Table.Briefing: China

Demografie + Xis Flucht nach vorn

  • Yi Fuxian über Chinas Demografie-Falle
  • Xis dramatische Kurswechsel
  • Verfassungsschutz warnt vor Spionage
  • Irans Präsident besucht China
  • USA sanktioniert Unternehmen wegen Ballon
  • Auch China meldet Flugobjekt
  • Im Porträt: Qian Sun – Investigativ-Journalistin
  • Zur Sprache: Gemüsig oder rindig?
Liebe Leserin, lieber Leser,

Xi Jinping hatte sich Ende letzten Jahres in eine verzwickte Lage manövriert. Kriselnde Wirtschaft, Covid-Debakel und dann auch noch Straßen-Proteste, bei denen sogar offen sein Rücktritt gefordert wurde – manch einer wird sich gefragt haben, wie Chinas mächtigster Mann bis zum Nationalen Volkskongress diesen März wieder Ruhe in den Laden bringen will.

Er hat die Flucht nach vorn ergriffen und einige spektakuläre 180-Grad-Wendungen hingelegt. Aus Null-Covid wurde Full-Covid, auf die strenge Kontrolle der Tech-Konzerne folgte mehr Rückendeckung für die Privatwirtschaft. Auch die offenen Drohungen gegenüber den USA sind ruhigeren Tönen gewichen – zumindest bis zum jüngsten Ballon-Eklat. Was hinter Xis radikalen Richtungswechseln steckt und wie nachhaltig sie sind? Michael Radunski beleuchtet in seiner Analyse die Monate des Übergangs – eine besondere Phase vor der Zusammenkunft des Nationalen Volkskongresses im März, in der die “alten” Kader noch im Amt sind, aber eben nicht mehr lange, und es hinter den Kulissen deshalb wagen, Xi zu widersprechen. Denn es gibt viele Unzufriedene: Die, die aus ihren Ämtern scheiden müssen oder um eine erhoffte Beförderung gebracht wurden.

Während Xi solche laufenden politischen Probleme durch pragmatische Richtungswechsel in den Griff bekommen kann, ist das mit den Geburten offenkundig nicht so. Dass die Ein-Kind-Politik in China einen heftigen Eingriff dargestellt hat, ist unbestritten. Zwei Generationen mussten darauf verzichten, eine große Familie zu gründen. Nun dürfen Chinesen sogar wieder drei Kinder bekommen, tun es aber nicht. Die Geburtenrate ist unfassbar niedrig. China vergreist. Und das hat schwerwiegende Folgen, nicht nur für das Land, sondern auch für die Weltwirtschaft. Die Führung lag mit ihren Annahmen aus den Achtzigerjahren schlicht falsch, sagt der Wissenschaftler Yi Fuxian im Interview mit Felix Lee. Die Aussichten seien düster. Und die gesamte Wirtschafts-, Sozial-, Verteidigungs- und Außenpolitik Chinas basiere auf fehlerhaften Daten.

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche, die hoffentlich alles andere als düster aussieht.

Ihre
Julia Fiedler
Bild von Julia  Fiedler

Analyse

“China wird die USA nie übertreffen”

Yi Fuxian ist Experte für Demografie an der University of Wisconsin-Madison.
Yi Fuxian ist Experte für Demografie an der University of Wisconsin-Madison.

Herr Yi, erstmals seit der großen Hungersnot von 1961 ist Chinas Bevölkerung im vergangenen Jahr geschrumpft, neun Jahre früher als prognostiziert. Ist das aus Sicht der kommunistischen Führung nicht ein Grund zum Feiern? Schließlich war drohende Überbevölkerung der Grund, warum sie 1980 die Ein-Kind-Politik einführte.

Nein, überhaupt nicht. Die Zahl der Geburten ist offiziellen Angaben zufolge erstmals unter die Zehnmillionengrenze gefallen. Das ist der niedrigste Wert seit 1790. Damals lag die Einwohnerzahl aber bei rund 300 Millionen, heute sind es über eine Milliarde. Jede Frau im gebärfähigen Alter hat zuletzt im Schnitt nur noch 1,0 bis 1,1 Kinder zur Welt gebracht, nicht 1,8 – womit die Regierung gerechnet hatte. Pro Frau sind aber etwa 2,1 Kinder erforderlich, um die Einwohnerzahl eines Landes auf gleichem Niveau zu halten. Das heißt: In China wird jede Generation nur noch halb so groß sein wie die vorige. Und selbst diese niedrige Zahl ist geschönt. Ich gehe davon aus, dass Chinas Einwohnerzahl schon seit 2018 zurückgeht und die eigentliche Fertilitätsrate bei 0,8 liegt. China vergreist in einem Ausmaß und einer Geschwindigkeit, wie es nie ein Land erlebt hat.

Wenn die Bevölkerung neun Jahre früher als vorgesehen schrumpft, sind die Probleme doch nur vorgezogen und können nicht völlig unerwartet sein?

Die Aussichten sind viel düsterer als erwartet. Die gesamte Wirtschafts-, Sozial-, Verteidigungs- und Außenpolitik Chinas basierte auf fehlerhaften Daten. Alles muss nun neu ausgerichtet werden. Das zeigen auch die aktuellen Wirtschaftsdaten: Viele führen das geringere Wirtschaftswachstum auf die strengen Covid-Maßnahmen der letzten Jahre zurück. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die Wirtschaft wächst langsamer, weil die Bevölkerung schrumpft. Diese Entwicklung erleben wir auch in anderen Ländern. Anders jedoch als überalterte Industrieländer wie Japan oder Deutschland, hat China bei weitem noch nicht den notwendigen Wohlstand erreicht, um ein stabiles Sozialsystem aufgebaut zu haben. China altert, bevor es reich geworden ist.

Aber waren die sozialen Verwerfungen nicht abzusehen, als China die Ein-Kind-Politik einführte? 

Die Führung lag mit ihren Annahmen aus den Achtzigerjahren schlicht falsch. Der Gedanke damals war: China ist arm, für eine Milliarde Menschen gibt es nicht genug zu essen. Es kam zu Hungersnöten. Der Raketenexperte Song Jian sagte voraus, Chinas Bevölkerung würde bis 2080 mehr als 4,2 Milliarden Menschen zählen. Das erschreckte die chinesische Führung. Die Fertilitätsrate lag 1970 noch bei durchschnittlich 5,8 Kindern pro gebärfähiger Frau. Was die Führung damals nicht bedacht hatte: Mit steigender Bildung, besserem Gesundheitssystem und wachsendem Wohlstand geht die Fertilitätsrate von selbst zurück. Tatsächlich ging mit dem Einsetzen des wirtschaftlichen Aufschwungs ab Mitte der 1970er-Jahre die Fertilitätsrate bereits zurück und lag 1979 nur noch bei durchschnittlich 2,75. Die Ein-Kind-Politik mitsamt ihren sozialen Verwerfungen – Zwangsabtreibungen, Männerüberschuss – sie war komplett falsch und völlig unnötig. Selbst wenn China 1980 die restriktive Ein-Kind-Politik nicht eingeführt hätte, hätte die Bevölkerung maximal einen Höchststand von 1,6 Milliarden erreicht und wäre dann zurückgegangen.

Wenn die Fertilitätsrate von selbst zurückgegangen wäre, hätte es das Problem der Vergreisung aber auch gegeben. 

Ja, aber nicht so abrupt. Um 2030 herum wird ein Drittel der Bevölkerung älter als 60 Jahre alt sein. Der Anteil der arbeitenden Bevölkerung schrumpft bereits seit 2012. Wir sehen die Entwicklung am Nachbarn Japan, wo die Einwohnerzahl ebenfalls sinkt. Japans Anteil an den weltweiten Exporten des verarbeitenden Gewerbes ist von 16 Prozent im Jahr 1986 auf vier Prozent im Jahr 2021 zurückgegangen. Im Jahr 1995 zählten 149 japanische Unternehmen zu den Fortune Global 500, im Jahr 2022 nur noch 47. In Japan ist zudem zu beobachten, wie viel höhere Gesundheits- und Sozialausgaben eine alte Gesellschaft verschlingt.

Und was bedeutet eine solche Entwicklung konkret für China?

Universitäten und Hochschulen werden geschlossen, Chinas Innovation wird geschwächt. Schon jetzt fehlt es vielen Fabriken an Arbeitskräften. Chinas schrumpfende Erwerbsbevölkerung und die Rezession im verarbeitenden Gewerbe werden wiederum zu hohen Arbeitskosten führen. Damit steigen die Preise. Die zuletzt hohe Inflation in Europa und den USA könnte zum Teil bereits mit dem Rückgang der Erwerbsbevölkerung in China zusammenhängen. Mit einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung werden zugleich auch die Inlandsnachfrage und die Importe aus dem Westen zurückgehen. Mit der fehlenden Nachfrage nach Eigenheimen könnte die ohnehin aufgeblähte Immobilienblase platzen und möglicherweise eine globale Finanzkrise auslösen, die schlimmere Auswirkungen hätte als die von 2008.

Gefährdet diese Krise das Machtmonopol der kommunistischen Führung?

Im Gegenteil. Die KP dürfte sich sicherer fühlen, weil es China an ausreichend jungen Menschen fehlen wird, um gegen die Regierung zu protestieren. Auf die Straße gehen vor allem junge Leute. 

Seit 2016 ist es Paaren erlaubt, zwei Kinder zu bekommen, seit dem vergangenen Jahr sind es drei. Die Fertilitätsrate geht dennoch weiter zurück. 

Ein Grund sind die hohen Lebenshaltungskosten, insbesondere in den Metropolen. Vor allem aber die hohen Ausgaben für Bildung und Kindererziehung belasten viele junge Eltern stark. In allen ostasiatischen Ländern hat Bildung und Karriere heutzutage einen hohen Stellenwert. In China ist das aber besonders extrem. Alle wollen nur das Beste für ihr Kind. Das kostet aber. Deswegen entscheiden sich die meisten nur für ein Kind. 

Vielleicht dauert es einfach etwas, bis ein Umdenken stattfindet und die Menschen wieder über mehr Kinder nachdenken.

Ich bin da skeptisch. Die Ein-Kind-Politik hat den Blick der Chinesen auf Nachwuchs so fundamental verändert, dass die Idee, mehrere Kinder zu kriegen, vielen fremd ist. Zwei Generationen lang wurde ihnen vom Kindergarten an eingetrichtert, dass die Ein-Kind-Familie das Ideal darstellt. Die Menschen kennen nichts anderes als Einzelkinder.

Was bedeutet diese Entwicklung für Chinas Ambitionen, zur Weltmacht Nummer eins aufzusteigen?

Zwischen 2031 und 2035 wird China in allen demografischen Parametern schlechter abschneiden als die USA. Und je älter die Bevölkerung, desto langsamer wächst die Wirtschaft. Chinas Wirtschaftsleistung pro Kopf wird bis dahin aber weniger als 30 Prozent der US-Wirtschaftsleistung erreicht haben. Die Volksrepublik wird die Vereinigten Staaten wirtschaftlich also wahrscheinlich nie übertreffen. Indien hingegen hat China bereits bei der Zahl der Einwohner eingeholt und wird auch Chinas Wirtschaft und sogar die US-Wirtschaft überholen. Das wird natürlich Jahrzehnte dauern.

Und Afrika mit seiner jungen Bevölkerung …

… steht eine große Zukunft bevor. Immer mehr Firmen werden Afrika entdecken und sich dort niederlassen.

Yi Fuxian leitet den Bereich Demografie mit Spezialisierung auf die Themen Geburtshilfe und Gynäkologie an der University of Wisconsin-Madison in den USA. Von ihm stammt das Buch “Big Country with an Empty Nest”, in dem er die chinesische Bevölkerungspolitik kritisierte. Das Buch war auf dem chinesischen Festland bis 2013 verboten.

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In der KP schlägt die Stunde der Unzufriedenen

Xi Jinping: Unter Druck von der KP China.

Schluss mit Zero-Covid, Schluss mit der Wolfskrieger-Diplomatie und Schluss mit dem harten Vorgehen gegen die Privatwirtschaft. Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping hat seinem Land gleich drei dramatische Politikwenden verordnet. Innerhalb weniger Wochen. Und zum Teil völlig unvorbereitet. Doch nicht nur auf den Straßen hat sich der Unmut Bahn gebrochen, auch innerhalb der Kommunistischen Partei ist die Unzufriedenheit über Xis Politik groß. Und jetzt auch noch der Ballon-Zwischenfall.

Manche sehen die Macht von Xi Jinping erschüttert, andere erkennen in den Kehrtwenden hingegen den Pragmatismus eines kühlen Machtpolitikers. Doch ob Schwäche oder Kalkül: Xi Jinping steht unter Druck. Eigentlich würde er lieber langfristig an einmal getroffenen Entscheidungen festhalten. Doch nun muss er unter allen Umständen wirtschaftliches Wachstum generieren.

Xis dramatische Richtungswechsel

Mit seinen radikalen Politikwechseln wagt er die Flucht nach vorn. Es sind fundamentale Kehrwenden, die Xi seinem Land derzeit verordnet:

Zeit des Übergangs = Zeit des Widerstands

Klaus Mühlhahn zieht aus all diesen Kehrtwenden vor allem einen Schluss: “Xis Position ist deutlich geschwächt“, sagt der Präsident der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen im Gespräch mit China.Table und verweist auf die aktuelle Phase, die es so nur in China gibt: die turbulenten Monate des politischen Übergangs.

Zwar wurde auf dem 20. Parteitag das Personal für die Zukunft bestellt. Xi hat im vergangenen Oktober sämtliche Widersacher ausgestochen und das Politbüro mit willfährigen Unterstützern besetzt. Doch bis zu den 两会 (liǎng huì, auch “Two Sessions” genannt – den Sitzungen von Nationalem Volkskongress und der zugehörigen Konsultativkonferenz) im März sind die “alten” Kader noch im Amt: Leute, die es Mühlhahn zufolge jetzt hinter den Kulissen wagen, Xi Jinping zu widersprechen. “Ob unter Mao, bei Deng oder jetzt bei Xi – in den Monaten des Übergangs bieten sich die größten Möglichkeiten für Diskussionen”, erklärt der Sinologe.

Unzufriedenheit, aber keine offene Revolte

Nun schlage die Stunde der Unzufriedenen: der Alten, wie Li Keqiang, die bald aus den Ämtern scheiden; der Zurückgewiesenen wie Hu Chunhua, deren Hoffnungen auf eine Beförderung enttäuscht wurden; sowie deren Netzwerke, wie beispielsweise die Jugendliga. “Und wenn dann die Probleme auch noch derart groß sind, wie es aktuell der Fall ist, dann sehen all diese Leute in dieser speziellen Phase ihre Chance gekommen, einige Dinge in ihrem Sinne zurückzudrehen”, erklärt Mühlhahn.

Dass es dennoch nicht zu einer offenen Revolte gegen Xi kommt, erklärt sich aus dem bis dato letzten Showdown der chinesischen Politik, bei dem Bo Xilai offen das Establishment der KP herausgefordert hatte. Bo unterlag – und sitzt seither hinter Gittern.

“Xi ist aktuell geschwächt und deshalb in seiner Politik etwas zurückgewichen”, sagt Mühlhahn und fordert: “Nun muss man aktiv werden und den Gesprächsfaden aufnehmen.” Denn die Alternative ist wenig verlockend. “Man muss befürchten, dass Xi mit Ende des Übergangs im März umso härter zurückschlagen wird.”

“Xis Abkehr von Zero-Covid ist ein Glücksspiel”

Auch Zhang Junhua sieht China an einem kritischen Punkt angelangt. “Die plötzliche Abkehr von der Null-Covid-Politik ist ein Glücksspiel”, sagt der Politikwissenschaftler, ehemals Professor an der Jiaotong-Universität in Shanghai, zu China.Table. “Aber mit bewusster Undurchsichtigkeit, bewusster Datenfälschung und massiver Einschüchterung der Bevölkerung stehen die Chancen für Xi recht gut, dieses Wagnis zu gewinnen.”

Der renommierte China-Experte Zhu Zhiqun ist hingehen überzeugt, dass Xi schlicht mit kühlem Pragmatismus auf die vielen Herausforderungen des Landes reagierte:

  • Chinas schwächelnde Wirtschaft,
  • Straßenproteste, die sich erstmals auch gegen Xi richteten,
  • der Tod von Jiang Zemin,
  • der wachsende Druck in der Außenpolitik,
  • die spürbare Unzufriedenheit innerhalb der KP.

“Vor allem die Straßenproteste und der Tod von Jiang Zemin haben Xis Politikwechsel ausgelöst”, sagt Zhu, der an der Bucknell University in den USA forscht, zu China.Table und verweist auf Szenarien aus der Vergangenheit, die Xi möglicherweise gefürchtet hat: Die chinesische Führung habe nicht gewollt, dass die Öffentlichkeit ihre Trauer um Jiang in einen landesweiten Protest gegen das Regime verwandelt, wie es 1976 und 1989 nach dem Tod von Zhou Enlai beziehungsweise Hu Yaobang geschah.

Wirtschaft wieder vor Ideologie

Die Radikalität von Xis Entscheidungen leitet sich denn auch nicht zwangsläufig aus einer möglichen Schwäche ab, sondern vielmehr aus der Größe und Gleichzeitigkeit der Probleme. Aktuell steht China so stark unter Druck wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Gleichzeitig hat sich Xi derart exponiert, dass er nun schnell Lösungen präsentieren muss.

In dieser Lage stellt er sogar seine ideologischen Überzeugungen hinten an – wenn auch wohl nur temporär. Dafür greift Xi auf Altbewährtes zurück: Wirtschaftswachstum. Unter allen Umständen. Zwangsläufig fühlt man sich an die Worte eines ehemaligen US-Präsidenten erinnert: It’s the economy, stupid.

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News

Dienste warnen vor Spionage

Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang befürchtet eine Zunahme chinesischer Spionageaktivitäten in Deutschland. “China entfaltet breit gefächerte Ausspäh- und Einflussaktivitäten”, erklärte Haldenwang in einem Interview mit der “Welt am Sonntag”.

Während Peking sich früher vor allem auf Wirtschaftsspionage konzentriert habe, stehe nun zunehmend politische Spionageaktivitäten im Vordergrund. “Wir müssen uns darauf einstellen, dass diese in den kommenden Jahren noch zunehmen werden.” Die wirtschaftliche Abhängigkeit Deutschlands könne von China zur “Durchsetzung politischer Ziele” ausgenutzt werden, glaubt Haldenwang.

Eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums bestätigte der “Welt am Sonntag”, dass Deutschland eines der bedeutendsten nachrichtendienstlichen Aufklärungs- und Einflussziele Chinas sei. Darüber, ob Überflüge chinesischer Spionage-Ballons in Deutschland stattgefunden haben, lägen bislang aber keine Erkenntnisse vor. fpe

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Irans Präsident besucht China

Irans Präsident Ebrahim Raisi will kommende Woche auf Einladung von Xi Jinping nach Peking reisen. Der Aufenthalt sei vom 14. bis 16. Februar geplant, teilte das chinesische Außenministerium mit. Das Verhältnis der beiden Länder hatte zuletzt gelitten, nachdem Xi bei einem Gipfel in Saudi-Arabien indirekt den Anspruch der Vereinigten Arabischen Emirate auf drei Inseln im Persischen Golf anerkannt hatte, die Iran als sein Territorium betrachtet.

China ist für den Iran ein wichtiger Handelspartner und Abnehmer von Ölexporten, die von den USA sanktioniert werden. Zudem gibt es zwischen den beiden Ländern seit 2021 ein Kooperationsabkommen, das während einer Laufzeit von 25 Jahren Milliarden-Investitionen am Persischen Golf ermöglichen soll. jul

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USA sanktionieren Unternehmen wegen Ballon

Im Zusammenhang mit der Ballon-Affäre haben die USA fünf chinesische Unternehmen und ein Forschungsinstitut auf die Schwarze Liste gesetzt. Für die Unternehmen aus der chinesischen Luft- und Raumfahrtbranche wird es damit praktisch unmöglich, High-Tech-Komponenten aus den USA zu erhalten.

Das Handelsministerium begründete den Schritt damit, dass die betroffenen Akteure “Chinas Bestrebungen zur militärischen Modernisierung, insbesondere des Raumfahrtprogramms der Volksbefreiungsarmee, inklusive Luftschiffe und Ballons” unterstützten. Das Weiße Haus müsse Chinas großflächige Überwachungsaktivitäten, die “die nationale Sicherheit der USA und ihrer Partner bedrohen, offenlegen und ansprechen.”  jul

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Auch China sichtet Flugobjekt

Nachdem im kanadischen Luftraum ein zylindrisches Flugobjekt gesichtet und abgeschossen worden ist, berichtet nun auch China von der Sichtung eines unbekannten Flugobjekts. Unter Berufung auf eine örtliche Schifffahrtsbehörde schrieb die staatliche chinesische Zeitung Global Times, dass das Flugobjekt ungewisser Herkunft vor den Gewässern der Stadt Rizhao in der Provinz Shandong bemerkt worden sei. Es solle ebenfalls abgeschossen werden. 

In Chinas sozialen Medien wie der Plattform Weibo war die Nachricht das meistdiskutierte Thema am Sonntagabend. Der entsprechende Hashtag wurde millionenfach geklickt. jul

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Presseschau

China unter Verdacht: Wieder unbekannte Flugobjekte über Amerika TAGESSPIEGEL
Zuletzt abgeschossene Flugobjekte waren wohl auch Ballons BR
Unbekanntes Flugobjekt jetzt auch in China: Regierung plant Abschuss MERKUR
Spionage in Deutschland: China entfaltet breit gefächerte Ausspäh- und Einflussaktivitäten” SPIEGEL
US holds drills in South China Sea amid tensions with China ABCNEWS
Medienbericht: Iranischer Präsident Ebrahim Raisi reist zu Xi Jinping nach China DER STANDARD
Pekings diplomatische Offensive: China umwirbt und irritiert Europa SUEDDEUTSCHE ZEITUNG
Chinas aggressive Außenpolitik bedroht Deutschland: “Gefahr für unsere Sicherheit” T-ONLINE
Avoiding catastrophe will be the true test of fractious US-China relations FT
Die neue Afrika-Müdigkeit Chinas WELT
Europas wahrer Konkurrent um Schlüsselindustrien heißt China DIE PRESSE
China’s South America free-trade deal to have “clear impact”, but may irk US by seeking opportunities in its “backyard” SCMP
Aus Sicherheitsgründen: USA wollen Investitionen in Techfirmen aus China wohl verbieten TAGESSPIEGEL
From Apple to VW, CEOs Gradually Returning to China After Its Reopening WSJ
China reopening to swell Exxon, Chevron profits further DEUTSCHE WELLE
110 Millionen Chinesen reisen wieder ins Ausland WELT
Das Taiwan-Tabu: Wie Peking und Taipeh sich auch um das Kunsterbe streiten RND

Heads

Qian Sun – Blick in alle Richtungen

Qian Sun ist Journalistin.
Qian Sun arbeitet als Freie Journalistin und für den chinesischen Staatssender Phoenix TV.

Qian Suns Arbeit ist ein Balanceakt. Denn die gebürtige Nordchinesin arbeitet als Investigativ-Journalistin in Berlin und für das chinesische Fernsehen. Für Phoenix TV, einen mehrheitlich in Staatsbesitz befindlichen Fernsehsender aus Hongkong und Shenzhen, erklärt sie den Chinesen etwa die großen Linien der deutschen Politik. Kleinteiliger wird es, wenn Sun ihrer Tätigkeit als freier Investigativ-Journalistin nachgeht, etwa mit Recherchen zu Chinas Bauprojekten in Afrika. Diese Balance zwischen offiziellen Narrativen und tiefschürfender Recherche sei nicht immer einfach, wenn man wie sie aus einem autoritären Land komme, betont Sun: “Man muss das Risiko abwägen: Bist du bereit, deine eigene Familie in Gefahr zu bringen?”

Als Investigativ-Journalistin versucht Sun ihr persönliches Risiko zu minimieren, zum Beispiel mit Pseudonymen. Aber auch ohne solche Vorsichtsmaßnahmen fühle sie sich einigermaßen sicher. Denn sie sei keine Aktivistin, sondern eine Beobachterin, erklärt sie. “Ich will dokumentieren, was passiert und was die Leute fühlen.” Für den Balanceakt, den sie vollzieht, würde sich Sun aber generell mehr Verständnis wünschen, auch von ihren deutschen Kollegen.

Aufgewachsen im Wandel

Und sie rät ihren Kollegen, nach China zu fliegen und Chinesisch zu lernen. Sie selbst war seit drei Jahren nicht mehr in ihrer Heimat und merkt, wie leicht man ein Land entmenschliche, wenn man es nur von außen betrachte. “Das ist sehr gefährlich. Man muss die Emotionen der Chinesen verstehen, um darüber berichten zu können.” Sie beansprucht für sich, beide Seiten zu verstehen: den chinesischen Blick auf Europa und den europäischen Blick auf China. Dabei hilft ihr, dass sie ihren Master in Global Studies und International Communication 2011 an der Universität Leipzig gemacht hat.

Sun wächst in den Achtzigerjahren in der Provinz Shanxi auf und erlebte die finalen Jahre der chinesischen Planwirtschaft. Und sie wird als Jugendliche Zeuge der wirtschaftlichen Öffnung, die auch bei ihrer Familie ankommt und den Lebensstandard schnell erhöht. In dieser Zeit zeigt Sun exzellente Ergebnisse bei der Hochschulzugangsprüfung (Gaokao) und entscheidet sich, Sportjournalismus in Beijing zu studieren.

Von Chinas junger Generation erstaunt

Praktischerweise stehen die Olympischen Spiele 2008 vor der Tür, bei denen die sportbegeisterte Sun als Freiwillige hilft. “Ich habe mich riesig auf die Spiele gefreut und man konnte spüren, wie stark China geworden ist.” Suns Begeisterung weicht jedoch schnell der Langweile, denn so richtig gebraucht werden die Massen an jungen Leuten nicht. Doch ihrer Liebe zum Sportjournalismus hat es keinen Abbruch getan. So oft es geht, berichtet sie noch heute von Sportereignissen, etwa über die Fußballweltmeisterschaft oder die Olympischen Spiele.

Und auch Chinas wiedergewonnene Stärke betrachtet sie keinesfalls als Strohfeuer. Im Gegensatz zu Sun damals wächst Chinas junge Generation heute in einem selbstbewussten Staat auf. Chinas Schwäche hätten diese jungen Menschen nie kennengelernt, erklärt Sun. Und dennoch: Die Pandemie, die harten Lockdowns und die Proteste haben an diesem Bild der Stärke genagt. Und auch Sun hat ihren Blick verändert: “Ich hatte einen unzutreffenden Eindruck von der jüngeren Generation. Einige von ihnen sind viel kritischer und unabhängiger, als ich dachte.” Jonathan Lehrer

  • Gesellschaft
  • Zivilgesellschaft

Personalie

Navid Samadi hat im Januar den Posten des Chief Engineer Chassis Global bei Huawei in München übernommen. Im dortigen Automotive Engineering Laboratory des Tech-Konzerns ist Samadi verantwortlich für die Forschung und Entwicklung mechatronischer Fahrwerkssysteme, einschließlich Systemarchitektur, Software, elektronische Hardware, Mechanik und Systemverifizierung.

Ändert sich etwas in Ihrer Organisation? Schicken Sie doch einen Hinweis für unsere Personal-Rubrik an heads@table.media!

Dessert

Voll gemüsig!

很菜 – hěn cài! – “voll gemüsig!”

Wie steht es um Ihre Chinesisch-Performance? Kräuseln sich die Schriftzeichen in Ihrer Birne wie Kopfsalat? Ist ihre Aussprache so knackig wie welke Wasserkastanien? Fühlen Sie sich schlaff wie ein altes Salatblatt, sobald Sie über dem Vokabelheft brüten? Und laufen Sie sofort tomatenrot an, wann immer sie ein paar mühsam eingeübte Satzfetzen stammeln? Dann glänzen Sie im nächsten Gespräch doch wenigstens, indem Sie ein gnadenlos ehrliches und höchst idiomatisches Resümee Ihres Lernstandes ziehen. Und zwar mit folgender authentischer Aussage: “Mein Chinesisch ist sehr gemüsig!” (我的中文很菜. Wǒ de Zhōngwén hěn cài.).

Das Zeichen 菜 cài “Gemüse” lotst in China nämlich nicht nur Ernährungsbewusste zielsicher zu Grünzeug und anderem Pflanzlichen auf der Speisekarte. Es wird im chinesischen Internetjargon neuerdings auch als trendiges Adjektiv gebraucht, das signalisiert, dass man entweder in einem Metier ein Greenhorn ist oder eine Fähigkeit mehr schlecht als recht beherrscht. Der junge Vokabelsetzling ist ein Abkömmling des 菜鸟 càiniǎo “Gemüsevogel” – der chinesischen Slangversion für “Newbie”. Gemeint ist entweder ein blutiger Anfänger oder ein hoffnungslos Unfähiger. Andere anschauliche Ausdrücke für Neulinge sind im Chinesischen außerdem die “Neuhand” (新手 xīnshǒu) und die “Rohhand” (生手 shēngshǒu) oder jemand, bei dem “der Geruch der Muttermilch noch nicht getrocknet ist” (乳臭未干 rǔ xiù wèi gān), der also noch feucht oder grün hinter den Ohren ist, wie wir im Deutschen sagen würden.

Das chinesische Gegenteil von “gemüsig” ist übrigens “rindig”, (abgeleitet von Rind, 牛 niú), also jemand, der es “voll drauf hat” oder etwas, das “erste Sahne ist”. Hier das Ziellob als kleine Motivation: “Dein Chinesisch ist wirklich sehr rindig!” (你的中文真的很牛, nǐ de Zhōngwén zhēnde hěn niú).

Richtig rindig wird es dann aber, wenn man erkennt, dass im Umgangschinesischen noch viele andere Substantive einfach zu Adjektiven umfunktioniert werden können. Möglich machen das die fehlenden Wortklassenmarkierungen im minimalistischen Mandarin. Hier gibt es nämlich beispielsweise keine Deklinationsendungen. Und das führt dazu, dass eine neue Streamingserie “echt feurig” sein kann (这部网剧很火。 Zhè bù wǎngjù hěn huǒ. “Diese Streamingserie ist echt angesagt.” – 火 huǒ “Feuer”, als Adjektiv: “angesagt”) oder der neue Lehrer “total wässrig” (新老师太水了, xīn lǎoshī tài shuǐ le. “Der neue Lehrer ist sowas von unfähig.” – 水 shuǐ “Wasser”, als Adjektiv: “unfähig, miserabel”).

Wer in solchen Fällen erst einmal wörtlich übersetzt, wird sicher seinen Spaß haben und ganz nebenbei noch mehr Vokabeln unerschütterlich im Gedächtnis verwurzeln. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, und doch ein großer Schritt für uns Sprachenlerner – und zwar auf dem Weg vom Gemüsevogel zum Chinesisch-Rind.

Verena Menzel betreibt in Peking die Online-Sprachschule New Chinese.

China.Table Redaktion

CHINA.TABLE REDAKTION

Licenses:
    • Yi Fuxian über Chinas Demografie-Falle
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    • Verfassungsschutz warnt vor Spionage
    • Irans Präsident besucht China
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    • Auch China meldet Flugobjekt
    • Im Porträt: Qian Sun – Investigativ-Journalistin
    • Zur Sprache: Gemüsig oder rindig?
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    Xi Jinping hatte sich Ende letzten Jahres in eine verzwickte Lage manövriert. Kriselnde Wirtschaft, Covid-Debakel und dann auch noch Straßen-Proteste, bei denen sogar offen sein Rücktritt gefordert wurde – manch einer wird sich gefragt haben, wie Chinas mächtigster Mann bis zum Nationalen Volkskongress diesen März wieder Ruhe in den Laden bringen will.

    Er hat die Flucht nach vorn ergriffen und einige spektakuläre 180-Grad-Wendungen hingelegt. Aus Null-Covid wurde Full-Covid, auf die strenge Kontrolle der Tech-Konzerne folgte mehr Rückendeckung für die Privatwirtschaft. Auch die offenen Drohungen gegenüber den USA sind ruhigeren Tönen gewichen – zumindest bis zum jüngsten Ballon-Eklat. Was hinter Xis radikalen Richtungswechseln steckt und wie nachhaltig sie sind? Michael Radunski beleuchtet in seiner Analyse die Monate des Übergangs – eine besondere Phase vor der Zusammenkunft des Nationalen Volkskongresses im März, in der die “alten” Kader noch im Amt sind, aber eben nicht mehr lange, und es hinter den Kulissen deshalb wagen, Xi zu widersprechen. Denn es gibt viele Unzufriedene: Die, die aus ihren Ämtern scheiden müssen oder um eine erhoffte Beförderung gebracht wurden.

    Während Xi solche laufenden politischen Probleme durch pragmatische Richtungswechsel in den Griff bekommen kann, ist das mit den Geburten offenkundig nicht so. Dass die Ein-Kind-Politik in China einen heftigen Eingriff dargestellt hat, ist unbestritten. Zwei Generationen mussten darauf verzichten, eine große Familie zu gründen. Nun dürfen Chinesen sogar wieder drei Kinder bekommen, tun es aber nicht. Die Geburtenrate ist unfassbar niedrig. China vergreist. Und das hat schwerwiegende Folgen, nicht nur für das Land, sondern auch für die Weltwirtschaft. Die Führung lag mit ihren Annahmen aus den Achtzigerjahren schlicht falsch, sagt der Wissenschaftler Yi Fuxian im Interview mit Felix Lee. Die Aussichten seien düster. Und die gesamte Wirtschafts-, Sozial-, Verteidigungs- und Außenpolitik Chinas basiere auf fehlerhaften Daten.

    Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche, die hoffentlich alles andere als düster aussieht.

    Ihre
    Julia Fiedler
    Bild von Julia  Fiedler

    Analyse

    “China wird die USA nie übertreffen”

    Yi Fuxian ist Experte für Demografie an der University of Wisconsin-Madison.
    Yi Fuxian ist Experte für Demografie an der University of Wisconsin-Madison.

    Herr Yi, erstmals seit der großen Hungersnot von 1961 ist Chinas Bevölkerung im vergangenen Jahr geschrumpft, neun Jahre früher als prognostiziert. Ist das aus Sicht der kommunistischen Führung nicht ein Grund zum Feiern? Schließlich war drohende Überbevölkerung der Grund, warum sie 1980 die Ein-Kind-Politik einführte.

    Nein, überhaupt nicht. Die Zahl der Geburten ist offiziellen Angaben zufolge erstmals unter die Zehnmillionengrenze gefallen. Das ist der niedrigste Wert seit 1790. Damals lag die Einwohnerzahl aber bei rund 300 Millionen, heute sind es über eine Milliarde. Jede Frau im gebärfähigen Alter hat zuletzt im Schnitt nur noch 1,0 bis 1,1 Kinder zur Welt gebracht, nicht 1,8 – womit die Regierung gerechnet hatte. Pro Frau sind aber etwa 2,1 Kinder erforderlich, um die Einwohnerzahl eines Landes auf gleichem Niveau zu halten. Das heißt: In China wird jede Generation nur noch halb so groß sein wie die vorige. Und selbst diese niedrige Zahl ist geschönt. Ich gehe davon aus, dass Chinas Einwohnerzahl schon seit 2018 zurückgeht und die eigentliche Fertilitätsrate bei 0,8 liegt. China vergreist in einem Ausmaß und einer Geschwindigkeit, wie es nie ein Land erlebt hat.

    Wenn die Bevölkerung neun Jahre früher als vorgesehen schrumpft, sind die Probleme doch nur vorgezogen und können nicht völlig unerwartet sein?

    Die Aussichten sind viel düsterer als erwartet. Die gesamte Wirtschafts-, Sozial-, Verteidigungs- und Außenpolitik Chinas basierte auf fehlerhaften Daten. Alles muss nun neu ausgerichtet werden. Das zeigen auch die aktuellen Wirtschaftsdaten: Viele führen das geringere Wirtschaftswachstum auf die strengen Covid-Maßnahmen der letzten Jahre zurück. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die Wirtschaft wächst langsamer, weil die Bevölkerung schrumpft. Diese Entwicklung erleben wir auch in anderen Ländern. Anders jedoch als überalterte Industrieländer wie Japan oder Deutschland, hat China bei weitem noch nicht den notwendigen Wohlstand erreicht, um ein stabiles Sozialsystem aufgebaut zu haben. China altert, bevor es reich geworden ist.

    Aber waren die sozialen Verwerfungen nicht abzusehen, als China die Ein-Kind-Politik einführte? 

    Die Führung lag mit ihren Annahmen aus den Achtzigerjahren schlicht falsch. Der Gedanke damals war: China ist arm, für eine Milliarde Menschen gibt es nicht genug zu essen. Es kam zu Hungersnöten. Der Raketenexperte Song Jian sagte voraus, Chinas Bevölkerung würde bis 2080 mehr als 4,2 Milliarden Menschen zählen. Das erschreckte die chinesische Führung. Die Fertilitätsrate lag 1970 noch bei durchschnittlich 5,8 Kindern pro gebärfähiger Frau. Was die Führung damals nicht bedacht hatte: Mit steigender Bildung, besserem Gesundheitssystem und wachsendem Wohlstand geht die Fertilitätsrate von selbst zurück. Tatsächlich ging mit dem Einsetzen des wirtschaftlichen Aufschwungs ab Mitte der 1970er-Jahre die Fertilitätsrate bereits zurück und lag 1979 nur noch bei durchschnittlich 2,75. Die Ein-Kind-Politik mitsamt ihren sozialen Verwerfungen – Zwangsabtreibungen, Männerüberschuss – sie war komplett falsch und völlig unnötig. Selbst wenn China 1980 die restriktive Ein-Kind-Politik nicht eingeführt hätte, hätte die Bevölkerung maximal einen Höchststand von 1,6 Milliarden erreicht und wäre dann zurückgegangen.

    Wenn die Fertilitätsrate von selbst zurückgegangen wäre, hätte es das Problem der Vergreisung aber auch gegeben. 

    Ja, aber nicht so abrupt. Um 2030 herum wird ein Drittel der Bevölkerung älter als 60 Jahre alt sein. Der Anteil der arbeitenden Bevölkerung schrumpft bereits seit 2012. Wir sehen die Entwicklung am Nachbarn Japan, wo die Einwohnerzahl ebenfalls sinkt. Japans Anteil an den weltweiten Exporten des verarbeitenden Gewerbes ist von 16 Prozent im Jahr 1986 auf vier Prozent im Jahr 2021 zurückgegangen. Im Jahr 1995 zählten 149 japanische Unternehmen zu den Fortune Global 500, im Jahr 2022 nur noch 47. In Japan ist zudem zu beobachten, wie viel höhere Gesundheits- und Sozialausgaben eine alte Gesellschaft verschlingt.

    Und was bedeutet eine solche Entwicklung konkret für China?

    Universitäten und Hochschulen werden geschlossen, Chinas Innovation wird geschwächt. Schon jetzt fehlt es vielen Fabriken an Arbeitskräften. Chinas schrumpfende Erwerbsbevölkerung und die Rezession im verarbeitenden Gewerbe werden wiederum zu hohen Arbeitskosten führen. Damit steigen die Preise. Die zuletzt hohe Inflation in Europa und den USA könnte zum Teil bereits mit dem Rückgang der Erwerbsbevölkerung in China zusammenhängen. Mit einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung werden zugleich auch die Inlandsnachfrage und die Importe aus dem Westen zurückgehen. Mit der fehlenden Nachfrage nach Eigenheimen könnte die ohnehin aufgeblähte Immobilienblase platzen und möglicherweise eine globale Finanzkrise auslösen, die schlimmere Auswirkungen hätte als die von 2008.

    Gefährdet diese Krise das Machtmonopol der kommunistischen Führung?

    Im Gegenteil. Die KP dürfte sich sicherer fühlen, weil es China an ausreichend jungen Menschen fehlen wird, um gegen die Regierung zu protestieren. Auf die Straße gehen vor allem junge Leute. 

    Seit 2016 ist es Paaren erlaubt, zwei Kinder zu bekommen, seit dem vergangenen Jahr sind es drei. Die Fertilitätsrate geht dennoch weiter zurück. 

    Ein Grund sind die hohen Lebenshaltungskosten, insbesondere in den Metropolen. Vor allem aber die hohen Ausgaben für Bildung und Kindererziehung belasten viele junge Eltern stark. In allen ostasiatischen Ländern hat Bildung und Karriere heutzutage einen hohen Stellenwert. In China ist das aber besonders extrem. Alle wollen nur das Beste für ihr Kind. Das kostet aber. Deswegen entscheiden sich die meisten nur für ein Kind. 

    Vielleicht dauert es einfach etwas, bis ein Umdenken stattfindet und die Menschen wieder über mehr Kinder nachdenken.

    Ich bin da skeptisch. Die Ein-Kind-Politik hat den Blick der Chinesen auf Nachwuchs so fundamental verändert, dass die Idee, mehrere Kinder zu kriegen, vielen fremd ist. Zwei Generationen lang wurde ihnen vom Kindergarten an eingetrichtert, dass die Ein-Kind-Familie das Ideal darstellt. Die Menschen kennen nichts anderes als Einzelkinder.

    Was bedeutet diese Entwicklung für Chinas Ambitionen, zur Weltmacht Nummer eins aufzusteigen?

    Zwischen 2031 und 2035 wird China in allen demografischen Parametern schlechter abschneiden als die USA. Und je älter die Bevölkerung, desto langsamer wächst die Wirtschaft. Chinas Wirtschaftsleistung pro Kopf wird bis dahin aber weniger als 30 Prozent der US-Wirtschaftsleistung erreicht haben. Die Volksrepublik wird die Vereinigten Staaten wirtschaftlich also wahrscheinlich nie übertreffen. Indien hingegen hat China bereits bei der Zahl der Einwohner eingeholt und wird auch Chinas Wirtschaft und sogar die US-Wirtschaft überholen. Das wird natürlich Jahrzehnte dauern.

    Und Afrika mit seiner jungen Bevölkerung …

    … steht eine große Zukunft bevor. Immer mehr Firmen werden Afrika entdecken und sich dort niederlassen.

    Yi Fuxian leitet den Bereich Demografie mit Spezialisierung auf die Themen Geburtshilfe und Gynäkologie an der University of Wisconsin-Madison in den USA. Von ihm stammt das Buch “Big Country with an Empty Nest”, in dem er die chinesische Bevölkerungspolitik kritisierte. Das Buch war auf dem chinesischen Festland bis 2013 verboten.

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    In der KP schlägt die Stunde der Unzufriedenen

    Xi Jinping: Unter Druck von der KP China.

    Schluss mit Zero-Covid, Schluss mit der Wolfskrieger-Diplomatie und Schluss mit dem harten Vorgehen gegen die Privatwirtschaft. Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping hat seinem Land gleich drei dramatische Politikwenden verordnet. Innerhalb weniger Wochen. Und zum Teil völlig unvorbereitet. Doch nicht nur auf den Straßen hat sich der Unmut Bahn gebrochen, auch innerhalb der Kommunistischen Partei ist die Unzufriedenheit über Xis Politik groß. Und jetzt auch noch der Ballon-Zwischenfall.

    Manche sehen die Macht von Xi Jinping erschüttert, andere erkennen in den Kehrtwenden hingegen den Pragmatismus eines kühlen Machtpolitikers. Doch ob Schwäche oder Kalkül: Xi Jinping steht unter Druck. Eigentlich würde er lieber langfristig an einmal getroffenen Entscheidungen festhalten. Doch nun muss er unter allen Umständen wirtschaftliches Wachstum generieren.

    Xis dramatische Richtungswechsel

    Mit seinen radikalen Politikwechseln wagt er die Flucht nach vorn. Es sind fundamentale Kehrwenden, die Xi seinem Land derzeit verordnet:

    Zeit des Übergangs = Zeit des Widerstands

    Klaus Mühlhahn zieht aus all diesen Kehrtwenden vor allem einen Schluss: “Xis Position ist deutlich geschwächt“, sagt der Präsident der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen im Gespräch mit China.Table und verweist auf die aktuelle Phase, die es so nur in China gibt: die turbulenten Monate des politischen Übergangs.

    Zwar wurde auf dem 20. Parteitag das Personal für die Zukunft bestellt. Xi hat im vergangenen Oktober sämtliche Widersacher ausgestochen und das Politbüro mit willfährigen Unterstützern besetzt. Doch bis zu den 两会 (liǎng huì, auch “Two Sessions” genannt – den Sitzungen von Nationalem Volkskongress und der zugehörigen Konsultativkonferenz) im März sind die “alten” Kader noch im Amt: Leute, die es Mühlhahn zufolge jetzt hinter den Kulissen wagen, Xi Jinping zu widersprechen. “Ob unter Mao, bei Deng oder jetzt bei Xi – in den Monaten des Übergangs bieten sich die größten Möglichkeiten für Diskussionen”, erklärt der Sinologe.

    Unzufriedenheit, aber keine offene Revolte

    Nun schlage die Stunde der Unzufriedenen: der Alten, wie Li Keqiang, die bald aus den Ämtern scheiden; der Zurückgewiesenen wie Hu Chunhua, deren Hoffnungen auf eine Beförderung enttäuscht wurden; sowie deren Netzwerke, wie beispielsweise die Jugendliga. “Und wenn dann die Probleme auch noch derart groß sind, wie es aktuell der Fall ist, dann sehen all diese Leute in dieser speziellen Phase ihre Chance gekommen, einige Dinge in ihrem Sinne zurückzudrehen”, erklärt Mühlhahn.

    Dass es dennoch nicht zu einer offenen Revolte gegen Xi kommt, erklärt sich aus dem bis dato letzten Showdown der chinesischen Politik, bei dem Bo Xilai offen das Establishment der KP herausgefordert hatte. Bo unterlag – und sitzt seither hinter Gittern.

    “Xi ist aktuell geschwächt und deshalb in seiner Politik etwas zurückgewichen”, sagt Mühlhahn und fordert: “Nun muss man aktiv werden und den Gesprächsfaden aufnehmen.” Denn die Alternative ist wenig verlockend. “Man muss befürchten, dass Xi mit Ende des Übergangs im März umso härter zurückschlagen wird.”

    “Xis Abkehr von Zero-Covid ist ein Glücksspiel”

    Auch Zhang Junhua sieht China an einem kritischen Punkt angelangt. “Die plötzliche Abkehr von der Null-Covid-Politik ist ein Glücksspiel”, sagt der Politikwissenschaftler, ehemals Professor an der Jiaotong-Universität in Shanghai, zu China.Table. “Aber mit bewusster Undurchsichtigkeit, bewusster Datenfälschung und massiver Einschüchterung der Bevölkerung stehen die Chancen für Xi recht gut, dieses Wagnis zu gewinnen.”

    Der renommierte China-Experte Zhu Zhiqun ist hingehen überzeugt, dass Xi schlicht mit kühlem Pragmatismus auf die vielen Herausforderungen des Landes reagierte:

    • Chinas schwächelnde Wirtschaft,
    • Straßenproteste, die sich erstmals auch gegen Xi richteten,
    • der Tod von Jiang Zemin,
    • der wachsende Druck in der Außenpolitik,
    • die spürbare Unzufriedenheit innerhalb der KP.

    “Vor allem die Straßenproteste und der Tod von Jiang Zemin haben Xis Politikwechsel ausgelöst”, sagt Zhu, der an der Bucknell University in den USA forscht, zu China.Table und verweist auf Szenarien aus der Vergangenheit, die Xi möglicherweise gefürchtet hat: Die chinesische Führung habe nicht gewollt, dass die Öffentlichkeit ihre Trauer um Jiang in einen landesweiten Protest gegen das Regime verwandelt, wie es 1976 und 1989 nach dem Tod von Zhou Enlai beziehungsweise Hu Yaobang geschah.

    Wirtschaft wieder vor Ideologie

    Die Radikalität von Xis Entscheidungen leitet sich denn auch nicht zwangsläufig aus einer möglichen Schwäche ab, sondern vielmehr aus der Größe und Gleichzeitigkeit der Probleme. Aktuell steht China so stark unter Druck wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Gleichzeitig hat sich Xi derart exponiert, dass er nun schnell Lösungen präsentieren muss.

    In dieser Lage stellt er sogar seine ideologischen Überzeugungen hinten an – wenn auch wohl nur temporär. Dafür greift Xi auf Altbewährtes zurück: Wirtschaftswachstum. Unter allen Umständen. Zwangsläufig fühlt man sich an die Worte eines ehemaligen US-Präsidenten erinnert: It’s the economy, stupid.

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    News

    Dienste warnen vor Spionage

    Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang befürchtet eine Zunahme chinesischer Spionageaktivitäten in Deutschland. “China entfaltet breit gefächerte Ausspäh- und Einflussaktivitäten”, erklärte Haldenwang in einem Interview mit der “Welt am Sonntag”.

    Während Peking sich früher vor allem auf Wirtschaftsspionage konzentriert habe, stehe nun zunehmend politische Spionageaktivitäten im Vordergrund. “Wir müssen uns darauf einstellen, dass diese in den kommenden Jahren noch zunehmen werden.” Die wirtschaftliche Abhängigkeit Deutschlands könne von China zur “Durchsetzung politischer Ziele” ausgenutzt werden, glaubt Haldenwang.

    Eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums bestätigte der “Welt am Sonntag”, dass Deutschland eines der bedeutendsten nachrichtendienstlichen Aufklärungs- und Einflussziele Chinas sei. Darüber, ob Überflüge chinesischer Spionage-Ballons in Deutschland stattgefunden haben, lägen bislang aber keine Erkenntnisse vor. fpe

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    • Spionage

    Irans Präsident besucht China

    Irans Präsident Ebrahim Raisi will kommende Woche auf Einladung von Xi Jinping nach Peking reisen. Der Aufenthalt sei vom 14. bis 16. Februar geplant, teilte das chinesische Außenministerium mit. Das Verhältnis der beiden Länder hatte zuletzt gelitten, nachdem Xi bei einem Gipfel in Saudi-Arabien indirekt den Anspruch der Vereinigten Arabischen Emirate auf drei Inseln im Persischen Golf anerkannt hatte, die Iran als sein Territorium betrachtet.

    China ist für den Iran ein wichtiger Handelspartner und Abnehmer von Ölexporten, die von den USA sanktioniert werden. Zudem gibt es zwischen den beiden Ländern seit 2021 ein Kooperationsabkommen, das während einer Laufzeit von 25 Jahren Milliarden-Investitionen am Persischen Golf ermöglichen soll. jul

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    • Geopolitik
    • Iran

    USA sanktionieren Unternehmen wegen Ballon

    Im Zusammenhang mit der Ballon-Affäre haben die USA fünf chinesische Unternehmen und ein Forschungsinstitut auf die Schwarze Liste gesetzt. Für die Unternehmen aus der chinesischen Luft- und Raumfahrtbranche wird es damit praktisch unmöglich, High-Tech-Komponenten aus den USA zu erhalten.

    Das Handelsministerium begründete den Schritt damit, dass die betroffenen Akteure “Chinas Bestrebungen zur militärischen Modernisierung, insbesondere des Raumfahrtprogramms der Volksbefreiungsarmee, inklusive Luftschiffe und Ballons” unterstützten. Das Weiße Haus müsse Chinas großflächige Überwachungsaktivitäten, die “die nationale Sicherheit der USA und ihrer Partner bedrohen, offenlegen und ansprechen.”  jul

    • Ballon
    • China-Sanktionen
    • Geopolitik
    • Technologie

    Auch China sichtet Flugobjekt

    Nachdem im kanadischen Luftraum ein zylindrisches Flugobjekt gesichtet und abgeschossen worden ist, berichtet nun auch China von der Sichtung eines unbekannten Flugobjekts. Unter Berufung auf eine örtliche Schifffahrtsbehörde schrieb die staatliche chinesische Zeitung Global Times, dass das Flugobjekt ungewisser Herkunft vor den Gewässern der Stadt Rizhao in der Provinz Shandong bemerkt worden sei. Es solle ebenfalls abgeschossen werden. 

    In Chinas sozialen Medien wie der Plattform Weibo war die Nachricht das meistdiskutierte Thema am Sonntagabend. Der entsprechende Hashtag wurde millionenfach geklickt. jul

    • Geopolitik
    • Sicherheit

    Presseschau

    China unter Verdacht: Wieder unbekannte Flugobjekte über Amerika TAGESSPIEGEL
    Zuletzt abgeschossene Flugobjekte waren wohl auch Ballons BR
    Unbekanntes Flugobjekt jetzt auch in China: Regierung plant Abschuss MERKUR
    Spionage in Deutschland: China entfaltet breit gefächerte Ausspäh- und Einflussaktivitäten” SPIEGEL
    US holds drills in South China Sea amid tensions with China ABCNEWS
    Medienbericht: Iranischer Präsident Ebrahim Raisi reist zu Xi Jinping nach China DER STANDARD
    Pekings diplomatische Offensive: China umwirbt und irritiert Europa SUEDDEUTSCHE ZEITUNG
    Chinas aggressive Außenpolitik bedroht Deutschland: “Gefahr für unsere Sicherheit” T-ONLINE
    Avoiding catastrophe will be the true test of fractious US-China relations FT
    Die neue Afrika-Müdigkeit Chinas WELT
    Europas wahrer Konkurrent um Schlüsselindustrien heißt China DIE PRESSE
    China’s South America free-trade deal to have “clear impact”, but may irk US by seeking opportunities in its “backyard” SCMP
    Aus Sicherheitsgründen: USA wollen Investitionen in Techfirmen aus China wohl verbieten TAGESSPIEGEL
    From Apple to VW, CEOs Gradually Returning to China After Its Reopening WSJ
    China reopening to swell Exxon, Chevron profits further DEUTSCHE WELLE
    110 Millionen Chinesen reisen wieder ins Ausland WELT
    Das Taiwan-Tabu: Wie Peking und Taipeh sich auch um das Kunsterbe streiten RND

    Heads

    Qian Sun – Blick in alle Richtungen

    Qian Sun ist Journalistin.
    Qian Sun arbeitet als Freie Journalistin und für den chinesischen Staatssender Phoenix TV.

    Qian Suns Arbeit ist ein Balanceakt. Denn die gebürtige Nordchinesin arbeitet als Investigativ-Journalistin in Berlin und für das chinesische Fernsehen. Für Phoenix TV, einen mehrheitlich in Staatsbesitz befindlichen Fernsehsender aus Hongkong und Shenzhen, erklärt sie den Chinesen etwa die großen Linien der deutschen Politik. Kleinteiliger wird es, wenn Sun ihrer Tätigkeit als freier Investigativ-Journalistin nachgeht, etwa mit Recherchen zu Chinas Bauprojekten in Afrika. Diese Balance zwischen offiziellen Narrativen und tiefschürfender Recherche sei nicht immer einfach, wenn man wie sie aus einem autoritären Land komme, betont Sun: “Man muss das Risiko abwägen: Bist du bereit, deine eigene Familie in Gefahr zu bringen?”

    Als Investigativ-Journalistin versucht Sun ihr persönliches Risiko zu minimieren, zum Beispiel mit Pseudonymen. Aber auch ohne solche Vorsichtsmaßnahmen fühle sie sich einigermaßen sicher. Denn sie sei keine Aktivistin, sondern eine Beobachterin, erklärt sie. “Ich will dokumentieren, was passiert und was die Leute fühlen.” Für den Balanceakt, den sie vollzieht, würde sich Sun aber generell mehr Verständnis wünschen, auch von ihren deutschen Kollegen.

    Aufgewachsen im Wandel

    Und sie rät ihren Kollegen, nach China zu fliegen und Chinesisch zu lernen. Sie selbst war seit drei Jahren nicht mehr in ihrer Heimat und merkt, wie leicht man ein Land entmenschliche, wenn man es nur von außen betrachte. “Das ist sehr gefährlich. Man muss die Emotionen der Chinesen verstehen, um darüber berichten zu können.” Sie beansprucht für sich, beide Seiten zu verstehen: den chinesischen Blick auf Europa und den europäischen Blick auf China. Dabei hilft ihr, dass sie ihren Master in Global Studies und International Communication 2011 an der Universität Leipzig gemacht hat.

    Sun wächst in den Achtzigerjahren in der Provinz Shanxi auf und erlebte die finalen Jahre der chinesischen Planwirtschaft. Und sie wird als Jugendliche Zeuge der wirtschaftlichen Öffnung, die auch bei ihrer Familie ankommt und den Lebensstandard schnell erhöht. In dieser Zeit zeigt Sun exzellente Ergebnisse bei der Hochschulzugangsprüfung (Gaokao) und entscheidet sich, Sportjournalismus in Beijing zu studieren.

    Von Chinas junger Generation erstaunt

    Praktischerweise stehen die Olympischen Spiele 2008 vor der Tür, bei denen die sportbegeisterte Sun als Freiwillige hilft. “Ich habe mich riesig auf die Spiele gefreut und man konnte spüren, wie stark China geworden ist.” Suns Begeisterung weicht jedoch schnell der Langweile, denn so richtig gebraucht werden die Massen an jungen Leuten nicht. Doch ihrer Liebe zum Sportjournalismus hat es keinen Abbruch getan. So oft es geht, berichtet sie noch heute von Sportereignissen, etwa über die Fußballweltmeisterschaft oder die Olympischen Spiele.

    Und auch Chinas wiedergewonnene Stärke betrachtet sie keinesfalls als Strohfeuer. Im Gegensatz zu Sun damals wächst Chinas junge Generation heute in einem selbstbewussten Staat auf. Chinas Schwäche hätten diese jungen Menschen nie kennengelernt, erklärt Sun. Und dennoch: Die Pandemie, die harten Lockdowns und die Proteste haben an diesem Bild der Stärke genagt. Und auch Sun hat ihren Blick verändert: “Ich hatte einen unzutreffenden Eindruck von der jüngeren Generation. Einige von ihnen sind viel kritischer und unabhängiger, als ich dachte.” Jonathan Lehrer

    • Gesellschaft
    • Zivilgesellschaft

    Personalie

    Navid Samadi hat im Januar den Posten des Chief Engineer Chassis Global bei Huawei in München übernommen. Im dortigen Automotive Engineering Laboratory des Tech-Konzerns ist Samadi verantwortlich für die Forschung und Entwicklung mechatronischer Fahrwerkssysteme, einschließlich Systemarchitektur, Software, elektronische Hardware, Mechanik und Systemverifizierung.

    Ändert sich etwas in Ihrer Organisation? Schicken Sie doch einen Hinweis für unsere Personal-Rubrik an heads@table.media!

    Dessert

    Voll gemüsig!

    很菜 – hěn cài! – “voll gemüsig!”

    Wie steht es um Ihre Chinesisch-Performance? Kräuseln sich die Schriftzeichen in Ihrer Birne wie Kopfsalat? Ist ihre Aussprache so knackig wie welke Wasserkastanien? Fühlen Sie sich schlaff wie ein altes Salatblatt, sobald Sie über dem Vokabelheft brüten? Und laufen Sie sofort tomatenrot an, wann immer sie ein paar mühsam eingeübte Satzfetzen stammeln? Dann glänzen Sie im nächsten Gespräch doch wenigstens, indem Sie ein gnadenlos ehrliches und höchst idiomatisches Resümee Ihres Lernstandes ziehen. Und zwar mit folgender authentischer Aussage: “Mein Chinesisch ist sehr gemüsig!” (我的中文很菜. Wǒ de Zhōngwén hěn cài.).

    Das Zeichen 菜 cài “Gemüse” lotst in China nämlich nicht nur Ernährungsbewusste zielsicher zu Grünzeug und anderem Pflanzlichen auf der Speisekarte. Es wird im chinesischen Internetjargon neuerdings auch als trendiges Adjektiv gebraucht, das signalisiert, dass man entweder in einem Metier ein Greenhorn ist oder eine Fähigkeit mehr schlecht als recht beherrscht. Der junge Vokabelsetzling ist ein Abkömmling des 菜鸟 càiniǎo “Gemüsevogel” – der chinesischen Slangversion für “Newbie”. Gemeint ist entweder ein blutiger Anfänger oder ein hoffnungslos Unfähiger. Andere anschauliche Ausdrücke für Neulinge sind im Chinesischen außerdem die “Neuhand” (新手 xīnshǒu) und die “Rohhand” (生手 shēngshǒu) oder jemand, bei dem “der Geruch der Muttermilch noch nicht getrocknet ist” (乳臭未干 rǔ xiù wèi gān), der also noch feucht oder grün hinter den Ohren ist, wie wir im Deutschen sagen würden.

    Das chinesische Gegenteil von “gemüsig” ist übrigens “rindig”, (abgeleitet von Rind, 牛 niú), also jemand, der es “voll drauf hat” oder etwas, das “erste Sahne ist”. Hier das Ziellob als kleine Motivation: “Dein Chinesisch ist wirklich sehr rindig!” (你的中文真的很牛, nǐ de Zhōngwén zhēnde hěn niú).

    Richtig rindig wird es dann aber, wenn man erkennt, dass im Umgangschinesischen noch viele andere Substantive einfach zu Adjektiven umfunktioniert werden können. Möglich machen das die fehlenden Wortklassenmarkierungen im minimalistischen Mandarin. Hier gibt es nämlich beispielsweise keine Deklinationsendungen. Und das führt dazu, dass eine neue Streamingserie “echt feurig” sein kann (这部网剧很火。 Zhè bù wǎngjù hěn huǒ. “Diese Streamingserie ist echt angesagt.” – 火 huǒ “Feuer”, als Adjektiv: “angesagt”) oder der neue Lehrer “total wässrig” (新老师太水了, xīn lǎoshī tài shuǐ le. “Der neue Lehrer ist sowas von unfähig.” – 水 shuǐ “Wasser”, als Adjektiv: “unfähig, miserabel”).

    Wer in solchen Fällen erst einmal wörtlich übersetzt, wird sicher seinen Spaß haben und ganz nebenbei noch mehr Vokabeln unerschütterlich im Gedächtnis verwurzeln. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, und doch ein großer Schritt für uns Sprachenlerner – und zwar auf dem Weg vom Gemüsevogel zum Chinesisch-Rind.

    Verena Menzel betreibt in Peking die Online-Sprachschule New Chinese.

    China.Table Redaktion

    CHINA.TABLE REDAKTION

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