noch drei Wochen bis zum Beginn der Olympischen Winterspiele in Peking. Wir blicken voraus und zugleich zurück: Im Interview mit Frank Sieren erzählt der ehemalige Botschafter Michael Schaefer vom diplomatischen Umgang mit den Spielen im Jahr 2008. Heute ist schon fast vergessen, dass Menschenrechte auch damals Diskussionsthema waren. Deutschland war daher nur sehr zurückhaltend vertreten. Auch diesmal sollte Deutschland nach einem Kompromiss suchen, mit dem sich ein Zeichen setzen lässt, ohne gleich den Dialog abzubrechen, findet Schaefer.
Der erfahrene Diplomat plädiert zudem für eine “rote Linie” bei Produkten, die mit Zwangsarbeit hergestellt werden. Die EU-Mitgliedsstaaten sollten schnell zu einer gemeinsamen Strategie gegenüber China finden. Und Peking müsse seinerseits aufhören, die EU-Staaten gegeneinander aufzubringen, so Schaefer.
Doch wie gut stehen die Chancen für Einigkeit der westlichen Verbündeten? Großbritannien durchlebt gerade einen Politskandal mit China-Bezug. Der Inlandsgeheimdienst MI5 warnte die Parlamentarier vor einer britischen Anwältin mit Wurzeln in Hongkong. Christine Lee versuche, die Politik Großbritanniens im Sinne Chinas zu beeinflussen. In den letzten Jahren spendete Lee mehrere Hunderttausend Pfund an unterschiedliche Politiker. Besonders brisant: Der MI5 hat Kontakte Lees zur chinesischen Einheitsfront aufgezeigt, wie Marcel Grzanna berichtet. Diese Organisation der KP versucht auf unterschiedliche Weise, das Bild Chinas im Ausland zu beeinflussen.
Die Grünen-Politikerin und Wirtschafts-Staatssekretärin Franziska Brantner war derweil zu Gesprächen in der litauischen Hauptstadt Vilnius. Die Wahl des Reiseziels war für die ehemalige EU-Abgeordnete natürlich kein Zufall. Brantner zeigte Unterstützung für Litauen, das aufgrund eines Taiwan-Büros mit China aneinandergeraten war.
Der schwedische Ex-Diplomat und Politikberater Viking Bohman ordnet den Vorgang für uns ein. Im Interview mit Amelie Richter erklärt er: “Es wäre schlecht für die EU und ihre Glaubwürdigkeit, wenn es China schafft, dass Litauen von seiner Position zurückweicht.” Es gehe hier nicht ums Gewinnen und Verlieren, sondern um Realpolitik. Aus einem Rückzieher würde Peking lernen, dass Einschüchterungstaktiken gegenüber Europa funktionieren.
Bei der Vorbereitung des künftigen EU-Instruments gegen wirtschaftlichen Druck befürchtet Bohman derweil eine fatale Fehleinschätzung. Die Strategie basiere auf der Annahme, dass China sein Verhalten ändert, sobald die EU so ein Instrument habe. Das sei falsch. Zwar treibe die EU die wirtschaftlichen Kosten für Einschüchterungsversuche hoch. Doch das China unter Xi sei bereit, diese Kosten für seine Politikziele in Kauf zu nehmen. Das Ergebnis wären immer neue, ermüdende Grabenkämpfe, wie wir sie derzeit schon um Litauen erleben.
Herr Schaefer, bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in Peking im Sommer 2008 waren Sie als Botschafter der ranghöchste Vertreter der deutschen Politik, wenn man von der privaten Anwesenheit des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder einmal absieht. Damals hat die deutsche Bundesregierung mit einer Art diplomatischem Boykott gegen Chinas Menschenrechtskurs protestiert. Das hat Peking sicher nicht gefallen. Wie haben Sie das zu spüren bekommen?
Peking hat sich über diese symbolische Entscheidung Deutschlands nicht außergewöhnlich irritiert gezeigt. Die Entscheidung kam für beide Seiten ja nicht überraschend. Ein Jahr zuvor hatte Bundeskanzlerin Merkel den Dalai Lama in Berlin empfangen. Danach hatte Peking eine Eiszeit in den Beziehungen verkündet. Das Verhältnis hatte sich dann Anfang 2008 durch einen Briefwechsel entspannt. Doch im März 2008 nahm die Spannung angesichts der Entwicklungen in Tibet wieder zu. Deshalb gab es also eine abgestufte Reaktion der Bundesregierung: Boykott der Eröffnung, doch während der Spiele Teilnahme von zwei Bundesministern – Wolfgang Schäuble, als Innenminister für Sport zuständig, und Franz Josef Jung, als Verteidigungsminister für die Sportförderung in den Sportkompanien zuständig. Bei der Eröffnung der Paralympischen Spiele war dann sogar der damalige Bundespräsident Horst Köhler anwesend.
Wie haben Sie die Entscheidung als Botschafter empfunden?
Ich hielt das damals für eine gute, differenzierte Entscheidung, mit der ich als Botschafter vor Ort gut arbeiten konnte.
Allerdings waren zum Beispiel der französische Präsident Nicolas Sarkozy und der amerikanische Präsident George W. Bush damals bei der Eröffnung anwesend. Haben die Chinesen Sie das nicht spüren lassen?
Nicht sonderlich. Wir waren ja nicht allein. Die Briten, die Spanier, die Italiener oder die Polen haben sich wie Deutschland verhalten. Ebenso die Inder oder der Generalsekretär der Vereinten Nationen Ban Ki-moon.
Wie wirkungsvoll sind solche politischen Gesten?
Wenn man die Chinesen kennt, dann weiß man, dass Image ihnen wichtig ist, besonders bei einer solchen Weltveranstaltung, die sie zum ersten Mal ausrichten. Aber sie haben es professionell genommen und konnten dennoch verkünden, dass noch bei keinen Olympischen Spielen mehr Staatschefs und Staatsoberhäupter vertreten waren. Und dass Olympische Spiele Gegenstand politischer Proteste werden können, ist ja nichts Neues.
Als Botschafter hat man ja zwei Herzen in seiner Brust. Einerseits kann man nachvollziehen, dass auf Menschenrechtsverletzungen Reaktionen folgen müssen, andererseits sollen die Beziehungen harmonisch sein. Wie haben Sie das nach den Spielen ausbalanciert?
Ihre Feststellung ist richtig. Man möchte Beziehungen schaffen, die auch sehr unterschiedliche Standpunkte aushalten, ohne dass die Beziehungen jedes Mal eskalieren, eben weil es ein grundsätzliches Vertrauen gibt. Das war mir besonders wichtig, weil mir die Menschenrechtslage sehr am Herzen lag und liegt. Ich war vier Jahre in Genf zuständig für die Menschenrechtskommission. Das hat mich geprägt. Dort ging es mir vor allem um die Frage, wie man handeln muss, damit es mittel- und langfristige positive Veränderungen für die Menschen gibt. Ich war schon immer gegen reine Symbolpolitik, die vor allem auf die eigene Innenpolitik gerichtet ist.
Wie schafft man solche Veränderungen?
Die wichtigste Voraussetzung: Die Bundesregierung und die EU müssen in Menschenrechtsfragen mit einer Stimme sprechen. Es ist nicht gut, wenn ein Vertreter besonders lautstark auftritt und ein anderer mit Stillschweigen gegenüber Peking agiert. Das untergräbt die Glaubwürdigkeit unserer politischen Linie. Und man sollte sich nicht als Lehrmeister aufspielen, sondern deutlich machen, dass unserer Erfahrung nach die Verwirklichung individueller wie kollektiver Menschenrechte auch im Interesse einer stabilen gesellschaftlichen Entwicklung ist.
Bekommt die neue Bundesregierung das gut hin? War die Entscheidung, nicht zur Eröffnung der Olympischen Winterspiele 2022 zu fahren, richtig?
Ich denke, die Entscheidung der Bundesregierung, nicht zu der Eröffnung der Olympischen Winterspiele zu reisen, ist richtig – mal abgesehen davon, dass es wegen der neuen Corona-Welle sowieso schwierig geworden wäre. Was den Gleichklang innerhalb der Regierung betrifft, ist es für ein Urteil noch zu früh. Eine solche gemeinsame Linie ist nicht von heute auf morgen durchsetzbar. Jeder Bundeskanzler hat anfangs damit zu kämpfen, eine Linie zu finden und sie in der Regierung durchzusetzen.
Was ist in diesem Prozess besonders wichtig?
Dass alle Beteiligten die unterschiedlichen Perspektiven der Debatte um China verstehen. Die Chinesen sagen: Ihr benutzt die Menschenrechte nur, um uns kleinzuhalten und in die Ecke zu stellen. Wir wollen selbst bestimmen, wie wir uns entwickeln. Da spielt das Trauma der Teilkolonialisierung durch den Westen sicher noch eine wichtige Rolle. Wir antworten wiederum: Unsere Geschichte ist geprägt durch zwei Diktaturen mit massiven von Deutschen verursachten Menschenrechtsverletzungen. Wir haben einen Lernprozess durchgemacht. Individuelle Freiheit betrifft immer auch die Stabilität der Gesellschaft als Ganzes. Und diese Erfahrung zu teilen, ist wichtig. Genau wie China seine nationale Souveränität besonders wichtig ist. Gerade auch mit jungen Leuten an Universitäten in China habe ich oft darüber diskutiert und bin auf eine große Offenheit gestoßen.
Ein anderes Argument, das aus Peking immer kommt: China hält sich an die Menschenrechte, aber priorisiert eine andere Reihenfolge als der Westen. Erst Essen, Gesundheit, Arbeit und Bildung, dann Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und freie Wahlen. Ist das die Schutzbehauptung einer Diktatur?
Grundsätzlich ist diese Reihenfolge nicht falsch. Ich habe das in den Jahren als stellvertretender Botschafter in Singapur immer wieder gehört, besonders eindringlich von Lee Kuan Yew, dem Gründer und damaligen Ministerpräsidenten des Stadtstaates. Er unterschied zwischen bürgerlichen und politischen sowie wirtschaftlich und sozialen Menschenrechten. Vorrang hätten bei sich entwickelnden Gesellschaften immer die wirtschaftlichen und sozialen Rechte. Ich habe dann stets auf die allgemeine Menschenrechts-Deklaration der Vereinten Nationen hingewiesen, die alle UNO-Mitglieder unterschrieben haben. Und die kennt keine Rangfolge von Menschenrechten. Allerdings wurde beide Komplexe in zwei großen, unterschiedlichen Menschenrechtspakten ausdifferenziert. Die haben auch die Chinesen unterschrieben. Und daran müssen sie sich halten.
Das ist allerdings nicht der Fall, wenn man die Entwicklungen in Xinjiang und Hongkong betrachtet.
Für die politischen und bürgerlichen Rechte kann man das so feststellen, für die wirtschaftlichen und sozialen Rechte nicht. Die wirtschaftliche und soziale Lage der allermeisten Menschen in China hat sich in nur einer Generation sehr schnell und nachhaltig verbessert. Bei den politischen und zivilen Rechten hingegen ist inzwischen eine klare Linie der chinesischen Führung immer deutlicher erkennbar: Sie sollen für China nicht die Bedeutung bekommen, die sie im Westen haben. Das ist eine Entscheidung, die für mich unakzeptabel ist.
Was nun?
Mit der Brechstange können wir solche Themen nicht durchsetzen. Deshalb sollten wir an einer Stelle ansetzen, wo die Rechtsverletzung Ländergrenzen überschreitet, etwa bei der Produktion von Wirtschaftsgütern. Da können wir sagen: Güter, die zum Beispiel in Umerziehungslagern in Xinjiang gefertigt wurden, wollen wir nicht importieren, denn das ist eine flagrante Verletzung des Völkerrechts. Insofern ist das neue Lieferkettengesetz ein sinnvoller Schritt. Hier können und sollten wir eine rote Linie setzen.
Zumal die Stimmung insgesamt viel kontroverser ist als 2008.
Umso wichtiger wäre es, intensive Diskussionen mit den Chinesen zu führen.
Die von der EU verhängten Sanktionen und die Sanktionen der Chinesen als Antwort darauf weisen in eine andere Richtung.
Ja. Das ist eine falsche Entwicklung. Sanktionen sollten der Schlusspunkt nach erfolgloser Diskussion sein. Die Sanktionen kamen jedoch zu einem Zeitpunkt, zu dem es in den Gesprächen noch Spielräume gegeben hat, die man hätte nutzen können. Das ist jetzt viel schwieriger. Deswegen drängt sich der Eindruck auf, dass bei dem einen oder anderen Beteiligten innenpolitische, möglicherweise sogar wahltaktische Interessen eine größere Rolle gespielt haben, als sich mit China zu einigen, was nicht einfach ist.
Hinzu kommt, dass die Uneinigkeit auf europäischer Ebene, was nun zu tun sei, eher größer geworden ist.
Das ist die zweite falsche Entwicklung. Ein Dialog ist nicht möglich, wenn Europa nicht mit einer Stimme spricht. Wir haben bisher keine wirklich in die Tiefe gehende China-Strategie von europäischer Seite. Die ist jedoch absolut erforderlich. Mit einem Boykott der Eröffnung der Olympischen Winterspielen und Sanktionen ist es jedenfalls nicht getan.
Worin bestehen die Hausaufgaben der Chinesen?
Die Chinesen müssen erstens lernen, dass sie jetzt Teil einer internationalen Gemeinschaft sind, in der Regeln für alle gelten, nicht nur für die anderen. Sie können sich nicht das heraussuchen, was ihnen am besten passt. Die zweite: China muss aufhören, die Europäische Union durch bilaterale Verhandlungen, ich will nicht sagen: zu spalten, aber doch in einzelnen Fragen gegen einander aufzubringen. Klar ist auch: Niemand kann Peking zwingen, keine bilateralen Absprachen mit Ungarn, Rumänien oder Bulgarien zu haben, die möglicherweise einem europäischen Konsens widersprechen. Aber, ob das langfristig klug ist, ist zweifelhaft. China sollte erkennen, dass ein starkes Europa, vor allem auch im Wettbewerb mit den USA, im Eigeninteresse Chinas liegt.
Was bedeutet das für China und die EU konkret?
Wir müssen wieder miteinander reden, und zwar am besten nicht zunächst über die strittigen Themen, sondern über Themen, die im einvernehmlichen Interesse liegen. Das sind Themen wie der Klimawandel oder die Gesundheitspolitik. Und bei diesen Gesprächen müssen wir deutlich machen, dass wir keine Politik im Schlepptau der Amerikaner machen.
Aber ist das nicht faktisch so?
So scheint es jedenfalls derzeit. Ich glaube aber, dass Europa gut daran tut, sich nicht nolens volens einer amerikanischen Politik anzuschließen, die sehr stark von geopolitischen Interessen geprägt ist, nämlich zum Beispiel von der Vorherrschaft im Pazifik. Das ist nicht das vorrangige Interesse Europas. Wir haben ein Interesse an einem stabilen, regelbasierten internationalen System sowie zum Beispiel der Freiheit der Schifffahrtsstraßen. Umfassendere Interessen haben wir im Pazifik nicht und sollten auch nicht so tun. Ich glaube, Europa tut gut daran, seine eigene Klimapolitik zu definieren. Auch im Bereich des Handels und der Investitionsbedingungen haben wir eigene Interessen. Hier gibt es Verhandlungsspielraum mit den Chinesen. Aber fairer Handel bedeutet, dass sich beide Seiten an die vereinbarten Spielregeln halten.
Diese Gespräche sehe ich aber nicht, weil Europa sich nicht einig ist, was zu tun wäre.
China hat es sehr geschickt verstanden, mit einzelnen europäischen Staaten Beziehungen zu entwickeln, die ihnen kurzfristig Vorteile zu bringen scheinen. Aber wenn sich Europa weiterhin auseinanderdividieren lässt, dann wird es global keine Rolle spielen. Wir müssen lernen, mit einer Stimme zu sprechen, nicht nur China, auch den USA gegenüber. Wir müssen das Klein-Klein nationaler, sich widersprechender Politik überwinden.
Das Problem dabei ist, dass Deutschland als Exportnation eine andere Abhängigkeit von China hat als zum Beispiel Frankreich.
Die Abhängigkeit bedeutet allerdings auch mehr Einfluss auf China. Deutschland hat als stärkste Wirtschaftsnation in Europa mehr Gewicht als kleinere Handelspartner. Deshalb kann Deutschland eine zentrale Rolle spielen, wenn es darum geht, die gemeinsamen Spielregeln der EU mit China auszuhandeln.
Dabei sollten wir Führung zeigen in Europa und den Chinesen klarmachen: Sie sind jetzt eine starke Wirtschaftsnation, für die es keine Sonderbehandlung mehr geben kann. Sie müssen sich an die gleichen Regeln halten wie wir. Die müssen wir aushandeln. Dabei geht es um eine Balance zwischen Werten und Interessen der EU und Chinas. Das ist die Chance der gegenseitigen Abhängigkeit. Sich immer nur mit den Risiken zu beschäftigten bringt wenig.
Besteht in dieser Balance nicht die Gefahr, dass die Menschenrechtsthemen ins Hintertreffen geraten angesichts der tiefgreifenden Wirtschaftsinteressen.
Ich glaube, diese Frage ist falsch gestellt. Natürlich muss man Menschenrechtsverletzungen kritisch ansprechen. Die Frage ist nur, ob das immer mit dem großen Lautsprecher passieren muss. Oder ob man Menschenrechtsverletzungen auch, so wie das die Bundeskanzlerin über viele Jahre gemacht hat, in vertraulichen Gesprächen thematisieren kann. Es ist oft in der Öffentlichkeit kritisiert worden, dass sie sich zu stark zurückgehalten hat. Ich war ja oft dabei und habe gehört, mit welchem Nachdruck sie gerade auch solche Themen angesprochen hat. Wichtig dabei ist, was am Ende für die Menschen, die betroffen sind, herauskommt. Wir sollten das Ziel verfolgen, gemeinsame Spielregeln zu etablieren, an die sich beide Seiten halten.
Michael Schaefer gilt als einer der erfahrensten deutschen Diplomaten. Nach verschiedenen Positionen, unter anderem bei den Vereinten Nationen in New York, war der im Völkerrecht promovierte Volljurist vier Jahre als ständiger Vertreter in Singapur eingesetzt. Vier Jahre lang vertrat er Deutschland in Genf in der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, wo er sich immer wieder mit China beschäftigen musste. Von 2002 bis 2007 war er der politische Direktor des Auswärtigen Amts und Sicherheitsberater der Außenminister Joschka Fischer (Bündnis90/Die Grünen) und Frank-Walter Steinmeier (SPD). Von 2007 bis 2013 war er als Botschafter in Peking stationiert. Danach wechselte er als Vorsitzender des Vorstandes zur BMW-Foundation, wo er unter anderem die Zukunftsbrücke – Chinese German Young Professional Campus aufgebaut hat.
Litauen ist das jüngste Beispiel für wirtschaftliche Erpressung aus Peking, aber nicht das erste. Können Sie uns einen kleinen Überblick geben?
Diese Art der wirtschaftlichen Staatskunst, die derzeit aus Peking kommt, ist nichts Neues. Andere Länder waren in den letzten Jahren von ähnlichen und teilweise umfangreicheren Zwangsmaßnahmen betroffen: Australien, weil dieses eine Untersuchung der Ursprünge des Covid-19-Virus gefordert hat. Kanada nach der Festnahme von Huaweis Meng Wanzhou. Und Südkorea nach seiner Entscheidung, ein US-Raketenabwehrsystem zu installieren. Auch in der Europäischen Union, beispielsweise in Schweden, gab es viele Fälle, in denen wirtschaftlicher Zwang in Form von Reisewarnungen zur Einschränkung des Tourismus, Absagen von Wirtschaftsdelegationen und -gesprächen und Druck auf einzelne Unternehmen ausgeübt wurde. Das war zuletzt eine Reaktion auf die Entscheidung, Huawei und ZTE von Teilen des schwedischen Telekommunikationsnetzes auszuschließen. Was aber in Litauen passiert, ist im Vergleich zu dem, was wir davor gesehen haben, ein ganz neues Niveau.
Haben die wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen aus China in den vergangenen Jahren zugenommen?
Es scheint in der Tat so, als ob die Häufigkeit von offenem wirtschaftlichen Zwang in den letzten Jahren zugenommen hat. Und das scheint insbesondere für europäische Länder zu gelten, obwohl der Druck dort auf viel geringerem Niveau ausgeübt wurde. Dass das Ausmaß von Chinas offenem wirtschaftlichen Zwang in den letzten Jahren zugenommen hat, sieht man auch an dem umfangreichen Vorgehen gegen Länder wie Australien, Kanada, Südkorea, Schweden und Litauen. Der Druck, den Peking bereit ist, auszuüben, hat zugenommen. Ein weiteres Indiz für die wachsende Bereitschaft Chinas, wirtschaftliche Erpressung auszuüben, ist die Verhängung von Sanktionen in Form von Reise- und Geschäftsbeschränkungen gegen europäische Unternehmen und Einzelpersonen im März 2021.
Ist Peking mit dieser Strategie denn erfolgreich? Und wenn nicht, was ist dann die größere Absicht dahinter?
Es hängt davon ab, was wir als Chinas Ziel dahinter vermuten. Gehen wir davon aus, dass das Ziel darin besteht, die vermeintlich China-kritische Politik einiger Zielländer wieder umzukehren, dann war China in den letzten Jahren selten erfolgreich. In Schweden zum Beispiel stieß Chinas Vorgehen auf heftige Kritik und konnte die Politik wie den Ausschluss von Huawei nicht rückgängig machen. Eher im Gegenteil: Andere Länder prüften nun auch den Einsatz von Huawei und ZTE, zum Beispiel Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Und diese Länder sind ziemlich auf den Handel mit China angewiesen. Der wirtschaftliche Zwang scheint also manchmal kontraproduktiv zu sein. Die Maßnahmen verursachen viel Ärger, und das schadet Chinas Image als zuverlässiger Handelspartner.
Sie haben bereits die Beispiele in Ihrem Heimatland Schweden mit dem Ausschluss von Huawei und ZTE erwähnt. Sehen Sie langfristige Auswirkungen des chinesischen Zwangs in Schweden?
Ericsson hat einen erheblichen Marktanteilsverlust in China gemeldet, und das ist natürlich ein wichtiges schwedisches Unternehmen. Aber ich glaube nicht, dass es einen signifikanten Einfluss auf die schwedische Wirtschaft als Ganzes hatte und es kommt auch nicht annähernd an das heran, was derzeit mit Litauen passiert. Wenn man sich den Handel zwischen Schweden und China ansieht, ist das Volumen in den vergangenen Jahren sogar gestiegen. Obwohl wir also ein Allzeittief der politischen Beziehungen erlebt haben, wurden die wirtschaftlichen Beziehungen nicht in großem Umfang beeinflusst.
Würden Sie sagen, dass der Fall Litauen etwas Besonderes ist, oder kann das in dieser Form jedem Land passieren?
Was mit Litauen passiert, ist meines Wissens beispiellos. Es scheint, dass es eine pauschale Handelsaussetzung für Waren aus Litauen gibt. China hat schon früher Handelsbeschränkungen gegen Länder verhängt, diese haben aber immer auf bestimmte Sektoren, Industrien oder Unternehmen abgezielt, wie beispielsweise in Australien, Südkorea oder Kanada. Litauen schien in der Lage zu sein, die Blockade auszusitzen, da es nur sehr wenig mit China handelt. Nun sehen wir aber auch, dass China Druck auf multinationale Unternehmen ausübt, damit diese ihre Verbindungen zu Litauen abbrechen oder riskieren, vom chinesischen Markt ausgeschlossen zu werden. Und das ist wirklich beachtlich. Investoren könnten sich aus litauischen Unternehmen zurückziehen und nach anderen Lieferanten suchen. Das könnte sich merklich auf die Wirtschaftsströme innerhalb der EU auswirken. Das bedroht die Integrität des EU-Binnenmarktes.
Glauben Sie, dass der Fall Litauen andere EU-Länder davon abhält, denselben Weg zu gehen? Ist China hier mit seinem Zwangsansatz erfolgreich?
Es hängt wirklich davon ab, wie sich das entwickeln wird. Eine Frage ist, ob Litauen seine derzeitige Politik und den Namen der taiwanesischen Vertretung beibehalten wird. Wie bedeutend werden die wirtschaftlichen Auswirkungen des Drucks sein und wie viel Unterstützung wird Litauen von der EU und anderen Partnern erhalten? Wenn die Auswirkungen zu groß werden, könnten andere Länder aber tatsächlich davon abgehalten werden, ähnliche Schritte wie Litauen zu unternehmen.
Doch Litauen hat auch schnell auf die Drohungen aus China reagiert.
Ich denke, man kann viel aus dem Vorgehen der litauischen Regierung lernen: Sie hat beispielsweise eine Hotline für betroffene Unternehmen eingerichtet und geprüft, wie sie diese Unternehmen unterstützen können. Vilnius hat versucht, sich mit Verbündeten abzustimmen, und sie haben nach Möglichkeiten für alternative Lieferketten gesucht. Es wird interessant, später zu sehen, wie gut das funktioniert hat.
Der litauische Präsident hat es kürzlich erstmals offiziell “einen Fehler” genannt, das “Taiwan-Büro” in Vilnius unter diesem Namen eröffnen zu lassen. Sehen wir nun erste Risse in der litauischen Position unter dem Druck aus China?
Es ist schwer, das anhand einer Aussage zu sagen. Die Tatsache, dass er die Entscheidung für einen Fehler hält, muss nicht unbedingt bedeuten, dass er die gesamte Politik rückgängig machen möchte. Einige Beobachter mögen das aber vielleicht als Hinweis darauf werten, dass Litauen unter großem Druck steht und dass es mehr Unterstützung von der EU und anderen Verbündeten benötigt, um damit fertig zu werden. Es wäre schlecht für die EU und ihre Glaubwürdigkeit, wenn es China schafft, dass Litauen von seiner Position zurückweicht.
Das geplante Anti-Zwangs-Instrument (ACI) soll genau die Situationen verhindern, mit der Litauen derzeit konfrontiert ist. Die EU-Kommission will das Instrument primär zur Abschreckung einsetzen und hofft, dass es nie zum Einsatz kommt. Ist das ein wirksamer Ansatz gegen China?
Eines der Hauptprobleme bei diesem Instrument besteht darin, dass es China abschrecken soll. Befürworter sagen, die bloße Existenz des ACI werde eine abschreckende Wirkung haben. Es müsste dann idealerweise nie verwendet werden. Das halte ich für ziemlich unwahrscheinlich. Chinas aktueller außenpolitischer Kurs deutet darauf hin, dass die Macht der EU, die Entscheidungsfindung in Peking zu beeinflussen, recht gering ist. Und es scheint rote Linien zu geben, die von Chinas Spitzenpolitikern definiert wurden und an denen sie nicht weichen wollen. Um die Glaubwürdigkeit dieser roten Linien zu verteidigen, scheint China bereit zu sein, recht hohe Reputations-, politische und wirtschaftliche Kosten in Kauf zu nehmen.
Was hätte das für Konsequenzen?
Mir erscheint es unwahrscheinlich, dass China nach seinem derzeitigen kompromisslosen “Wolfskrieger”-Ansatz in der Diplomatie auf die Zwangsmaßnahmen verzichten würde, nur um die wirtschaftlichen Kosten einer europäischen Handels- und Investitionsbeschränkung zu vermeiden. Das bedeutet nicht, dass die EU nichts tun sollte. Aber die Strategie kann nicht auf der Annahme basieren, dass China sein Verhalten ändert. China könnte diese Art von wirtschaftlichem Druck fortsetzen, und das müssen wir einplanen.
Sie schlagen vor, dass sich der Fokus von ACI mehr darauf richten sollte, Chinas wirtschaftlichen Druck besser zu absorbieren, anstatt Gegenmaßnahmen als Option zu ergreifen. Können Sie das etwas näher erläutern?
Das Problem mit einem Instrument, das auf Gegenmaßnahmen fokussiert ist, ist, dass es dem Land, das von Chinas wirtschaftlichem Zwang betroffen ist, nicht viel bringt. Und das könnte dann tatsächlich dazu führen, dass China erfolgreich Länder verängstigt und davon abhält, die Volksrepublik zu kritisieren oder gegen seine Interessen zu handeln. Eine Möglichkeit, das zu lösen, wäre, den Fokus von Gegenmaßnahmen auf Möglichkeiten zu verlagern, die darauf abzielen, die Auswirkungen des Zwangs abzufedern. Die Hauptfunktion des ACI wäre es dann, den betroffenen EU-Mitgliedsstaaten maßgeschneiderte Unterstützung zu bieten, um die wirtschaftlichen Auswirkungen zu verhindern, beispielsweise bei der Unterbrechungen der Lieferketten.
Das würde eine Neuausrichtung des ACI bedeuten.
Im Rahmen des ACI könnte so auch geholfen werden, neue Beziehungen zu alternativen Partnern und Lieferanten zu eröffnen oder finanzielle Unterstützung für bestimmte Wechselkosten bereitzustellen. Das Instrument könnte auch aus einem Solidaritätsmechanismus bestehen, in dem die Mitgliedstaaten auf freiwilliger Basis zustimmen, einen Teil der wirtschaftlichen Last mit dem betroffenen EU-Staat zu teilen. Das Ziel wäre hier nicht, China abzuschrecken, sondern einen Versuch des Drucks wirkungslos zu machen und gleichzeitig eine eigenständige politische Richtung beizubehalten.
Welche weiteren Schwachpunkte sehen Sie im aktuellen Vorschlag der EU-Kommission zum ACI?
Ein weiteres Problem für den Mechanismus besteht darin, dass Chinas wirtschaftliche Erpressungen normalerweise sehr schwer zu beweisen sind. Peking operiert in einer Grauzone und es ist schwer zu sagen, ob der Staat zu den Zwangsmaßnahmen direkt beiträgt. Zum Beispiel ist es schwierig, zu überprüfen, ob ein Boykott gegen ein Unternehmen oder eine abgesagte Geschäftsdelegation direkt vom Staat verursacht wird. Und so wird es schwer, eine WTO-Klage zu stützen. Brüssel müsste dann wahrscheinlich Wege finden, den Zwang zu belegen, bevor man überhaupt über die Verwendung des ACI nachdenken kann.
Was sehen die bisherigen Entwürfe hier vor?
Im vorliegenden Vorschlag wird die Entscheidungen über die Anwendung des ACI von der EU-Kommission nach einer Anhörung in einem Ausschuss getroffen, der sich aus Vertretern der Mitgliedstaaten zusammensetzt. Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Option ist und ob sie so von den Mitgliedstaaten akzeptiert wird. Da die Probleme sehr politisch und außenpolitisch sein werden, erwarte ich eine wichtigere Rolle der Mitgliedsstaaten.
Das ACI gibt es noch nicht und es wird noch dauern, bis es in Kraft treten wird. Was kann die EU derzeit im Fall Litauen tun?
Chinas sehr bestimmter Ansatz erfordert natürlich eine Reaktion. Aber der Reflex, auf wirtschaftlichen Zwang mit ähnlichen Gegenmaßnahmen zu reagieren, ist möglicherweise nicht die beste Option. Ich denke, es ist jetzt wichtiger, Litauen die Unterstützung zu geben, die es braucht, um seine unabhängige Politik aufrechtzuerhalten. Es würde nicht gut aussehen, wenn China Litauen erfolgreich zum Rückzug zwingen würde. Ein WTO-Verfahren gegen China oder vergeltende Handelssanktionen bringen Litauen keine wirklich konkrete Hilfe. Auch, wenn die EU heute solche Schritte unternehmen könnte.
Welche Szenarien sind jetzt möglich?
Der Druck, den China auf Unternehmen ausübt, um die Verbindungen zu Litauen abzubrechen, stört die internen Abläufe unseres Binnenmarktes. Die Reaktion der EU sollte sich darauf konzentrieren, mögliche Auswirkungen davon zu verhindern oder abzumildern. Andernfalls könnte die litauische Wirtschaft wirklich unter Druck geraten. Nachdem die USA 2018 Sanktionen gegen den Iran verhängt hatten, hat die EU Schritte unternommen, um den Rückzug europäischer Unternehmen aus dem iranischen Markt durch das sogenannte Blocking Statute zu verhindern. Ein ähnlicher Schritt ist im Fall Litauens vielleicht nicht möglich. Aber ich denke, die EU sollte überlegen, wie sie mit den Unternehmen ins Gespräch kommen, die erwägen, ihre Beziehungen zu Litauen abzubrechen, weil sie um ihren Zugang zu Chinas Märkten fürchten.
Viking Bohman ist Analyst am Swedish National China Centre. Das Forschungszentrum gehört zum renommierten Swedish Institute of International Affairs und betreibt Forschung zu China-Themen. Bohman hat zuvor im schwedischen Außenministerium und in der schwedischen Botschaft in Peking gearbeitet.
Beim Stichwort Importabhängigkeit drängt sich vor allem ein Rohstoff auf: Erdöl. Die Volksrepublik China ist seit 2017 der weltgrößte Ölimporteur. Und die Lücke zwischen einer stagnierenden Produktionsmenge zuhause und der noch immer wachsenden Nachfrage wird immer größer. Damit nicht genug: Öl ist nicht der einzige Rohstoff, von dem China zu wenig besitzt. Außer der fragilen Energiesicherheit gibt es weitere Schwachstellen.
China müsse eine “strategische Basis” für die Selbstversorgung mit wichtigen Rohstoffen von Energie bis Sojabohnen schaffen, betonte Präsident Xi Jinping im Dezember auf der jährlichen Wirtschaftskonferenz der Kommunistischen Partei. “Für ein großes Land wie unseres ist es eine zentrale strategische Frage, dass wir die Versorgung mit Vorprodukten sicherstellen können”, beschwor Xi die Delegierten. “Sojabohnen, Eisenerz, Rohöl, Erdgas, Kupfer und Aluminiumerze sind alle verknüpft mit dem Schicksal unserer Nation.”
2021 wuchsen Chinas Importe um 21,5 Prozent auf 17,37 Billionen Yuan (2,4 Billionen Euro). Der Zuwachs wurde zuletzt vor allem von der steigenden Nachfrage nach Rohstoffen für den Energiesektor sowie Metallen angetrieben. Konzepte wie die von Xi 2020 präsentierte “Duale Zirkulation” sollen daher die Rolle des Binnenmarktes stärken. Der 14. Fünfjahresplan peilt etwa eine technologische Unabhängigkeit des Landes bis 2025 an. Doch zumindest kurzfristig braucht China die Einfuhren.
Das Thema gewinnt daher auf der langfristigen Agenda des Landes unter Xi immer größere Priorität. Bei Rohstoffen wie Sojabohnen, Eisenerz, Rohöl, Erdgas, Kupfer, Bauxit und Gold stammen bis zu 80 Prozent des chinesischen Verbrauchs aus dem Ausland. Im Technologiesektor sind es vor allem Halbleiter, die China einführen muss: Das Land ist seit 2005 der weltgrößte Chip-Importeur. Doch auch andere Technologien und Komponenten muss China weitgehend im Ausland beschaffen. Dazu gehören nach einer neuen Studie des Center for Security and Emerging Technology (CEST) der US-amerikanischen Georgetown University etwa Lidar-Systeme für selbstfahrende Autos, Motorgehäuse für Verkehrsflugzeuge oder Reagenzien für Gen-Editing-Kits.
Die geopolitischen Spannungen zwischen China und dem Westen, allen voran mit den USA, haben längst Einfluss auf die Importe des Landes. 2018 gerieten die Lieferungen amerikanischer Sojabohnen nach China in den Mahlstrom des Handelskrieges. Der wachsende Fleischkonsum der Chinesen treibt die Nachfrage nach Mais und Sojabohnen als Futtermittel enorm nach oben. In den vergangenen 20 Jahren verzehnfachten sich die Sojabohnenimporte von 10,4 Millionen auf 100,3 Millionen Tonnen. Auch hier ist die Volksrepublik mit großem Abstand Spitzenreiter in der Welt.
Durch den Handelskonflikt mit Washington halbierten sich die chinesischen Einfuhren von US-Sojabohnen von 32,9 Milliarden Tonnen im Jahr 2017 auf nur noch 16,6 Millionen Tonnen im Jahr 2018. China wandte sich an Brasilien, um die Lücke zu schließen. Heute liefert Brasilien 60 Prozent der Soja-Importe des Landes. 30 Prozent kommen nach wie vor aus den USA. Doch Brasiliens Produktion kommt der Nachfrage aus China nicht mehr hinterher. Peking versucht daher, sich weitere Kanäle in Russland und Südostasien aufzubauen. Zumal der Import-Bedarf noch weiter zunehmen wird, weil im eigenen Land die Anbaufläche schrumpft; 2021 um satte 14,8 Prozent. Nach Angaben des Nationalen Statistikamtes geben viele Bauern aufgrund der niedrigen Margen den Soja-Anbau auf.
Auch schneidet die US-Politik der “schwarzen Listen” von Ex-Präsident Donald Trump seit Jahren viele chinesische Firmen von wichtigen Komponenten ab. Trump setzte ab 2018 hunderte chinesische Unternehmen auf die harmlos klingende “Entity List” des Handelsministeriums. Das kam einem Verbot für amerikanischen Unternehmen gleich, an diese chinesischen Unternehmen zu verkaufen. Die Biden-Regierung hat diese Liste beibehalten. Im Dezember fügte sie sogar weitere Firmen hinzu, darunter den KI-Spezialisten Sensetime und den führenden Drohnenhersteller DJI.
China profitierte in früheren Jahren auch vom Technologietransfer des Auslands. Doch die Tech-Investitionen der USA brachen laut CEST seit 2016 um 96 Prozent ein: “Peking war gezwungen, nach neuen Wegen zur Beschaffung von Schlüsseltechnologien zu suchen – und sich an Briefkastenfirmen und Zwischenhändler zu wenden, um ausländische Komponenten, Reagenzien und andere relevante Geräte zu beschaffen.” Zwar seien weniger als zehn Prozent der Ausrüstungslieferanten des chinesischen Militärs auf den US-Exportkontroll- und Sanktionslisten aufgeführt, so die Experten. Aber: “Manche machen ihr Geschäft damit, Ausrüstungen mit US-Ursprung zu verpacken und an sanktionierte chinesische Militäreinheiten weiterzuverkaufen.” Diese Grauzone hilft China zwar kurzfristig. Die Abhängigkeit vom Ausland aber schmälert dieser Kniff nicht.
China sei bei 35 Schlüsseltechnologien auf Importe angewiesen, die es im Inland nicht in ausreichender Qualität oder Quantität produzieren könne, schrieb CEST-Forscherin Emily Weinstein Anfang Januar unter Berufung auf Chinas Bildungsministerium. Zu diesen Technologien gehören Hochleistungs-Gasturbinen, Hochdruck-Kolbenpumpen, Stahl für hochwertige Lager, Fotolithografiemaschinen, industrielle Software und mehr. Also ein ganzes Arsenal an Hochtechnologie, das eine Wirtschaftsmacht benötigt, um langfristig eine Führungsrolle in der Welt beanspruchen zu können.
Heute, in Zeiten des globalen Chipmangels, ringt Peking zudem mit der EU und den USA um Halbleiter-Lieferungen des taiwanischen Weltmarktführers TSMC. 2020 importierte China Halbleiter im Wert von 350 Milliarden US-Dollar – mehr als sein Importvolumen für Erdöl. Laut dem Fachmagazin Technode verzeichnete China 2020 bei Halbleitern ein Handelsdefizit von 233,4 Milliarden US-Dollar. Bei Rohöl waren es “nur” 185,6 Milliarden US-Dollar. Trotz des Defizits verzeichnete die Volksrepublik 2020 über alle Warengruppen hinweg einen Handelsüberschuss von rund 590 Milliarden US-Dollar, 2021 kletterte der Überschuss sogar auf 676 Milliarden. 60 Prozent der importierten Halbleiter waren 2020 übrigens Komponenten für Chinas Exportprodukte wie Tablets und andere Elektronikwaren.
Nachdem Washington Chinas Branchenprimus SMIC aus Shenzhen 2020 auf die “Entity List” gesetzt hatte, hatte das Unternehmen Mühe, moderne 7-Nanometer-Chips herzustellen. “SMIC fehlen die teuren Werkzeugmaschinen, um sie herzustellen”, schrieb Forscherin Weinstein. US-Exportkontrollen legten demnach die Chip-Tochter HiSilicon von Huawei lahm. Auch deshalb will China 70 Prozent der für seine Tech-Industrie und den Autosektor benötigten Chips ab 2025 selbst produzieren. Doch das Ziel ist vage formuliert; und selbst dann wird es weiterhin viele der unzähligen Vorprodukte aus dem Ausland beziehen müssen.
Trotz aller Maßnahmen zur Stärkung von Chinas Position als Wissenschafts- und Technologiezentrum tue sich die Kommunistische Partei schwer, inländische Lieferketten für wichtige Rohstoffe wie Halbleiter und Gasturbinen aufzubauen, schreibt Weinstein. China werde wahrscheinlich bis weit in die 2020er Jahre auf ausländische Ausrüstung angewiesen bleiben. Darüber hinaus führe Chinas Weg zu ausländischer Technologie vor allem über US-Verbündete wie Australien, Japan, Südkorea und Großbritannien.
Auch Rohstoffe muss China von geopolitischen Rivalen beziehen – so etwa das Erdgas für den Winter (China.Table berichtete). 60 Prozent seiner Eisenerz-Importe bezieht China derweil aus Australien. Mit Canberra aber sind Pekings Beziehungen auf dem Tiefpunkt. China piesackt Australien mit Strafzöllen oder Einfuhrverboten etwa für Rindfleisch, Hummer, Gerste und Wein, seit Canberra eine unabhängige Untersuchung der Ursprünge von Covid-19 gefordert hat. Australien hat sich seither mehreren Sicherheitsbündnissen angeschlossen, die implizit gegen China gerichtet sind. Gerade erst besiegelte es eine Partnerschaft mit Japan (China.Table berichtete).
An die Eisenerz-Importe aus Down Under wagte sich Peking bislang nicht heran. Doch missfällt China die Abhängigkeit von australischem Erz. Die Volksrepublik sucht deshalb nach Alternativen. Eine fand es 2020 in der Hügelkette Simandou im westafrikanischen Guinea. Dort soll die weltweit größte Reserve an unerschlossenem hochwertigen Eisenerz liegen. Neben der Erschließung der Mine müssen 650 Kilometer Eisenbahnstrecke und ein moderner Erzhafen gebaut werden. 2020 sicherte sich China als Teil eines Konsortiums mit Firmen aus Frankreich und Singapur zwei von vier Abschnitten der geplanten Mine.
Doch Guinea ist politisch instabil. Erst im September 2021 stürzte ein Militärputsch den Präsidenten Alpha Conde. Seither regiert der Putschistenführer, Oberst Mamady Doumbouya. Peking kritisierte den Putsch – ungewöhnlicherweise. Denn niemand weiß, ob die Armee nun den Minen-Vertrag anerkennt. Doch China ist schon jetzt abhängig von Guinea: Das Land liefert den Chinesen 55 Prozent seines Bauxit-Bedarfs für die Aluminiumindustrie.
Plötzlich erscheinen all diese Bilder von Christine Lee in einem anderen Licht. Da gibt es diese Aufnahme, die sie im scheinbar engen Austausch mit dem früheren britischen Premierminister David Cameron zeigt. Auf einem anderen Foto ist sie mit einer Gruppe junger Chinesinnen und Chinesen an der Seite des früheren Chefs der Labour-Partei Jeremy Corbyn zu sehen.
Seit wenigen Tagen ist der Name Christine Lee in Großbritannien in aller Munde. Der Inlandsgeheimdienst MI5 hatte den Stein am Donnerstag ins Rollen gebracht. Der Sicherheitsdienst warnte die Mitglieder des Parlaments vor der einflussreichen Anwältin mit britischem Pass. Sie versuche, im Interesse der Volksrepublik China auf die Politik des Landes einzuwirken. Die Bilder mit Cameron oder Corbyn erwecken den Eindruck, dass sie erfolgreich war.
Dabei stehen weder Cameron noch Corbyn im Mittelpunkt der Affäre, sondern der Labour-Abgeordnete Barry Gardiner. Bis 2020 war Gardiner Energie-Schattenminister unter Corbyn und bereits vor fast 20 Jahren für die Regierung Tony Blair als Juniorminister aktiv. Sein Büro erhielt Spenden von Lee in Höhe von 200.000 Pfund. Gardiner war größter Profiteur von Lees Zahlungen, die insgesamt fast eine halbe Million Pfund ausmachten. Doch auch viele weitere Abgeordnete und Parteien aus dem gesamten politischen Spektrum erhielten Zuwendungen.
Gardiner erhielt die Spenden völlig legal und transparent. Er machte die Zahlungen stets öffentlich. Das Geld wurde verwendet, um Studien und Untersuchungen in dessen Londoner Wahlkreis Brent North zu finanzieren. Der Politiker zeigte sich überrascht von der Warnung des MI5. Er habe den Geheimdienst jahrelang über die Spenden von Christine Lee informiert, erklärte er. Niemals sei er gewarnt worden. Lee sei eine registrierte Spenderin gewesen, und das von ihr gezahlte Geld sauber. Das Innenministerium stufte Lees Aktivitäten als “unterhalb der Schwelle zur Kriminalität” ein.
Dennoch muss sich Gardiner nun rechtfertigen. Ihm wird vorgeworfen, er habe unter Lees Einfluss für eine chinesische Beteiligung am Bau des Kernkraftwerkes Hinkley Point C im Süden England die Werbetrommel gerührt. Der Abgeordnete bestreitet das. Er habe den britischen Steuerzahler vor Wucherpreisen anderer Anbieter bewahren wollen, sagt Gardiner.
Doch diese Vorwürfe sind nicht neu. Über Zuwendungen an Gardiners Büro berichtete die britische Presse schon im Jahr 2019. Auch damals fiel der Name Christine Lee. Der entscheidende Unterschied: Der Geheimdienst äußerte sich damals nicht. Stattdessen zeichnete die damalige Premierministerin Theresa May Christine Lee im selben Jahr für deren Engagement für die chinesisch-britischen Beziehungen mit dem “Points of Light”-Award aus. Sie könne “sehr stolz” sein, schrieb May der Juristin in einem persönlichen Brief.
Jetzt die Kehrtwende. Der MI5 warnte das Parlament nicht nur vor Christine Lee, sondern thematisierte auch die guten Kontakte der gebürtigen Hongkongerin zum United Front Work Department (UFWD), der chinesischen Einheitsfront. “Es ist das erste Mal, dass der MI5 die UFWD als ein Problem für die nationale Sicherheit öffentlich identifiziert“, sagt Didi-Kirsten Tatlow von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). “Das hat nicht nur symbolische Bedeutung, sondern ist ein Signal, dass man sich in Großbritannien offenbar dazu entschlossen hat, chinesischen Einfluss ernsthaft zurückzudrängen.”
Die Einheitsfront ist fast so alt wie die Partei selbst (China.Table berichtete). Sie kommt intensiv dort zum Einsatz, wo Zweifel aufkommen an der Legitimität der KP, wo Kritik laut wird an ihrer Politik und wo Widerstand droht gegen ihre autoritäre Herrschaft. Über eine Verästelung vieler Partei-Organisationen knüpft die Einheitsfront auch Kontakte zu einflussreichen Kräften im Ausland. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft – überall ist sie aktiv. Und das buchstäblich in allen Ländern der Welt.
Experten warnen davor, was Wirken der Einheitsfront zu unterschätzen. “Sie ist eine Art Management-Instrument der KP Chinas, um sicherzustellen, dass einerseits Nicht-Mitglieder auf Parteilinie gebracht und andererseits negative Stimmen marginalisiert werden”, sagte Ralph Weber, Professor am Europainstitut der Universität in Basel, im vergangenen Jahr im Gespräch mit China.Table.
Der konservative Parlamentarier Sir Iain Duncan Smith zeigte sich zutiefst besorgt über die Warnung des MI5 vor Christine Lee. Smith ist von der chinesischen Regierung wegen seiner Unterstützung pro-demokratischer Politiker und Aktivisten aus Hongkong von der chinesischen Regierung sanktioniert. Er verlangte einerseits Aufklärung über die Risiken für Hongkonger Aktivisten und stellte zudem die Frage, ob der Akkreditierungsprozess des Parlaments “für solche Leute” – gemeint ist Lee – überarbeitet werden müsse.
Einige politische Beobachter stellten sich derweil die Frage, ob der Zeitpunkt der Warnung durch den Geheimdienst auch innenpolitische Gründe haben könnte. Premierminister Boris Johnson steckt knietief in Schwierigkeiten wegen eines Party-Besuchs in Corona-Zeiten. Da kommen Zuwendungen an einen Labour-Politiker von einer großzügigen Spenderin mit besten Beziehungen zur Kommunistischen Partei nicht ganz ungelegen. Dagegen spricht, dass zu viele britische Parteien und Politiker in den Fall Christine Lee verstrickt sind.
Lee ist britische Staatsbürgerin. Ihre Eltern wanderten nach Nordirland aus, als sie noch ein Kind war. Dass sie gute Kontakte zum chinesischen Parteistaat pflegt, hätte jedem Parlamentarier klar sein müssen, der ihr Geld akzeptierte. Ihre Kanzlei betreibt ein eigenes Büro im Gebäude der britischen Botschaft in Peking. Seit vielen Jahren berät sie dort chinesische Unternehmen, die in Großbritannien investieren wollen.
Auf Fotografien ist sie bei der Shenzhen Overseas Exchange Association Conference zu sehen. Als ehrenamtliche Beraterin unterstützte sie die Direktorin der Shenzhen-Abteilung der Einheitsfront. Ein anderes Bild zeigt sie, wie sie bei einem Empfang die Hand von Chinas Staatspräsident Xi Jinping schüttelt.
In China habe Lee einer Rede des Einheitsfront-Vorsitzenden You Quan beigewohnt, schreibt Martin Thorley von der Universität Exeter auf Twitter. Thorley forscht zu den chinesisch-britischen Beziehungen. You ermutigte die Zuhörer, den “von Xi Jinping geprägten Sozialismus mit chinesischen Charakteristiken” als Leitlinie zu akzeptieren. Laut Thorley habe Lee die Rede “ermutigt und berührt” aufgenommen. Demnach schwärmte sie von ihrem starken Gefühl des Nationalstolzes. Obwohl sie all die Jahre in Großbritannien verbracht habe, wolle sie “eine Kommunikatorin der Stimme Chinas sein“, habe Lee gesagt.
Thorley glaubt, der Fall Lee sei “lediglich die Spitze des Eisberges”. Noch düsterer sehen die Autoren Mareike Ohlberg und Clive Hamilton das Maß an Einfluss chinesischer Interessen in Großbritannien. In ihrem Buch “Die lautlose Eroberung” beschreiben sie die britische Polit- und Wirtschaftselite also so tief infiltriert, dass der “Point of no Return” bereits überschritten sei. Das System lasse sich praktisch nicht mehr säubern.
Forscherin Tatlow von der DGAP ist dagegen weniger pessimistisch. Sie glaubt, dass der “schleichenden, teils aggressiven Einflussnahme” immer noch erfolgreich entgegengewirkt werden kann. Voraussetzung: weniger Naivität und mehr Entschlossenheit. Das gelte aber nicht nur für Großbritannien. “China ist auch in Deutschland und in vielen Teilen Europas bereits tief in den politischen Machtkorridor eingedrungen. Das ist das Resultat von jahrzehntelanger Arbeit der Kommunistischen Partei.”
Chinas Bevölkerung ist abermals nur sehr langsam gewachsen – im Jahr 2021 um 480.000 Menschen auf 1,413 Milliarden. Diese Zahlen veröffentlichte die chinesische Statistikbehörde am Montag in Peking. Sorgen bereitet den Verantwortlichen dabei vor allem die Geburtenrate: Die Zahl der Neugeborenen ging offiziellen Angaben zufolge um 11,5 Prozent auf 10,6 Millionen zurück. Damit rutschte die Geburtenrate mit 7,5 Neugeborenen auf 1000 Menschen drastisch ab. Es ist der niedrigste Wert, der im statistischen Jahrbuch des Landes seit 1978 verzeichnet wurde, und auch der niedrigste seit der Gründung der Volksrepublik 1949.
Auch der Anteil der Menschen im offiziellen Erwerbsalter – also zwischen 16 bis 59 Jahren – ist 2021 gesunken. Er fiel von 63,3 Prozent auf 62,5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Vor zehn Jahren lag er noch bei rund 70 Prozent. Demografen erwarten, dass dieser Anteil bis 2050 sogar auf 50 Prozent zurückgehen könnte. Gleichzeitig wird China immer älter: Die Zahl der Menschen im Alter über 60 Jahren innerhalb eines Jahres wuchs von 18,7 Prozent auf 18,9 Prozent der Gesamtbevölkerung.
Seit Jahrzehnten hat die Kommunistische Partei (KP China) die Geburtenrate genau im Blick: Die 1980 eingeführte Ein-Kind-Politik sollte einst das Bevölkerungswachstum begrenzen. Als die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter früher als erwartet zu schrumpfen begann, setzte bei den Verantwortlichen ein Umdenken ein: 2015 wurde die Ein-Kind-Politik abgeschafft; von nun an durften Paare zwei Kinder haben. Das sorgte allerdings nur kurzzeitig für einen leichten Anstieg der Geburten, wie die aktuellen Zahlen zeigen. Seit Mai 2021 sind deshalb sogar drei Kinder pro Paar erlaubt.
Das Statistikamt nannte am Montag unter anderem die Coronavirus-Pandemie als Ursache für den erneuten Rückgang bei Geburten. Auch andere externe Faktoren halten Paare davon ab, mehrere Kinder zu bekommen: hohe Kosten für Wohnraum, Ausbildung und Gesundheit, beengte Wohnverhältnisse sowie die berufliche Diskriminierung von Müttern. Die Regierung wirbt inzwischen mit Steuervorteilen für mehr Geburten (China-Table berichtete).
Experten warnen angesichts dieser Entwicklungen – weniger Geburten, weniger Erwerbstätige und immer mehr alte Menschen – vor einer “demografischen Zeitbombe” (China.Table berichtete). Schon bald könnten in der Volksrepublik zu wenige Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, um eine wachsende Zahl älterer Menschen zu versorgen. rad
Chinas Staatspräsident Xi Jingping hat am Montag Online-Konferenz “Davos Agenda” des Weltwirtschaftsforums (WEF) eröffnet. In seiner Rede rief Xi zur Stabilisierung der globalen Konjunktur auf und plädierte für eine größere internationale Zusammenarbeit. In Zeiten der Corona-Pandemie müsse man verhindern, dass die globale Wirtschaft wieder einen Durchhänger erleide, so Xi.
China werde in wenigen Tagen das Jahr des Tigers beginnen. Er symbolisiere Mut und Stärke – Eigenschafften, die sich auch die Staaten der Welt zu eigen machen sollten, um die gegenwärtigen Herausforderungen zu meistern. Xi mahnte denn auch, die Industrieländer sollten in diesen Zeiten nicht weniger Geld ausgeben. Würden sie geldpolitisch auf die Bremse treten oder gar eine Wende vollziehen, würde das negative Folgen für die weltweite Wirtschafts- und Finanzstabilität haben, warnte Xi. Die Hauptlast einer solchen Politik würden die Entwicklungsländer tragen müssen. Diese Länder seien jedoch durch die Pandemie ohnehin schon stark getroffen, viele in Armut und Instabilität zurückgefallen.
Die Weltbank hatte jüngst vor einer deutlichen Abkühlung der globalen Konjunktur gewarnt. In diesem Jahr dürfte die Weltwirtschaft noch um 4,1 Prozent wachsen, 2023 dann um 3,2 Prozent. Vor allem ärmere Länder stünden deshalb unter Druck.
“Lassen Sie uns voller Vertrauen die Hände reichen für eine gemeinsame Zukunft”, appellierte Chinas Präsident. Insbesondere im Kampf gegen das Coronavirus gehe es darum, die Kräfte zu bündeln, um der Pandemie ein Ende zu bereiten. Xi unterstrich die Bedeutung von Impfstoffen und ihre gerechte Verteilung, um die weltweite Impflücke zu schließen. China werde sich weiterhin aktiv an der internationalen Zusammenarbeit zur Pandemie-Bekämpfung beteiligen.
Als weitere Redner stehen unter anderem UN-Generalsekretär António Guterres und der indische Premierminister Narendra Modi auf dem Programm. Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz will am Mittwoch an dem virtuellen Davos-Dialog teilnehmen.
Das Weltwirtschaftsforum in Davos, das traditionell Mitte Januar stattfindet, war wegen der Corona-Lage verschoben worden. Stattdessen hatte die Stiftung angekündigt, Führungskräfte digital zusammenbringen. rad
China hat 2021 einen Exportüberschuss in Rekordhöhe erzielt. Die Ausfuhren übertrafen die Importe um umgerechnet knapp 590 Milliarden Euro, wie die Zollbehörde am Freitag in Peking mitteilte. Das sind gut 152 Milliarden mehr als 2020. Allerdings verzerrt die Corona-Pandemie die Zahl für 2020.
Grund für den Rekord ist die weltweit starke Nachfrage nach Waren “Made in China”. Die Exporte legten im vergangenen Jahr um 29,9 Prozent zu, nachdem es im ersten Corona-Jahr lediglich zu einem Plus von 3,6 Prozent gereicht hatte. Besonders gefragt waren beispielsweise Computer und anderer Elektronik, die etwa für das pandemiebedingte Arbeiten von Zuhause benötigt werden. Auch medizinische Produkte wie etwa Masken wurden wegen der Pandemie in aller Welt benötigt. Die chinesischen Importe legten um 30,1 Prozent zu, nachdem sie 2020 noch um 1,1 Prozent gefallen waren.
Experten zufolge hat China von der Pandemie-bedingten Unterbrechung der Lieferketten etwa in den westlichen Ländern profitiert. “Wir gehen davon aus, dass die chinesischen Exporte im laufenden ersten Quartal aufgrund der robusten globalen Nachfrage stark bleiben werden”, sagte der Chefökonom von Pinpoint Asset Management, Zhang Zhiwei. “Derzeit könnten die starken Exporte der einzige Motor sein, der Chinas Wirtschaft hilft.”
China wird einer Ökonomen-Umfrage der Nachrichtenagentur Reuters zufolge sowohl in diesem als auch im kommenden Jahr um 5,2 Prozent wachsen. 2021 dürfte es aufgrund von Nachholeffekten zu einem besonders kräftigen Plus von acht Prozent beim Bruttoinlandsprodukt gereicht haben. “Insbesondere im ersten Halbjahr dürfte ausreichend politische Unterstützung da sein, um sicherzustellen, dass das Wirtschaftswachstum nicht unter Pekings Komfortzone fällt”, sagte Tommy Wu von Oxford Economics. So könnte die Zentralbank ihre Geldpolitik lockern. Analysten gehen zudem davon aus, dass das Wachstum vor dem Parteikongress zur Wiederwahl Xi Jinpings künstlich erhöht wird. nib/rtr
Volkswagen (VW) hat wegen eines Covid-Ausbruchs in der Belegschaft sein Werk in Tianjin vorübergehend heruntergefahren. Die Autofabrik in Nordchina, die etwa 100 Kilometer von der Hauptstadt Peking entfernt liegt, habe bereits zu Wochenanfang den Betrieb eingestellt, nachdem sich Mitarbeiter mit dem Virus angesteckt hätten, sagte ein Sprecher am Donnerstag. Am Mittwoch wurden 41 Fälle von im Inland übertragenen Infektionen mit bestätigten Symptomen gemeldet nach 33 am Tag zuvor, wie aus Daten der nationalen Gesundheitskommission hervorging.
An dem Standort betreibt VW zusammen mit seinem chinesischen Partner FAW ein Komponentenwerk und einen Betrieb für Automatikgetriebe. Beide Werke hätten alle Mitarbeiter in dieser Woche zwei Mal getestet und warteten nun auf die Ergebnisse. Man hoffe, die Produktion bald wieder aufnehmen und die Ausfälle nachholen zu können. Volkswagen hat seit Ausbruch der Pandemie vor gut zwei Jahren in China an mehreren Standorten die Produktion vorübergehend stoppen müssen.
Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) rechnet für 2022 weiterhin mit Lieferkettenproblemen durch die Corona-Pandemie. Zwar seien die Auftragsbücher der Industrie-Unternehmen in Deutschland voll, aber fehlende oder zu spät gelieferte Rohstoffe und Vorprodukte könnten die Produktion unterbrechen. In der Auto-Industrie sei das Schlimmste vermutlich überstanden, in anderen Branchen sei dies erst Ende des Jahres zu erwarten. “Diese Engpässe bremsen die industrielle Wertschöpfung in den Jahren 2021 und 2022 um jeweils mehr als 50 Milliarden Euro aus”, sagte BDI-Präsident Siegfried Russwurm am Donnerstag in Berlin. Trotz dieser Einschränkungen rechnet der Verband mit einem Wirtschaftswachstum von 3,5 Prozent für das Jahr 2022. Die Exporte könnten gar um vier Prozent zunehmen.
In China wurden derweil zwei Omikron-Fälle in der Hafen-Stadt Dalian gemeldet. Es handelt sich um Studenten, die von einem Besuch in Tianjin zurückkamen. Dalian ist nach Tianjin die zweite wichtige Hafenstadt in China mit bestätigten Omikron-Fällen. Ihre Häfen gehören zu den zwanzig größten der Welt, berichtet Bloomberg. Große Firmen wie Volkswagen, Toyota und Airbus haben in den Städten Fabriken. Auch Toyota musste die Bänder stillstehen lassen.
Zudem gibt es Berichte darüber, dass Containerschiffe den Hafen in Ningbo meiden und stattdessen nach Shanghai ausweichen. In Ningbo war es aufgrund von Coronavirus-Infektionen zu Verzögerungen gekommen, weil der LKW-Verkehr zum Hafen beeinträchtigt wurde. Vor dem Hafen Shanghai kam es demnach zu Staus. Die Fahrpläne für Containerschiffe verschieben sich um circa eine Woche, berichten Spediteure Bloomberg. Die Verspätungen könnten sich wie schon im vergangenen Jahr bis in die USA und nach Europa ausbreiten. nib/rtr
Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) hat mehrere Geräte des chinesischen Anbieters Xiaomi monatelang geprüft. Auf Anfrage von Europe.Table teilte die IT-Sicherheitsbehörde des Bundes nun mit, dass es bei der Prüfung “im Ergebnis keine Auffälligkeiten feststellen konnte”, die “weitere Untersuchungen oder andere Maßnahmen” nötig machen würden.
Xiaomi war in den Verdacht geraten, als bei einer Untersuchung der litauischen IT-Sicherheitsbehörde NCSC bei einem Endgerät ein Softwaremodul auffiel, das im Hintergrund bestimmte – in China unerwünschte – Begriffe aufspüren und zensiert haben soll. Dieses Verhalten konnte die BSI-Untersuchung nun offenbar nicht reproduzieren: “Insbesondere eine Übertragung von Filterlisten, wie im ursprünglichen Bericht beschrieben, konnte das BSI nicht feststellen”, teilte ein Sprecher des BSI mit. Er betonte zugleich, dass sich dieses Ergebnis spezifisch auf die hier vorgenommene Untersuchung beziehe. Damit vermeidet die deutsche Behörde ein Urteil über die Befunde ihrer litauischen Kollegen.
Die Beziehungen zwischen China und Litauen sind derzeit äußerst schwierig. Zuletzt erhielt das kleine EU-Mitgliedsland im Baltikum demonstrativen Beistand aus Taiwan (China.Table berichtete). Falk Steiner
Im heutigen China, der größten, stärksten und am längsten bestehenden Diktatur der Welt, gibt es keine Rechtsstaatlichkeit. Trotzdem nutzt das Reich der Mitte zunehmend sein Scheinparlament, um nationale Gesetze zu erlassen, mit denen territoriale Ansprüche und Rechte im Völkerrecht geltend gemacht werden. Tatsächlich ist China inzwischen recht geschickt darin, “Lawfare” zu betreiben – ein Begriff, der für die Instrumentalisierung des Rechts zur Verfolgung von politischen und strategischen Zwecken steht.
Unter der herrischen Führung von “Oberbefehlshaber” Xi Jinping hat sich die Kriegsführung mit juristischen Mitteln zu einem entscheidenden Bestandteil von Chinas breiterem Ansatz der asymmetrischen oder hybriden Kriegsführung entwickelt. Die Verwischung der Grenze zwischen Krieg und Frieden ist in der offiziellen Strategie des Regimes als Doktrin der “Drei Arten der Kriegsführung” (san zhong zhanfa) verankert. So wie die Feder mächtiger sein kann als das Schwert, können es auch die juristische und psychologische Kriegsführung sein, sowie die Kriegsführung auf dem Gebiet der öffentlichen Meinung.
Mit diesen Methoden treibt Xi den Expansionismus voran, ohne einen Schuss abzugeben. Schon jetzt erweist sich Chinas Aggression ohne Kugeln als Gamechanger in Asien, der bisher geltende Regeln und Mechanismen grundlegend verändert. Die Drei Arten der Kriegsführung in Verbindung mit militärischen Operationen haben China erhebliche territoriale Zuwächse beschert.
Im Rahmen dieser größeren Strategie zielt Lawfare darauf ab, Regeln neu zu schreiben, um historischen Fantasien Leben einzuhauchen und unrechtmäßige Handlungen rückwirkend zu legitimieren. So hat China vor kurzem ein Gesetz über Landgrenzen erlassen, um seinen territorialen Revisionismus im Himalaya zu unterstützen. Um seine Expansionsbestrebungen im Süd- und Ostchinesischen Meer voranzutreiben, hat es Anfang des Jahres zudem das Küstenwachengesetz und das Gesetz zur Sicherheit im Seeverkehr erlassen.
Die neuen Gesetze, die den Einsatz von Gewalt in umstrittenen Gebieten erlauben, wurden inmitten wachsender Spannungen mit den Nachbarländern erlassen. Das Gesetz über die Landgrenzen kommt während einer militärischen Pattsituation im Himalaya, wo sich mehr als 100.000 chinesische und indische Soldaten nach wiederholten chinesischen Übergriffen auf indisches Territorium seit fast 20 Monaten in einem Patt gegenüberstehen.
Das Küstenwachengesetz verstößt nicht nur gegen das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, sondern könnte auch einen bewaffneten Konflikt mit Japan oder den Vereinigten Staaten auslösen, da es umstrittene Gewässer als chinesisches Territorium betrachtet. Das Gesetz über Landgrenzen droht ebenfalls Krieg mit Indien auszulösen, da es Chinas Absicht signalisiert, Grenzen einseitig festzulegen. Es erstreckt sich sogar auf die grenzüberschreitenden Flüsse mit Ursprung in Tibet, wo China das Recht proklamiert, so viel von den gemeinsamen Gewässern umzuleiten, wie es will.
Diese jüngsten Gesetze schließen an den Erfolg der Strategie der Drei Arten der Kriegsführung an, mit der die Karte des Südchinesischen Meeres neu gezeichnet wurde – trotz des Urteils eines internationalen Schiedsgerichts, das die chinesischen Gebietsansprüche dort zurückwies – und mit der anschließend Hongkong geschluckt wurde, das lange Zeit unter demokratischen Institutionen als wichtiges globales Finanzzentrum floriert hatte.
Im Südchinesischen Meer, einer Transitstrecke für rund ein Drittel des weltweiten Seehandels, hat Xis Regime die Kriegsführung mit juristischen Mitteln verschärft, um die chinesische Kontrolle zu festigen und seine erfundenen historischen Ansprüche Realität werden zu lassen. Während andere Anrainerstaaten, die Ansprüche erheben, im vergangenen Jahr gegen die Covid-19-Pandemie kämpften, schuf Xis Regierung zwei neue Verwaltungsbezirke, um ihre Ansprüche auf die Spratly- und Paracel-Inseln und andere Landgebiete zu untermauern. Unter weiterer Missachtung des Völkerrechts gab China 80 Inseln, Riffen, Seebergen, Sandbänken und Meeresrücken, von denen 55 vollständig unter Wasser liegen, Namen auf Mandarin.
Das Mitte 2020 erlassene “Gesetz zum Schutz der nationalen Sicherheit in Hongkong” ist ein ähnlich aggressiver Akt der juristischen Kriegsführung. Xi hat das Gesetz genutzt, um die pro-demokratische Bewegung in Hongkong zu zerschlagen und die Garantien außer Kraft zu setzen, die in Chinas Vertrag mit dem Vereinigten Königreich verankert sind, der bei den Vereinten Nationen registriert wurde. Der Vertrag verpflichtete China, die Grundrechte, Freiheiten und die politische Selbstbestimmung der Bürger Hongkongs für mindestens 50 Jahre nach Wiedererlangung der Souveränität zu wahren.
Der Erfolg dieser Strategie beim Aushöhlen der Autonomie Hongkongs wirft die Frage auf, ob China nun ähnliche Gesetze für Taiwan erlassen oder sich sogar auf sein Anti-Sezessionsgesetz von 2005 berufen wird, das seine Entschlossenheit unterstreicht, die Demokratie auf der Insel unter die Herrschaft des Festlandes zu stellen. Da China seine psychologische Kriegsführung und seinen Informationskrieg ausweitet, besteht die reale Gefahr, dass es nach den Olympischen Winterspielen in Peking im Februar gegen Taiwan vorgehen könnte.
Xis Expansionsdrang hat auch das winzige Bhutan mit seinen gerade einmal 784.000 Einwohnern nicht verschont. Unter Missachtung eines bilateralen Vertrages aus dem Jahr 1998, der China verpflichtet, “keine einseitigen Maßnahmen zu ergreifen, um den Status quo der Grenze zu verändern”, hat das Regime militarisierte Dörfer in Bhutans nördlichen und westlichen Grenzgebieten errichtet.
Wie diese Beispiele zeigen, liefert seine nationale Gesetzgebung China zunehmend einen Vorwand, um international bindendes Völkerrecht zu missachten, einschließlich bilateraler und multilateraler Verträge, denen es beigetreten ist. Mit mehr als einer Million Gefangenen hat Xis Gulag für Muslime in Xinjiang die Völkermordkonvention von 1948 zum Gespött gemacht, der China 1983 beigetreten ist (mit dem Zusatz, dass es sich nicht an Artikel IX gebunden fühlt, die Klausel, die es jeder an einem Streitfall beteiligten Partei ermöglicht, diesen Fall dem Internationalen Gerichtshof zu unterbreiten). Und da tatsächliche Kontrolle die notwendige Voraussetzung für einen überzeugenden territorialen Anspruch im Völkerrecht ist, nutzt Xi neue Gesetze, um Chinas Verwaltung umstrittener Gebiete zu untermauern, auch durch die Ansiedlung neuer Bewohner.
Die Schaffung solcher Fakten vor Ort ist ein wesentlicher Bestandteil von Xis territorialer Vergrößerung. Aus diesem Grund hat sich China große Mühe gegeben, künstliche Inseln und Verwaltungsbezirke im Südchinesischen Meer zu schaffen und in Grenzgebieten des Himalaya, die von Indien, Bhutan und Nepal als innerhalb ihrer eigenen nationalen Grenzen betrachtet werden, militarisierte Dörfer zu errichten.
Trotz dieser Übergriffe wurde Xis Lawfare oder seiner umfassenderen hybriden Kriegsführung international kaum Beachtung geschenkt. Der Fokus auf Chinas militärische Aufrüstung verschleiert die Tatsache, dass das Land seine See- und Landgrenzen still und leise ausdehnt, ohne einen Schuss abzugeben. In Anbetracht von Xis übergeordnetem Ziel – der globalen Vormachtstellung Chinas unter seiner Führung – müssen die Demokratien der Welt eine konzertierte Strategie entwickeln, um gegen seine drei Arten der Kriegsführung anzugehen.
Brahma Chellaney ist Professor für Strategische Studien am Zentrum für Politikforschung in Neu-Delhi und Fellow an der Robert Bosch Academy in Berlin. Der indische Geopolitik-Experte hat die inzwischen weit verbreitete Vorstellung von Chinas Schuldenfallen-Diplomatie mitgeprägt. Chellaney ist Autor mehrerer Bücher, darunter Asian Juggernaut, Water: Asia’s New Battleground und Water, Peace, and War: Confronting the Global Water Crisis. Übersetzung: Sandra Pontow.
Copyright: Project Syndicate, 2021.
www.project-syndicate.org
Eigentlich war es eine Niederlage, die Johannes Vogel nach China führte. Der FDP-Politiker hatte gerade seinen Job als Bundestagsabgeordneter verloren. Die Partei war bei den Bundestagswahlen 2013 krachend gescheitert. Von 14,6 Prozent rauschten die Liberalen auf 4,8 Prozent ab. Vogel sagt, damals habe er miterlebt, wie man eine Partei vor die Wand fährt. Und was machte er? Ging erst einmal weg. Nach dem Wahlfiasko entschied er, für ein Vierteljahr zu einem Freund nach Peking zu ziehen, um Chinesisch zu lernen.
Dort nahm er in einer Sprachschule Einzelunterricht. Wenn er von diesen knapp drei Monaten berichtet, in denen Politik nur noch ein “zeitintensives Hobby” für ihn war, dann erzählt er von den Reisen durch ein Land der Polaritäten. Nach seinem Sprachkurs war er in der inneren Mongolei, auf deren Hochebenen gigantische Windparks entstehen. Er war in menschenleeren Geisterstädten, die so schnell hochgezogen wurden, dass sie noch komplett unbewohnt sind. Er besuchte Landstriche ohne Kanalisation deren Bewohner ihre Brunnen deshalb regelmäßig reinigen mussten.
Das alles ist jetzt zwei Legislaturperioden her. Heute ist der 39-Jährige zurück im politischen Berlin. Bei den Wahlen 2021 zog er auf Platz fünf der NRW-Landesliste in den Bundestag ein. Mitte Dezember wurde er zum parlamentarischen Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion gewählt. Von seinem eigentlichen Job als Leiter der Strategieabteilung der Arbeitsagentur ist er seit dem politischen Comeback seiner Partei 2017 beurlaubt. China hat er, der auch stellvertretender Vorsitzender der deutsch-chinesischen Parlamentariergruppe ist, aber weiter im Blick.
“Für dieses Land kann man sich einfach nicht nicht interessieren”, erklärt er. Und gerade jetzt, nach dem Politikwechsel in Berlin, rückt das wechselseitige deutsch-chinesische Interesse wieder in den Fokus. Wie sieht die China-Politik der neuen Bundesregierung aus? Die FDP gilt als eine Partei, die eine besonders strenge Linie gegenüber China verfolgt – trotz wirtschaftlicher Interessen. Die Ratifikation des EU-China-Investitionsabkommens wird “zurzeit nicht stattfinden”. So steht es im Koalitionsvertrag. “Das wird auch nicht passieren, solange China Sanktionen gegen EU-Politiker verhängt”, ergänzt Vogel. Gemeint sind unter anderem die deutschen Europaabgeordneten Reinhard Bütikofer (Grüne) und Michael Gahler (CDU). Stattdessen will die neue Bundesregierung “Chinas Menschenrechtsverletzungen klar thematisieren”.
Wie passt das zu einer wirtschaftsliberalen Partei? Man stehe für wirtschaftliche und gesellschaftliche Freiheiten. Das hat der Politikwissenschaftler Vogel bereits in einem China.Table-Interview kurz vor der Bundestagswahl betont. Das seien unteilbare Aspekte – und Kernwerte der Liberalen. Lange hoffte man, die Liberalisierung der Wirtschaft in China führe auch zu einer freieren Gesellschaft. Seit Xi Jinping weiß man, dass diese Hoffnungen unerfüllt bleiben werden. Was das bedeuten kann, hat Vogel selbst erlebt: In Hongkong erzählt er, sprach er einst noch mit freien Abgeordneten, die inzwischen inhaftiert sind. In diesem Systemwettbewerb dürfe Deutschland nicht schweigen, fordert er. Aber was bedeutet das genau?
Vogel plädiert dafür, den Austausch mit anderen asiatischen Akteuren zu verstärken: Malaysia, Australien – und eben mit Hongkong. “Das ist der große Hebel”, sagt er, der schon einmal als “der Mann hinter und neben Parteichef Christian Lindner” bezeichnet wurde.
Aufgewachsen sind beide in der Kleinstadt Wermelskirchen im Bergischen Land. Nach der Schule absolvierte Vogel seinen Zivildienst als Rettungssanitäter. Später studierte er in Bonn Politikwissenschaften, Geschichte und Völkerrecht. Einen seiner neuen Koalitionspartner kennt Vogel noch aus alten Zeiten: Zwischenzeitlich engagiert er sich für die Grüne Jugend. Dort störte ihn, wie über das Unternehmertum gesprochen wurde. Seit 1999 ist er Mitglied bei der FDP. Wenige Jahre später wurde er Bundesvorsitzender der Jungen Liberalen. In dieser Zeit leitete er eine Delegationsreise nach China. Später wurde Vogel stellvertretender Vorsitzender der deutsch-chinesischen Parlamentariergruppe, die den Kontakt zu den Parlamenten der jeweiligen Partnerländer pflegen.
Gegenüber China fehle eine gemeinsame EU-Strategie, kritisiert Vogel. Dabei seien die derzeitigen Entwicklungen mehr als besorgniserregend. Der chinesische Sicherheitsapparat wachse rasant. Seit Corona werde die digitale Überwachung in China immer umfassender. Dass sie irgendwann nach der Pandemie wieder zurückgefahren wird, hält Vogel für unwahrscheinlich. “Corona ist eine Zäsur.” Vielmehr warnt er vor einer zur großen Abhängigkeit von China. Und betont, es brauche stattdessen Reziprozität – also Wechselseitigkeit.
Ob das auch im wechselseitigen Einvernehmen zwischen den Koalitionspartnern aufgehen wird? Bundeskanzler Olaf Scholz hatte Angela Merkel versichert, dass sich an der grundsätzlichen Linie der deutsch-chinesischen Beziehungen nichts ändern werde, berichtete die Wirtschaftswoche. In Sachen China-Politik könnte dem neuen parlamentarischen Geschäftsführer noch der ein oder andere Konflikt drohen. Pauline Schinkels
Michael Müller, der ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin, wird in der SPD-Arbeitsgruppe Außen fortan über China, Japan und den Nahen Osten berichten. Die Zuteilungen wurden am Mittwoch in der Arbeitsgruppe der Fraktion festgelegt.
Roland Palmer wird Alibabas neuer General Manager für Großbritannien, die Niederlande und Skandinavien. Palmer war zuvor Leiter von Alipay Europa, Alibabas Zahlungsdienstleister. Der chinesische E-Commerce-Gigant plant mit seinen Online-Plattformen Tmall, Small Global, AliExpress and Alibaba.com noch stärker nach Europa zu expandieren.
Wu Junli wird neuer President von Chinaoil, einer Einheit von PetroChina, die den Handel mit Öl und Gas verantwortet. Zuvor war Wu Regionalchef von PetroChina für die Region Nord- und Südamerika.
Urjit Patel wird neuer Vizepräsident der Region Südasien, Südoastasien und Pazifische Inseln der Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB). Zuvor war er bei der Zentralbank Indiens hochrangiger Manager. Die AIIB ist eine Entwicklungsbank unter chinesischer Führung.
Ferdinando Sorrentino wird neuer Chef des Auto-Zulieferers SEG Automotive mit Sitz in Stuttgart. Sorrentino folgt auf Peter Sokol und Frank-Lorenz Dietz, die das Unternehmen verlassen haben. Er soll die Marktpräsenz in China erhöhen.
noch drei Wochen bis zum Beginn der Olympischen Winterspiele in Peking. Wir blicken voraus und zugleich zurück: Im Interview mit Frank Sieren erzählt der ehemalige Botschafter Michael Schaefer vom diplomatischen Umgang mit den Spielen im Jahr 2008. Heute ist schon fast vergessen, dass Menschenrechte auch damals Diskussionsthema waren. Deutschland war daher nur sehr zurückhaltend vertreten. Auch diesmal sollte Deutschland nach einem Kompromiss suchen, mit dem sich ein Zeichen setzen lässt, ohne gleich den Dialog abzubrechen, findet Schaefer.
Der erfahrene Diplomat plädiert zudem für eine “rote Linie” bei Produkten, die mit Zwangsarbeit hergestellt werden. Die EU-Mitgliedsstaaten sollten schnell zu einer gemeinsamen Strategie gegenüber China finden. Und Peking müsse seinerseits aufhören, die EU-Staaten gegeneinander aufzubringen, so Schaefer.
Doch wie gut stehen die Chancen für Einigkeit der westlichen Verbündeten? Großbritannien durchlebt gerade einen Politskandal mit China-Bezug. Der Inlandsgeheimdienst MI5 warnte die Parlamentarier vor einer britischen Anwältin mit Wurzeln in Hongkong. Christine Lee versuche, die Politik Großbritanniens im Sinne Chinas zu beeinflussen. In den letzten Jahren spendete Lee mehrere Hunderttausend Pfund an unterschiedliche Politiker. Besonders brisant: Der MI5 hat Kontakte Lees zur chinesischen Einheitsfront aufgezeigt, wie Marcel Grzanna berichtet. Diese Organisation der KP versucht auf unterschiedliche Weise, das Bild Chinas im Ausland zu beeinflussen.
Die Grünen-Politikerin und Wirtschafts-Staatssekretärin Franziska Brantner war derweil zu Gesprächen in der litauischen Hauptstadt Vilnius. Die Wahl des Reiseziels war für die ehemalige EU-Abgeordnete natürlich kein Zufall. Brantner zeigte Unterstützung für Litauen, das aufgrund eines Taiwan-Büros mit China aneinandergeraten war.
Der schwedische Ex-Diplomat und Politikberater Viking Bohman ordnet den Vorgang für uns ein. Im Interview mit Amelie Richter erklärt er: “Es wäre schlecht für die EU und ihre Glaubwürdigkeit, wenn es China schafft, dass Litauen von seiner Position zurückweicht.” Es gehe hier nicht ums Gewinnen und Verlieren, sondern um Realpolitik. Aus einem Rückzieher würde Peking lernen, dass Einschüchterungstaktiken gegenüber Europa funktionieren.
Bei der Vorbereitung des künftigen EU-Instruments gegen wirtschaftlichen Druck befürchtet Bohman derweil eine fatale Fehleinschätzung. Die Strategie basiere auf der Annahme, dass China sein Verhalten ändert, sobald die EU so ein Instrument habe. Das sei falsch. Zwar treibe die EU die wirtschaftlichen Kosten für Einschüchterungsversuche hoch. Doch das China unter Xi sei bereit, diese Kosten für seine Politikziele in Kauf zu nehmen. Das Ergebnis wären immer neue, ermüdende Grabenkämpfe, wie wir sie derzeit schon um Litauen erleben.
Herr Schaefer, bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in Peking im Sommer 2008 waren Sie als Botschafter der ranghöchste Vertreter der deutschen Politik, wenn man von der privaten Anwesenheit des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder einmal absieht. Damals hat die deutsche Bundesregierung mit einer Art diplomatischem Boykott gegen Chinas Menschenrechtskurs protestiert. Das hat Peking sicher nicht gefallen. Wie haben Sie das zu spüren bekommen?
Peking hat sich über diese symbolische Entscheidung Deutschlands nicht außergewöhnlich irritiert gezeigt. Die Entscheidung kam für beide Seiten ja nicht überraschend. Ein Jahr zuvor hatte Bundeskanzlerin Merkel den Dalai Lama in Berlin empfangen. Danach hatte Peking eine Eiszeit in den Beziehungen verkündet. Das Verhältnis hatte sich dann Anfang 2008 durch einen Briefwechsel entspannt. Doch im März 2008 nahm die Spannung angesichts der Entwicklungen in Tibet wieder zu. Deshalb gab es also eine abgestufte Reaktion der Bundesregierung: Boykott der Eröffnung, doch während der Spiele Teilnahme von zwei Bundesministern – Wolfgang Schäuble, als Innenminister für Sport zuständig, und Franz Josef Jung, als Verteidigungsminister für die Sportförderung in den Sportkompanien zuständig. Bei der Eröffnung der Paralympischen Spiele war dann sogar der damalige Bundespräsident Horst Köhler anwesend.
Wie haben Sie die Entscheidung als Botschafter empfunden?
Ich hielt das damals für eine gute, differenzierte Entscheidung, mit der ich als Botschafter vor Ort gut arbeiten konnte.
Allerdings waren zum Beispiel der französische Präsident Nicolas Sarkozy und der amerikanische Präsident George W. Bush damals bei der Eröffnung anwesend. Haben die Chinesen Sie das nicht spüren lassen?
Nicht sonderlich. Wir waren ja nicht allein. Die Briten, die Spanier, die Italiener oder die Polen haben sich wie Deutschland verhalten. Ebenso die Inder oder der Generalsekretär der Vereinten Nationen Ban Ki-moon.
Wie wirkungsvoll sind solche politischen Gesten?
Wenn man die Chinesen kennt, dann weiß man, dass Image ihnen wichtig ist, besonders bei einer solchen Weltveranstaltung, die sie zum ersten Mal ausrichten. Aber sie haben es professionell genommen und konnten dennoch verkünden, dass noch bei keinen Olympischen Spielen mehr Staatschefs und Staatsoberhäupter vertreten waren. Und dass Olympische Spiele Gegenstand politischer Proteste werden können, ist ja nichts Neues.
Als Botschafter hat man ja zwei Herzen in seiner Brust. Einerseits kann man nachvollziehen, dass auf Menschenrechtsverletzungen Reaktionen folgen müssen, andererseits sollen die Beziehungen harmonisch sein. Wie haben Sie das nach den Spielen ausbalanciert?
Ihre Feststellung ist richtig. Man möchte Beziehungen schaffen, die auch sehr unterschiedliche Standpunkte aushalten, ohne dass die Beziehungen jedes Mal eskalieren, eben weil es ein grundsätzliches Vertrauen gibt. Das war mir besonders wichtig, weil mir die Menschenrechtslage sehr am Herzen lag und liegt. Ich war vier Jahre in Genf zuständig für die Menschenrechtskommission. Das hat mich geprägt. Dort ging es mir vor allem um die Frage, wie man handeln muss, damit es mittel- und langfristige positive Veränderungen für die Menschen gibt. Ich war schon immer gegen reine Symbolpolitik, die vor allem auf die eigene Innenpolitik gerichtet ist.
Wie schafft man solche Veränderungen?
Die wichtigste Voraussetzung: Die Bundesregierung und die EU müssen in Menschenrechtsfragen mit einer Stimme sprechen. Es ist nicht gut, wenn ein Vertreter besonders lautstark auftritt und ein anderer mit Stillschweigen gegenüber Peking agiert. Das untergräbt die Glaubwürdigkeit unserer politischen Linie. Und man sollte sich nicht als Lehrmeister aufspielen, sondern deutlich machen, dass unserer Erfahrung nach die Verwirklichung individueller wie kollektiver Menschenrechte auch im Interesse einer stabilen gesellschaftlichen Entwicklung ist.
Bekommt die neue Bundesregierung das gut hin? War die Entscheidung, nicht zur Eröffnung der Olympischen Winterspiele 2022 zu fahren, richtig?
Ich denke, die Entscheidung der Bundesregierung, nicht zu der Eröffnung der Olympischen Winterspiele zu reisen, ist richtig – mal abgesehen davon, dass es wegen der neuen Corona-Welle sowieso schwierig geworden wäre. Was den Gleichklang innerhalb der Regierung betrifft, ist es für ein Urteil noch zu früh. Eine solche gemeinsame Linie ist nicht von heute auf morgen durchsetzbar. Jeder Bundeskanzler hat anfangs damit zu kämpfen, eine Linie zu finden und sie in der Regierung durchzusetzen.
Was ist in diesem Prozess besonders wichtig?
Dass alle Beteiligten die unterschiedlichen Perspektiven der Debatte um China verstehen. Die Chinesen sagen: Ihr benutzt die Menschenrechte nur, um uns kleinzuhalten und in die Ecke zu stellen. Wir wollen selbst bestimmen, wie wir uns entwickeln. Da spielt das Trauma der Teilkolonialisierung durch den Westen sicher noch eine wichtige Rolle. Wir antworten wiederum: Unsere Geschichte ist geprägt durch zwei Diktaturen mit massiven von Deutschen verursachten Menschenrechtsverletzungen. Wir haben einen Lernprozess durchgemacht. Individuelle Freiheit betrifft immer auch die Stabilität der Gesellschaft als Ganzes. Und diese Erfahrung zu teilen, ist wichtig. Genau wie China seine nationale Souveränität besonders wichtig ist. Gerade auch mit jungen Leuten an Universitäten in China habe ich oft darüber diskutiert und bin auf eine große Offenheit gestoßen.
Ein anderes Argument, das aus Peking immer kommt: China hält sich an die Menschenrechte, aber priorisiert eine andere Reihenfolge als der Westen. Erst Essen, Gesundheit, Arbeit und Bildung, dann Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und freie Wahlen. Ist das die Schutzbehauptung einer Diktatur?
Grundsätzlich ist diese Reihenfolge nicht falsch. Ich habe das in den Jahren als stellvertretender Botschafter in Singapur immer wieder gehört, besonders eindringlich von Lee Kuan Yew, dem Gründer und damaligen Ministerpräsidenten des Stadtstaates. Er unterschied zwischen bürgerlichen und politischen sowie wirtschaftlich und sozialen Menschenrechten. Vorrang hätten bei sich entwickelnden Gesellschaften immer die wirtschaftlichen und sozialen Rechte. Ich habe dann stets auf die allgemeine Menschenrechts-Deklaration der Vereinten Nationen hingewiesen, die alle UNO-Mitglieder unterschrieben haben. Und die kennt keine Rangfolge von Menschenrechten. Allerdings wurde beide Komplexe in zwei großen, unterschiedlichen Menschenrechtspakten ausdifferenziert. Die haben auch die Chinesen unterschrieben. Und daran müssen sie sich halten.
Das ist allerdings nicht der Fall, wenn man die Entwicklungen in Xinjiang und Hongkong betrachtet.
Für die politischen und bürgerlichen Rechte kann man das so feststellen, für die wirtschaftlichen und sozialen Rechte nicht. Die wirtschaftliche und soziale Lage der allermeisten Menschen in China hat sich in nur einer Generation sehr schnell und nachhaltig verbessert. Bei den politischen und zivilen Rechten hingegen ist inzwischen eine klare Linie der chinesischen Führung immer deutlicher erkennbar: Sie sollen für China nicht die Bedeutung bekommen, die sie im Westen haben. Das ist eine Entscheidung, die für mich unakzeptabel ist.
Was nun?
Mit der Brechstange können wir solche Themen nicht durchsetzen. Deshalb sollten wir an einer Stelle ansetzen, wo die Rechtsverletzung Ländergrenzen überschreitet, etwa bei der Produktion von Wirtschaftsgütern. Da können wir sagen: Güter, die zum Beispiel in Umerziehungslagern in Xinjiang gefertigt wurden, wollen wir nicht importieren, denn das ist eine flagrante Verletzung des Völkerrechts. Insofern ist das neue Lieferkettengesetz ein sinnvoller Schritt. Hier können und sollten wir eine rote Linie setzen.
Zumal die Stimmung insgesamt viel kontroverser ist als 2008.
Umso wichtiger wäre es, intensive Diskussionen mit den Chinesen zu führen.
Die von der EU verhängten Sanktionen und die Sanktionen der Chinesen als Antwort darauf weisen in eine andere Richtung.
Ja. Das ist eine falsche Entwicklung. Sanktionen sollten der Schlusspunkt nach erfolgloser Diskussion sein. Die Sanktionen kamen jedoch zu einem Zeitpunkt, zu dem es in den Gesprächen noch Spielräume gegeben hat, die man hätte nutzen können. Das ist jetzt viel schwieriger. Deswegen drängt sich der Eindruck auf, dass bei dem einen oder anderen Beteiligten innenpolitische, möglicherweise sogar wahltaktische Interessen eine größere Rolle gespielt haben, als sich mit China zu einigen, was nicht einfach ist.
Hinzu kommt, dass die Uneinigkeit auf europäischer Ebene, was nun zu tun sei, eher größer geworden ist.
Das ist die zweite falsche Entwicklung. Ein Dialog ist nicht möglich, wenn Europa nicht mit einer Stimme spricht. Wir haben bisher keine wirklich in die Tiefe gehende China-Strategie von europäischer Seite. Die ist jedoch absolut erforderlich. Mit einem Boykott der Eröffnung der Olympischen Winterspielen und Sanktionen ist es jedenfalls nicht getan.
Worin bestehen die Hausaufgaben der Chinesen?
Die Chinesen müssen erstens lernen, dass sie jetzt Teil einer internationalen Gemeinschaft sind, in der Regeln für alle gelten, nicht nur für die anderen. Sie können sich nicht das heraussuchen, was ihnen am besten passt. Die zweite: China muss aufhören, die Europäische Union durch bilaterale Verhandlungen, ich will nicht sagen: zu spalten, aber doch in einzelnen Fragen gegen einander aufzubringen. Klar ist auch: Niemand kann Peking zwingen, keine bilateralen Absprachen mit Ungarn, Rumänien oder Bulgarien zu haben, die möglicherweise einem europäischen Konsens widersprechen. Aber, ob das langfristig klug ist, ist zweifelhaft. China sollte erkennen, dass ein starkes Europa, vor allem auch im Wettbewerb mit den USA, im Eigeninteresse Chinas liegt.
Was bedeutet das für China und die EU konkret?
Wir müssen wieder miteinander reden, und zwar am besten nicht zunächst über die strittigen Themen, sondern über Themen, die im einvernehmlichen Interesse liegen. Das sind Themen wie der Klimawandel oder die Gesundheitspolitik. Und bei diesen Gesprächen müssen wir deutlich machen, dass wir keine Politik im Schlepptau der Amerikaner machen.
Aber ist das nicht faktisch so?
So scheint es jedenfalls derzeit. Ich glaube aber, dass Europa gut daran tut, sich nicht nolens volens einer amerikanischen Politik anzuschließen, die sehr stark von geopolitischen Interessen geprägt ist, nämlich zum Beispiel von der Vorherrschaft im Pazifik. Das ist nicht das vorrangige Interesse Europas. Wir haben ein Interesse an einem stabilen, regelbasierten internationalen System sowie zum Beispiel der Freiheit der Schifffahrtsstraßen. Umfassendere Interessen haben wir im Pazifik nicht und sollten auch nicht so tun. Ich glaube, Europa tut gut daran, seine eigene Klimapolitik zu definieren. Auch im Bereich des Handels und der Investitionsbedingungen haben wir eigene Interessen. Hier gibt es Verhandlungsspielraum mit den Chinesen. Aber fairer Handel bedeutet, dass sich beide Seiten an die vereinbarten Spielregeln halten.
Diese Gespräche sehe ich aber nicht, weil Europa sich nicht einig ist, was zu tun wäre.
China hat es sehr geschickt verstanden, mit einzelnen europäischen Staaten Beziehungen zu entwickeln, die ihnen kurzfristig Vorteile zu bringen scheinen. Aber wenn sich Europa weiterhin auseinanderdividieren lässt, dann wird es global keine Rolle spielen. Wir müssen lernen, mit einer Stimme zu sprechen, nicht nur China, auch den USA gegenüber. Wir müssen das Klein-Klein nationaler, sich widersprechender Politik überwinden.
Das Problem dabei ist, dass Deutschland als Exportnation eine andere Abhängigkeit von China hat als zum Beispiel Frankreich.
Die Abhängigkeit bedeutet allerdings auch mehr Einfluss auf China. Deutschland hat als stärkste Wirtschaftsnation in Europa mehr Gewicht als kleinere Handelspartner. Deshalb kann Deutschland eine zentrale Rolle spielen, wenn es darum geht, die gemeinsamen Spielregeln der EU mit China auszuhandeln.
Dabei sollten wir Führung zeigen in Europa und den Chinesen klarmachen: Sie sind jetzt eine starke Wirtschaftsnation, für die es keine Sonderbehandlung mehr geben kann. Sie müssen sich an die gleichen Regeln halten wie wir. Die müssen wir aushandeln. Dabei geht es um eine Balance zwischen Werten und Interessen der EU und Chinas. Das ist die Chance der gegenseitigen Abhängigkeit. Sich immer nur mit den Risiken zu beschäftigten bringt wenig.
Besteht in dieser Balance nicht die Gefahr, dass die Menschenrechtsthemen ins Hintertreffen geraten angesichts der tiefgreifenden Wirtschaftsinteressen.
Ich glaube, diese Frage ist falsch gestellt. Natürlich muss man Menschenrechtsverletzungen kritisch ansprechen. Die Frage ist nur, ob das immer mit dem großen Lautsprecher passieren muss. Oder ob man Menschenrechtsverletzungen auch, so wie das die Bundeskanzlerin über viele Jahre gemacht hat, in vertraulichen Gesprächen thematisieren kann. Es ist oft in der Öffentlichkeit kritisiert worden, dass sie sich zu stark zurückgehalten hat. Ich war ja oft dabei und habe gehört, mit welchem Nachdruck sie gerade auch solche Themen angesprochen hat. Wichtig dabei ist, was am Ende für die Menschen, die betroffen sind, herauskommt. Wir sollten das Ziel verfolgen, gemeinsame Spielregeln zu etablieren, an die sich beide Seiten halten.
Michael Schaefer gilt als einer der erfahrensten deutschen Diplomaten. Nach verschiedenen Positionen, unter anderem bei den Vereinten Nationen in New York, war der im Völkerrecht promovierte Volljurist vier Jahre als ständiger Vertreter in Singapur eingesetzt. Vier Jahre lang vertrat er Deutschland in Genf in der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, wo er sich immer wieder mit China beschäftigen musste. Von 2002 bis 2007 war er der politische Direktor des Auswärtigen Amts und Sicherheitsberater der Außenminister Joschka Fischer (Bündnis90/Die Grünen) und Frank-Walter Steinmeier (SPD). Von 2007 bis 2013 war er als Botschafter in Peking stationiert. Danach wechselte er als Vorsitzender des Vorstandes zur BMW-Foundation, wo er unter anderem die Zukunftsbrücke – Chinese German Young Professional Campus aufgebaut hat.
Litauen ist das jüngste Beispiel für wirtschaftliche Erpressung aus Peking, aber nicht das erste. Können Sie uns einen kleinen Überblick geben?
Diese Art der wirtschaftlichen Staatskunst, die derzeit aus Peking kommt, ist nichts Neues. Andere Länder waren in den letzten Jahren von ähnlichen und teilweise umfangreicheren Zwangsmaßnahmen betroffen: Australien, weil dieses eine Untersuchung der Ursprünge des Covid-19-Virus gefordert hat. Kanada nach der Festnahme von Huaweis Meng Wanzhou. Und Südkorea nach seiner Entscheidung, ein US-Raketenabwehrsystem zu installieren. Auch in der Europäischen Union, beispielsweise in Schweden, gab es viele Fälle, in denen wirtschaftlicher Zwang in Form von Reisewarnungen zur Einschränkung des Tourismus, Absagen von Wirtschaftsdelegationen und -gesprächen und Druck auf einzelne Unternehmen ausgeübt wurde. Das war zuletzt eine Reaktion auf die Entscheidung, Huawei und ZTE von Teilen des schwedischen Telekommunikationsnetzes auszuschließen. Was aber in Litauen passiert, ist im Vergleich zu dem, was wir davor gesehen haben, ein ganz neues Niveau.
Haben die wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen aus China in den vergangenen Jahren zugenommen?
Es scheint in der Tat so, als ob die Häufigkeit von offenem wirtschaftlichen Zwang in den letzten Jahren zugenommen hat. Und das scheint insbesondere für europäische Länder zu gelten, obwohl der Druck dort auf viel geringerem Niveau ausgeübt wurde. Dass das Ausmaß von Chinas offenem wirtschaftlichen Zwang in den letzten Jahren zugenommen hat, sieht man auch an dem umfangreichen Vorgehen gegen Länder wie Australien, Kanada, Südkorea, Schweden und Litauen. Der Druck, den Peking bereit ist, auszuüben, hat zugenommen. Ein weiteres Indiz für die wachsende Bereitschaft Chinas, wirtschaftliche Erpressung auszuüben, ist die Verhängung von Sanktionen in Form von Reise- und Geschäftsbeschränkungen gegen europäische Unternehmen und Einzelpersonen im März 2021.
Ist Peking mit dieser Strategie denn erfolgreich? Und wenn nicht, was ist dann die größere Absicht dahinter?
Es hängt davon ab, was wir als Chinas Ziel dahinter vermuten. Gehen wir davon aus, dass das Ziel darin besteht, die vermeintlich China-kritische Politik einiger Zielländer wieder umzukehren, dann war China in den letzten Jahren selten erfolgreich. In Schweden zum Beispiel stieß Chinas Vorgehen auf heftige Kritik und konnte die Politik wie den Ausschluss von Huawei nicht rückgängig machen. Eher im Gegenteil: Andere Länder prüften nun auch den Einsatz von Huawei und ZTE, zum Beispiel Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Und diese Länder sind ziemlich auf den Handel mit China angewiesen. Der wirtschaftliche Zwang scheint also manchmal kontraproduktiv zu sein. Die Maßnahmen verursachen viel Ärger, und das schadet Chinas Image als zuverlässiger Handelspartner.
Sie haben bereits die Beispiele in Ihrem Heimatland Schweden mit dem Ausschluss von Huawei und ZTE erwähnt. Sehen Sie langfristige Auswirkungen des chinesischen Zwangs in Schweden?
Ericsson hat einen erheblichen Marktanteilsverlust in China gemeldet, und das ist natürlich ein wichtiges schwedisches Unternehmen. Aber ich glaube nicht, dass es einen signifikanten Einfluss auf die schwedische Wirtschaft als Ganzes hatte und es kommt auch nicht annähernd an das heran, was derzeit mit Litauen passiert. Wenn man sich den Handel zwischen Schweden und China ansieht, ist das Volumen in den vergangenen Jahren sogar gestiegen. Obwohl wir also ein Allzeittief der politischen Beziehungen erlebt haben, wurden die wirtschaftlichen Beziehungen nicht in großem Umfang beeinflusst.
Würden Sie sagen, dass der Fall Litauen etwas Besonderes ist, oder kann das in dieser Form jedem Land passieren?
Was mit Litauen passiert, ist meines Wissens beispiellos. Es scheint, dass es eine pauschale Handelsaussetzung für Waren aus Litauen gibt. China hat schon früher Handelsbeschränkungen gegen Länder verhängt, diese haben aber immer auf bestimmte Sektoren, Industrien oder Unternehmen abgezielt, wie beispielsweise in Australien, Südkorea oder Kanada. Litauen schien in der Lage zu sein, die Blockade auszusitzen, da es nur sehr wenig mit China handelt. Nun sehen wir aber auch, dass China Druck auf multinationale Unternehmen ausübt, damit diese ihre Verbindungen zu Litauen abbrechen oder riskieren, vom chinesischen Markt ausgeschlossen zu werden. Und das ist wirklich beachtlich. Investoren könnten sich aus litauischen Unternehmen zurückziehen und nach anderen Lieferanten suchen. Das könnte sich merklich auf die Wirtschaftsströme innerhalb der EU auswirken. Das bedroht die Integrität des EU-Binnenmarktes.
Glauben Sie, dass der Fall Litauen andere EU-Länder davon abhält, denselben Weg zu gehen? Ist China hier mit seinem Zwangsansatz erfolgreich?
Es hängt wirklich davon ab, wie sich das entwickeln wird. Eine Frage ist, ob Litauen seine derzeitige Politik und den Namen der taiwanesischen Vertretung beibehalten wird. Wie bedeutend werden die wirtschaftlichen Auswirkungen des Drucks sein und wie viel Unterstützung wird Litauen von der EU und anderen Partnern erhalten? Wenn die Auswirkungen zu groß werden, könnten andere Länder aber tatsächlich davon abgehalten werden, ähnliche Schritte wie Litauen zu unternehmen.
Doch Litauen hat auch schnell auf die Drohungen aus China reagiert.
Ich denke, man kann viel aus dem Vorgehen der litauischen Regierung lernen: Sie hat beispielsweise eine Hotline für betroffene Unternehmen eingerichtet und geprüft, wie sie diese Unternehmen unterstützen können. Vilnius hat versucht, sich mit Verbündeten abzustimmen, und sie haben nach Möglichkeiten für alternative Lieferketten gesucht. Es wird interessant, später zu sehen, wie gut das funktioniert hat.
Der litauische Präsident hat es kürzlich erstmals offiziell “einen Fehler” genannt, das “Taiwan-Büro” in Vilnius unter diesem Namen eröffnen zu lassen. Sehen wir nun erste Risse in der litauischen Position unter dem Druck aus China?
Es ist schwer, das anhand einer Aussage zu sagen. Die Tatsache, dass er die Entscheidung für einen Fehler hält, muss nicht unbedingt bedeuten, dass er die gesamte Politik rückgängig machen möchte. Einige Beobachter mögen das aber vielleicht als Hinweis darauf werten, dass Litauen unter großem Druck steht und dass es mehr Unterstützung von der EU und anderen Verbündeten benötigt, um damit fertig zu werden. Es wäre schlecht für die EU und ihre Glaubwürdigkeit, wenn es China schafft, dass Litauen von seiner Position zurückweicht.
Das geplante Anti-Zwangs-Instrument (ACI) soll genau die Situationen verhindern, mit der Litauen derzeit konfrontiert ist. Die EU-Kommission will das Instrument primär zur Abschreckung einsetzen und hofft, dass es nie zum Einsatz kommt. Ist das ein wirksamer Ansatz gegen China?
Eines der Hauptprobleme bei diesem Instrument besteht darin, dass es China abschrecken soll. Befürworter sagen, die bloße Existenz des ACI werde eine abschreckende Wirkung haben. Es müsste dann idealerweise nie verwendet werden. Das halte ich für ziemlich unwahrscheinlich. Chinas aktueller außenpolitischer Kurs deutet darauf hin, dass die Macht der EU, die Entscheidungsfindung in Peking zu beeinflussen, recht gering ist. Und es scheint rote Linien zu geben, die von Chinas Spitzenpolitikern definiert wurden und an denen sie nicht weichen wollen. Um die Glaubwürdigkeit dieser roten Linien zu verteidigen, scheint China bereit zu sein, recht hohe Reputations-, politische und wirtschaftliche Kosten in Kauf zu nehmen.
Was hätte das für Konsequenzen?
Mir erscheint es unwahrscheinlich, dass China nach seinem derzeitigen kompromisslosen “Wolfskrieger”-Ansatz in der Diplomatie auf die Zwangsmaßnahmen verzichten würde, nur um die wirtschaftlichen Kosten einer europäischen Handels- und Investitionsbeschränkung zu vermeiden. Das bedeutet nicht, dass die EU nichts tun sollte. Aber die Strategie kann nicht auf der Annahme basieren, dass China sein Verhalten ändert. China könnte diese Art von wirtschaftlichem Druck fortsetzen, und das müssen wir einplanen.
Sie schlagen vor, dass sich der Fokus von ACI mehr darauf richten sollte, Chinas wirtschaftlichen Druck besser zu absorbieren, anstatt Gegenmaßnahmen als Option zu ergreifen. Können Sie das etwas näher erläutern?
Das Problem mit einem Instrument, das auf Gegenmaßnahmen fokussiert ist, ist, dass es dem Land, das von Chinas wirtschaftlichem Zwang betroffen ist, nicht viel bringt. Und das könnte dann tatsächlich dazu führen, dass China erfolgreich Länder verängstigt und davon abhält, die Volksrepublik zu kritisieren oder gegen seine Interessen zu handeln. Eine Möglichkeit, das zu lösen, wäre, den Fokus von Gegenmaßnahmen auf Möglichkeiten zu verlagern, die darauf abzielen, die Auswirkungen des Zwangs abzufedern. Die Hauptfunktion des ACI wäre es dann, den betroffenen EU-Mitgliedsstaaten maßgeschneiderte Unterstützung zu bieten, um die wirtschaftlichen Auswirkungen zu verhindern, beispielsweise bei der Unterbrechungen der Lieferketten.
Das würde eine Neuausrichtung des ACI bedeuten.
Im Rahmen des ACI könnte so auch geholfen werden, neue Beziehungen zu alternativen Partnern und Lieferanten zu eröffnen oder finanzielle Unterstützung für bestimmte Wechselkosten bereitzustellen. Das Instrument könnte auch aus einem Solidaritätsmechanismus bestehen, in dem die Mitgliedstaaten auf freiwilliger Basis zustimmen, einen Teil der wirtschaftlichen Last mit dem betroffenen EU-Staat zu teilen. Das Ziel wäre hier nicht, China abzuschrecken, sondern einen Versuch des Drucks wirkungslos zu machen und gleichzeitig eine eigenständige politische Richtung beizubehalten.
Welche weiteren Schwachpunkte sehen Sie im aktuellen Vorschlag der EU-Kommission zum ACI?
Ein weiteres Problem für den Mechanismus besteht darin, dass Chinas wirtschaftliche Erpressungen normalerweise sehr schwer zu beweisen sind. Peking operiert in einer Grauzone und es ist schwer zu sagen, ob der Staat zu den Zwangsmaßnahmen direkt beiträgt. Zum Beispiel ist es schwierig, zu überprüfen, ob ein Boykott gegen ein Unternehmen oder eine abgesagte Geschäftsdelegation direkt vom Staat verursacht wird. Und so wird es schwer, eine WTO-Klage zu stützen. Brüssel müsste dann wahrscheinlich Wege finden, den Zwang zu belegen, bevor man überhaupt über die Verwendung des ACI nachdenken kann.
Was sehen die bisherigen Entwürfe hier vor?
Im vorliegenden Vorschlag wird die Entscheidungen über die Anwendung des ACI von der EU-Kommission nach einer Anhörung in einem Ausschuss getroffen, der sich aus Vertretern der Mitgliedstaaten zusammensetzt. Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Option ist und ob sie so von den Mitgliedstaaten akzeptiert wird. Da die Probleme sehr politisch und außenpolitisch sein werden, erwarte ich eine wichtigere Rolle der Mitgliedsstaaten.
Das ACI gibt es noch nicht und es wird noch dauern, bis es in Kraft treten wird. Was kann die EU derzeit im Fall Litauen tun?
Chinas sehr bestimmter Ansatz erfordert natürlich eine Reaktion. Aber der Reflex, auf wirtschaftlichen Zwang mit ähnlichen Gegenmaßnahmen zu reagieren, ist möglicherweise nicht die beste Option. Ich denke, es ist jetzt wichtiger, Litauen die Unterstützung zu geben, die es braucht, um seine unabhängige Politik aufrechtzuerhalten. Es würde nicht gut aussehen, wenn China Litauen erfolgreich zum Rückzug zwingen würde. Ein WTO-Verfahren gegen China oder vergeltende Handelssanktionen bringen Litauen keine wirklich konkrete Hilfe. Auch, wenn die EU heute solche Schritte unternehmen könnte.
Welche Szenarien sind jetzt möglich?
Der Druck, den China auf Unternehmen ausübt, um die Verbindungen zu Litauen abzubrechen, stört die internen Abläufe unseres Binnenmarktes. Die Reaktion der EU sollte sich darauf konzentrieren, mögliche Auswirkungen davon zu verhindern oder abzumildern. Andernfalls könnte die litauische Wirtschaft wirklich unter Druck geraten. Nachdem die USA 2018 Sanktionen gegen den Iran verhängt hatten, hat die EU Schritte unternommen, um den Rückzug europäischer Unternehmen aus dem iranischen Markt durch das sogenannte Blocking Statute zu verhindern. Ein ähnlicher Schritt ist im Fall Litauens vielleicht nicht möglich. Aber ich denke, die EU sollte überlegen, wie sie mit den Unternehmen ins Gespräch kommen, die erwägen, ihre Beziehungen zu Litauen abzubrechen, weil sie um ihren Zugang zu Chinas Märkten fürchten.
Viking Bohman ist Analyst am Swedish National China Centre. Das Forschungszentrum gehört zum renommierten Swedish Institute of International Affairs und betreibt Forschung zu China-Themen. Bohman hat zuvor im schwedischen Außenministerium und in der schwedischen Botschaft in Peking gearbeitet.
Beim Stichwort Importabhängigkeit drängt sich vor allem ein Rohstoff auf: Erdöl. Die Volksrepublik China ist seit 2017 der weltgrößte Ölimporteur. Und die Lücke zwischen einer stagnierenden Produktionsmenge zuhause und der noch immer wachsenden Nachfrage wird immer größer. Damit nicht genug: Öl ist nicht der einzige Rohstoff, von dem China zu wenig besitzt. Außer der fragilen Energiesicherheit gibt es weitere Schwachstellen.
China müsse eine “strategische Basis” für die Selbstversorgung mit wichtigen Rohstoffen von Energie bis Sojabohnen schaffen, betonte Präsident Xi Jinping im Dezember auf der jährlichen Wirtschaftskonferenz der Kommunistischen Partei. “Für ein großes Land wie unseres ist es eine zentrale strategische Frage, dass wir die Versorgung mit Vorprodukten sicherstellen können”, beschwor Xi die Delegierten. “Sojabohnen, Eisenerz, Rohöl, Erdgas, Kupfer und Aluminiumerze sind alle verknüpft mit dem Schicksal unserer Nation.”
2021 wuchsen Chinas Importe um 21,5 Prozent auf 17,37 Billionen Yuan (2,4 Billionen Euro). Der Zuwachs wurde zuletzt vor allem von der steigenden Nachfrage nach Rohstoffen für den Energiesektor sowie Metallen angetrieben. Konzepte wie die von Xi 2020 präsentierte “Duale Zirkulation” sollen daher die Rolle des Binnenmarktes stärken. Der 14. Fünfjahresplan peilt etwa eine technologische Unabhängigkeit des Landes bis 2025 an. Doch zumindest kurzfristig braucht China die Einfuhren.
Das Thema gewinnt daher auf der langfristigen Agenda des Landes unter Xi immer größere Priorität. Bei Rohstoffen wie Sojabohnen, Eisenerz, Rohöl, Erdgas, Kupfer, Bauxit und Gold stammen bis zu 80 Prozent des chinesischen Verbrauchs aus dem Ausland. Im Technologiesektor sind es vor allem Halbleiter, die China einführen muss: Das Land ist seit 2005 der weltgrößte Chip-Importeur. Doch auch andere Technologien und Komponenten muss China weitgehend im Ausland beschaffen. Dazu gehören nach einer neuen Studie des Center for Security and Emerging Technology (CEST) der US-amerikanischen Georgetown University etwa Lidar-Systeme für selbstfahrende Autos, Motorgehäuse für Verkehrsflugzeuge oder Reagenzien für Gen-Editing-Kits.
Die geopolitischen Spannungen zwischen China und dem Westen, allen voran mit den USA, haben längst Einfluss auf die Importe des Landes. 2018 gerieten die Lieferungen amerikanischer Sojabohnen nach China in den Mahlstrom des Handelskrieges. Der wachsende Fleischkonsum der Chinesen treibt die Nachfrage nach Mais und Sojabohnen als Futtermittel enorm nach oben. In den vergangenen 20 Jahren verzehnfachten sich die Sojabohnenimporte von 10,4 Millionen auf 100,3 Millionen Tonnen. Auch hier ist die Volksrepublik mit großem Abstand Spitzenreiter in der Welt.
Durch den Handelskonflikt mit Washington halbierten sich die chinesischen Einfuhren von US-Sojabohnen von 32,9 Milliarden Tonnen im Jahr 2017 auf nur noch 16,6 Millionen Tonnen im Jahr 2018. China wandte sich an Brasilien, um die Lücke zu schließen. Heute liefert Brasilien 60 Prozent der Soja-Importe des Landes. 30 Prozent kommen nach wie vor aus den USA. Doch Brasiliens Produktion kommt der Nachfrage aus China nicht mehr hinterher. Peking versucht daher, sich weitere Kanäle in Russland und Südostasien aufzubauen. Zumal der Import-Bedarf noch weiter zunehmen wird, weil im eigenen Land die Anbaufläche schrumpft; 2021 um satte 14,8 Prozent. Nach Angaben des Nationalen Statistikamtes geben viele Bauern aufgrund der niedrigen Margen den Soja-Anbau auf.
Auch schneidet die US-Politik der “schwarzen Listen” von Ex-Präsident Donald Trump seit Jahren viele chinesische Firmen von wichtigen Komponenten ab. Trump setzte ab 2018 hunderte chinesische Unternehmen auf die harmlos klingende “Entity List” des Handelsministeriums. Das kam einem Verbot für amerikanischen Unternehmen gleich, an diese chinesischen Unternehmen zu verkaufen. Die Biden-Regierung hat diese Liste beibehalten. Im Dezember fügte sie sogar weitere Firmen hinzu, darunter den KI-Spezialisten Sensetime und den führenden Drohnenhersteller DJI.
China profitierte in früheren Jahren auch vom Technologietransfer des Auslands. Doch die Tech-Investitionen der USA brachen laut CEST seit 2016 um 96 Prozent ein: “Peking war gezwungen, nach neuen Wegen zur Beschaffung von Schlüsseltechnologien zu suchen – und sich an Briefkastenfirmen und Zwischenhändler zu wenden, um ausländische Komponenten, Reagenzien und andere relevante Geräte zu beschaffen.” Zwar seien weniger als zehn Prozent der Ausrüstungslieferanten des chinesischen Militärs auf den US-Exportkontroll- und Sanktionslisten aufgeführt, so die Experten. Aber: “Manche machen ihr Geschäft damit, Ausrüstungen mit US-Ursprung zu verpacken und an sanktionierte chinesische Militäreinheiten weiterzuverkaufen.” Diese Grauzone hilft China zwar kurzfristig. Die Abhängigkeit vom Ausland aber schmälert dieser Kniff nicht.
China sei bei 35 Schlüsseltechnologien auf Importe angewiesen, die es im Inland nicht in ausreichender Qualität oder Quantität produzieren könne, schrieb CEST-Forscherin Emily Weinstein Anfang Januar unter Berufung auf Chinas Bildungsministerium. Zu diesen Technologien gehören Hochleistungs-Gasturbinen, Hochdruck-Kolbenpumpen, Stahl für hochwertige Lager, Fotolithografiemaschinen, industrielle Software und mehr. Also ein ganzes Arsenal an Hochtechnologie, das eine Wirtschaftsmacht benötigt, um langfristig eine Führungsrolle in der Welt beanspruchen zu können.
Heute, in Zeiten des globalen Chipmangels, ringt Peking zudem mit der EU und den USA um Halbleiter-Lieferungen des taiwanischen Weltmarktführers TSMC. 2020 importierte China Halbleiter im Wert von 350 Milliarden US-Dollar – mehr als sein Importvolumen für Erdöl. Laut dem Fachmagazin Technode verzeichnete China 2020 bei Halbleitern ein Handelsdefizit von 233,4 Milliarden US-Dollar. Bei Rohöl waren es “nur” 185,6 Milliarden US-Dollar. Trotz des Defizits verzeichnete die Volksrepublik 2020 über alle Warengruppen hinweg einen Handelsüberschuss von rund 590 Milliarden US-Dollar, 2021 kletterte der Überschuss sogar auf 676 Milliarden. 60 Prozent der importierten Halbleiter waren 2020 übrigens Komponenten für Chinas Exportprodukte wie Tablets und andere Elektronikwaren.
Nachdem Washington Chinas Branchenprimus SMIC aus Shenzhen 2020 auf die “Entity List” gesetzt hatte, hatte das Unternehmen Mühe, moderne 7-Nanometer-Chips herzustellen. “SMIC fehlen die teuren Werkzeugmaschinen, um sie herzustellen”, schrieb Forscherin Weinstein. US-Exportkontrollen legten demnach die Chip-Tochter HiSilicon von Huawei lahm. Auch deshalb will China 70 Prozent der für seine Tech-Industrie und den Autosektor benötigten Chips ab 2025 selbst produzieren. Doch das Ziel ist vage formuliert; und selbst dann wird es weiterhin viele der unzähligen Vorprodukte aus dem Ausland beziehen müssen.
Trotz aller Maßnahmen zur Stärkung von Chinas Position als Wissenschafts- und Technologiezentrum tue sich die Kommunistische Partei schwer, inländische Lieferketten für wichtige Rohstoffe wie Halbleiter und Gasturbinen aufzubauen, schreibt Weinstein. China werde wahrscheinlich bis weit in die 2020er Jahre auf ausländische Ausrüstung angewiesen bleiben. Darüber hinaus führe Chinas Weg zu ausländischer Technologie vor allem über US-Verbündete wie Australien, Japan, Südkorea und Großbritannien.
Auch Rohstoffe muss China von geopolitischen Rivalen beziehen – so etwa das Erdgas für den Winter (China.Table berichtete). 60 Prozent seiner Eisenerz-Importe bezieht China derweil aus Australien. Mit Canberra aber sind Pekings Beziehungen auf dem Tiefpunkt. China piesackt Australien mit Strafzöllen oder Einfuhrverboten etwa für Rindfleisch, Hummer, Gerste und Wein, seit Canberra eine unabhängige Untersuchung der Ursprünge von Covid-19 gefordert hat. Australien hat sich seither mehreren Sicherheitsbündnissen angeschlossen, die implizit gegen China gerichtet sind. Gerade erst besiegelte es eine Partnerschaft mit Japan (China.Table berichtete).
An die Eisenerz-Importe aus Down Under wagte sich Peking bislang nicht heran. Doch missfällt China die Abhängigkeit von australischem Erz. Die Volksrepublik sucht deshalb nach Alternativen. Eine fand es 2020 in der Hügelkette Simandou im westafrikanischen Guinea. Dort soll die weltweit größte Reserve an unerschlossenem hochwertigen Eisenerz liegen. Neben der Erschließung der Mine müssen 650 Kilometer Eisenbahnstrecke und ein moderner Erzhafen gebaut werden. 2020 sicherte sich China als Teil eines Konsortiums mit Firmen aus Frankreich und Singapur zwei von vier Abschnitten der geplanten Mine.
Doch Guinea ist politisch instabil. Erst im September 2021 stürzte ein Militärputsch den Präsidenten Alpha Conde. Seither regiert der Putschistenführer, Oberst Mamady Doumbouya. Peking kritisierte den Putsch – ungewöhnlicherweise. Denn niemand weiß, ob die Armee nun den Minen-Vertrag anerkennt. Doch China ist schon jetzt abhängig von Guinea: Das Land liefert den Chinesen 55 Prozent seines Bauxit-Bedarfs für die Aluminiumindustrie.
Plötzlich erscheinen all diese Bilder von Christine Lee in einem anderen Licht. Da gibt es diese Aufnahme, die sie im scheinbar engen Austausch mit dem früheren britischen Premierminister David Cameron zeigt. Auf einem anderen Foto ist sie mit einer Gruppe junger Chinesinnen und Chinesen an der Seite des früheren Chefs der Labour-Partei Jeremy Corbyn zu sehen.
Seit wenigen Tagen ist der Name Christine Lee in Großbritannien in aller Munde. Der Inlandsgeheimdienst MI5 hatte den Stein am Donnerstag ins Rollen gebracht. Der Sicherheitsdienst warnte die Mitglieder des Parlaments vor der einflussreichen Anwältin mit britischem Pass. Sie versuche, im Interesse der Volksrepublik China auf die Politik des Landes einzuwirken. Die Bilder mit Cameron oder Corbyn erwecken den Eindruck, dass sie erfolgreich war.
Dabei stehen weder Cameron noch Corbyn im Mittelpunkt der Affäre, sondern der Labour-Abgeordnete Barry Gardiner. Bis 2020 war Gardiner Energie-Schattenminister unter Corbyn und bereits vor fast 20 Jahren für die Regierung Tony Blair als Juniorminister aktiv. Sein Büro erhielt Spenden von Lee in Höhe von 200.000 Pfund. Gardiner war größter Profiteur von Lees Zahlungen, die insgesamt fast eine halbe Million Pfund ausmachten. Doch auch viele weitere Abgeordnete und Parteien aus dem gesamten politischen Spektrum erhielten Zuwendungen.
Gardiner erhielt die Spenden völlig legal und transparent. Er machte die Zahlungen stets öffentlich. Das Geld wurde verwendet, um Studien und Untersuchungen in dessen Londoner Wahlkreis Brent North zu finanzieren. Der Politiker zeigte sich überrascht von der Warnung des MI5. Er habe den Geheimdienst jahrelang über die Spenden von Christine Lee informiert, erklärte er. Niemals sei er gewarnt worden. Lee sei eine registrierte Spenderin gewesen, und das von ihr gezahlte Geld sauber. Das Innenministerium stufte Lees Aktivitäten als “unterhalb der Schwelle zur Kriminalität” ein.
Dennoch muss sich Gardiner nun rechtfertigen. Ihm wird vorgeworfen, er habe unter Lees Einfluss für eine chinesische Beteiligung am Bau des Kernkraftwerkes Hinkley Point C im Süden England die Werbetrommel gerührt. Der Abgeordnete bestreitet das. Er habe den britischen Steuerzahler vor Wucherpreisen anderer Anbieter bewahren wollen, sagt Gardiner.
Doch diese Vorwürfe sind nicht neu. Über Zuwendungen an Gardiners Büro berichtete die britische Presse schon im Jahr 2019. Auch damals fiel der Name Christine Lee. Der entscheidende Unterschied: Der Geheimdienst äußerte sich damals nicht. Stattdessen zeichnete die damalige Premierministerin Theresa May Christine Lee im selben Jahr für deren Engagement für die chinesisch-britischen Beziehungen mit dem “Points of Light”-Award aus. Sie könne “sehr stolz” sein, schrieb May der Juristin in einem persönlichen Brief.
Jetzt die Kehrtwende. Der MI5 warnte das Parlament nicht nur vor Christine Lee, sondern thematisierte auch die guten Kontakte der gebürtigen Hongkongerin zum United Front Work Department (UFWD), der chinesischen Einheitsfront. “Es ist das erste Mal, dass der MI5 die UFWD als ein Problem für die nationale Sicherheit öffentlich identifiziert“, sagt Didi-Kirsten Tatlow von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). “Das hat nicht nur symbolische Bedeutung, sondern ist ein Signal, dass man sich in Großbritannien offenbar dazu entschlossen hat, chinesischen Einfluss ernsthaft zurückzudrängen.”
Die Einheitsfront ist fast so alt wie die Partei selbst (China.Table berichtete). Sie kommt intensiv dort zum Einsatz, wo Zweifel aufkommen an der Legitimität der KP, wo Kritik laut wird an ihrer Politik und wo Widerstand droht gegen ihre autoritäre Herrschaft. Über eine Verästelung vieler Partei-Organisationen knüpft die Einheitsfront auch Kontakte zu einflussreichen Kräften im Ausland. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft – überall ist sie aktiv. Und das buchstäblich in allen Ländern der Welt.
Experten warnen davor, was Wirken der Einheitsfront zu unterschätzen. “Sie ist eine Art Management-Instrument der KP Chinas, um sicherzustellen, dass einerseits Nicht-Mitglieder auf Parteilinie gebracht und andererseits negative Stimmen marginalisiert werden”, sagte Ralph Weber, Professor am Europainstitut der Universität in Basel, im vergangenen Jahr im Gespräch mit China.Table.
Der konservative Parlamentarier Sir Iain Duncan Smith zeigte sich zutiefst besorgt über die Warnung des MI5 vor Christine Lee. Smith ist von der chinesischen Regierung wegen seiner Unterstützung pro-demokratischer Politiker und Aktivisten aus Hongkong von der chinesischen Regierung sanktioniert. Er verlangte einerseits Aufklärung über die Risiken für Hongkonger Aktivisten und stellte zudem die Frage, ob der Akkreditierungsprozess des Parlaments “für solche Leute” – gemeint ist Lee – überarbeitet werden müsse.
Einige politische Beobachter stellten sich derweil die Frage, ob der Zeitpunkt der Warnung durch den Geheimdienst auch innenpolitische Gründe haben könnte. Premierminister Boris Johnson steckt knietief in Schwierigkeiten wegen eines Party-Besuchs in Corona-Zeiten. Da kommen Zuwendungen an einen Labour-Politiker von einer großzügigen Spenderin mit besten Beziehungen zur Kommunistischen Partei nicht ganz ungelegen. Dagegen spricht, dass zu viele britische Parteien und Politiker in den Fall Christine Lee verstrickt sind.
Lee ist britische Staatsbürgerin. Ihre Eltern wanderten nach Nordirland aus, als sie noch ein Kind war. Dass sie gute Kontakte zum chinesischen Parteistaat pflegt, hätte jedem Parlamentarier klar sein müssen, der ihr Geld akzeptierte. Ihre Kanzlei betreibt ein eigenes Büro im Gebäude der britischen Botschaft in Peking. Seit vielen Jahren berät sie dort chinesische Unternehmen, die in Großbritannien investieren wollen.
Auf Fotografien ist sie bei der Shenzhen Overseas Exchange Association Conference zu sehen. Als ehrenamtliche Beraterin unterstützte sie die Direktorin der Shenzhen-Abteilung der Einheitsfront. Ein anderes Bild zeigt sie, wie sie bei einem Empfang die Hand von Chinas Staatspräsident Xi Jinping schüttelt.
In China habe Lee einer Rede des Einheitsfront-Vorsitzenden You Quan beigewohnt, schreibt Martin Thorley von der Universität Exeter auf Twitter. Thorley forscht zu den chinesisch-britischen Beziehungen. You ermutigte die Zuhörer, den “von Xi Jinping geprägten Sozialismus mit chinesischen Charakteristiken” als Leitlinie zu akzeptieren. Laut Thorley habe Lee die Rede “ermutigt und berührt” aufgenommen. Demnach schwärmte sie von ihrem starken Gefühl des Nationalstolzes. Obwohl sie all die Jahre in Großbritannien verbracht habe, wolle sie “eine Kommunikatorin der Stimme Chinas sein“, habe Lee gesagt.
Thorley glaubt, der Fall Lee sei “lediglich die Spitze des Eisberges”. Noch düsterer sehen die Autoren Mareike Ohlberg und Clive Hamilton das Maß an Einfluss chinesischer Interessen in Großbritannien. In ihrem Buch “Die lautlose Eroberung” beschreiben sie die britische Polit- und Wirtschaftselite also so tief infiltriert, dass der “Point of no Return” bereits überschritten sei. Das System lasse sich praktisch nicht mehr säubern.
Forscherin Tatlow von der DGAP ist dagegen weniger pessimistisch. Sie glaubt, dass der “schleichenden, teils aggressiven Einflussnahme” immer noch erfolgreich entgegengewirkt werden kann. Voraussetzung: weniger Naivität und mehr Entschlossenheit. Das gelte aber nicht nur für Großbritannien. “China ist auch in Deutschland und in vielen Teilen Europas bereits tief in den politischen Machtkorridor eingedrungen. Das ist das Resultat von jahrzehntelanger Arbeit der Kommunistischen Partei.”
Chinas Bevölkerung ist abermals nur sehr langsam gewachsen – im Jahr 2021 um 480.000 Menschen auf 1,413 Milliarden. Diese Zahlen veröffentlichte die chinesische Statistikbehörde am Montag in Peking. Sorgen bereitet den Verantwortlichen dabei vor allem die Geburtenrate: Die Zahl der Neugeborenen ging offiziellen Angaben zufolge um 11,5 Prozent auf 10,6 Millionen zurück. Damit rutschte die Geburtenrate mit 7,5 Neugeborenen auf 1000 Menschen drastisch ab. Es ist der niedrigste Wert, der im statistischen Jahrbuch des Landes seit 1978 verzeichnet wurde, und auch der niedrigste seit der Gründung der Volksrepublik 1949.
Auch der Anteil der Menschen im offiziellen Erwerbsalter – also zwischen 16 bis 59 Jahren – ist 2021 gesunken. Er fiel von 63,3 Prozent auf 62,5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Vor zehn Jahren lag er noch bei rund 70 Prozent. Demografen erwarten, dass dieser Anteil bis 2050 sogar auf 50 Prozent zurückgehen könnte. Gleichzeitig wird China immer älter: Die Zahl der Menschen im Alter über 60 Jahren innerhalb eines Jahres wuchs von 18,7 Prozent auf 18,9 Prozent der Gesamtbevölkerung.
Seit Jahrzehnten hat die Kommunistische Partei (KP China) die Geburtenrate genau im Blick: Die 1980 eingeführte Ein-Kind-Politik sollte einst das Bevölkerungswachstum begrenzen. Als die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter früher als erwartet zu schrumpfen begann, setzte bei den Verantwortlichen ein Umdenken ein: 2015 wurde die Ein-Kind-Politik abgeschafft; von nun an durften Paare zwei Kinder haben. Das sorgte allerdings nur kurzzeitig für einen leichten Anstieg der Geburten, wie die aktuellen Zahlen zeigen. Seit Mai 2021 sind deshalb sogar drei Kinder pro Paar erlaubt.
Das Statistikamt nannte am Montag unter anderem die Coronavirus-Pandemie als Ursache für den erneuten Rückgang bei Geburten. Auch andere externe Faktoren halten Paare davon ab, mehrere Kinder zu bekommen: hohe Kosten für Wohnraum, Ausbildung und Gesundheit, beengte Wohnverhältnisse sowie die berufliche Diskriminierung von Müttern. Die Regierung wirbt inzwischen mit Steuervorteilen für mehr Geburten (China-Table berichtete).
Experten warnen angesichts dieser Entwicklungen – weniger Geburten, weniger Erwerbstätige und immer mehr alte Menschen – vor einer “demografischen Zeitbombe” (China.Table berichtete). Schon bald könnten in der Volksrepublik zu wenige Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, um eine wachsende Zahl älterer Menschen zu versorgen. rad
Chinas Staatspräsident Xi Jingping hat am Montag Online-Konferenz “Davos Agenda” des Weltwirtschaftsforums (WEF) eröffnet. In seiner Rede rief Xi zur Stabilisierung der globalen Konjunktur auf und plädierte für eine größere internationale Zusammenarbeit. In Zeiten der Corona-Pandemie müsse man verhindern, dass die globale Wirtschaft wieder einen Durchhänger erleide, so Xi.
China werde in wenigen Tagen das Jahr des Tigers beginnen. Er symbolisiere Mut und Stärke – Eigenschafften, die sich auch die Staaten der Welt zu eigen machen sollten, um die gegenwärtigen Herausforderungen zu meistern. Xi mahnte denn auch, die Industrieländer sollten in diesen Zeiten nicht weniger Geld ausgeben. Würden sie geldpolitisch auf die Bremse treten oder gar eine Wende vollziehen, würde das negative Folgen für die weltweite Wirtschafts- und Finanzstabilität haben, warnte Xi. Die Hauptlast einer solchen Politik würden die Entwicklungsländer tragen müssen. Diese Länder seien jedoch durch die Pandemie ohnehin schon stark getroffen, viele in Armut und Instabilität zurückgefallen.
Die Weltbank hatte jüngst vor einer deutlichen Abkühlung der globalen Konjunktur gewarnt. In diesem Jahr dürfte die Weltwirtschaft noch um 4,1 Prozent wachsen, 2023 dann um 3,2 Prozent. Vor allem ärmere Länder stünden deshalb unter Druck.
“Lassen Sie uns voller Vertrauen die Hände reichen für eine gemeinsame Zukunft”, appellierte Chinas Präsident. Insbesondere im Kampf gegen das Coronavirus gehe es darum, die Kräfte zu bündeln, um der Pandemie ein Ende zu bereiten. Xi unterstrich die Bedeutung von Impfstoffen und ihre gerechte Verteilung, um die weltweite Impflücke zu schließen. China werde sich weiterhin aktiv an der internationalen Zusammenarbeit zur Pandemie-Bekämpfung beteiligen.
Als weitere Redner stehen unter anderem UN-Generalsekretär António Guterres und der indische Premierminister Narendra Modi auf dem Programm. Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz will am Mittwoch an dem virtuellen Davos-Dialog teilnehmen.
Das Weltwirtschaftsforum in Davos, das traditionell Mitte Januar stattfindet, war wegen der Corona-Lage verschoben worden. Stattdessen hatte die Stiftung angekündigt, Führungskräfte digital zusammenbringen. rad
China hat 2021 einen Exportüberschuss in Rekordhöhe erzielt. Die Ausfuhren übertrafen die Importe um umgerechnet knapp 590 Milliarden Euro, wie die Zollbehörde am Freitag in Peking mitteilte. Das sind gut 152 Milliarden mehr als 2020. Allerdings verzerrt die Corona-Pandemie die Zahl für 2020.
Grund für den Rekord ist die weltweit starke Nachfrage nach Waren “Made in China”. Die Exporte legten im vergangenen Jahr um 29,9 Prozent zu, nachdem es im ersten Corona-Jahr lediglich zu einem Plus von 3,6 Prozent gereicht hatte. Besonders gefragt waren beispielsweise Computer und anderer Elektronik, die etwa für das pandemiebedingte Arbeiten von Zuhause benötigt werden. Auch medizinische Produkte wie etwa Masken wurden wegen der Pandemie in aller Welt benötigt. Die chinesischen Importe legten um 30,1 Prozent zu, nachdem sie 2020 noch um 1,1 Prozent gefallen waren.
Experten zufolge hat China von der Pandemie-bedingten Unterbrechung der Lieferketten etwa in den westlichen Ländern profitiert. “Wir gehen davon aus, dass die chinesischen Exporte im laufenden ersten Quartal aufgrund der robusten globalen Nachfrage stark bleiben werden”, sagte der Chefökonom von Pinpoint Asset Management, Zhang Zhiwei. “Derzeit könnten die starken Exporte der einzige Motor sein, der Chinas Wirtschaft hilft.”
China wird einer Ökonomen-Umfrage der Nachrichtenagentur Reuters zufolge sowohl in diesem als auch im kommenden Jahr um 5,2 Prozent wachsen. 2021 dürfte es aufgrund von Nachholeffekten zu einem besonders kräftigen Plus von acht Prozent beim Bruttoinlandsprodukt gereicht haben. “Insbesondere im ersten Halbjahr dürfte ausreichend politische Unterstützung da sein, um sicherzustellen, dass das Wirtschaftswachstum nicht unter Pekings Komfortzone fällt”, sagte Tommy Wu von Oxford Economics. So könnte die Zentralbank ihre Geldpolitik lockern. Analysten gehen zudem davon aus, dass das Wachstum vor dem Parteikongress zur Wiederwahl Xi Jinpings künstlich erhöht wird. nib/rtr
Volkswagen (VW) hat wegen eines Covid-Ausbruchs in der Belegschaft sein Werk in Tianjin vorübergehend heruntergefahren. Die Autofabrik in Nordchina, die etwa 100 Kilometer von der Hauptstadt Peking entfernt liegt, habe bereits zu Wochenanfang den Betrieb eingestellt, nachdem sich Mitarbeiter mit dem Virus angesteckt hätten, sagte ein Sprecher am Donnerstag. Am Mittwoch wurden 41 Fälle von im Inland übertragenen Infektionen mit bestätigten Symptomen gemeldet nach 33 am Tag zuvor, wie aus Daten der nationalen Gesundheitskommission hervorging.
An dem Standort betreibt VW zusammen mit seinem chinesischen Partner FAW ein Komponentenwerk und einen Betrieb für Automatikgetriebe. Beide Werke hätten alle Mitarbeiter in dieser Woche zwei Mal getestet und warteten nun auf die Ergebnisse. Man hoffe, die Produktion bald wieder aufnehmen und die Ausfälle nachholen zu können. Volkswagen hat seit Ausbruch der Pandemie vor gut zwei Jahren in China an mehreren Standorten die Produktion vorübergehend stoppen müssen.
Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) rechnet für 2022 weiterhin mit Lieferkettenproblemen durch die Corona-Pandemie. Zwar seien die Auftragsbücher der Industrie-Unternehmen in Deutschland voll, aber fehlende oder zu spät gelieferte Rohstoffe und Vorprodukte könnten die Produktion unterbrechen. In der Auto-Industrie sei das Schlimmste vermutlich überstanden, in anderen Branchen sei dies erst Ende des Jahres zu erwarten. “Diese Engpässe bremsen die industrielle Wertschöpfung in den Jahren 2021 und 2022 um jeweils mehr als 50 Milliarden Euro aus”, sagte BDI-Präsident Siegfried Russwurm am Donnerstag in Berlin. Trotz dieser Einschränkungen rechnet der Verband mit einem Wirtschaftswachstum von 3,5 Prozent für das Jahr 2022. Die Exporte könnten gar um vier Prozent zunehmen.
In China wurden derweil zwei Omikron-Fälle in der Hafen-Stadt Dalian gemeldet. Es handelt sich um Studenten, die von einem Besuch in Tianjin zurückkamen. Dalian ist nach Tianjin die zweite wichtige Hafenstadt in China mit bestätigten Omikron-Fällen. Ihre Häfen gehören zu den zwanzig größten der Welt, berichtet Bloomberg. Große Firmen wie Volkswagen, Toyota und Airbus haben in den Städten Fabriken. Auch Toyota musste die Bänder stillstehen lassen.
Zudem gibt es Berichte darüber, dass Containerschiffe den Hafen in Ningbo meiden und stattdessen nach Shanghai ausweichen. In Ningbo war es aufgrund von Coronavirus-Infektionen zu Verzögerungen gekommen, weil der LKW-Verkehr zum Hafen beeinträchtigt wurde. Vor dem Hafen Shanghai kam es demnach zu Staus. Die Fahrpläne für Containerschiffe verschieben sich um circa eine Woche, berichten Spediteure Bloomberg. Die Verspätungen könnten sich wie schon im vergangenen Jahr bis in die USA und nach Europa ausbreiten. nib/rtr
Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) hat mehrere Geräte des chinesischen Anbieters Xiaomi monatelang geprüft. Auf Anfrage von Europe.Table teilte die IT-Sicherheitsbehörde des Bundes nun mit, dass es bei der Prüfung “im Ergebnis keine Auffälligkeiten feststellen konnte”, die “weitere Untersuchungen oder andere Maßnahmen” nötig machen würden.
Xiaomi war in den Verdacht geraten, als bei einer Untersuchung der litauischen IT-Sicherheitsbehörde NCSC bei einem Endgerät ein Softwaremodul auffiel, das im Hintergrund bestimmte – in China unerwünschte – Begriffe aufspüren und zensiert haben soll. Dieses Verhalten konnte die BSI-Untersuchung nun offenbar nicht reproduzieren: “Insbesondere eine Übertragung von Filterlisten, wie im ursprünglichen Bericht beschrieben, konnte das BSI nicht feststellen”, teilte ein Sprecher des BSI mit. Er betonte zugleich, dass sich dieses Ergebnis spezifisch auf die hier vorgenommene Untersuchung beziehe. Damit vermeidet die deutsche Behörde ein Urteil über die Befunde ihrer litauischen Kollegen.
Die Beziehungen zwischen China und Litauen sind derzeit äußerst schwierig. Zuletzt erhielt das kleine EU-Mitgliedsland im Baltikum demonstrativen Beistand aus Taiwan (China.Table berichtete). Falk Steiner
Im heutigen China, der größten, stärksten und am längsten bestehenden Diktatur der Welt, gibt es keine Rechtsstaatlichkeit. Trotzdem nutzt das Reich der Mitte zunehmend sein Scheinparlament, um nationale Gesetze zu erlassen, mit denen territoriale Ansprüche und Rechte im Völkerrecht geltend gemacht werden. Tatsächlich ist China inzwischen recht geschickt darin, “Lawfare” zu betreiben – ein Begriff, der für die Instrumentalisierung des Rechts zur Verfolgung von politischen und strategischen Zwecken steht.
Unter der herrischen Führung von “Oberbefehlshaber” Xi Jinping hat sich die Kriegsführung mit juristischen Mitteln zu einem entscheidenden Bestandteil von Chinas breiterem Ansatz der asymmetrischen oder hybriden Kriegsführung entwickelt. Die Verwischung der Grenze zwischen Krieg und Frieden ist in der offiziellen Strategie des Regimes als Doktrin der “Drei Arten der Kriegsführung” (san zhong zhanfa) verankert. So wie die Feder mächtiger sein kann als das Schwert, können es auch die juristische und psychologische Kriegsführung sein, sowie die Kriegsführung auf dem Gebiet der öffentlichen Meinung.
Mit diesen Methoden treibt Xi den Expansionismus voran, ohne einen Schuss abzugeben. Schon jetzt erweist sich Chinas Aggression ohne Kugeln als Gamechanger in Asien, der bisher geltende Regeln und Mechanismen grundlegend verändert. Die Drei Arten der Kriegsführung in Verbindung mit militärischen Operationen haben China erhebliche territoriale Zuwächse beschert.
Im Rahmen dieser größeren Strategie zielt Lawfare darauf ab, Regeln neu zu schreiben, um historischen Fantasien Leben einzuhauchen und unrechtmäßige Handlungen rückwirkend zu legitimieren. So hat China vor kurzem ein Gesetz über Landgrenzen erlassen, um seinen territorialen Revisionismus im Himalaya zu unterstützen. Um seine Expansionsbestrebungen im Süd- und Ostchinesischen Meer voranzutreiben, hat es Anfang des Jahres zudem das Küstenwachengesetz und das Gesetz zur Sicherheit im Seeverkehr erlassen.
Die neuen Gesetze, die den Einsatz von Gewalt in umstrittenen Gebieten erlauben, wurden inmitten wachsender Spannungen mit den Nachbarländern erlassen. Das Gesetz über die Landgrenzen kommt während einer militärischen Pattsituation im Himalaya, wo sich mehr als 100.000 chinesische und indische Soldaten nach wiederholten chinesischen Übergriffen auf indisches Territorium seit fast 20 Monaten in einem Patt gegenüberstehen.
Das Küstenwachengesetz verstößt nicht nur gegen das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, sondern könnte auch einen bewaffneten Konflikt mit Japan oder den Vereinigten Staaten auslösen, da es umstrittene Gewässer als chinesisches Territorium betrachtet. Das Gesetz über Landgrenzen droht ebenfalls Krieg mit Indien auszulösen, da es Chinas Absicht signalisiert, Grenzen einseitig festzulegen. Es erstreckt sich sogar auf die grenzüberschreitenden Flüsse mit Ursprung in Tibet, wo China das Recht proklamiert, so viel von den gemeinsamen Gewässern umzuleiten, wie es will.
Diese jüngsten Gesetze schließen an den Erfolg der Strategie der Drei Arten der Kriegsführung an, mit der die Karte des Südchinesischen Meeres neu gezeichnet wurde – trotz des Urteils eines internationalen Schiedsgerichts, das die chinesischen Gebietsansprüche dort zurückwies – und mit der anschließend Hongkong geschluckt wurde, das lange Zeit unter demokratischen Institutionen als wichtiges globales Finanzzentrum floriert hatte.
Im Südchinesischen Meer, einer Transitstrecke für rund ein Drittel des weltweiten Seehandels, hat Xis Regime die Kriegsführung mit juristischen Mitteln verschärft, um die chinesische Kontrolle zu festigen und seine erfundenen historischen Ansprüche Realität werden zu lassen. Während andere Anrainerstaaten, die Ansprüche erheben, im vergangenen Jahr gegen die Covid-19-Pandemie kämpften, schuf Xis Regierung zwei neue Verwaltungsbezirke, um ihre Ansprüche auf die Spratly- und Paracel-Inseln und andere Landgebiete zu untermauern. Unter weiterer Missachtung des Völkerrechts gab China 80 Inseln, Riffen, Seebergen, Sandbänken und Meeresrücken, von denen 55 vollständig unter Wasser liegen, Namen auf Mandarin.
Das Mitte 2020 erlassene “Gesetz zum Schutz der nationalen Sicherheit in Hongkong” ist ein ähnlich aggressiver Akt der juristischen Kriegsführung. Xi hat das Gesetz genutzt, um die pro-demokratische Bewegung in Hongkong zu zerschlagen und die Garantien außer Kraft zu setzen, die in Chinas Vertrag mit dem Vereinigten Königreich verankert sind, der bei den Vereinten Nationen registriert wurde. Der Vertrag verpflichtete China, die Grundrechte, Freiheiten und die politische Selbstbestimmung der Bürger Hongkongs für mindestens 50 Jahre nach Wiedererlangung der Souveränität zu wahren.
Der Erfolg dieser Strategie beim Aushöhlen der Autonomie Hongkongs wirft die Frage auf, ob China nun ähnliche Gesetze für Taiwan erlassen oder sich sogar auf sein Anti-Sezessionsgesetz von 2005 berufen wird, das seine Entschlossenheit unterstreicht, die Demokratie auf der Insel unter die Herrschaft des Festlandes zu stellen. Da China seine psychologische Kriegsführung und seinen Informationskrieg ausweitet, besteht die reale Gefahr, dass es nach den Olympischen Winterspielen in Peking im Februar gegen Taiwan vorgehen könnte.
Xis Expansionsdrang hat auch das winzige Bhutan mit seinen gerade einmal 784.000 Einwohnern nicht verschont. Unter Missachtung eines bilateralen Vertrages aus dem Jahr 1998, der China verpflichtet, “keine einseitigen Maßnahmen zu ergreifen, um den Status quo der Grenze zu verändern”, hat das Regime militarisierte Dörfer in Bhutans nördlichen und westlichen Grenzgebieten errichtet.
Wie diese Beispiele zeigen, liefert seine nationale Gesetzgebung China zunehmend einen Vorwand, um international bindendes Völkerrecht zu missachten, einschließlich bilateraler und multilateraler Verträge, denen es beigetreten ist. Mit mehr als einer Million Gefangenen hat Xis Gulag für Muslime in Xinjiang die Völkermordkonvention von 1948 zum Gespött gemacht, der China 1983 beigetreten ist (mit dem Zusatz, dass es sich nicht an Artikel IX gebunden fühlt, die Klausel, die es jeder an einem Streitfall beteiligten Partei ermöglicht, diesen Fall dem Internationalen Gerichtshof zu unterbreiten). Und da tatsächliche Kontrolle die notwendige Voraussetzung für einen überzeugenden territorialen Anspruch im Völkerrecht ist, nutzt Xi neue Gesetze, um Chinas Verwaltung umstrittener Gebiete zu untermauern, auch durch die Ansiedlung neuer Bewohner.
Die Schaffung solcher Fakten vor Ort ist ein wesentlicher Bestandteil von Xis territorialer Vergrößerung. Aus diesem Grund hat sich China große Mühe gegeben, künstliche Inseln und Verwaltungsbezirke im Südchinesischen Meer zu schaffen und in Grenzgebieten des Himalaya, die von Indien, Bhutan und Nepal als innerhalb ihrer eigenen nationalen Grenzen betrachtet werden, militarisierte Dörfer zu errichten.
Trotz dieser Übergriffe wurde Xis Lawfare oder seiner umfassenderen hybriden Kriegsführung international kaum Beachtung geschenkt. Der Fokus auf Chinas militärische Aufrüstung verschleiert die Tatsache, dass das Land seine See- und Landgrenzen still und leise ausdehnt, ohne einen Schuss abzugeben. In Anbetracht von Xis übergeordnetem Ziel – der globalen Vormachtstellung Chinas unter seiner Führung – müssen die Demokratien der Welt eine konzertierte Strategie entwickeln, um gegen seine drei Arten der Kriegsführung anzugehen.
Brahma Chellaney ist Professor für Strategische Studien am Zentrum für Politikforschung in Neu-Delhi und Fellow an der Robert Bosch Academy in Berlin. Der indische Geopolitik-Experte hat die inzwischen weit verbreitete Vorstellung von Chinas Schuldenfallen-Diplomatie mitgeprägt. Chellaney ist Autor mehrerer Bücher, darunter Asian Juggernaut, Water: Asia’s New Battleground und Water, Peace, and War: Confronting the Global Water Crisis. Übersetzung: Sandra Pontow.
Copyright: Project Syndicate, 2021.
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Eigentlich war es eine Niederlage, die Johannes Vogel nach China führte. Der FDP-Politiker hatte gerade seinen Job als Bundestagsabgeordneter verloren. Die Partei war bei den Bundestagswahlen 2013 krachend gescheitert. Von 14,6 Prozent rauschten die Liberalen auf 4,8 Prozent ab. Vogel sagt, damals habe er miterlebt, wie man eine Partei vor die Wand fährt. Und was machte er? Ging erst einmal weg. Nach dem Wahlfiasko entschied er, für ein Vierteljahr zu einem Freund nach Peking zu ziehen, um Chinesisch zu lernen.
Dort nahm er in einer Sprachschule Einzelunterricht. Wenn er von diesen knapp drei Monaten berichtet, in denen Politik nur noch ein “zeitintensives Hobby” für ihn war, dann erzählt er von den Reisen durch ein Land der Polaritäten. Nach seinem Sprachkurs war er in der inneren Mongolei, auf deren Hochebenen gigantische Windparks entstehen. Er war in menschenleeren Geisterstädten, die so schnell hochgezogen wurden, dass sie noch komplett unbewohnt sind. Er besuchte Landstriche ohne Kanalisation deren Bewohner ihre Brunnen deshalb regelmäßig reinigen mussten.
Das alles ist jetzt zwei Legislaturperioden her. Heute ist der 39-Jährige zurück im politischen Berlin. Bei den Wahlen 2021 zog er auf Platz fünf der NRW-Landesliste in den Bundestag ein. Mitte Dezember wurde er zum parlamentarischen Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion gewählt. Von seinem eigentlichen Job als Leiter der Strategieabteilung der Arbeitsagentur ist er seit dem politischen Comeback seiner Partei 2017 beurlaubt. China hat er, der auch stellvertretender Vorsitzender der deutsch-chinesischen Parlamentariergruppe ist, aber weiter im Blick.
“Für dieses Land kann man sich einfach nicht nicht interessieren”, erklärt er. Und gerade jetzt, nach dem Politikwechsel in Berlin, rückt das wechselseitige deutsch-chinesische Interesse wieder in den Fokus. Wie sieht die China-Politik der neuen Bundesregierung aus? Die FDP gilt als eine Partei, die eine besonders strenge Linie gegenüber China verfolgt – trotz wirtschaftlicher Interessen. Die Ratifikation des EU-China-Investitionsabkommens wird “zurzeit nicht stattfinden”. So steht es im Koalitionsvertrag. “Das wird auch nicht passieren, solange China Sanktionen gegen EU-Politiker verhängt”, ergänzt Vogel. Gemeint sind unter anderem die deutschen Europaabgeordneten Reinhard Bütikofer (Grüne) und Michael Gahler (CDU). Stattdessen will die neue Bundesregierung “Chinas Menschenrechtsverletzungen klar thematisieren”.
Wie passt das zu einer wirtschaftsliberalen Partei? Man stehe für wirtschaftliche und gesellschaftliche Freiheiten. Das hat der Politikwissenschaftler Vogel bereits in einem China.Table-Interview kurz vor der Bundestagswahl betont. Das seien unteilbare Aspekte – und Kernwerte der Liberalen. Lange hoffte man, die Liberalisierung der Wirtschaft in China führe auch zu einer freieren Gesellschaft. Seit Xi Jinping weiß man, dass diese Hoffnungen unerfüllt bleiben werden. Was das bedeuten kann, hat Vogel selbst erlebt: In Hongkong erzählt er, sprach er einst noch mit freien Abgeordneten, die inzwischen inhaftiert sind. In diesem Systemwettbewerb dürfe Deutschland nicht schweigen, fordert er. Aber was bedeutet das genau?
Vogel plädiert dafür, den Austausch mit anderen asiatischen Akteuren zu verstärken: Malaysia, Australien – und eben mit Hongkong. “Das ist der große Hebel”, sagt er, der schon einmal als “der Mann hinter und neben Parteichef Christian Lindner” bezeichnet wurde.
Aufgewachsen sind beide in der Kleinstadt Wermelskirchen im Bergischen Land. Nach der Schule absolvierte Vogel seinen Zivildienst als Rettungssanitäter. Später studierte er in Bonn Politikwissenschaften, Geschichte und Völkerrecht. Einen seiner neuen Koalitionspartner kennt Vogel noch aus alten Zeiten: Zwischenzeitlich engagiert er sich für die Grüne Jugend. Dort störte ihn, wie über das Unternehmertum gesprochen wurde. Seit 1999 ist er Mitglied bei der FDP. Wenige Jahre später wurde er Bundesvorsitzender der Jungen Liberalen. In dieser Zeit leitete er eine Delegationsreise nach China. Später wurde Vogel stellvertretender Vorsitzender der deutsch-chinesischen Parlamentariergruppe, die den Kontakt zu den Parlamenten der jeweiligen Partnerländer pflegen.
Gegenüber China fehle eine gemeinsame EU-Strategie, kritisiert Vogel. Dabei seien die derzeitigen Entwicklungen mehr als besorgniserregend. Der chinesische Sicherheitsapparat wachse rasant. Seit Corona werde die digitale Überwachung in China immer umfassender. Dass sie irgendwann nach der Pandemie wieder zurückgefahren wird, hält Vogel für unwahrscheinlich. “Corona ist eine Zäsur.” Vielmehr warnt er vor einer zur großen Abhängigkeit von China. Und betont, es brauche stattdessen Reziprozität – also Wechselseitigkeit.
Ob das auch im wechselseitigen Einvernehmen zwischen den Koalitionspartnern aufgehen wird? Bundeskanzler Olaf Scholz hatte Angela Merkel versichert, dass sich an der grundsätzlichen Linie der deutsch-chinesischen Beziehungen nichts ändern werde, berichtete die Wirtschaftswoche. In Sachen China-Politik könnte dem neuen parlamentarischen Geschäftsführer noch der ein oder andere Konflikt drohen. Pauline Schinkels
Michael Müller, der ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin, wird in der SPD-Arbeitsgruppe Außen fortan über China, Japan und den Nahen Osten berichten. Die Zuteilungen wurden am Mittwoch in der Arbeitsgruppe der Fraktion festgelegt.
Roland Palmer wird Alibabas neuer General Manager für Großbritannien, die Niederlande und Skandinavien. Palmer war zuvor Leiter von Alipay Europa, Alibabas Zahlungsdienstleister. Der chinesische E-Commerce-Gigant plant mit seinen Online-Plattformen Tmall, Small Global, AliExpress and Alibaba.com noch stärker nach Europa zu expandieren.
Wu Junli wird neuer President von Chinaoil, einer Einheit von PetroChina, die den Handel mit Öl und Gas verantwortet. Zuvor war Wu Regionalchef von PetroChina für die Region Nord- und Südamerika.
Urjit Patel wird neuer Vizepräsident der Region Südasien, Südoastasien und Pazifische Inseln der Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB). Zuvor war er bei der Zentralbank Indiens hochrangiger Manager. Die AIIB ist eine Entwicklungsbank unter chinesischer Führung.
Ferdinando Sorrentino wird neuer Chef des Auto-Zulieferers SEG Automotive mit Sitz in Stuttgart. Sorrentino folgt auf Peter Sokol und Frank-Lorenz Dietz, die das Unternehmen verlassen haben. Er soll die Marktpräsenz in China erhöhen.