johnson hatte sich auch nach mehreren Verfehlungen nicht zu einem Rücktritt durchringen können. Erst nach dem Abgang zahlreicher Mitarbeiter aus Protest gegen Johnsons Vorgehen hatte er sein Ausscheiden angekündigt (Europe.Table berichtete). Er will aber im Amt bleiben, bis die Nachfolge geklärt ist. rtr

    • Boris Johnson
    • Großbritannien

    EU-Staaten wollen Verbraucherschutz stärken

    Der Schutz für Verbraucher, die im Internet einkaufen, soll nach dem Willen der EU-Staaten gestärkt werden. Zudem einigten sich die 27 Mitgliedstaaten am Mittwoch auf neue Vorgaben, die technische Produkte wie drahtlose Kopfhörer sicherer machen sollen, wie der Rat der EU-Staaten mitteilte.

    Demnach müssen Online-Marktplätze künftig etwa sicherstellen, dass sie ihre Händler und deren Angebote kennen. Zudem sollen sie verpflichtet werden, eine Kontaktperson zu benennen, die für die Produktsicherheit zuständig ist. Außerdem sollten etwa die Vorschriften für den Rückruf von Produkten verbessert werden. Bevor die Regeln in Kraft treten können, müssen die EU-Staaten sich nun mit dem Europaparlament auf eine gemeinsame Position einigen.

    Die EU-Kommission hatte die neuen Regeln im vergangenen Jahr unter Verweis auf den gestiegenen Anteil an Online-Käufen sowie den technologischen Wandel vorgeschlagen. In diesem Zusammenhang nannte die Behörde etwa Risiken bei der Cybersicherheit. dpa

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    • Europapolitik
    • Verbraucherschutz

    EU will Apple-Ermittlung mit neuen Beweisen unterstützen

    Die EU-Wettbewerbshüter werden ihre Ermittlungen gegen Apple mit neuen Beweisen, aber nicht mit neuen Anklagen verstärken. Die Hoffnung ist, dass dies den Fall beschleunigt, erklärten mit der Angelegenheit vertraute Personen.

    Die EU-Kommission hatte dem iPhone-Hersteller im vergangenen Jahr vorgeworfen, dass seine App-Store-Regeln den Wettbewerb auf dem Musik-Streaming-Markt verzerren. Apple verpflichtet die Entwickler dazu, das Apple-eigene In-App-Zahlungssystem zu verwenden (Europe.Table berichtete). Außerdem hindert Apple sie daran, die Nutzer über andere Kaufoptionen zu informieren.

    Apple war ins Fadenkreuz der Europäischen Kommission geraten, nachdem Spotify sich beschwert hatte, dass der US-Technologiekonzern die Konkurrenz zu seinem eigenen Musik-Streaming-Dienst Apple Music auf iPhones in unfairer Weise einschränkt. Die EU-Wettbewerbsbehörde legte ihre Vorwürfe in einer sogenannten Mitteilung der Beschwerdepunkte dar.

    EU wird Apple wahrscheinlich Tatbestandsschreiben senden

    Die Aufsichtsbehörde erwog daraufhin, eine zusätzliche Mitteilung der Beschwerdepunkte zu versenden, wie eine mit der Angelegenheit vertraute Person Anfang des Jahres gegenüber Reuters erklärte. In solchen Dokumenten werden in der Regel neue Vorwürfe oder Änderungen an den ursprünglichen Vorwürfen dargelegt.

    Es wird nun erwartet, dass die Kommission stattdessen ein Tatbestandsschreiben an Apple schickt, sagten andere mit der Angelegenheit vertraute Personen und fügten hinzu, dass es noch keine endgültige Entscheidung gebe. Ein Tatbestandsschreiben enthält in der Regel neue Beweise, die die ursprünglichen Vorwürfe gegen die Unternehmen bekräftigen, die dann mit einer schriftlichen Stellungnahme antworten können. Die Kommission lehnte eine Stellungnahme ab. Apple reagierte bislang nicht auf Anfragen zur Stellungnahme. rtr

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    Presseschau

    Erneuerbare Energien: Spanien und Portugal gehen beim Ausbau voran RND
    Historische Dürre in Portugal: Wer bekommt noch Wasser, wenn es kaum mehr welches gibt? HANDELSBLATT
    Griechenland als Vorreiter beim Transport von “grüner” Energie DERSTANDARD
    Andere Partner hätten Vorrang: Polen will Gasvorräte ungern mit Deutschland teilen RND

    Heads

    Michael Clauß – Mann für die Langstrecke

    Botschafter Michael Clauß ist Ständiger Vertreter Deutschlands bei der EU.
    Michael Clauß ist Ständiger Vertreter Deutschlands bei der EU.

    Es ist 9 Uhr morgens, aber Clauß verzichtet dankend auf einen Kaffee. Er habe schon zwei Frühstückstermine hinter sich, sagt der deutsche EU-Botschafter Michael Clauß. Sein Koffeinbedarf ist daher gedeckt. Der nächste Termin steht bereits an, er führt Clauß in den sogenannten Beichtstuhl. Das Kabinett von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen lotet wieder einmal mehr in kleinen Gruppen aus, welche Befindlichkeiten die Mitgliedstaaten in Bezug auf die neuen Sanktionen gegen Russland haben (Europe.Table berichtete).

    Der Brüsseler Politikbetrieb geht im August wieder in die obligatorische Sommerpause, Krieg und Krisen zum Trotz. Ausklingen lassen aber kann Clauß es nicht. Die Ständigen Vertreter der EU-Staaten müssen neben den Sanktionen auch noch im Schnellverfahren den neuen Gas-Notfallplan der Kommission beraten, bevor sich am kommenden Dienstag die Energieminister damit beschäftigen.

    Krise türmt sich inzwischen auf Krise, und Clauß ist mittendrin in den politischen Bemühungen der EU, diese zu bewältigen. Die großen Linien handeln die Chefs untereinander aus – von der Leyen, Olaf Scholz, Emmanuel Macron und deren Sherpas. Für Vorbereitung und Umsetzung aber brauchen sie den AStV, den Ausschuss der Ständigen Vertreter. Die Brüsseler Statthalter prüfen und beschließen im Eiltempo die Sanktionspakete und beugen sich so lange über die Entwürfe der Schlussfolgerungen für die Europäischen Räte, bis das allermeiste konsentiert ist. Sonst kämen die Staats- und Regierungschefs in den Gipfelnächten gar nicht mehr ins Bett.

    Der 60-Jährige kennt den EU-Betrieb wie kaum ein anderer. Michael Clauß hat die vergangenen beiden Ratspräsidentschaften Deutschlands gemanagt, 2020 als Botschafter, 2007 als stellvertretender Abteilungsleiter im Auswärtigen Amt. Den Prozess zur Erarbeitung einer europäischen Verfassung hat er als Leiter des deutschen Konventsekretariats begleitet, vom Start 2002 weg bis zu dessen bitteren Ende – den ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden. Wegen seiner Europakompetenz hatte der damalige Staatssekretär Gunter Pleuger den Diplomaten zuvor zu sich geholt, zunächst als persönlichen Referenten, dann als Leiter des Büros der Staatssekretäre.  

    Michael Clauß wurde Botschafter in Brüssel statt Freetown

    Vorgestellt hatte sich Clauß das ganz anders. Er sollte nach seinen ersten Jahren im AA eigentlich Botschafter in Sierra Leone werden. “Meine Frau und ich fanden das Abenteuer sehr reizvoll”, sagt er. Wenige Stunden vor Abflug aber wurde in dem westafrikanischen Land geputscht, die deutsche Vertretung in der Hauptstadt Freetown musste evakuiert werden. Also musste eine andere Verwendung für Clauß gefunden werden – als Botschaftsrat an der EU-Vertretung. “Dass ich stattdessen nach Brüssel entsandt wurde, war reiner Zufall”, sagt er.

    Begeistert war Clauß davon zunächst nicht. Er kannte Belgien aus der Schulzeit, sein Vater war als Bundeswehr-Offizier zeitweise beim Nato-Oberkommando in Mons stationiert. Clauß aber wollte ferne Länder kennenlernen. Auch deshalb hatte er sich, nach zweijährigem Dienst als Zeitsoldat, für den diplomatischen Dienst entschieden – und gegen die Truppe, in der es sein Vater bis zum Vier-Sterne General brachte.

    So aber wurde es Brüssel statt Freetown. Anschließend folgten 14 Jahre in der Zentrale des AA am Werderschen Markt, zuletzt als Leiter der Europaabteilung. 2013 sei es dann Zeit für einen Tapetenwechsel gewesen, sagt Michael Clauß: Er wurde Botschafter in China. “Es ist heilsam und hilfreich, die Dinge auch mal von außen zu betrachten”, meint er. “Von Peking aus betrachtet ist Brüssel nicht der Nabel der Welt.” Verglichen mit der enormen Dynamik in China seien die Prozesse in Europa oft mühsam und bürokratisch.

    Tür zu einer abgeschirmten Welt

    Für Ausländer ist es schwierig, in Peking hinter die Kulissen des chinesischen Systems zu blicken. Kontakt zu westlichen Diplomaten ist für KP-Kader unerwünscht. Seine Frau aber verschaffte Clauß Einblicke, die er sonst nicht bekommen hätte. Über sie bekam er Zugang zur chinesischen Elite, Mitgliedern der sogenannten Revolutionary Families: Söhne, Töchter und Enkel der einstigen Weggefährten von Mao, ohne offizielle Parteiposition, aber dennoch einflussreich und gut informiert. Viele von ihnen wurden an US-Eliteuniversitäten ausgebildet, sprechen daher sehr gut Englisch.

    “Die Frauen haben sich am Wochenende hin und wieder verabredet und wir Männer sind einfach mitgekommen”, erzählt Clauß. In diesem Rahmen sei es möglich gewesen, teils recht offen miteinander zu sprechen. “Das hat mir die Tür aufgestoßen zu einer abgeschirmten Welt. Und es half dabei, die offiziellen Informationen einzuordnen.”

    Illusionen über Funktionsweise und Machtanspruch des Systems macht er sich seither keine mehr. “China leitet aus seiner Entwicklung ein großes Selbstbewusstsein ab und stellt unser politisches und gesellschaftliches System infrage”, sagt er. Die KP werde zunehmend repressiv und versuche, die internationale Ordnung in ihrem Sinne umzukrempeln. So diene die Belt-and-Road-Initiative dazu, ein hierarchisches Verhältnis zu anderen Staaten zu etablieren, mit Peking an der Spitze. “In Europa wurde lange nicht gesehen, dass China ein systemischer Rivale ist. Mir war wichtig, hier in Brüssel zu vermitteln, dass wir diese Naivität ablegen müssen.”

    Inzwischen ist diese Botschaft angekommen. Clauß hat nach der Versetzung nach Brüssel 2018 dazu beigetragen, Hand in Hand mit anderen China-Kennern wie dem Grünen-Europaabgeordneten Reinhard Bütikofer. Inzwischen hat die EU ein 300 Milliarden Euro schweres Gegenstück zur Neuen Seidenstraße aufgelegt (Europe.Table berichtete). “Global Gateway hat das Potenzial, eine echte Alternative zu sein”, ist Clauß überzeugt. “Jetzt aber müssen wir voranschreiten, und zwar wertebasiert, aber auch realistisch vorgehen, um möglichst viele Länder einzubinden.”

    Parteiübergreifend geschätzt

    In Berlin wird der Diplomat für seine Kompetenz und seine Sachlichkeit parteiübergreifend geschätzt, auch die Ampel-Regierung hält an ihm fest. Clauß selbst hat kein Parteibuch, das verträgt sich nicht mit seinem Beamtenethos. Er versucht, die Brüsseler Einblicke in die europapolitischen Abstimmungsprozesse in der Bundesregierung einzuspeisen, etwa was die Mehrheitsverhältnisse im Rat und Europaparlament betrifft.

    Bisweilen muss er seine Verbindungen in die Ministerien und ins Kanzleramt auch einsetzen, wenn sich die Ministerien schwer damit tun, eine abgestimmte Position zu formulieren. Das “German Vote” ist in Brüssel sprichwörtlich (Europe.Table berichtete), in Clauß’ Amtszeit musste sich Deutschland aber erst einmal mangels Einigkeit im Rat der Stimme enthalten – beim jüngsten Treffen der Innenminister war das der Fall.

    Um den Stress abzuschütteln, geht Clauß jedes Wochenende viele, viele Kilometer laufen. Bisweilen steigt er auch aufs Rennrad. Unter der Woche versucht er, sich einen weiteren Termin im Kalender dafür freizuhalten. “Ich bin Langstreckenläufer, das ist eine echte Leidenschaft”, sagt er. Er brauche den sportlichen Ausgleich für die physische Gesundheit, aber auch für die geistige Hygiene.

    Dass ihn seine Karriere statt in den afrikanischen Regenwald in den EU-Paragrafendschungel geführt hat, damit hat Clauß längst seinen Frieden gemacht. “Brüssel ist zwar nicht so exotisch”, findet er. “Abenteuerlich geht es hier aber bisweilen auch zu.” Till Hoppe

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    Europe.Table Redaktion

    EUROPE.TABLE REDAKTION

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