Table.Briefing: China

Flucht aus China + Mindestlohn in Hongkong

Liebe Leserin, lieber Leser,

Hals über Kopf ist Bob Pickard, ein ehemaliger Mitarbeiter der Investitionsbank AIIB, diese Woche aus China geflüchtet. Der Kanadier wirft der 2016 von China gegründeten Finanzinstitution vor, fest in den Händen der Kommunistischen Partei zu sein und letztendlich nur Pekings Interessen zu dienen. Kritiker der AIIB äußern diesen Verdacht seit langem.

Die kanadische Regierung hat als Reaktion nun alle Aktivitäten mit der AIIB eingefroren. Finanzministerin Chrystia Freeland mahnt die Demokratien der Welt, dass sie sich darüber im Klaren sein müssen, auf welche Weise autoritäre Regierungen Einfluss auf sie ausüben. Was Deutschland damit zu tun hat, lesen in unserer Analyse.

Seit dem vergangenen Monat verdienen Hongkongs Arbeiter wieder etwas mehr Geld – ein Plus von 30 Cent pro Stunde. Der Mindestlohn stieg von 37,5 Hongkong-Dollar (4,47 Euro) auf 40 Hongkong-Dollar (4,77 Euro): 6,7 Prozent mehr und der erste Anstieg der Löhne in vier Jahren. Sie folgen dabei dem autokratischen Kalkül, das ihnen aus der Zentrale in Peking als Leitlinie vorgegeben wird, schreibt Marcel Grzanna. Es gelte: Wer das Gefühl hat, es geht wirtschaftlich aufwärts, beschwert sich weniger darüber, dass man ihm die demokratischen Bürgerrechte entzieht.

Ihr
Fabian Peltsch
Bild von Fabian  Peltsch

Analyse

Flucht aus China nach Kündigung bei der AIIB 

Die AIIB sorgt mit Engagement in Kambodscha für Kritik.
Die AIIB-Zentrale in Peking.

Die Flucht eines hochrangigen kanadischen Ex-Mitarbeiters der Asiatischen Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB) aus der Volksrepublik China wirft neue Fragen über die Rolle des Hauses (AIIB) auf. Der Direktor Global Communications, Bob Pickard, folgte offenbar dem Rat eines Hinweisgebers, dass er das Land schnellstmöglich verlassen und “in nächster Zeit keinen Fuß nach China setzen” solle. Pickard bestätigte der Nachrichtenagentur Reuters, dass er daraufhin umgehend nach Japan geflogen sei.

Pickard hatte offenbar zu Wochenbeginn gekündigt. Reuters beschrieb die Umstände der Trennung als “scharf”, ohne im Detail darauf einzugehen. Erst danach sei ihm zur Flucht geraten worden. Der Kanadier begründete seine Kündigung damit, dass innerhalb der AIIB eine hochgradig “toxische Kultur” herrsche und die Bank von Mitgliedern der Kommunistischen Partei. dominiert sei “Ich bin der Meinung, dass die Steuerzahler meines Landes diese Organisation nicht finanzieren sollten, die letztendlich mehr für China als für Kanada von Nutzen sein wird”, sagte er.

Transparenz und Kommunkation beeinträchtigt

Peking habe innerhalb der Bank Kanadas “Fähigkeit, klar und transparent zu kommunizieren, beeinträchtigt”, sagte Pickard. Kanada ist eines von 106 Mitgliedern der Bank. Das Land war im März 2018 beigetreten. Die AIIB wies die Anschuldigungen derweil als “unbegründet und enttäuschend” zurück. Die chinesische Botschaft in Ottawa bezichtigte Pickard der “Lüge”.

Auch Deutschland ist an der Bank beteiligt. Hinter China, Russland und Indien besitzt die Bundesrepublik mit rund vier Prozent die meisten Stimmrechte. Die Bundesregierung reagierte jedoch zurückhaltend auf den Bericht. Das zuständige Bundesfinanzministerium teilte lediglich mit: “AIIB-Präsident Jin hat unmittelbar nach Bekanntwerden eine Untersuchung zu den Vorwürfen angekündigt und dabei volle Transparenz und Kooperation mit dem Exekutivdirektorium zugesichert. Deutschland wird sich aktiv an der Untersuchung beteiligen.”

Derweil könnte die Eskalation sogar zum Ausstieg Kanadas aus der AIIB führen. “Die kanadische Regierung wird sofort alle von der Regierung geführten Aktivitäten in der Bank einstellen. Und ich habe das Finanzministerium angewiesen, eine sofortige Überprüfung der erhobenen Vorwürfe und der kanadischen Beteiligung an der AIIB zu leiten”, sagte Finanzministerin Chrystia Freeland. Sie betonte, dass sie kein Ergebnis der Untersuchung ausschließe. Freeland mahnte die Demokratien der Welt, dass sie sich darüber im Klaren sein müssen, auf welche Weise autoritäre Regierungen ihren Einfluss ausüben.

Kanada sensibel wegen der beiden Michaels

Wer ihm zur Flucht riet, sagte Pickard indes nicht. Weshalb er dem Ratschlag nachkam, dagegen schon. “In einem Land, in dem die beiden Michaels von der Regierung entführt wurden, sind wir vielleicht etwas sensibler oder besorgter, was solche Dinge angeht”, sagte er mit Bezug auf die Fälle der beiden wegen angeblicher Spionage jahrelang inhaftierten kanadischen Staatsbürger Michael Kovrig und Michael Spavor.

Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern befinden sich seit Jahren auf dem Tiefpunkt. Kanada beschuldigt China unter anderem, sich durch verschiedene Maßnahmen in kanadische Angelegenheiten einzumischen, darunter illegale Polizeistationen und die gezielte Einflussnahme auf kanadische Gesetzgeber. Peking bestreitet diese Anschuldigungen.

China nimmt seinerseits der Regierung in Kanada übel, dass Ottawa die Huawei-Finanzchefin Meng Wanzhou jahrelang auf Drängen der USA zu Ermittlungszwecken im Land festgehalten hatte. Die anschließenden Inhaftierungen von Kovrig und Spavor wurde im Westen als Vergeltung für den Fall Meng aufgefasst.

Europa besäße durchaus Entscheidungsmacht

Nora Sausmikat vom gemeinnützigen Verein Urgewald aus Köln ist als Senior Advisor zuständig für Kampagnen zu Institutionen wie der AIIB: “Seit Jahren hören wir von den europäischen Anteilseignern der AIIB, dass sie kaum Einfluss hätten und daher positive Veränderungen kaum möglich wären. Würden sich die europäische Stimmrechtsgruppe zusammentun, hätten sie zusammen einen Anteil von 22 Prozent- durchaus eine Entscheidungsmacht.”

Stattdessen aber würde die Entscheidungsmacht innerhalb der AIIB an den Präsidenten und damit in die Hände der chinesischen Hauptanteilseigner delegiert. Eine ausreichende Kontrolle durch den Verwaltungsrat sei nicht gewährleistet. “Erst kürzlich auf einem Treffen in Rom haben viele der europäischen Anteilseigner bekräftigt, sie würden hierin kein Problem sehen. Es ist an der Zeit, aufzuwachen”, sagt Sausmikat.

Bei der Bank würde viel Wert auf den Konsens aller Mitglieder gelegt, hatte der deutsche Vizepräsident der AIIB, Ludger Schuknecht, kürzlich im Gespräch mit China.Table betont. Allerdings war die AIIB in jüngster Vergangenheit schon wegen fragwürdiger Verfahren zur Kreditvergabe in die Kritik geraten. Auch die Bundesregierung beschäftigte sich mit ihrem Engagement in der Bank, nachdem sich die staatliche Förderbank KfW als Geldgeber zurückgezogen hatte. Berlin wolle darauf hinwirken, dass die “hohen Kreditstandards der AIIB” den Regularien der Bank gemäß umgesetzt würden.

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Hongkong: Magerer Mindestlohn bedroht sozialen Frieden

Hongkong
Nur in drei Städten der Welt waren die Lebenshaltungskosten 2022 höher als in Hongkong.

Die nicht mehr ganz so neue Regierung in Hongkong hat ihren Bürgern bei Amtsantritt ein besseres Leben versprochen: bezahlbaren Wohnraum, größere Bildungschancen, mehr Geld. Unter allen Umständen wollen die Bürokraten die soziale Stabilität in der Stadt wahren.

Sie folgen dabei dem autokratischen Kalkül, das ihnen aus der Zentrale in Peking als Leitlinie vorgegeben wird. Auch dort gilt: Wer das Gefühl hat, es geht wirtschaftlich aufwärts, beschwert sich weniger darüber, dass man ihm die demokratischen Bürgerrechte entzieht.

Das verfügbare Einkommen ist wichtiger Bestandteil für die Strategie. Seit dem vergangenen Monat verdienen Hongkongs Arbeiter wieder etwas mehr Geld – ein Plus von 30 Cent pro Stunde. Der Mindestlohn stieg von 37,5 HK$ (4,47 €) auf 40 HK$ (4,77 €) – 6,7 Prozent mehr und der erste Anstieg der Löhne in vier Jahren.

Die Regierung hatte zuvor eine Mindestlohn-Kommission zusammengestellt, um einen Kompromiss zu suchen, mit dem sowohl die knapp 90.000 betroffenen Arbeiter als auch die Wirtschaft – im wahrsten Sinne des Wortes – leben können. Die Arbeiter hatten aber auf deutlich mehr Geld gehofft. Hongkong zählt zu den teuersten Städten der Welt. Im globalen Index der Lebenshaltungskosten rangierte die Stadt im vergangenen Jahr auf Platz vier hinter New York, Singapur und Tel Aviv.

Sozialhilfe höher als der Arbeitslohn

Die durchschnittliche Inflationsrate seit 2019 liegt in Hongkong bei 5,4 Prozent. Und die turnusmäßige Erhöhung der Löhne war vor zwei Jahren wegen der Corona-Pandemie ausgesetzt worden. Die Arbeiter gingen damals leer aus. Die Kommission aber argumentiert, dass die Arbeitgeber bereits bei einem Mindestlohn von 44 HK$ bis zu 20.000 Stellen streichen müssten, um die steigenden Personalkosten zu decken.

Die Nichtregierungsorganisation Oxfam beklagt, dass das Lohnniveau immer noch niedriger sei als das, was eine Familie mit zwei Kindern durch das Sozialversicherungsprogramm der Stadt erhalte. Viele könnten sich daher freiwillig vom Arbeitsmarkt abwenden.

Hongkongs Arbeits- und Sozialminister Chris Sun sieht darin jedoch kein Problem. Man könne Wohlfahrt nicht mit Arbeit vergleichen, sagt er. Arbeit sei wichtig für den Geist und die Gesundheit. Deswegen sei er zuversichtlich, dass Mindestlohn-Betroffene “lieber arbeiten würden, als Sozialhilfe zu erhalten, weil sie glauben, dass dies mehr Wert für ihr Leben hat”.

Internationale Standards noch nicht ratifiziert

Die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) kommentiert lokale Entwicklungen nicht offiziell. Dennoch hält die UN-Organisation den Anstieg in Hongkong für einen ernsthaften Versuch, den Arbeitern entgegenzukommen. “Das bedeutet nicht automatisch, dass die Erhöhung angemessen ist. Aber angesichts der Tatsache, dass Hongkong erst 2011 bereit war, einen Mindestlohn einzuführen, erscheinen die 6,7 Prozent zumindest nicht lächerlich gering”, sagt ein IAO-Direktor im Gespräch mit China.Table. Vor zwölf Jahren lag das Minimum bei 28 HK$.

Seit Jahren dringt die IAO darauf, Tarifverhandlungen in Hongkong zuzulassen. Doch weder hat die Stadt die Konvention C131 noch die Empfehlung R135 ratifiziert. Darin werden die internationalen Standards und Empfehlungen zur Ermittlung der Mindestlöhne festgelegt.

Öffentliche Kritik innerhalb der Stadt ist kaum wahrzunehmen. Die vergangenen Jahre haben Hongkong verändert. Monatelange Massenproteste gegen den wachsenden Einfluss der Kommunistischen Partei, die radikale Beschneidung des Wahlrechts und die Verschärfung der Gesetzgebung waren die Vorläufer einer von Peking initiierten politischen Säuberung, die alle oppositionellen Stimmen zum Schweigen gebracht hat.

“Anreiz zur Einhaltung gesetzlicher Bestimmungen”

Der frühere Parlamentarier Ted Hui lebt im Exil in Australien. Für ihn ist die Erhöhung um 2,5 HK$ Ausdruck einer Wirtschaftspolitik im Namen Pekings, die den Interessen der Geschäftselite der Stadt dient. “Diese Erhöhung ist armselig gering und eher nomineller Natur, ohne substanzielle Verbesserung für das Leben der Arbeiter an der Graswurzel”, sagte Hui zu China.Table.

Regierungschef John Lee hatte bei seiner Wahl vor einem Jahr angekündigt, “die Wettbewerbsfähigkeit der Stadt zu steigern” und “ihre Stärken zu behaupten” zu wollen. Namhafte Unternehmer Hongkongs fürchteten das erneute Aufflammen von Protesten und formulierten den Wunsch nach Stabilität und einem Umfeld, in dem sich das Leben aller Hongkonger weiter verbessere.

Dass die Lohnerhöhung ein signifikanter Schritt in diese Richtung ist, glauben auch Hongkonger hierzulande nicht. Für Aniessa Andresen vom Verein Hongkonger in Deutschland hat die Kommission die Lebenshaltungskosten und die Inflation nicht berücksichtigt. “Solche geringen Erhöhungen bieten den Arbeitgebern lediglich einen Anreiz, die gesetzlichen Bestimmungen einzuhalten und ihre Gewinne zu sichern, ohne den Arbeitnehmern zu helfen, deren Grundbedürfnisse zu befriedigen“, sagt Andresen.

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News

Musik-Streaming: Hongkong-Hymne verschwunden

Eine Woche, nachdem die Protesthymne “Glory to Hongkong” die Spitze der lokalen iTunes-Charts erreichte, ist sie bei verschiedenen Musikstreaming-Diensten nicht mehr verfügbar. Unter anderem ist sie aus iTunes, Spotify, KKBox in Taiwan und Moov in Hongkong verschwunden. Das Justizministerium in Hongkong hatte zuvor angekündigt, ein Verbot des Songs zu prüfen. Das hatte dem Stück einen Popularitätsschub verschafft. Ein Verbot wäre ein weiterer Schritt, die Redefreiheit in der Stadt auszuhöhlen.

Am Mittwoch waren die von “ThomasDGX & HongKongers” – mutmaßlich der Komponist des Liedes -eingestellten Titel nicht mehr auf Apple Music verfügbar, eine Version der taiwanesischen Band The Chairman war jedoch weiterhin erhältlich, berichtete Bloomberg. Am Donnerstag teilte Spotify mit, Versionen des umstrittenen Lieds seien von seinem Vertreiber und nicht von der Plattform selbst entfernt wurden, wie die South China Morning Post schreibt. Das entspricht einer Erklärung, die der Komponist des Liedes am Vorabend gemacht hatte.

Das Lied hatten Protestierende 2019 während der pro-demokratischen Demonstrationen in der Stadt gesungen. Offiziell hat die Sonderverwaltungszone keine eigene Hymne. “ThomasDGX & HongKongers”, der die verschwundenen Versionen eingestellt hatte, erklärte, es handele sich um technische Probleme, die nicht mit den Streaming-Plattformen zusammenhängen, und entschuldigte sich für die vorübergehende Unterbrechung. Welche Probleme das genau sind, blieb unklar. Mehrere Musikvideos von “Glory to Hongkong”, die von demselben Urheber hochgeladen wurden, waren weiterhin auf YouTube verfügbar. cyb

Lady of Liberty in Frankfurt

Kundgebung in Frankfurt: Die Hongkonger in Deutschland stellten den Kopf der Lady of Liberty aus.

Bürgerrechtsaktivisten haben ein symbolisches Überbleibsel der Hongkonger Protestbewegung in Frankfurt ausgestellt. Der Verein Hongkonger in Deutschland e.V. präsentierte am Samstag auf dem Liebfrauenberg den abgeschlagenen Kopf der Lady of Liberty. Das Kunstwerk symbolisiert eine Demonstrantin, die einen Schutzhelm, eine Schutzbrille und eine Gasmaske trägt.

Mit ihrer Aktion wollten die Hongkonger in Deutschland an den Entzug ihrer in der Verfassung zugesicherten Bürgerrechte erinnern. “Mit diesem Symbol kann die Welt deutlich sehen, wie die Kommunistische Partei Chinas ihre Versprechen gebrochen und unsere Freiheit genommen hat. Niemand sollte Chinas Menschenrechtsverbrechen aus wirtschaftlichen Interessen ignorieren”, sagte die Vorsitzende Aniessa Andresen.

Die einst vier Meter hohe Statue aus Gips und Styropor war im Jahr 2019 in einer nächtlichen Geheimaktion von einer Gruppe von Studenten auf dem Löwenfelsen in Hongkong errichtet worden. Allerdings thronte sie nur wenige Stunden über der Stadt, ehe sie von Unbekannten umgestürzt, zerstückelt und beschmiert wurde.

2019 hatte Hongkong monatelange Proteste gegen den wachsenden Einfluss der Kommunistischen Partei erlebt. Die Demonstrationen mündeten in der Einführung des Nationalen Sicherheitsgesetzes und in der politischen Säuberung oppositioneller Stimmen. grz

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  • Nationales Sicherheitsgesetz

Immer weniger Hochzeiten

In China sind 2022 so wenige Ehen geschlossen worden wie noch nie seit Beginn der Registrierungen. Wie aus Daten des Ministeriums für zivile Angelegenheiten hervorgeht, meldeten im vergangenen Jahr lediglich 6,83 Millionen Paare ihre Eheschließung an. Das sind etwa 800.000 weniger als im Jahr davor.

Damit setzt sich der stetige Rückgang der vergangenen zehn Jahre fort, wobei zuletzt die Zahl der Eheschließungen auch durch die strengen Einschränkungen im Kampf gegen die Corona-Krise beeinflusst worden war. Unverheiratete Frauen werden gesellschaftlich und wirtschaftlich benachteiligt. Besonders schwer haben es alleinstehende Mütter.

Die wenigen Ehen passen zu der generellen chinesischen Demografie. Zuletzt ging die Bevölkerungszahl Chinas zum ersten Mal seit sechs Jahrzehnten zurück. Zudem sank auch Chinas Geburtenrate im vergangenen Jahr auf 6,77 Geburten pro 1.000 Einwohner – und damit auf den niedrigsten Stand seit Beginn der Daten-Erhebung.

Längst versucht die Politik gegenzusteuern. Um Heirat zu fördern und für mehr Kinder zu sorgen, kündigte die Führung in Peking jüngst an, in mehr als 20 Städten Pilotprojekte zu starten, um eine neue Ära rund um das Heiraten und das Gebären von Kindern zu schaffen. So gewähren einige Provinzen Frischvermählten eine Verlängerung des bezahlten Eheurlaubs. rad

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Standpunkt

Nichts zu lachen in China

Von Johnny Erling
Johnny Erling schreibt die Kolumne für die China.Table Professional Briefings

Das chinesische Wort für “Humor” – yōumò (幽默) – wurde vor 100 Jahren aus dem Englischen übernommen. 1924 prägte der Essayist Lin Yutang (林语堂) den Begriff. Er sah Humor und Satire als Antriebskräfte der literarisch-kulturellen Reform nach 1919, um die konfuzianisch-geprägte Gesellschaft zu verändern. 

Daran arbeitet sich die Volksrepublik noch immer ab. Systemisch humorlose Parteiführer lassen Satiriker verfolgen, die sie und ihre sozialistische Diktatur das Gesicht verlieren lassen. Mao rächte sich in seinen Anti-Rechts-Kampagnen und mit der Kulturrevolution an allen, die es wagten, ihm den Spiegel vorzuhalten, auch an denen, die nur die Eulenspiegel waren. 

Dennoch wagten Karikaturisten und Komödianten aller Art Satire, sie nutzten dazu traditionelle Bühnenkünste wie das lokale Sprechtheater (滑稽戏), Sketche (相声), Witze (段子) oder Possen (小品). Gingen sie damit zu weit, schoben ihnen die Herrschenden wortwörtlich den Riegel vor.

In den Jahren vor der heutigen “neuen Ära des Sozialismus” gab es noch Spielräume in der Kultur, selbst für Karikaturen chinesischer Führer. Die erste in China erschienene Karikatur von Xi Jinping druckte das Magazin “Caijing” im März 2007.

Nach einer Generation der sozialen Öffnung seit Maos Tod zieht die Partei in ihrer “neuen Ära des Sozialismus” die Zügel wieder an. China hat unter Xi nichts zu lachen. Am Star-Komiker Li Haoshi (李昊石) statuierte Peking ein Exempel, um alle Satiriker einzuschüchtern. Frei nach dem Motto: Schlachte das Huhn, um die Affen zu schrecken. Wegen eines Wortwitzes erhielt Li Berufsverbot und sitzt in Haft. Seine Bühnenagentur “Xiaoguo Wenhua” (笑果文化) muss Millionenstrafen zahlen. 

Der Komödiant steht für eine aus den USA stammende Spielart, die erst seit wenigen Jahren Chinas Stadtkultur erobert: “Stand-up-Comedy”. Ihr chinesische Name tuōkǒuxiù (脱口秀) klingt wie das englische Wort “Talkshow”. Die Ein-Personen-Bühnenauftritte in Varietés ziehen als neuer Treffpunkt die Generation Z an. Junge Chinesen machen sie zu Zufluchtsstätten, um ihrer tagtäglichen ideologischen und jüngst noch pandemischen Verseuchung zu entkommen. Chinas Venture Capital spekuliert auf das Geschäft und investiert Milliarden. Aufgeschreckt reagierte Peking mit harter Hand. Manche Blogger glauben, die Vorzeichen einer “Kulturrevolution 2.0” zu sehen.

Im Pekinger Century Theater (世纪剧院) leistete sich Kabarettist Li Haoshi, der unter seinem Künstlernamen “House” (vom Nachnamen “Haoshi” abgeleitet) zur Kultfigur unter den neuen Komikern aufstieg, einen Witz zu viel. Er plauderte über seine zwei Hunde, die er in Shanghai von der Straße zu sich nach Hause geholt habe. Die Streuner begeisterten ihn, als sie “wie aus der Kanone geschossen” ein Eichhörnchen jagten: Spontan dachte er: “Ausgezeichneter Arbeitsstil, um eine Schlacht gewinnen zu können.” (作风优良,能打胜仗). 

Das Publikum lachte über den Slogan, den Parteichef Xi Jinping seit 2013 ständig wiederholt, um Chinas Armee auf Vordermann zu bringen. Einer der Zuhörer denunzierte Li online. Mit seinem Hundevergleich verunglimpfe er Chinas Armee. Der Vorwurf schlug in den sozialen Medien nationalistische Wellen.

Gefängnis für Wortwitze

Über den 31-jährigen Li brach die Flut herein. Trotz Selbstkritik und öffentlicher Abbitte wurden er, seine Xiaoguo-Agentur und die Dachgesellschaft “Shanghai Xiaoguo Entertainment Group” bestraft und Li suspendiert. Seinen Gag fanden Pekings Funktionäre nicht lustig. Chinas Branchenverein für darstellende Künste rief alle Mitglieder auf, Li nie wieder auf eine Bühne zu lassen und forderte sie zu mehr Selbstdisziplin auf. 

Peking ließ Li daraufhin von der Polizei einsperren. Ihm drohen drei Jahre Haft, wegen Schmähung der Volksbefreiungsarmee. Seit Juni 2021 gilt das als gesetzlich strafbares Delikt. Die Umsätze der Xiaoguo-Show von 1,32 Millionen Yuan wurden als “illegale” Gewinne konfisziert. Die Muttergesellschaft muss 13,35 Millionen Yuan Geldbuße berappen; zusammen sind das fast zwei Millionen Euro. Li hätte, so beschied Pekings Amt für Kultur und Tourismus, “vorsätzlich” gehandelt, das Drehbuch geändert, um das Militär zu beleidigen, mit “nachteiligen sozialen Folgen”. Er sei damit nicht der erste Fall. Sechs Stand-up Komiker der Xiaoguo-Kulturgruppe seien in den letzten drei Jahren wegen unangemessenen Verhaltens bestraft worden.

Für Pekings Partei kam der Vorfall wie gerufen, um Kontrolle über die in den Städten aufblühende Varieté-Kunst zu gewinnen und potenziell subversiven Gefahren vorzubeugen. So erklärt sich die groteske Bestrafung des Kabarettisten Li für seinen Wortwitz. Hart traf es auch eine 34-jährige Bloggerin aus der Stadt Dalian, die sich mit Li online solidarisierte. Die Polizei nahm sie mit der Begründung fest, auch die Armee beleidigt zu haben und machte ihren Fall zur Abschreckung öffentlich. Die “Global Times” illustrierte ihm mit dem Foto von Handschellen.

Premier Wen Jiabao. Foto vom Februar 2012, als Wen sich lachend öffentlich mit einer Karikatur von sich selbst zeigt.

Im Jahr zuvor hatte das Parteiblatt die neue Gründungswelle von Stand-up-Kabaretts seit 2010 noch als Zeichen für ein lebendiges Kulturleben und als eine der “populärsten Formen für das zukünftige Unterhaltungs-Business in Städten” gepriesen.

Doch nachdem in diesem Frühjahr Dutzende chinesische Stand-up Künstler ihr erstes US-Gastspiel gaben und einige kritisches Kabarett aufführten, änderte sich Pekings Ton. Nach dem Eklat mit dem Komödianten Li nennt es die Stand-up-Comedy eine importierte Show, für die “rote Linien” gelten müssen. Satire “braucht Grenzen. Selbst in den USA ist das so”.

Mit Satire steht die Volksrepublik seit ihrer Gründung auf Kriegsfuß. In den 1950er Jahren wurde von Karikaturisten verlangt, positiven Einfluss auszuüben und das Volk erziehen, sonst hätten sie nichts zu lachen. Nur Feinde und das gegnerische Ausland dürften sie verspotten. Heute fordert Parteichef Xi Jinping von sozialistischer Kunst und Kultur, “positive Energie” (正能量) zu erzeugen, Kabarettist Li wurde jetzt kritisiert: “Humor kann positive Energie ins Leben bringen, aber nicht, wenn er durch respektlose Worte und Handlungen zum Ausdruck kommt.”

Kabarettist Finck als Vorbild?

Vergleiche führen meist in die Irre – dennoch könnten Chinas Komiker vom legendären deutschen Kabarettisten Werner Finck (1902-1978) lernen. In seinem 1947 veröffentlichten Essay “Melde mich zurück” nannte Finck Gründe dafür, dass er in Nazideutschland weiter auf der Bühne spielte und überlebte. Auch nach 1933 trat er in der von ihm mitgegründeten “Katakombe” auf. Mit seiner Vortragstechnik, voller Doppeldeutigkeiten und nicht beendeter Sätze (Anakoluthe) führte er das Regime vor. Anfangs ließen die Spitzel im Publikum ihn gewähren, weil – wie Finck glaubte – sie den Witz nicht verstanden: “Über die Narrenkappe des wortkargen Scherzes zog ich noch die Tarnkappe der vielsagenden Pause. Das machte die Angriffsspitze unsichtbar. Erst das schadenfrohe Gelächter meiner Freunde, die damit – ohne es zu wollen, meine Feinde wurden – ließ sie stutzig werden.”

1935 und nach Sketchen wie “Anprobe beim Schneider”, als Finck mit hochgerecktem rechtem Arm den Hitlergruß andeutete und ihn “Aufgehobene Rechte” nannte, wurde sein Kabarett geschlossen. Er landete im KZ Esterwegen, kam dank glücklicher Umstände nach sechs Monaten frei und machte auf neuer Bühne weiter: “Gestern waren wir zu, heute sind wir offen. Wenn wir heute zu offen sind, sind wir morgen wieder zu.” Der Saal lachte, als er bekannte: “Ich stehe hinter jeder Regierung, bei der ich nicht sitzen muss, wenn ich nicht hinter ihr stehe.” 1939 war dann endgültig Schluss, als ihn die Reichskulturkammer ausschloss. Finck entkam seiner Verhaftung, indem er sich an die Front meldete. 1947 fragte er sich: “War ich nun ein zaghafter Held? Oder ein mutiger Angsthase?” Weil “ich niemals weiterging als bis zur äußersten Grenze des gerade noch Erlaubten”.

Small talk Shanghaier Art

Die Grenzen loten immer wieder auch Chinas Satiriker aus. Der Shanghaier Komiker Zhou Libo (周立波) wurde nach 2007 mit seiner Ein-Mann-Bühnenshow “Small Talk nach Shanghaier Art” (海派清口) zum Vorläufer der heutigen Stand-up-Comedians. Seine Shows waren ausverkauft, obwohl er dem Publikum nur versprach, ihnen “einen Mann, seinen Mund und das 120 Minuten lang” zu zeigen. Es jubelte ihm zu, wenn er die Superstadt Shanghai für ihre vorbildliche Lösung von Verkehrsproblemen pries: “Dank des Transrapids, für den wir eine Milliarde Euro bezahlt haben, können wir jetzt 30 Kilometer weit fahren.”

2014 wurde politischer Humor in Grenzen toleriert. Umschlagzeichnung des Magazin “Read”, die ein Motiv der Kulturrevolution umfunktioniert für ihre Titelgeschichte: Hört, welche Witze sich Chinas Führer erzählen. Heute würde die Zensur einen solchen Titel verbieten.

Die Partei, die vor 2012 noch empfänglicher für Kritik war als heute, duldete Zhous Motto: “Vor dem Lachen ist jeder Mensch gleich.” Er ließ seine Zuhörer aber wissen, dass er als Kabarettist auf einem Drahtseil balanciere. In Finckscher Tradition sagte er: “Wenn ich weitermache, werde ich wohl bald abgeholt.” Heute lebt er in den USA.

Comedy als lukratives Business

Doch trotz strengerer Zensur regten sich abseits der immer stärker von Ideologie bestimmten Staatskultur und des TV-Programms, fast unbemerkt und als Geheimtipp gehandelt, zuerst spontan Initiativen, die Stand-up-Comedy aufführten – in den Bars und Cafés von Peking und Shanghai. Chinas heute führendes Stand-up-Unternehmen “Shanghai Xiaoguo Culture Media Co.”, für das Komiker Li arbeitete, wurde 2014 mit einem Startkapital von 2 Millionen Yuan gegründet. Rasant entwickelte es sich seither. 2021 führten seine Komödianten auf Gastspielreisen in 25 Städten Chinas 1.500 Bühnenshows auf. Chinas Generation Z wurde ihr Publikum, Kids, die nach dem Jahr 2000 geboren wurden.

Früher als die Ideologiewächter und Kontrollfreaks der Partei witterten Chinas Venture-Capital-Geber das Potenzial des wildwüchsigen Comedy-Business. Nach neuen Recherchen der Aktionärszeitung “Kechuangban Daily” (科创板日报) wurde “Xiaoguo Culture” zwischen 2016 und 2021 ein “Lieblings-Maskottchen für Risiko-Kaptal” (笑果文化也成为了备受资本青睐的宠儿). Gigantische Spekulationsgelder flossen Xiaoguo in acht Finanzierungsrunden zu. Nach dem Einstieg des IT-Giganten Tencent im März 2021 wird Xiaoguo Culture heute auf einen Marktwert von mehr als vier Milliarden Yuan geschätzt, die nun nach dem Pekinger Niederschlag gegen Komödiant Li auf dem Spiel stehen. Nicht nur da. Seit 2015 investierten Anleger in mehr als neun weitere Talkshows und Varietégesellschaften. Vergangenes Jahr erschien Chinas erster 30-seitiger Anleger-Branchenreport zum Geschäftsboom mit den Stand-up-Comedys.

Dabei übersehen die spekulierenden Investoren, wie politisch verletzlich die Bühnen- und Unterhaltungskunst im sozialistischen China ist. Für die Partei ist “jeder Witz eine winzige (tiny) Revolution”, erkannte im Dezember 1944 der, was Diktaturen angeht visionäre, George Orwell. In einem Beitrag für das Londoner “Leader Magazine”, der in seinen “Collected Essays”, Volume 3, (Penguin) aufgenommen ist, schrieb Orwell: “Etwas wirkt komisch – auch wenn es nicht direkt offensiv oder erschreckend ist – wenn es die etablierte Ordnung stört.” Und genau davor ist Peking gerade erneut auf der Hut.

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China.Table Redaktion

CHINA.TABLE REDAKTION

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    Hals über Kopf ist Bob Pickard, ein ehemaliger Mitarbeiter der Investitionsbank AIIB, diese Woche aus China geflüchtet. Der Kanadier wirft der 2016 von China gegründeten Finanzinstitution vor, fest in den Händen der Kommunistischen Partei zu sein und letztendlich nur Pekings Interessen zu dienen. Kritiker der AIIB äußern diesen Verdacht seit langem.

    Die kanadische Regierung hat als Reaktion nun alle Aktivitäten mit der AIIB eingefroren. Finanzministerin Chrystia Freeland mahnt die Demokratien der Welt, dass sie sich darüber im Klaren sein müssen, auf welche Weise autoritäre Regierungen Einfluss auf sie ausüben. Was Deutschland damit zu tun hat, lesen in unserer Analyse.

    Seit dem vergangenen Monat verdienen Hongkongs Arbeiter wieder etwas mehr Geld – ein Plus von 30 Cent pro Stunde. Der Mindestlohn stieg von 37,5 Hongkong-Dollar (4,47 Euro) auf 40 Hongkong-Dollar (4,77 Euro): 6,7 Prozent mehr und der erste Anstieg der Löhne in vier Jahren. Sie folgen dabei dem autokratischen Kalkül, das ihnen aus der Zentrale in Peking als Leitlinie vorgegeben wird, schreibt Marcel Grzanna. Es gelte: Wer das Gefühl hat, es geht wirtschaftlich aufwärts, beschwert sich weniger darüber, dass man ihm die demokratischen Bürgerrechte entzieht.

    Ihr
    Fabian Peltsch
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    Flucht aus China nach Kündigung bei der AIIB 

    Die AIIB sorgt mit Engagement in Kambodscha für Kritik.
    Die AIIB-Zentrale in Peking.

    Die Flucht eines hochrangigen kanadischen Ex-Mitarbeiters der Asiatischen Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB) aus der Volksrepublik China wirft neue Fragen über die Rolle des Hauses (AIIB) auf. Der Direktor Global Communications, Bob Pickard, folgte offenbar dem Rat eines Hinweisgebers, dass er das Land schnellstmöglich verlassen und “in nächster Zeit keinen Fuß nach China setzen” solle. Pickard bestätigte der Nachrichtenagentur Reuters, dass er daraufhin umgehend nach Japan geflogen sei.

    Pickard hatte offenbar zu Wochenbeginn gekündigt. Reuters beschrieb die Umstände der Trennung als “scharf”, ohne im Detail darauf einzugehen. Erst danach sei ihm zur Flucht geraten worden. Der Kanadier begründete seine Kündigung damit, dass innerhalb der AIIB eine hochgradig “toxische Kultur” herrsche und die Bank von Mitgliedern der Kommunistischen Partei. dominiert sei “Ich bin der Meinung, dass die Steuerzahler meines Landes diese Organisation nicht finanzieren sollten, die letztendlich mehr für China als für Kanada von Nutzen sein wird”, sagte er.

    Transparenz und Kommunkation beeinträchtigt

    Peking habe innerhalb der Bank Kanadas “Fähigkeit, klar und transparent zu kommunizieren, beeinträchtigt”, sagte Pickard. Kanada ist eines von 106 Mitgliedern der Bank. Das Land war im März 2018 beigetreten. Die AIIB wies die Anschuldigungen derweil als “unbegründet und enttäuschend” zurück. Die chinesische Botschaft in Ottawa bezichtigte Pickard der “Lüge”.

    Auch Deutschland ist an der Bank beteiligt. Hinter China, Russland und Indien besitzt die Bundesrepublik mit rund vier Prozent die meisten Stimmrechte. Die Bundesregierung reagierte jedoch zurückhaltend auf den Bericht. Das zuständige Bundesfinanzministerium teilte lediglich mit: “AIIB-Präsident Jin hat unmittelbar nach Bekanntwerden eine Untersuchung zu den Vorwürfen angekündigt und dabei volle Transparenz und Kooperation mit dem Exekutivdirektorium zugesichert. Deutschland wird sich aktiv an der Untersuchung beteiligen.”

    Derweil könnte die Eskalation sogar zum Ausstieg Kanadas aus der AIIB führen. “Die kanadische Regierung wird sofort alle von der Regierung geführten Aktivitäten in der Bank einstellen. Und ich habe das Finanzministerium angewiesen, eine sofortige Überprüfung der erhobenen Vorwürfe und der kanadischen Beteiligung an der AIIB zu leiten”, sagte Finanzministerin Chrystia Freeland. Sie betonte, dass sie kein Ergebnis der Untersuchung ausschließe. Freeland mahnte die Demokratien der Welt, dass sie sich darüber im Klaren sein müssen, auf welche Weise autoritäre Regierungen ihren Einfluss ausüben.

    Kanada sensibel wegen der beiden Michaels

    Wer ihm zur Flucht riet, sagte Pickard indes nicht. Weshalb er dem Ratschlag nachkam, dagegen schon. “In einem Land, in dem die beiden Michaels von der Regierung entführt wurden, sind wir vielleicht etwas sensibler oder besorgter, was solche Dinge angeht”, sagte er mit Bezug auf die Fälle der beiden wegen angeblicher Spionage jahrelang inhaftierten kanadischen Staatsbürger Michael Kovrig und Michael Spavor.

    Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern befinden sich seit Jahren auf dem Tiefpunkt. Kanada beschuldigt China unter anderem, sich durch verschiedene Maßnahmen in kanadische Angelegenheiten einzumischen, darunter illegale Polizeistationen und die gezielte Einflussnahme auf kanadische Gesetzgeber. Peking bestreitet diese Anschuldigungen.

    China nimmt seinerseits der Regierung in Kanada übel, dass Ottawa die Huawei-Finanzchefin Meng Wanzhou jahrelang auf Drängen der USA zu Ermittlungszwecken im Land festgehalten hatte. Die anschließenden Inhaftierungen von Kovrig und Spavor wurde im Westen als Vergeltung für den Fall Meng aufgefasst.

    Europa besäße durchaus Entscheidungsmacht

    Nora Sausmikat vom gemeinnützigen Verein Urgewald aus Köln ist als Senior Advisor zuständig für Kampagnen zu Institutionen wie der AIIB: “Seit Jahren hören wir von den europäischen Anteilseignern der AIIB, dass sie kaum Einfluss hätten und daher positive Veränderungen kaum möglich wären. Würden sich die europäische Stimmrechtsgruppe zusammentun, hätten sie zusammen einen Anteil von 22 Prozent- durchaus eine Entscheidungsmacht.”

    Stattdessen aber würde die Entscheidungsmacht innerhalb der AIIB an den Präsidenten und damit in die Hände der chinesischen Hauptanteilseigner delegiert. Eine ausreichende Kontrolle durch den Verwaltungsrat sei nicht gewährleistet. “Erst kürzlich auf einem Treffen in Rom haben viele der europäischen Anteilseigner bekräftigt, sie würden hierin kein Problem sehen. Es ist an der Zeit, aufzuwachen”, sagt Sausmikat.

    Bei der Bank würde viel Wert auf den Konsens aller Mitglieder gelegt, hatte der deutsche Vizepräsident der AIIB, Ludger Schuknecht, kürzlich im Gespräch mit China.Table betont. Allerdings war die AIIB in jüngster Vergangenheit schon wegen fragwürdiger Verfahren zur Kreditvergabe in die Kritik geraten. Auch die Bundesregierung beschäftigte sich mit ihrem Engagement in der Bank, nachdem sich die staatliche Förderbank KfW als Geldgeber zurückgezogen hatte. Berlin wolle darauf hinwirken, dass die “hohen Kreditstandards der AIIB” den Regularien der Bank gemäß umgesetzt würden.

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    Hongkong: Magerer Mindestlohn bedroht sozialen Frieden

    Hongkong
    Nur in drei Städten der Welt waren die Lebenshaltungskosten 2022 höher als in Hongkong.

    Die nicht mehr ganz so neue Regierung in Hongkong hat ihren Bürgern bei Amtsantritt ein besseres Leben versprochen: bezahlbaren Wohnraum, größere Bildungschancen, mehr Geld. Unter allen Umständen wollen die Bürokraten die soziale Stabilität in der Stadt wahren.

    Sie folgen dabei dem autokratischen Kalkül, das ihnen aus der Zentrale in Peking als Leitlinie vorgegeben wird. Auch dort gilt: Wer das Gefühl hat, es geht wirtschaftlich aufwärts, beschwert sich weniger darüber, dass man ihm die demokratischen Bürgerrechte entzieht.

    Das verfügbare Einkommen ist wichtiger Bestandteil für die Strategie. Seit dem vergangenen Monat verdienen Hongkongs Arbeiter wieder etwas mehr Geld – ein Plus von 30 Cent pro Stunde. Der Mindestlohn stieg von 37,5 HK$ (4,47 €) auf 40 HK$ (4,77 €) – 6,7 Prozent mehr und der erste Anstieg der Löhne in vier Jahren.

    Die Regierung hatte zuvor eine Mindestlohn-Kommission zusammengestellt, um einen Kompromiss zu suchen, mit dem sowohl die knapp 90.000 betroffenen Arbeiter als auch die Wirtschaft – im wahrsten Sinne des Wortes – leben können. Die Arbeiter hatten aber auf deutlich mehr Geld gehofft. Hongkong zählt zu den teuersten Städten der Welt. Im globalen Index der Lebenshaltungskosten rangierte die Stadt im vergangenen Jahr auf Platz vier hinter New York, Singapur und Tel Aviv.

    Sozialhilfe höher als der Arbeitslohn

    Die durchschnittliche Inflationsrate seit 2019 liegt in Hongkong bei 5,4 Prozent. Und die turnusmäßige Erhöhung der Löhne war vor zwei Jahren wegen der Corona-Pandemie ausgesetzt worden. Die Arbeiter gingen damals leer aus. Die Kommission aber argumentiert, dass die Arbeitgeber bereits bei einem Mindestlohn von 44 HK$ bis zu 20.000 Stellen streichen müssten, um die steigenden Personalkosten zu decken.

    Die Nichtregierungsorganisation Oxfam beklagt, dass das Lohnniveau immer noch niedriger sei als das, was eine Familie mit zwei Kindern durch das Sozialversicherungsprogramm der Stadt erhalte. Viele könnten sich daher freiwillig vom Arbeitsmarkt abwenden.

    Hongkongs Arbeits- und Sozialminister Chris Sun sieht darin jedoch kein Problem. Man könne Wohlfahrt nicht mit Arbeit vergleichen, sagt er. Arbeit sei wichtig für den Geist und die Gesundheit. Deswegen sei er zuversichtlich, dass Mindestlohn-Betroffene “lieber arbeiten würden, als Sozialhilfe zu erhalten, weil sie glauben, dass dies mehr Wert für ihr Leben hat”.

    Internationale Standards noch nicht ratifiziert

    Die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) kommentiert lokale Entwicklungen nicht offiziell. Dennoch hält die UN-Organisation den Anstieg in Hongkong für einen ernsthaften Versuch, den Arbeitern entgegenzukommen. “Das bedeutet nicht automatisch, dass die Erhöhung angemessen ist. Aber angesichts der Tatsache, dass Hongkong erst 2011 bereit war, einen Mindestlohn einzuführen, erscheinen die 6,7 Prozent zumindest nicht lächerlich gering”, sagt ein IAO-Direktor im Gespräch mit China.Table. Vor zwölf Jahren lag das Minimum bei 28 HK$.

    Seit Jahren dringt die IAO darauf, Tarifverhandlungen in Hongkong zuzulassen. Doch weder hat die Stadt die Konvention C131 noch die Empfehlung R135 ratifiziert. Darin werden die internationalen Standards und Empfehlungen zur Ermittlung der Mindestlöhne festgelegt.

    Öffentliche Kritik innerhalb der Stadt ist kaum wahrzunehmen. Die vergangenen Jahre haben Hongkong verändert. Monatelange Massenproteste gegen den wachsenden Einfluss der Kommunistischen Partei, die radikale Beschneidung des Wahlrechts und die Verschärfung der Gesetzgebung waren die Vorläufer einer von Peking initiierten politischen Säuberung, die alle oppositionellen Stimmen zum Schweigen gebracht hat.

    “Anreiz zur Einhaltung gesetzlicher Bestimmungen”

    Der frühere Parlamentarier Ted Hui lebt im Exil in Australien. Für ihn ist die Erhöhung um 2,5 HK$ Ausdruck einer Wirtschaftspolitik im Namen Pekings, die den Interessen der Geschäftselite der Stadt dient. “Diese Erhöhung ist armselig gering und eher nomineller Natur, ohne substanzielle Verbesserung für das Leben der Arbeiter an der Graswurzel”, sagte Hui zu China.Table.

    Regierungschef John Lee hatte bei seiner Wahl vor einem Jahr angekündigt, “die Wettbewerbsfähigkeit der Stadt zu steigern” und “ihre Stärken zu behaupten” zu wollen. Namhafte Unternehmer Hongkongs fürchteten das erneute Aufflammen von Protesten und formulierten den Wunsch nach Stabilität und einem Umfeld, in dem sich das Leben aller Hongkonger weiter verbessere.

    Dass die Lohnerhöhung ein signifikanter Schritt in diese Richtung ist, glauben auch Hongkonger hierzulande nicht. Für Aniessa Andresen vom Verein Hongkonger in Deutschland hat die Kommission die Lebenshaltungskosten und die Inflation nicht berücksichtigt. “Solche geringen Erhöhungen bieten den Arbeitgebern lediglich einen Anreiz, die gesetzlichen Bestimmungen einzuhalten und ihre Gewinne zu sichern, ohne den Arbeitnehmern zu helfen, deren Grundbedürfnisse zu befriedigen“, sagt Andresen.

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    News

    Musik-Streaming: Hongkong-Hymne verschwunden

    Eine Woche, nachdem die Protesthymne “Glory to Hongkong” die Spitze der lokalen iTunes-Charts erreichte, ist sie bei verschiedenen Musikstreaming-Diensten nicht mehr verfügbar. Unter anderem ist sie aus iTunes, Spotify, KKBox in Taiwan und Moov in Hongkong verschwunden. Das Justizministerium in Hongkong hatte zuvor angekündigt, ein Verbot des Songs zu prüfen. Das hatte dem Stück einen Popularitätsschub verschafft. Ein Verbot wäre ein weiterer Schritt, die Redefreiheit in der Stadt auszuhöhlen.

    Am Mittwoch waren die von “ThomasDGX & HongKongers” – mutmaßlich der Komponist des Liedes -eingestellten Titel nicht mehr auf Apple Music verfügbar, eine Version der taiwanesischen Band The Chairman war jedoch weiterhin erhältlich, berichtete Bloomberg. Am Donnerstag teilte Spotify mit, Versionen des umstrittenen Lieds seien von seinem Vertreiber und nicht von der Plattform selbst entfernt wurden, wie die South China Morning Post schreibt. Das entspricht einer Erklärung, die der Komponist des Liedes am Vorabend gemacht hatte.

    Das Lied hatten Protestierende 2019 während der pro-demokratischen Demonstrationen in der Stadt gesungen. Offiziell hat die Sonderverwaltungszone keine eigene Hymne. “ThomasDGX & HongKongers”, der die verschwundenen Versionen eingestellt hatte, erklärte, es handele sich um technische Probleme, die nicht mit den Streaming-Plattformen zusammenhängen, und entschuldigte sich für die vorübergehende Unterbrechung. Welche Probleme das genau sind, blieb unklar. Mehrere Musikvideos von “Glory to Hongkong”, die von demselben Urheber hochgeladen wurden, waren weiterhin auf YouTube verfügbar. cyb

    Lady of Liberty in Frankfurt

    Kundgebung in Frankfurt: Die Hongkonger in Deutschland stellten den Kopf der Lady of Liberty aus.

    Bürgerrechtsaktivisten haben ein symbolisches Überbleibsel der Hongkonger Protestbewegung in Frankfurt ausgestellt. Der Verein Hongkonger in Deutschland e.V. präsentierte am Samstag auf dem Liebfrauenberg den abgeschlagenen Kopf der Lady of Liberty. Das Kunstwerk symbolisiert eine Demonstrantin, die einen Schutzhelm, eine Schutzbrille und eine Gasmaske trägt.

    Mit ihrer Aktion wollten die Hongkonger in Deutschland an den Entzug ihrer in der Verfassung zugesicherten Bürgerrechte erinnern. “Mit diesem Symbol kann die Welt deutlich sehen, wie die Kommunistische Partei Chinas ihre Versprechen gebrochen und unsere Freiheit genommen hat. Niemand sollte Chinas Menschenrechtsverbrechen aus wirtschaftlichen Interessen ignorieren”, sagte die Vorsitzende Aniessa Andresen.

    Die einst vier Meter hohe Statue aus Gips und Styropor war im Jahr 2019 in einer nächtlichen Geheimaktion von einer Gruppe von Studenten auf dem Löwenfelsen in Hongkong errichtet worden. Allerdings thronte sie nur wenige Stunden über der Stadt, ehe sie von Unbekannten umgestürzt, zerstückelt und beschmiert wurde.

    2019 hatte Hongkong monatelange Proteste gegen den wachsenden Einfluss der Kommunistischen Partei erlebt. Die Demonstrationen mündeten in der Einführung des Nationalen Sicherheitsgesetzes und in der politischen Säuberung oppositioneller Stimmen. grz

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    Immer weniger Hochzeiten

    In China sind 2022 so wenige Ehen geschlossen worden wie noch nie seit Beginn der Registrierungen. Wie aus Daten des Ministeriums für zivile Angelegenheiten hervorgeht, meldeten im vergangenen Jahr lediglich 6,83 Millionen Paare ihre Eheschließung an. Das sind etwa 800.000 weniger als im Jahr davor.

    Damit setzt sich der stetige Rückgang der vergangenen zehn Jahre fort, wobei zuletzt die Zahl der Eheschließungen auch durch die strengen Einschränkungen im Kampf gegen die Corona-Krise beeinflusst worden war. Unverheiratete Frauen werden gesellschaftlich und wirtschaftlich benachteiligt. Besonders schwer haben es alleinstehende Mütter.

    Die wenigen Ehen passen zu der generellen chinesischen Demografie. Zuletzt ging die Bevölkerungszahl Chinas zum ersten Mal seit sechs Jahrzehnten zurück. Zudem sank auch Chinas Geburtenrate im vergangenen Jahr auf 6,77 Geburten pro 1.000 Einwohner – und damit auf den niedrigsten Stand seit Beginn der Daten-Erhebung.

    Längst versucht die Politik gegenzusteuern. Um Heirat zu fördern und für mehr Kinder zu sorgen, kündigte die Führung in Peking jüngst an, in mehr als 20 Städten Pilotprojekte zu starten, um eine neue Ära rund um das Heiraten und das Gebären von Kindern zu schaffen. So gewähren einige Provinzen Frischvermählten eine Verlängerung des bezahlten Eheurlaubs. rad

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    Standpunkt

    Nichts zu lachen in China

    Von Johnny Erling
    Johnny Erling schreibt die Kolumne für die China.Table Professional Briefings

    Das chinesische Wort für “Humor” – yōumò (幽默) – wurde vor 100 Jahren aus dem Englischen übernommen. 1924 prägte der Essayist Lin Yutang (林语堂) den Begriff. Er sah Humor und Satire als Antriebskräfte der literarisch-kulturellen Reform nach 1919, um die konfuzianisch-geprägte Gesellschaft zu verändern. 

    Daran arbeitet sich die Volksrepublik noch immer ab. Systemisch humorlose Parteiführer lassen Satiriker verfolgen, die sie und ihre sozialistische Diktatur das Gesicht verlieren lassen. Mao rächte sich in seinen Anti-Rechts-Kampagnen und mit der Kulturrevolution an allen, die es wagten, ihm den Spiegel vorzuhalten, auch an denen, die nur die Eulenspiegel waren. 

    Dennoch wagten Karikaturisten und Komödianten aller Art Satire, sie nutzten dazu traditionelle Bühnenkünste wie das lokale Sprechtheater (滑稽戏), Sketche (相声), Witze (段子) oder Possen (小品). Gingen sie damit zu weit, schoben ihnen die Herrschenden wortwörtlich den Riegel vor.

    In den Jahren vor der heutigen “neuen Ära des Sozialismus” gab es noch Spielräume in der Kultur, selbst für Karikaturen chinesischer Führer. Die erste in China erschienene Karikatur von Xi Jinping druckte das Magazin “Caijing” im März 2007.

    Nach einer Generation der sozialen Öffnung seit Maos Tod zieht die Partei in ihrer “neuen Ära des Sozialismus” die Zügel wieder an. China hat unter Xi nichts zu lachen. Am Star-Komiker Li Haoshi (李昊石) statuierte Peking ein Exempel, um alle Satiriker einzuschüchtern. Frei nach dem Motto: Schlachte das Huhn, um die Affen zu schrecken. Wegen eines Wortwitzes erhielt Li Berufsverbot und sitzt in Haft. Seine Bühnenagentur “Xiaoguo Wenhua” (笑果文化) muss Millionenstrafen zahlen. 

    Der Komödiant steht für eine aus den USA stammende Spielart, die erst seit wenigen Jahren Chinas Stadtkultur erobert: “Stand-up-Comedy”. Ihr chinesische Name tuōkǒuxiù (脱口秀) klingt wie das englische Wort “Talkshow”. Die Ein-Personen-Bühnenauftritte in Varietés ziehen als neuer Treffpunkt die Generation Z an. Junge Chinesen machen sie zu Zufluchtsstätten, um ihrer tagtäglichen ideologischen und jüngst noch pandemischen Verseuchung zu entkommen. Chinas Venture Capital spekuliert auf das Geschäft und investiert Milliarden. Aufgeschreckt reagierte Peking mit harter Hand. Manche Blogger glauben, die Vorzeichen einer “Kulturrevolution 2.0” zu sehen.

    Im Pekinger Century Theater (世纪剧院) leistete sich Kabarettist Li Haoshi, der unter seinem Künstlernamen “House” (vom Nachnamen “Haoshi” abgeleitet) zur Kultfigur unter den neuen Komikern aufstieg, einen Witz zu viel. Er plauderte über seine zwei Hunde, die er in Shanghai von der Straße zu sich nach Hause geholt habe. Die Streuner begeisterten ihn, als sie “wie aus der Kanone geschossen” ein Eichhörnchen jagten: Spontan dachte er: “Ausgezeichneter Arbeitsstil, um eine Schlacht gewinnen zu können.” (作风优良,能打胜仗). 

    Das Publikum lachte über den Slogan, den Parteichef Xi Jinping seit 2013 ständig wiederholt, um Chinas Armee auf Vordermann zu bringen. Einer der Zuhörer denunzierte Li online. Mit seinem Hundevergleich verunglimpfe er Chinas Armee. Der Vorwurf schlug in den sozialen Medien nationalistische Wellen.

    Gefängnis für Wortwitze

    Über den 31-jährigen Li brach die Flut herein. Trotz Selbstkritik und öffentlicher Abbitte wurden er, seine Xiaoguo-Agentur und die Dachgesellschaft “Shanghai Xiaoguo Entertainment Group” bestraft und Li suspendiert. Seinen Gag fanden Pekings Funktionäre nicht lustig. Chinas Branchenverein für darstellende Künste rief alle Mitglieder auf, Li nie wieder auf eine Bühne zu lassen und forderte sie zu mehr Selbstdisziplin auf. 

    Peking ließ Li daraufhin von der Polizei einsperren. Ihm drohen drei Jahre Haft, wegen Schmähung der Volksbefreiungsarmee. Seit Juni 2021 gilt das als gesetzlich strafbares Delikt. Die Umsätze der Xiaoguo-Show von 1,32 Millionen Yuan wurden als “illegale” Gewinne konfisziert. Die Muttergesellschaft muss 13,35 Millionen Yuan Geldbuße berappen; zusammen sind das fast zwei Millionen Euro. Li hätte, so beschied Pekings Amt für Kultur und Tourismus, “vorsätzlich” gehandelt, das Drehbuch geändert, um das Militär zu beleidigen, mit “nachteiligen sozialen Folgen”. Er sei damit nicht der erste Fall. Sechs Stand-up Komiker der Xiaoguo-Kulturgruppe seien in den letzten drei Jahren wegen unangemessenen Verhaltens bestraft worden.

    Für Pekings Partei kam der Vorfall wie gerufen, um Kontrolle über die in den Städten aufblühende Varieté-Kunst zu gewinnen und potenziell subversiven Gefahren vorzubeugen. So erklärt sich die groteske Bestrafung des Kabarettisten Li für seinen Wortwitz. Hart traf es auch eine 34-jährige Bloggerin aus der Stadt Dalian, die sich mit Li online solidarisierte. Die Polizei nahm sie mit der Begründung fest, auch die Armee beleidigt zu haben und machte ihren Fall zur Abschreckung öffentlich. Die “Global Times” illustrierte ihm mit dem Foto von Handschellen.

    Premier Wen Jiabao. Foto vom Februar 2012, als Wen sich lachend öffentlich mit einer Karikatur von sich selbst zeigt.

    Im Jahr zuvor hatte das Parteiblatt die neue Gründungswelle von Stand-up-Kabaretts seit 2010 noch als Zeichen für ein lebendiges Kulturleben und als eine der “populärsten Formen für das zukünftige Unterhaltungs-Business in Städten” gepriesen.

    Doch nachdem in diesem Frühjahr Dutzende chinesische Stand-up Künstler ihr erstes US-Gastspiel gaben und einige kritisches Kabarett aufführten, änderte sich Pekings Ton. Nach dem Eklat mit dem Komödianten Li nennt es die Stand-up-Comedy eine importierte Show, für die “rote Linien” gelten müssen. Satire “braucht Grenzen. Selbst in den USA ist das so”.

    Mit Satire steht die Volksrepublik seit ihrer Gründung auf Kriegsfuß. In den 1950er Jahren wurde von Karikaturisten verlangt, positiven Einfluss auszuüben und das Volk erziehen, sonst hätten sie nichts zu lachen. Nur Feinde und das gegnerische Ausland dürften sie verspotten. Heute fordert Parteichef Xi Jinping von sozialistischer Kunst und Kultur, “positive Energie” (正能量) zu erzeugen, Kabarettist Li wurde jetzt kritisiert: “Humor kann positive Energie ins Leben bringen, aber nicht, wenn er durch respektlose Worte und Handlungen zum Ausdruck kommt.”

    Kabarettist Finck als Vorbild?

    Vergleiche führen meist in die Irre – dennoch könnten Chinas Komiker vom legendären deutschen Kabarettisten Werner Finck (1902-1978) lernen. In seinem 1947 veröffentlichten Essay “Melde mich zurück” nannte Finck Gründe dafür, dass er in Nazideutschland weiter auf der Bühne spielte und überlebte. Auch nach 1933 trat er in der von ihm mitgegründeten “Katakombe” auf. Mit seiner Vortragstechnik, voller Doppeldeutigkeiten und nicht beendeter Sätze (Anakoluthe) führte er das Regime vor. Anfangs ließen die Spitzel im Publikum ihn gewähren, weil – wie Finck glaubte – sie den Witz nicht verstanden: “Über die Narrenkappe des wortkargen Scherzes zog ich noch die Tarnkappe der vielsagenden Pause. Das machte die Angriffsspitze unsichtbar. Erst das schadenfrohe Gelächter meiner Freunde, die damit – ohne es zu wollen, meine Feinde wurden – ließ sie stutzig werden.”

    1935 und nach Sketchen wie “Anprobe beim Schneider”, als Finck mit hochgerecktem rechtem Arm den Hitlergruß andeutete und ihn “Aufgehobene Rechte” nannte, wurde sein Kabarett geschlossen. Er landete im KZ Esterwegen, kam dank glücklicher Umstände nach sechs Monaten frei und machte auf neuer Bühne weiter: “Gestern waren wir zu, heute sind wir offen. Wenn wir heute zu offen sind, sind wir morgen wieder zu.” Der Saal lachte, als er bekannte: “Ich stehe hinter jeder Regierung, bei der ich nicht sitzen muss, wenn ich nicht hinter ihr stehe.” 1939 war dann endgültig Schluss, als ihn die Reichskulturkammer ausschloss. Finck entkam seiner Verhaftung, indem er sich an die Front meldete. 1947 fragte er sich: “War ich nun ein zaghafter Held? Oder ein mutiger Angsthase?” Weil “ich niemals weiterging als bis zur äußersten Grenze des gerade noch Erlaubten”.

    Small talk Shanghaier Art

    Die Grenzen loten immer wieder auch Chinas Satiriker aus. Der Shanghaier Komiker Zhou Libo (周立波) wurde nach 2007 mit seiner Ein-Mann-Bühnenshow “Small Talk nach Shanghaier Art” (海派清口) zum Vorläufer der heutigen Stand-up-Comedians. Seine Shows waren ausverkauft, obwohl er dem Publikum nur versprach, ihnen “einen Mann, seinen Mund und das 120 Minuten lang” zu zeigen. Es jubelte ihm zu, wenn er die Superstadt Shanghai für ihre vorbildliche Lösung von Verkehrsproblemen pries: “Dank des Transrapids, für den wir eine Milliarde Euro bezahlt haben, können wir jetzt 30 Kilometer weit fahren.”

    2014 wurde politischer Humor in Grenzen toleriert. Umschlagzeichnung des Magazin “Read”, die ein Motiv der Kulturrevolution umfunktioniert für ihre Titelgeschichte: Hört, welche Witze sich Chinas Führer erzählen. Heute würde die Zensur einen solchen Titel verbieten.

    Die Partei, die vor 2012 noch empfänglicher für Kritik war als heute, duldete Zhous Motto: “Vor dem Lachen ist jeder Mensch gleich.” Er ließ seine Zuhörer aber wissen, dass er als Kabarettist auf einem Drahtseil balanciere. In Finckscher Tradition sagte er: “Wenn ich weitermache, werde ich wohl bald abgeholt.” Heute lebt er in den USA.

    Comedy als lukratives Business

    Doch trotz strengerer Zensur regten sich abseits der immer stärker von Ideologie bestimmten Staatskultur und des TV-Programms, fast unbemerkt und als Geheimtipp gehandelt, zuerst spontan Initiativen, die Stand-up-Comedy aufführten – in den Bars und Cafés von Peking und Shanghai. Chinas heute führendes Stand-up-Unternehmen “Shanghai Xiaoguo Culture Media Co.”, für das Komiker Li arbeitete, wurde 2014 mit einem Startkapital von 2 Millionen Yuan gegründet. Rasant entwickelte es sich seither. 2021 führten seine Komödianten auf Gastspielreisen in 25 Städten Chinas 1.500 Bühnenshows auf. Chinas Generation Z wurde ihr Publikum, Kids, die nach dem Jahr 2000 geboren wurden.

    Früher als die Ideologiewächter und Kontrollfreaks der Partei witterten Chinas Venture-Capital-Geber das Potenzial des wildwüchsigen Comedy-Business. Nach neuen Recherchen der Aktionärszeitung “Kechuangban Daily” (科创板日报) wurde “Xiaoguo Culture” zwischen 2016 und 2021 ein “Lieblings-Maskottchen für Risiko-Kaptal” (笑果文化也成为了备受资本青睐的宠儿). Gigantische Spekulationsgelder flossen Xiaoguo in acht Finanzierungsrunden zu. Nach dem Einstieg des IT-Giganten Tencent im März 2021 wird Xiaoguo Culture heute auf einen Marktwert von mehr als vier Milliarden Yuan geschätzt, die nun nach dem Pekinger Niederschlag gegen Komödiant Li auf dem Spiel stehen. Nicht nur da. Seit 2015 investierten Anleger in mehr als neun weitere Talkshows und Varietégesellschaften. Vergangenes Jahr erschien Chinas erster 30-seitiger Anleger-Branchenreport zum Geschäftsboom mit den Stand-up-Comedys.

    Dabei übersehen die spekulierenden Investoren, wie politisch verletzlich die Bühnen- und Unterhaltungskunst im sozialistischen China ist. Für die Partei ist “jeder Witz eine winzige (tiny) Revolution”, erkannte im Dezember 1944 der, was Diktaturen angeht visionäre, George Orwell. In einem Beitrag für das Londoner “Leader Magazine”, der in seinen “Collected Essays”, Volume 3, (Penguin) aufgenommen ist, schrieb Orwell: “Etwas wirkt komisch – auch wenn es nicht direkt offensiv oder erschreckend ist – wenn es die etablierte Ordnung stört.” Und genau davor ist Peking gerade erneut auf der Hut.

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    China.Table Redaktion

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