Table.Briefing: China

Verstrickung der Industrie + Lager in Xinjiang

  • Arbeitsprogramm in Xinjiang betrifft Autobauer
  • Weniger Lagerinsassen, dafür mehr Häftlinge
  • Brandstätter besucht VW-Werk in Xinjiang
  • Lebenszeichen von Banker Bao Fan
  • Schweres Arbeitsumfeld für Journalisten
  • Italien lehnt Auslieferung an China ab
  • Lettland wie EU: Kein Tiktok auf Diensthandys
  • Im Porträt: Qian Sun – Investigativ-Journalistin
Liebe Leserin, lieber Leser,

melodische Namen für perfide politische Maßnahmen finden – darin ist Chinas kommunistische Führung Weltklasse. “Frühlingsbrise 2023” nennt sich ein berufliches Beschäftigungsprogramm in Xinjiang, das gleich mehrere Zwecke erfüllt. Einfachen Bauern soll es lohnbringende Arbeitsstellen in Industriebetrieben verschaffen. Aber Menschenfreundlichkeit steckt nur bedingt dahinter. Uiguren müssen für die Arbeit zum Teil unfreiwillig in weit entfernte Regionen der Riesenprovinz ziehen, fernab ihrer Familien, unter ständiger Überwachung. Ihre Kinder werden derweil in han-chinesischen Bildungseinrichtungen betreut – und ideologisch eingenordet.

Die Kritik an den Umerziehungslagern in Xinjiang wurde immer lauter. Zuletzt so laut, dass der Provinz-Gouverneur Erkin Tuniyaz gar seine geplante Europa-Reise kurzfristig absagte. Nun ändert die Zentralregierung in Peking ihre Taktik, wie Marcel Grzanna in seiner Analyse aufzeigt: Statt die Menschen in Camps zu schicken, werden sie einfach zu Haftstrafen verurteilt.

Was nach einer Verbesserung für die Uiguren klingen mag, entpuppt sich in Wirklichkeit als zynische Anpassung einer grausamen Unterdrückung: Einwände aus dem Ausland gegen Haftstrafen sind mit Verweis auf die lokale Gesetzgebung leichter zu rechtfertigen. Die Repressionen lassen nicht nach, sie kommen nur in einem neuen Gewand daher.

Ihr
Michael Radunski
Bild von Michael  Radunski

Analyse

Arbeitsprogramm erleichtert Kontrolle über Uiguren

Bei der IAO-Konferenz in Genf werden die Vorwürfe zur Zwangsarbeit in China diskutiert.
Uigurische Arbeiter werden in Xinjiang in so gut wie allen Arbeitsbereichen eingesetzt.

Beim anstehenden Nationalen Volkskongress wird auch das Thema Xinjiang zur Sprache kommen. Die Delegierten der autonomen Provinz im Nordwesten Chinas werden die erfolgreiche Umsetzung der “Frühlingsbrise 2023” vermelden – einem Beschäftigungsprogramm für uigurische Arbeitskräfte in Xinjiang.

Dort haben die Behörden binnen sechs Wochen bis Ende Februar 333 Jobmessen mit mehr als 7.000 teilnehmenden Unternehmen organisiert und Zehntausende Interessierte angelockt, schreiben chinesische Staatsmedien. Sogar drei Millionen Online-Nutzer sollen die Angebote auf digitalem Weg begutachtet haben. Das Ziel: Die Menschen in Lohnarbeit bringen – weg von ihren Feldern, raus aus ihren Häusern.

Zweifellos werden in Xinjiang zahlreiche Arbeitskräfte benötigt. Tausende chinesische Firmen, aber auch ausländische Unternehmen haben in den vergangenen Jahren in der Region investiert. Der chinesischen Regierung verschafft das System die Möglichkeit, die versprochene wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben. Kritik an ihrer Repressionspolitik gegen die Uiguren kontert sie gerne mit dem Hinweis auf das wachsende Bruttoinlandsprodukt.

Kontrolle über die Uiguren drastisch erleichtert

Was sie nicht sagt, ist, dass die Industrialisierung dem Staat die Kontrolle über die Uiguren drastisch erleichtert. Offizielle Zahlen für 2021 dokumentieren die Überführung von knapp 3,2 Millionen “ländlichen Arbeitskräften” in eine Beschäftigung.

Auch wenn die Zahl ungenau ist, weil sie Mehrfachzählungen enthält: Unter dem Strich wurden Millionen Menschen an Arbeitsplätze gebunden, die sich in neuen Industrieparks und Wirtschaftszonen befinden. Dort stehen sie rund um die Uhr unter Bewachung. Der Xinjiang-Forscher Rune Steenberg von der Universität Olmütz nannte diese Integration der Uiguren im Gespräch mit Table.Media eine neue und “raffiniertere” Methode der Überwachung.

Das perfide System untergräbt den Forschern zufolge die Grundfesten der uigurischen Gesellschaft. Besonders, weil die Menschen nicht immer freiwillig die Arbeitsplätze annehmen. Die deutsch-uigurische Aktivistin Mihriban Memet erfuhr Ende vergangenen Jahres von dem Schicksal ihrer Verwandten. Eine Cousine berichtete, dass drei ihrer Kinder gegen ihren Willen in Fabriken deportiert wurden, um dort zu arbeiten. Zwei von ihnen in Xinjiang, ein dritter Jugendlicher “irgendwo im Landesinneren”, berichtet sie Table.Media.

Forscher erkennen ähnliches Schema wie in Tibet

Sie seien so weit entfernt von ihrer Heimat entfernt, dass der Kontakt zu ihrer Familie allenfalls sporadisch möglich sei. “Ihre Mobiltelefone werden kontrolliert und sie stehen vermutlich 24 Stunden täglich unter Beobachtung“, sagt Memet. Ein heimlicher Austausch mit der Familie wurde in anderen Fällen hart bestraft.

Fabriken entstehen jedoch nicht nur in Wirtschaftszonen, sondern auch in unmittelbarer Nähe der Dörfer. Verbliebene Väter, die nicht in Haft sitzen oder in anderen Regionen arbeiten, und vor allem die Mütter sind in diesen Fabriken angestellt. Ihre Kinder müssen die Eltern in örtliche Betreuungseinrichtungen geben. Dort wird die meiste Zeit des Tages Mandarin gesprochen und nicht die Muttersprache. Gleichzeitig werden sie von Han-chinesischen Erziehenden unterrichtet. Diese orientieren sich an einem Lehrplan, der staatlich vorgeschriebenes Gedankengut enthält.

Der Sinologe Björn Alpermann von der Uni Würzburg erkennt dahinter ein ähnliches Schema, wie es die chinesischen Behörden in Tibet anwenden. Dort werden Kinder durch systematische Schulschließungen zum Besuch weit entfernter Internate gezwungen, wo sie dauerhaft von ihren Familien entfernt aufwachsen. “So werden auch uigurische Kinder zunehmend in einer han-chinesischen Umgebung sozialisiert und ihrer kulturellen Identität entwurzelt“, sagt Alpermann zu Table.Media.

Autoindustrie gehört zum System

Kürzlich eine Studie der Sheffield Hallam University die tiefe Verstrickung chinesischer Automobil-Zulieferer in das Arbeitsprogramm der Region nachgezeichnet. Die chinesischen Firmen, die in Xinjiang herstellen, haben dem Report zufolge auch deutsche Hersteller als Kunden. In den Industriezonen entstehen Zulieferteile und Ersatzteile, die dem Bericht zufolge in ganz China und international in Autos von BMW, Volkswagen, Mercedes, Tesla, Toyota, Honda und Nissan zum Einsatz kommen.

So könnte entlang der Lieferketten eben doch Produkte ihren Weg in Produkte westlicher Marken finden, die unter Menschenrechtsverletzungen hergestellt wurden. Die Studie sieht her erhebliche “Lieferkettenrisiken” für die Abnehmer. Volkswagen ist durch ein eigenes Werk in der Hauptstadt Urumqi besonders exponiert. Kein anderer Anbieter hat sich mit einem eigenen Standort nach Xinjiang gewagt.

Volkswagen: Keine Probleme im Werk

VW kämpft daher seit Jahren gegen den wachsen Druck aus der Heimat. “Volkswagen muss transparent darlegen, wie es den Berichten über Zwangsarbeit in seinen Lieferketten nachgeht und welche Konsequenzen es zu ziehen bereit ist”, fordert Hanno Schedler von der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV).

Das Problem: “Volkswagen und andere ausländische Unternehmen stärken die Reputation des Standortes durch ihre Präsenz und dadurch gleichzeitig die regionale Führung, die in die Menschenrechtsverletzungen verstrickt ist”, sagt Alpermann. Auffällig ist der geringe Ausstoß des Werkes, das mit diesen Zahlen keinen ökonomischen Sinn ergibt.

Der Autohersteller wehrt ab. Man nehme die Berichte über Zwangsarbeit in der Region sehr ernst, erwäge aber keinesfalls einen Rückzug aus Xinjiang. Mitte vergangenen Monats hatte China-Chef Ralf Brandstätter die Fabrik besucht, um Bedenken über das Engagement des Herstellers nachzugehen. Man habe keine Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen in diesem Werk, sagte Brandstätter. Das Management bemühe sich um ein gutes Betriebsklima. Er habe ausführlich mit uigurischen Mitarbeitern gesprochen.

  • Menschenrechte
  • Volkswagen
  • Xinjiang
  • Zwangsarbeit

Neue Xinjiang-Taktik: Haftstrafen statt Umerziehung

Das Internierungslager in Korla, im Zentrum der Provinz Xinjiang. Es besteht aus 36 Gebäuden samt Sportplatz. Satellitenaufnahme vom 27.02.2023; Quelle: Vertical52.

Die Zahl uigurischer Insassen in den Umerziehungslagern in Xinjiang hat sich offenbar drastisch verkleinert. Recherchen von Xinjiang-Forschern lassen darauf schließen, dass möglicherweise nur noch wenige Zehntausende Menschen in den Lagern einsitzen. Gleichzeitig aber ist die Zahl der rechtskräftig Verurteilten in den örtlichen Gefängnissen auf mehrere Hunderttausend dramatisch gestiegen.

“Wir können mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass die meisten Menschen, die in den Camps waren, inzwischen wieder raus sind”, sagt der Anthropologe Rune Steenberg von der tschechischen Universität Olmütz. “Die Camps haben ihren Zweck erfüllt. Die Erfahrungen in den Einrichtungen haben die Menschen nachdrücklich eingeschüchtert. Sie schweben jetzt wie eine ständige Bedrohung über ihren Köpfen”, sagt Steenberg.

Intellektuelle und wirtschaftliche Eliten betroffen

Der Anthropologe schätzt die Zahl derer, die derweil zu unverhältnismäßig langen Haftstrafen verurteilt worden sind, auf bis zu 300.000. “Wer in den Gefängnissen einsitzt, tut dies mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit aus vorgeschobenen Gründen, die in demokratischen Staaten – aber bis vor wenigen Jahren auch in China – nicht als Haftgründe gegolten hätten”, sagt Steenberg.

Im Unterschied zu den Lagern seien von den Gefängnisstrafen vornehmlich die intellektuellen und wirtschaftlichen Eliten der Uiguren betroffen. Die chinesische Regierung glaubt offenbar, dass sie die uigurische Gesellschaft ohne deren Eliten leichter kontrollieren kann. Masseninhaftierungen in Lagern erscheinen deswegen nicht mehr nötig.

Schätzungsweise rund 15 bis 20 Prozent der uigurischen Bevölkerung wurden im Laufe der vergangenen zehn Jahre in chinesische Camps gesteckt: rund zwei Millionen Menschen, darunter sehr viele Männer im arbeitsfähigen Alter, manchmal ganze Familien. China hatte die Existenz der Lager lange geleugnet und dann schließlich doch zugegeben, nachdem staatliche Dokumente, Satellitenaufnahmen und Augenzeugenberichte ein immer präziseres Bild des Lagernetzes gezeichnet hatten.

Schock-Kampagne “auf Dauer nicht durchzuhalten”

Neue Informationen aus Xinjiang lassen nun darauf schließen, dass viele der Einrichtungen geschlossen oder zu Gefängnissen umfunktioniert worden sind. Steenberg zieht seine Schlüsse unter anderem aus Informationen seines persönlichen Netzwerkes von 50 bis 70 Quellen in der Region. Menschen, die seit vielen Jahren verdeckt Informationen sammeln und ins Ausland weitergeben.

Der Anthropologe schätzt, dass die westliche Forschung Kontakt zu insgesamt mehreren Hundert Personen in Xinjiang hat, die sie als glaubwürdige Quellen einstuft. Auch bei der Beurteilung der jüngsten Entwicklung. Es handelt sich um die gleichen Quellen, die zuvor über die drastische Expansion des Lagernetzes und die Masseninhaftierungen berichtet hatten, erklärt Steenberg. Die Informationen erwiesen sich als zutreffend und führten vergangenes Jahr zu einem Sonderbericht des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte.

Björn Alpermann von der Universität Würzburg hält die Aussagen zu den jüngsten Entwicklungen für “sehr wahrscheinlich richtig”. Es sei unmöglich, exakte Zahlen von Insassen zu ermitteln, meint der Wissenschaftler, der sich seit Jahren intensiv mit den Vorgängen in Xinjiang befasst. Doch der Trend aus den Lagern in die Gefängnisse sei deutlich nachzuvollziehen. “Positiv bewertet könnte man sagen, die allerschlimmste Phase ist vorbei. Auf Dauer war diese Schock-Kampagne nicht durchzuhalten. Dafür werden die vermeintlich Unreformierbaren jetzt weggesperrt“, sagt Alpermann.

Veränderungen des Kontrollsystems

Alpermann beobachtet eine Veränderung des Kontrollsystems, das sich auf eine verstärkte Integration von Arbeitskräften in die wirtschaftlichen Strukturen stützt. Es seien viele Fabriken rund um die Dörfer entstanden, in denen die Arbeiter 24 Stunden täglich verbringen müssen und dort viel besser überwacht werden können. Im privaten Bereich sei die Überwachung durch Nachbarschaftskomitees und vor allem durch digitale Kontrolle optimiert worden.

Beide Forscher warnen deshalb davor zu glauben, dass die Repressionen gegen die Uiguren nachgelassen haben. Auch der Weltkongress der Uiguren (WUC) fürchtet, dass die Schließung von Lagern fehlinterpretiert werden könnten. “Das darf nicht verwechselt werden mit einer Verbesserung der Gesamtsituation. Es sind lediglich die Umstände, die sich verändern“, sagt Haiyuer Kuerban, Direktor des WUC-Büros in Berlin.

Gesetzesverstöße wirken inszeniert bis grotesk

Die Uiguren sprechen von einem Genozid an ihrem Volk. Auch die US-Regierung sowie zahlreiche Parlamente demokratischer Staaten haben die Verfolgung der Uiguren als Völkermord anerkannt. Chinas Propaganda versucht dagegen seit Jahren, die Umerziehung der Bevölkerung als Ausbildungsprogramm und die Inhaftierungen als Anti-Terrorkampf darzustellen. Die immer lauter werdende Kritik der vergangenen Jahre habe China auf dem falschen Fuß erwischt, glaubt Rune Steenberg.

Auch deshalb sei die Regierung dazu übergegangen, das Lagersystem deutlich zu verkleinern. Einwände aus dem Ausland gegen Haftstrafen sind mit Verweis auf die lokale Gesetzgebung dagegen leichter zu rechtfertigen. Allerdings wirken die vermeintlichen Gesetzesverstöße oftmals inszeniert bis grotesk: Das Herunterladen westlicher Messenger-Dienste oder Anwendungen zur Übertragung größerer Datenmengen, können bereits ins Gefängnis führen. Auch das Hören und Verbreiten ausländischer Lieder kann als Subversion interpretiert werden.

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News

Brandstätter sieht “gutes Betriebsklima” in Xinjiang

Der Chef von Volkswagen in China, Ralf Brandstätter, hat dem umstrittenen Werk des Konzerns in Xinjiang Mitte Februar einen Besuch abgestattet. Nun weist er Kritik am Engagement des deutschen Großunternehmens in der Uigurenregion zurück. “Wir haben keine Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen in diesem Werk”, sagte er Agenturberichten zufolge. Das Management bemühe sich um ein gutes Betriebsklima.

VW werde weiter an dem Standort festhalten, betonte Brandstätter. Von einem globalen Konzern erwarte China Vertragstreue. Er nehme aber die kritischen Berichte über die Zustände in Xinjiang “sehr ernst”.

Der Vorwurf, dass direkt auf dem Gelände von VW Menschenrechtsverletzungen stattfinden, stand nie im Raum. Die Kritik bezieht sich darauf, durch die Präsenz eines teilstaatlichen deutschen Unternehmens zur Legitimierung der chinesischen Politik in der muslimisch geprägten Region beizutragen. Die Regierung unterdrückt dort mit brutalen Methoden die Kultur des Volks der Uiguren. fin

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Italien lehnt Auslieferung eines Häftlings ab

Italiens höchstes Gericht hat einen chinesischen Auslieferungsantrag abgelehnt. Begründung für das Urteil ist die “allgemeinen Gewaltsituation” in Chinas Justiz- und Strafvollzugssystem. Das Gericht in Rom hob damit eine frühere Entscheidung auf, wie die Menschenrechtsorganisation Safeguard Defenders am Donnerstag erklärte. Rom folgte damit als erster von 46 Mitgliedsstaaten des Europarats einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). In dieser hatte sich der EGMR gegen eine Auslieferung chinesischer Häftlinge oder von Sicherheitsbehörden gesuchter Menschen ausgesprochen.

In dem Fall in Italien geht es Safeguard Defenders zufolge um ehemaligen Geschäftsführer eines chinesischen Unternehmens. Die wegen angeblicher Wirtschaftsverbrechen gesuchte Person sei im Sommer 2022 auf der Durchreise in Italien auf Basis einer Red Notice von Interpol festgenommen und anschließend unter Hausarrest gestellt worden. Bereits vor der Festnahme habe es auch Druck auf die Familie in der Volksrepublik gegeben. So sei unter anderem der Bruder verhört und bedroht worden, um die gesuchte Person zur Rückkehr nach China zu bewegen, erklärten Safeguard Defenders.

Der EGMR in Straßburg ist keine EU-Institution, er gehört dem Europarat an. Die Staatenorganisation hat die Menschenrechte in Europa im Fokus. Der EGMR hatte in einem Fall (Liu vs. Polen) Auslieferungen chinesischer Gesuchter an die Volksrepublik als nicht zulässig bewertet. Nationale Gerichte können sich nun auf die EGMR-Entscheidung bei eigenen Urteilen berufen.

Polen musste der betroffenen Person, einem Mann aus Taiwan, Schadensersatz zahlen, weil er in Untersuchungshaft sitzen musste. Der EGMR urteilte, dass die Auslieferung in die Volksrepublik Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention zum Verbot der Folter verletzen würde. ari

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  • Safeguard Defenders

Lettisches Ministerium untersagt Tiktok-Nutzung

Das lettische Außenministerium hat aus Sicherheitsgründen die Nutzung der chinesischen App Tiktok auf Diensthandys und anderen offiziellen Geräten untersagt. Dabei handle es sich um eine präventive Maßnahme, die vom internen Sicherheitsdienst des Ministeriums empfohlen worden sei, sagte eine Sprecherin am Donnerstag dem lettischen Rundfunk.

Außenminister Edgars Rinkēvičs hatte zuvor mitgeteilt, sich von der Kurzvideo-Plattform aus dem chinesischen Bytedance-Konzern zurückgezogen zu haben. “Ich habe mein Tiktok-Konto aus Sicherheitsgründen gelöscht”, schrieb er auf Twitter unter Verweis auf die interne Regelung seines Hauses. Auch von Mitarbeitern der EU-Kommission soll Tiktok auf amtlichen Handys nicht mehr genutzt werden dürfen. ari

  • ByteDance
  • Lettland
  • Tiktok

Milliardär Bao Fan “kooperiert”

Soll Teil einer offiziellen Untersuchung der Behörden sein: der vermisst gemeldete Milliardär Bao Fan.

Der vor rund anderthalb Wochen vermisst gemeldete Milliardär Bao Fan befindet sich offenbar in Gewahrsam chinesischer Behörden. Eine entsprechende Mitteilung setzte seine in Hongkong ansässige Investmentbank China Renaissance am Sonntag ab. Die Bank teilte mit, ihr Gründer sei zurzeit Teil einer offiziellen Untersuchung und kooperiere mit den Behörden in der Volksrepublik. Sie kündigte zudem an, “ordnungsgemäß” mit den Behörden zusammenarbeiten zu wollen.

Mit der Meldung vom Wochenende bestätigten sich Vermutungen, dass Bao keineswegs einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen, sondern von chinesischen Behörden vorübergehend verschleppt worden ist. Die Verklausulierung, er “kooperiere” in einer Untersuchung, nutzen chinesische Behörden regelmäßig, um das spurlose Verschwinden prominenter Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Gesellschaft zu erklären. In der Regel verbirgt sich dahinter eine Drohung an die Betroffenen.

Der chinesische Staat zwingt einflussreiche Persönlichkeiten zur “Zusammenarbeit”, wenn sie ihm zu mächtig oder aufmüpfig erscheinen. Zuletzt war vor zwei Jahren Jack Ma verschwunden, der Gründer von Alibaba. Davor waren bereits Guo Guangchang von Fosun oder Ren Zhiqiang von der Huayuan Real Estate Group zeitweilig unauffindbar. Ren hatte Xi Jinping wegen seiner Corona-Politik einen Clown genannt und sitzt seitdem im Gefängnis.

Genaue Hintergründe im Fall Bao Fan sind bislang jedoch nicht bekannt. Dass er sich jedoch nicht aus freien Stück bei seiner Familie oder seinen Angestellten melden konnte, deutet darauf hin, dass er nicht frei über seine Handlungen entscheiden kann.

Mitte Februar hatte die Bank über die Hongkonger Börse mitgeteilt, dass sie nicht wisse, wo sich ihr Chef aufhalte und sie keinen Kontakt zu Bao herstellen könne. Der Aktienkurs der Bank, die vor allem im Investmentbanking und der Vermögensverwaltung tätig ist, war daraufhin abgestürzt. grz

  • Fosun

Korrespondenten beklagen Arbeitsbedingungen

Behördenschikane, Überwachung, Einschüchterung der Gesprächspartner – gut waren die Arbeitsbedingungen für ausländische Journalisten schon vorher nicht. Doch so miserabel wie im vergangenen Jahr war es nach Angaben des Clubs der Auslandskorrespondenten (FCCC) noch nie. Seit Beginn der Corona-Pandemie vor drei Jahren habe “die Pressefreiheit im ganzen Land mit zunehmender Geschwindigkeit abgenommen”, beklagt der Journalistenverband und stützt sich auf seine jährliche Befragung unter seinen Mitgliedern. Die Arbeitsbedingungen “entsprechen nicht internationalen Standards”.

Wie aus dem Bericht weiter hervorgeht, beklagte mehr als ein Drittel der befragten Medienschaffenden, dass mindestens eine ihrer Quellen belästigt, festgenommen oder zum Verhör gebeten wurden oder auf andere Weise unter Druck gerieten, weil sie mit ausländischen Journalisten gesprochen hatten. Im Vorjahr war es ein Viertel. 78 Prozent berichteten, dass potenzielle Interviewpartner gar nicht mit ihnen sprechen durften. Beteiligt an der Umfrage haben sich 102 Journalistinnen und Journalisten.

Der Korrespondentenclub sprach vom “schwierigsten Jahr” als Journalist in China. Die Kontrollen der Null-Covid-Politik, seien eingesetzt worden, um die Berichterstattung der Korrespondenten noch stärker einzuschränken. Knapp die Hälfte der Befragten durften zum Teil über Monate hinweg nicht ihren Ort verlassen, obwohl sie selbst nach Chinas strikten Regeln kein Gesundheitsrisiko dargestellt hätten.

Die Covid-Kontrollen sind inzwischen aufgehoben. “Aber eine Reihe staatlicher Restriktionen, anhaltende digitale Überwachung und fortgesetzte Belästigung chinesischer Kollegen und Quellen zeugten davon, dass die Herausforderungen für echte Pressefreiheit bestehen bleiben”, beklagt der Auslandspresseclub. flee

  • Gesellschaft
  • Menschenrechte

Heads

Qian Sun – Blick in alle Richtungen

Qian Sun ist Journalistin.
Qian Sun arbeitet als Freie Journalistin und für den chinesischen Staatssender Phoenix TV.

Qian Suns Arbeit ist ein Balanceakt. Denn die gebürtige Nordchinesin arbeitet als Investigativ-Journalistin in Berlin und für das chinesische Fernsehen. Für Phoenix TV, einen mehrheitlich in Staatsbesitz befindlichen Fernsehsender aus Hongkong und Shenzhen, erklärt sie den Chinesen etwa die großen Linien der deutschen Politik. Kleinteiliger wird es, wenn Sun ihrer Tätigkeit als freier Investigativ-Journalistin nachgeht, etwa mit Recherchen zu Chinas Bauprojekten in Afrika. Diese Balance zwischen offiziellen Narrativen und tiefschürfender Recherche sei nicht immer einfach, wenn man wie sie aus einem autoritären Land komme, betont Sun: “Man muss das Risiko abwägen: Bist du bereit, deine eigene Familie in Gefahr zu bringen?”

Als Investigativ-Journalistin versucht Sun ihr persönliches Risiko zu minimieren, zum Beispiel mit Pseudonymen. Aber auch ohne solche Vorsichtsmaßnahmen fühle sie sich einigermaßen sicher. Denn sie sei keine Aktivistin, sondern eine Beobachterin, erklärt sie. “Ich will dokumentieren, was passiert und was die Leute fühlen.” Für den Balanceakt, den sie vollzieht, würde sich Sun aber generell mehr Verständnis wünschen, auch von ihren deutschen Kollegen.

Aufgewachsen im Wandel

Und sie rät ihren Kollegen, nach China zu fliegen und Chinesisch zu lernen. Sie selbst war seit drei Jahren nicht mehr in ihrer Heimat und merkt, wie leicht man ein Land entmenschliche, wenn man es nur von außen betrachte. “Das ist sehr gefährlich. Man muss die Emotionen der Chinesen verstehen, um darüber berichten zu können.” Sie beansprucht für sich, beide Seiten zu verstehen: den chinesischen Blick auf Europa und den europäischen Blick auf China. Dabei hilft ihr, dass sie ihren Master in Global Studies und International Communication 2011 an der Universität Leipzig gemacht hat.

Sun wächst in den Achtzigerjahren in der Provinz Shanxi auf und erlebte die finalen Jahre der chinesischen Planwirtschaft. Und sie wird als Jugendliche Zeuge der wirtschaftlichen Öffnung, die auch bei ihrer Familie ankommt und den Lebensstandard schnell erhöht. In dieser Zeit zeigt Sun exzellente Ergebnisse bei der Hochschulzugangsprüfung (Gaokao) und entscheidet sich, Sportjournalismus in Beijing zu studieren.

Von Chinas junger Generation erstaunt

Praktischerweise stehen die Olympischen Spiele 2008 vor der Tür, bei denen die sportbegeisterte Sun als Freiwillige hilft. “Ich habe mich riesig auf die Spiele gefreut und man konnte spüren, wie stark China geworden ist.” Suns Begeisterung weicht jedoch schnell der Langweile, denn so richtig gebraucht werden die Massen an jungen Leuten nicht. Doch ihrer Liebe zum Sportjournalismus hat es keinen Abbruch getan. So oft es geht, berichtet sie noch heute von Sportereignissen, etwa über die Fußballweltmeisterschaft oder die Olympischen Spiele.

Und auch Chinas wiedergewonnene Stärke betrachtet sie keinesfalls als Strohfeuer. Im Gegensatz zu Sun damals wächst Chinas junge Generation heute in einem selbstbewussten Staat auf. Chinas Schwäche hätten diese jungen Menschen nie kennengelernt, erklärt Sun. Und dennoch: Die Pandemie, die harten Lockdowns und die Proteste haben an diesem Bild der Stärke genagt. Und auch Sun hat ihren Blick verändert: “Ich hatte einen unzutreffenden Eindruck von der jüngeren Generation. Einige von ihnen sind viel kritischer und unabhängiger, als ich dachte.” Jonathan Lehrer

  • Gesellschaft
  • Zivilgesellschaft

China.Table Redaktion

CHINA.TABLE REDAKTION

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    • Arbeitsprogramm in Xinjiang betrifft Autobauer
    • Weniger Lagerinsassen, dafür mehr Häftlinge
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    • Lebenszeichen von Banker Bao Fan
    • Schweres Arbeitsumfeld für Journalisten
    • Italien lehnt Auslieferung an China ab
    • Lettland wie EU: Kein Tiktok auf Diensthandys
    • Im Porträt: Qian Sun – Investigativ-Journalistin
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    melodische Namen für perfide politische Maßnahmen finden – darin ist Chinas kommunistische Führung Weltklasse. “Frühlingsbrise 2023” nennt sich ein berufliches Beschäftigungsprogramm in Xinjiang, das gleich mehrere Zwecke erfüllt. Einfachen Bauern soll es lohnbringende Arbeitsstellen in Industriebetrieben verschaffen. Aber Menschenfreundlichkeit steckt nur bedingt dahinter. Uiguren müssen für die Arbeit zum Teil unfreiwillig in weit entfernte Regionen der Riesenprovinz ziehen, fernab ihrer Familien, unter ständiger Überwachung. Ihre Kinder werden derweil in han-chinesischen Bildungseinrichtungen betreut – und ideologisch eingenordet.

    Die Kritik an den Umerziehungslagern in Xinjiang wurde immer lauter. Zuletzt so laut, dass der Provinz-Gouverneur Erkin Tuniyaz gar seine geplante Europa-Reise kurzfristig absagte. Nun ändert die Zentralregierung in Peking ihre Taktik, wie Marcel Grzanna in seiner Analyse aufzeigt: Statt die Menschen in Camps zu schicken, werden sie einfach zu Haftstrafen verurteilt.

    Was nach einer Verbesserung für die Uiguren klingen mag, entpuppt sich in Wirklichkeit als zynische Anpassung einer grausamen Unterdrückung: Einwände aus dem Ausland gegen Haftstrafen sind mit Verweis auf die lokale Gesetzgebung leichter zu rechtfertigen. Die Repressionen lassen nicht nach, sie kommen nur in einem neuen Gewand daher.

    Ihr
    Michael Radunski
    Bild von Michael  Radunski

    Analyse

    Arbeitsprogramm erleichtert Kontrolle über Uiguren

    Bei der IAO-Konferenz in Genf werden die Vorwürfe zur Zwangsarbeit in China diskutiert.
    Uigurische Arbeiter werden in Xinjiang in so gut wie allen Arbeitsbereichen eingesetzt.

    Beim anstehenden Nationalen Volkskongress wird auch das Thema Xinjiang zur Sprache kommen. Die Delegierten der autonomen Provinz im Nordwesten Chinas werden die erfolgreiche Umsetzung der “Frühlingsbrise 2023” vermelden – einem Beschäftigungsprogramm für uigurische Arbeitskräfte in Xinjiang.

    Dort haben die Behörden binnen sechs Wochen bis Ende Februar 333 Jobmessen mit mehr als 7.000 teilnehmenden Unternehmen organisiert und Zehntausende Interessierte angelockt, schreiben chinesische Staatsmedien. Sogar drei Millionen Online-Nutzer sollen die Angebote auf digitalem Weg begutachtet haben. Das Ziel: Die Menschen in Lohnarbeit bringen – weg von ihren Feldern, raus aus ihren Häusern.

    Zweifellos werden in Xinjiang zahlreiche Arbeitskräfte benötigt. Tausende chinesische Firmen, aber auch ausländische Unternehmen haben in den vergangenen Jahren in der Region investiert. Der chinesischen Regierung verschafft das System die Möglichkeit, die versprochene wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben. Kritik an ihrer Repressionspolitik gegen die Uiguren kontert sie gerne mit dem Hinweis auf das wachsende Bruttoinlandsprodukt.

    Kontrolle über die Uiguren drastisch erleichtert

    Was sie nicht sagt, ist, dass die Industrialisierung dem Staat die Kontrolle über die Uiguren drastisch erleichtert. Offizielle Zahlen für 2021 dokumentieren die Überführung von knapp 3,2 Millionen “ländlichen Arbeitskräften” in eine Beschäftigung.

    Auch wenn die Zahl ungenau ist, weil sie Mehrfachzählungen enthält: Unter dem Strich wurden Millionen Menschen an Arbeitsplätze gebunden, die sich in neuen Industrieparks und Wirtschaftszonen befinden. Dort stehen sie rund um die Uhr unter Bewachung. Der Xinjiang-Forscher Rune Steenberg von der Universität Olmütz nannte diese Integration der Uiguren im Gespräch mit Table.Media eine neue und “raffiniertere” Methode der Überwachung.

    Das perfide System untergräbt den Forschern zufolge die Grundfesten der uigurischen Gesellschaft. Besonders, weil die Menschen nicht immer freiwillig die Arbeitsplätze annehmen. Die deutsch-uigurische Aktivistin Mihriban Memet erfuhr Ende vergangenen Jahres von dem Schicksal ihrer Verwandten. Eine Cousine berichtete, dass drei ihrer Kinder gegen ihren Willen in Fabriken deportiert wurden, um dort zu arbeiten. Zwei von ihnen in Xinjiang, ein dritter Jugendlicher “irgendwo im Landesinneren”, berichtet sie Table.Media.

    Forscher erkennen ähnliches Schema wie in Tibet

    Sie seien so weit entfernt von ihrer Heimat entfernt, dass der Kontakt zu ihrer Familie allenfalls sporadisch möglich sei. “Ihre Mobiltelefone werden kontrolliert und sie stehen vermutlich 24 Stunden täglich unter Beobachtung“, sagt Memet. Ein heimlicher Austausch mit der Familie wurde in anderen Fällen hart bestraft.

    Fabriken entstehen jedoch nicht nur in Wirtschaftszonen, sondern auch in unmittelbarer Nähe der Dörfer. Verbliebene Väter, die nicht in Haft sitzen oder in anderen Regionen arbeiten, und vor allem die Mütter sind in diesen Fabriken angestellt. Ihre Kinder müssen die Eltern in örtliche Betreuungseinrichtungen geben. Dort wird die meiste Zeit des Tages Mandarin gesprochen und nicht die Muttersprache. Gleichzeitig werden sie von Han-chinesischen Erziehenden unterrichtet. Diese orientieren sich an einem Lehrplan, der staatlich vorgeschriebenes Gedankengut enthält.

    Der Sinologe Björn Alpermann von der Uni Würzburg erkennt dahinter ein ähnliches Schema, wie es die chinesischen Behörden in Tibet anwenden. Dort werden Kinder durch systematische Schulschließungen zum Besuch weit entfernter Internate gezwungen, wo sie dauerhaft von ihren Familien entfernt aufwachsen. “So werden auch uigurische Kinder zunehmend in einer han-chinesischen Umgebung sozialisiert und ihrer kulturellen Identität entwurzelt“, sagt Alpermann zu Table.Media.

    Autoindustrie gehört zum System

    Kürzlich eine Studie der Sheffield Hallam University die tiefe Verstrickung chinesischer Automobil-Zulieferer in das Arbeitsprogramm der Region nachgezeichnet. Die chinesischen Firmen, die in Xinjiang herstellen, haben dem Report zufolge auch deutsche Hersteller als Kunden. In den Industriezonen entstehen Zulieferteile und Ersatzteile, die dem Bericht zufolge in ganz China und international in Autos von BMW, Volkswagen, Mercedes, Tesla, Toyota, Honda und Nissan zum Einsatz kommen.

    So könnte entlang der Lieferketten eben doch Produkte ihren Weg in Produkte westlicher Marken finden, die unter Menschenrechtsverletzungen hergestellt wurden. Die Studie sieht her erhebliche “Lieferkettenrisiken” für die Abnehmer. Volkswagen ist durch ein eigenes Werk in der Hauptstadt Urumqi besonders exponiert. Kein anderer Anbieter hat sich mit einem eigenen Standort nach Xinjiang gewagt.

    Volkswagen: Keine Probleme im Werk

    VW kämpft daher seit Jahren gegen den wachsen Druck aus der Heimat. “Volkswagen muss transparent darlegen, wie es den Berichten über Zwangsarbeit in seinen Lieferketten nachgeht und welche Konsequenzen es zu ziehen bereit ist”, fordert Hanno Schedler von der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV).

    Das Problem: “Volkswagen und andere ausländische Unternehmen stärken die Reputation des Standortes durch ihre Präsenz und dadurch gleichzeitig die regionale Führung, die in die Menschenrechtsverletzungen verstrickt ist”, sagt Alpermann. Auffällig ist der geringe Ausstoß des Werkes, das mit diesen Zahlen keinen ökonomischen Sinn ergibt.

    Der Autohersteller wehrt ab. Man nehme die Berichte über Zwangsarbeit in der Region sehr ernst, erwäge aber keinesfalls einen Rückzug aus Xinjiang. Mitte vergangenen Monats hatte China-Chef Ralf Brandstätter die Fabrik besucht, um Bedenken über das Engagement des Herstellers nachzugehen. Man habe keine Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen in diesem Werk, sagte Brandstätter. Das Management bemühe sich um ein gutes Betriebsklima. Er habe ausführlich mit uigurischen Mitarbeitern gesprochen.

    • Menschenrechte
    • Volkswagen
    • Xinjiang
    • Zwangsarbeit

    Neue Xinjiang-Taktik: Haftstrafen statt Umerziehung

    Das Internierungslager in Korla, im Zentrum der Provinz Xinjiang. Es besteht aus 36 Gebäuden samt Sportplatz. Satellitenaufnahme vom 27.02.2023; Quelle: Vertical52.

    Die Zahl uigurischer Insassen in den Umerziehungslagern in Xinjiang hat sich offenbar drastisch verkleinert. Recherchen von Xinjiang-Forschern lassen darauf schließen, dass möglicherweise nur noch wenige Zehntausende Menschen in den Lagern einsitzen. Gleichzeitig aber ist die Zahl der rechtskräftig Verurteilten in den örtlichen Gefängnissen auf mehrere Hunderttausend dramatisch gestiegen.

    “Wir können mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass die meisten Menschen, die in den Camps waren, inzwischen wieder raus sind”, sagt der Anthropologe Rune Steenberg von der tschechischen Universität Olmütz. “Die Camps haben ihren Zweck erfüllt. Die Erfahrungen in den Einrichtungen haben die Menschen nachdrücklich eingeschüchtert. Sie schweben jetzt wie eine ständige Bedrohung über ihren Köpfen”, sagt Steenberg.

    Intellektuelle und wirtschaftliche Eliten betroffen

    Der Anthropologe schätzt die Zahl derer, die derweil zu unverhältnismäßig langen Haftstrafen verurteilt worden sind, auf bis zu 300.000. “Wer in den Gefängnissen einsitzt, tut dies mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit aus vorgeschobenen Gründen, die in demokratischen Staaten – aber bis vor wenigen Jahren auch in China – nicht als Haftgründe gegolten hätten”, sagt Steenberg.

    Im Unterschied zu den Lagern seien von den Gefängnisstrafen vornehmlich die intellektuellen und wirtschaftlichen Eliten der Uiguren betroffen. Die chinesische Regierung glaubt offenbar, dass sie die uigurische Gesellschaft ohne deren Eliten leichter kontrollieren kann. Masseninhaftierungen in Lagern erscheinen deswegen nicht mehr nötig.

    Schätzungsweise rund 15 bis 20 Prozent der uigurischen Bevölkerung wurden im Laufe der vergangenen zehn Jahre in chinesische Camps gesteckt: rund zwei Millionen Menschen, darunter sehr viele Männer im arbeitsfähigen Alter, manchmal ganze Familien. China hatte die Existenz der Lager lange geleugnet und dann schließlich doch zugegeben, nachdem staatliche Dokumente, Satellitenaufnahmen und Augenzeugenberichte ein immer präziseres Bild des Lagernetzes gezeichnet hatten.

    Schock-Kampagne “auf Dauer nicht durchzuhalten”

    Neue Informationen aus Xinjiang lassen nun darauf schließen, dass viele der Einrichtungen geschlossen oder zu Gefängnissen umfunktioniert worden sind. Steenberg zieht seine Schlüsse unter anderem aus Informationen seines persönlichen Netzwerkes von 50 bis 70 Quellen in der Region. Menschen, die seit vielen Jahren verdeckt Informationen sammeln und ins Ausland weitergeben.

    Der Anthropologe schätzt, dass die westliche Forschung Kontakt zu insgesamt mehreren Hundert Personen in Xinjiang hat, die sie als glaubwürdige Quellen einstuft. Auch bei der Beurteilung der jüngsten Entwicklung. Es handelt sich um die gleichen Quellen, die zuvor über die drastische Expansion des Lagernetzes und die Masseninhaftierungen berichtet hatten, erklärt Steenberg. Die Informationen erwiesen sich als zutreffend und führten vergangenes Jahr zu einem Sonderbericht des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte.

    Björn Alpermann von der Universität Würzburg hält die Aussagen zu den jüngsten Entwicklungen für “sehr wahrscheinlich richtig”. Es sei unmöglich, exakte Zahlen von Insassen zu ermitteln, meint der Wissenschaftler, der sich seit Jahren intensiv mit den Vorgängen in Xinjiang befasst. Doch der Trend aus den Lagern in die Gefängnisse sei deutlich nachzuvollziehen. “Positiv bewertet könnte man sagen, die allerschlimmste Phase ist vorbei. Auf Dauer war diese Schock-Kampagne nicht durchzuhalten. Dafür werden die vermeintlich Unreformierbaren jetzt weggesperrt“, sagt Alpermann.

    Veränderungen des Kontrollsystems

    Alpermann beobachtet eine Veränderung des Kontrollsystems, das sich auf eine verstärkte Integration von Arbeitskräften in die wirtschaftlichen Strukturen stützt. Es seien viele Fabriken rund um die Dörfer entstanden, in denen die Arbeiter 24 Stunden täglich verbringen müssen und dort viel besser überwacht werden können. Im privaten Bereich sei die Überwachung durch Nachbarschaftskomitees und vor allem durch digitale Kontrolle optimiert worden.

    Beide Forscher warnen deshalb davor zu glauben, dass die Repressionen gegen die Uiguren nachgelassen haben. Auch der Weltkongress der Uiguren (WUC) fürchtet, dass die Schließung von Lagern fehlinterpretiert werden könnten. “Das darf nicht verwechselt werden mit einer Verbesserung der Gesamtsituation. Es sind lediglich die Umstände, die sich verändern“, sagt Haiyuer Kuerban, Direktor des WUC-Büros in Berlin.

    Gesetzesverstöße wirken inszeniert bis grotesk

    Die Uiguren sprechen von einem Genozid an ihrem Volk. Auch die US-Regierung sowie zahlreiche Parlamente demokratischer Staaten haben die Verfolgung der Uiguren als Völkermord anerkannt. Chinas Propaganda versucht dagegen seit Jahren, die Umerziehung der Bevölkerung als Ausbildungsprogramm und die Inhaftierungen als Anti-Terrorkampf darzustellen. Die immer lauter werdende Kritik der vergangenen Jahre habe China auf dem falschen Fuß erwischt, glaubt Rune Steenberg.

    Auch deshalb sei die Regierung dazu übergegangen, das Lagersystem deutlich zu verkleinern. Einwände aus dem Ausland gegen Haftstrafen sind mit Verweis auf die lokale Gesetzgebung dagegen leichter zu rechtfertigen. Allerdings wirken die vermeintlichen Gesetzesverstöße oftmals inszeniert bis grotesk: Das Herunterladen westlicher Messenger-Dienste oder Anwendungen zur Übertragung größerer Datenmengen, können bereits ins Gefängnis führen. Auch das Hören und Verbreiten ausländischer Lieder kann als Subversion interpretiert werden.

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    News

    Brandstätter sieht “gutes Betriebsklima” in Xinjiang

    Der Chef von Volkswagen in China, Ralf Brandstätter, hat dem umstrittenen Werk des Konzerns in Xinjiang Mitte Februar einen Besuch abgestattet. Nun weist er Kritik am Engagement des deutschen Großunternehmens in der Uigurenregion zurück. “Wir haben keine Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen in diesem Werk”, sagte er Agenturberichten zufolge. Das Management bemühe sich um ein gutes Betriebsklima.

    VW werde weiter an dem Standort festhalten, betonte Brandstätter. Von einem globalen Konzern erwarte China Vertragstreue. Er nehme aber die kritischen Berichte über die Zustände in Xinjiang “sehr ernst”.

    Der Vorwurf, dass direkt auf dem Gelände von VW Menschenrechtsverletzungen stattfinden, stand nie im Raum. Die Kritik bezieht sich darauf, durch die Präsenz eines teilstaatlichen deutschen Unternehmens zur Legitimierung der chinesischen Politik in der muslimisch geprägten Region beizutragen. Die Regierung unterdrückt dort mit brutalen Methoden die Kultur des Volks der Uiguren. fin

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    Italien lehnt Auslieferung eines Häftlings ab

    Italiens höchstes Gericht hat einen chinesischen Auslieferungsantrag abgelehnt. Begründung für das Urteil ist die “allgemeinen Gewaltsituation” in Chinas Justiz- und Strafvollzugssystem. Das Gericht in Rom hob damit eine frühere Entscheidung auf, wie die Menschenrechtsorganisation Safeguard Defenders am Donnerstag erklärte. Rom folgte damit als erster von 46 Mitgliedsstaaten des Europarats einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). In dieser hatte sich der EGMR gegen eine Auslieferung chinesischer Häftlinge oder von Sicherheitsbehörden gesuchter Menschen ausgesprochen.

    In dem Fall in Italien geht es Safeguard Defenders zufolge um ehemaligen Geschäftsführer eines chinesischen Unternehmens. Die wegen angeblicher Wirtschaftsverbrechen gesuchte Person sei im Sommer 2022 auf der Durchreise in Italien auf Basis einer Red Notice von Interpol festgenommen und anschließend unter Hausarrest gestellt worden. Bereits vor der Festnahme habe es auch Druck auf die Familie in der Volksrepublik gegeben. So sei unter anderem der Bruder verhört und bedroht worden, um die gesuchte Person zur Rückkehr nach China zu bewegen, erklärten Safeguard Defenders.

    Der EGMR in Straßburg ist keine EU-Institution, er gehört dem Europarat an. Die Staatenorganisation hat die Menschenrechte in Europa im Fokus. Der EGMR hatte in einem Fall (Liu vs. Polen) Auslieferungen chinesischer Gesuchter an die Volksrepublik als nicht zulässig bewertet. Nationale Gerichte können sich nun auf die EGMR-Entscheidung bei eigenen Urteilen berufen.

    Polen musste der betroffenen Person, einem Mann aus Taiwan, Schadensersatz zahlen, weil er in Untersuchungshaft sitzen musste. Der EGMR urteilte, dass die Auslieferung in die Volksrepublik Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention zum Verbot der Folter verletzen würde. ari

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    Lettisches Ministerium untersagt Tiktok-Nutzung

    Das lettische Außenministerium hat aus Sicherheitsgründen die Nutzung der chinesischen App Tiktok auf Diensthandys und anderen offiziellen Geräten untersagt. Dabei handle es sich um eine präventive Maßnahme, die vom internen Sicherheitsdienst des Ministeriums empfohlen worden sei, sagte eine Sprecherin am Donnerstag dem lettischen Rundfunk.

    Außenminister Edgars Rinkēvičs hatte zuvor mitgeteilt, sich von der Kurzvideo-Plattform aus dem chinesischen Bytedance-Konzern zurückgezogen zu haben. “Ich habe mein Tiktok-Konto aus Sicherheitsgründen gelöscht”, schrieb er auf Twitter unter Verweis auf die interne Regelung seines Hauses. Auch von Mitarbeitern der EU-Kommission soll Tiktok auf amtlichen Handys nicht mehr genutzt werden dürfen. ari

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    Milliardär Bao Fan “kooperiert”

    Soll Teil einer offiziellen Untersuchung der Behörden sein: der vermisst gemeldete Milliardär Bao Fan.

    Der vor rund anderthalb Wochen vermisst gemeldete Milliardär Bao Fan befindet sich offenbar in Gewahrsam chinesischer Behörden. Eine entsprechende Mitteilung setzte seine in Hongkong ansässige Investmentbank China Renaissance am Sonntag ab. Die Bank teilte mit, ihr Gründer sei zurzeit Teil einer offiziellen Untersuchung und kooperiere mit den Behörden in der Volksrepublik. Sie kündigte zudem an, “ordnungsgemäß” mit den Behörden zusammenarbeiten zu wollen.

    Mit der Meldung vom Wochenende bestätigten sich Vermutungen, dass Bao keineswegs einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen, sondern von chinesischen Behörden vorübergehend verschleppt worden ist. Die Verklausulierung, er “kooperiere” in einer Untersuchung, nutzen chinesische Behörden regelmäßig, um das spurlose Verschwinden prominenter Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Gesellschaft zu erklären. In der Regel verbirgt sich dahinter eine Drohung an die Betroffenen.

    Der chinesische Staat zwingt einflussreiche Persönlichkeiten zur “Zusammenarbeit”, wenn sie ihm zu mächtig oder aufmüpfig erscheinen. Zuletzt war vor zwei Jahren Jack Ma verschwunden, der Gründer von Alibaba. Davor waren bereits Guo Guangchang von Fosun oder Ren Zhiqiang von der Huayuan Real Estate Group zeitweilig unauffindbar. Ren hatte Xi Jinping wegen seiner Corona-Politik einen Clown genannt und sitzt seitdem im Gefängnis.

    Genaue Hintergründe im Fall Bao Fan sind bislang jedoch nicht bekannt. Dass er sich jedoch nicht aus freien Stück bei seiner Familie oder seinen Angestellten melden konnte, deutet darauf hin, dass er nicht frei über seine Handlungen entscheiden kann.

    Mitte Februar hatte die Bank über die Hongkonger Börse mitgeteilt, dass sie nicht wisse, wo sich ihr Chef aufhalte und sie keinen Kontakt zu Bao herstellen könne. Der Aktienkurs der Bank, die vor allem im Investmentbanking und der Vermögensverwaltung tätig ist, war daraufhin abgestürzt. grz

    • Fosun

    Korrespondenten beklagen Arbeitsbedingungen

    Behördenschikane, Überwachung, Einschüchterung der Gesprächspartner – gut waren die Arbeitsbedingungen für ausländische Journalisten schon vorher nicht. Doch so miserabel wie im vergangenen Jahr war es nach Angaben des Clubs der Auslandskorrespondenten (FCCC) noch nie. Seit Beginn der Corona-Pandemie vor drei Jahren habe “die Pressefreiheit im ganzen Land mit zunehmender Geschwindigkeit abgenommen”, beklagt der Journalistenverband und stützt sich auf seine jährliche Befragung unter seinen Mitgliedern. Die Arbeitsbedingungen “entsprechen nicht internationalen Standards”.

    Wie aus dem Bericht weiter hervorgeht, beklagte mehr als ein Drittel der befragten Medienschaffenden, dass mindestens eine ihrer Quellen belästigt, festgenommen oder zum Verhör gebeten wurden oder auf andere Weise unter Druck gerieten, weil sie mit ausländischen Journalisten gesprochen hatten. Im Vorjahr war es ein Viertel. 78 Prozent berichteten, dass potenzielle Interviewpartner gar nicht mit ihnen sprechen durften. Beteiligt an der Umfrage haben sich 102 Journalistinnen und Journalisten.

    Der Korrespondentenclub sprach vom “schwierigsten Jahr” als Journalist in China. Die Kontrollen der Null-Covid-Politik, seien eingesetzt worden, um die Berichterstattung der Korrespondenten noch stärker einzuschränken. Knapp die Hälfte der Befragten durften zum Teil über Monate hinweg nicht ihren Ort verlassen, obwohl sie selbst nach Chinas strikten Regeln kein Gesundheitsrisiko dargestellt hätten.

    Die Covid-Kontrollen sind inzwischen aufgehoben. “Aber eine Reihe staatlicher Restriktionen, anhaltende digitale Überwachung und fortgesetzte Belästigung chinesischer Kollegen und Quellen zeugten davon, dass die Herausforderungen für echte Pressefreiheit bestehen bleiben”, beklagt der Auslandspresseclub. flee

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    • Menschenrechte

    Heads

    Qian Sun – Blick in alle Richtungen

    Qian Sun ist Journalistin.
    Qian Sun arbeitet als Freie Journalistin und für den chinesischen Staatssender Phoenix TV.

    Qian Suns Arbeit ist ein Balanceakt. Denn die gebürtige Nordchinesin arbeitet als Investigativ-Journalistin in Berlin und für das chinesische Fernsehen. Für Phoenix TV, einen mehrheitlich in Staatsbesitz befindlichen Fernsehsender aus Hongkong und Shenzhen, erklärt sie den Chinesen etwa die großen Linien der deutschen Politik. Kleinteiliger wird es, wenn Sun ihrer Tätigkeit als freier Investigativ-Journalistin nachgeht, etwa mit Recherchen zu Chinas Bauprojekten in Afrika. Diese Balance zwischen offiziellen Narrativen und tiefschürfender Recherche sei nicht immer einfach, wenn man wie sie aus einem autoritären Land komme, betont Sun: “Man muss das Risiko abwägen: Bist du bereit, deine eigene Familie in Gefahr zu bringen?”

    Als Investigativ-Journalistin versucht Sun ihr persönliches Risiko zu minimieren, zum Beispiel mit Pseudonymen. Aber auch ohne solche Vorsichtsmaßnahmen fühle sie sich einigermaßen sicher. Denn sie sei keine Aktivistin, sondern eine Beobachterin, erklärt sie. “Ich will dokumentieren, was passiert und was die Leute fühlen.” Für den Balanceakt, den sie vollzieht, würde sich Sun aber generell mehr Verständnis wünschen, auch von ihren deutschen Kollegen.

    Aufgewachsen im Wandel

    Und sie rät ihren Kollegen, nach China zu fliegen und Chinesisch zu lernen. Sie selbst war seit drei Jahren nicht mehr in ihrer Heimat und merkt, wie leicht man ein Land entmenschliche, wenn man es nur von außen betrachte. “Das ist sehr gefährlich. Man muss die Emotionen der Chinesen verstehen, um darüber berichten zu können.” Sie beansprucht für sich, beide Seiten zu verstehen: den chinesischen Blick auf Europa und den europäischen Blick auf China. Dabei hilft ihr, dass sie ihren Master in Global Studies und International Communication 2011 an der Universität Leipzig gemacht hat.

    Sun wächst in den Achtzigerjahren in der Provinz Shanxi auf und erlebte die finalen Jahre der chinesischen Planwirtschaft. Und sie wird als Jugendliche Zeuge der wirtschaftlichen Öffnung, die auch bei ihrer Familie ankommt und den Lebensstandard schnell erhöht. In dieser Zeit zeigt Sun exzellente Ergebnisse bei der Hochschulzugangsprüfung (Gaokao) und entscheidet sich, Sportjournalismus in Beijing zu studieren.

    Von Chinas junger Generation erstaunt

    Praktischerweise stehen die Olympischen Spiele 2008 vor der Tür, bei denen die sportbegeisterte Sun als Freiwillige hilft. “Ich habe mich riesig auf die Spiele gefreut und man konnte spüren, wie stark China geworden ist.” Suns Begeisterung weicht jedoch schnell der Langweile, denn so richtig gebraucht werden die Massen an jungen Leuten nicht. Doch ihrer Liebe zum Sportjournalismus hat es keinen Abbruch getan. So oft es geht, berichtet sie noch heute von Sportereignissen, etwa über die Fußballweltmeisterschaft oder die Olympischen Spiele.

    Und auch Chinas wiedergewonnene Stärke betrachtet sie keinesfalls als Strohfeuer. Im Gegensatz zu Sun damals wächst Chinas junge Generation heute in einem selbstbewussten Staat auf. Chinas Schwäche hätten diese jungen Menschen nie kennengelernt, erklärt Sun. Und dennoch: Die Pandemie, die harten Lockdowns und die Proteste haben an diesem Bild der Stärke genagt. Und auch Sun hat ihren Blick verändert: “Ich hatte einen unzutreffenden Eindruck von der jüngeren Generation. Einige von ihnen sind viel kritischer und unabhängiger, als ich dachte.” Jonathan Lehrer

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