die Realität in den festlandchinesischen Wirtschaftszentren entspricht nicht dem Bild, das Handelskrieg, Sanktionen und berechtigte Kritik an Menschenrechtsverletzungen suggerieren: Das sagt uns Rudolf Scharping in der neuen Ausgabe unseres CEO-Talks mit Frank Sieren. Deutsche Firmen vor Ort erwarten weiterhin sehr gute Geschäfte in dem Wachstumsmarkt. Scharping kennt die Lage im Land derzeit besonders gut: Trotz Pandemie verbringt er viel Zeit in der Volksrepublik, wo er eine Unternehmensberatung betreibt und daher entsprechend gute Kontakte unterhält. Er blickt mit erfrischendem Optimismus sowohl auf die internationalen Beziehungen als auch auf das Leben und Wirtschaften in China.
Einen echten Hemmschuh für ihre Geschäfte sehen Industrieunternehmen derzeit eher in der Verfügbarkeit von Zulieferteilen und günstigen Rohstoffen. Am Schnittpunkt beider Probleme setzt eine Initiative an, über die Christiane Kühl berichtet: China will sich von Chemieimporten für die Halbleiterproduktion unabhängig machen. Viele der nötigen Substanzen für die Herstellung von Chips kommen aus den USA, Japan oder Europa. Der Reflex, hier eigenständiger zu werden, ist verständlich. Doch Nachricht dieser Art bestätigen immer wieder den Trend zur Entkopplung der Volkswirtschaften. Also genau das wovor Scharping im Interview warnt.
Einen produktiven Start in die Woche wünscht
Der ehemalige SPD-Parteivorsitzende und Verteidigungsminister Rudolf Scharping (73) hat seit seiner Zeit im Kabinett Gerhard Schröder eine erfolgreiche Beratungsfirma mit Schwerpunkt China aufgebaut: die Rudolf Scharping Strategie, Beratung und Kommunikation AG (RSBK). Er veranstaltet jährlich einen hochkarätigen Chinakongress, der näher an den Unternehmen dran sein will als der Hamburg Summit. Auch in Zeiten von Corona-Quarantäne verbringt Scharping viel Zeit in China – zuletzt wieder vier Monate. Sie können sich die Langfassung unseres CEO-Talks auch im Video ansehen.
Wir stecken ja im Moment in einer schwierigen politischen Lage zwischen Europa und China. Was läuft da schief?
Läuft wirklich etwas schief? Also, die Beziehungen sind grundsätzlich sehr gut, haben ein sehr stabiles Fundament und auch eine sehr gute Perspektive. Man sollte sich von den Aufgeregtheiten der Tagespolitik nicht zu sehr beeinflussen lassen. Die große Richtung lautet Kooperation und marktwirtschaftlicher Wettbewerb. Auch, wenn es zum Teil harte Diskussionen über Sanktionen, Menschenrechte oder die Ratifizierung des Investitionsabkommens gibt. Natürlich muss man das alles diskutieren. Die Frage ist jedoch wo, durch wen und in welchem Zusammenhang.
Man muss dennoch feststellen, dass die Beziehungen seit 1989 nicht angespannter waren.
Ja, das ist schon richtig. Andererseits schaue ich mir die alltägliche Realität an, nicht begrenzt auf die politischen Diskussionen. Da wird schnell deutlich, dass einige versuchen, ein Bild zu malen, in dem sich neue Blöcke zementieren. Das entspricht jedoch nicht der Wirklichkeit. Die EU-Handelskammer hat vor ein paar Wochen eine Umfrage mit sehr erstaunlichen Ergebnissen veröffentlicht. Die europäischen Unternehmen vertrauen auf die Stabilität Chinas. Sie vertrauen auf die Chancen, die sich in China bieten. Und das in einem Maße, wie das nie zuvor der Fall gewesen ist. Das gilt übrigens auch für amerikanische Unternehmen, die hier so viel investieren wie noch nie zuvor in der Geschichte der amerikanisch-chinesischen Beziehungen.
Sie arbeiten viel mit chinesischen und deutschen Unternehmen zusammen. Machen sich Ihre Gesprächspartner Sorgen, dass sie unter die Räder harter politischer Auseinandersetzungen geraten?
Eher machen sie sich Sorgen, ob die politische Rhetorik auf mittlere Sicht ihren wirtschaftlichen Alltag beeinträchtigt. Nun wird deutlicher denn je: Wir brauchen einen an unsere Werte gebundenen Realismus. Mit Respekt vor dem anderen Wertegerüst, das es in China gibt. Keine der wirklich großen globalen Herausforderungen wird ohne oder gegen China besser gelöst als gemeinsam mit China.
Dieser Realismus kann doch nicht darin bestehen, dass wir das, was mit der Hongkonger Freiheitsbewegung gegenwärtig passiert oder mit den Minderheiten in Xinjiang, einfach so hinnehmen.
Selbstverständlich nicht. Wir sollten uns die Erklärung der Menschenrechte von 1949 genau anschauen. Dann sieht man, dass in China beispielsweise das Recht auf Leben ohne Not und Armut, ein Recht auf eine gute Gesundheitsversorgung, auf ein erfülltes und möglichst langes Leben, auf Zugang zu Bildung und Aufstiegschancen inzwischen weitgehend verwirklicht ist, in einem Maß, wie noch nie zuvor. Anderseits sind politische Rechte zum Teil noch nicht ausgeprägt. Sie werden sogar missachtet oder eingeschränkt. Doch selbst unabhängige amerikanische Umfragen in China zeigen, dass das Vertrauen der Chinesen in das politische System und die Regierung sehr hoch ist.
Können die Menschen das überhaupt realistisch einschätzen? Es gibt ja keine Medienfreiheit und die meisten Chinesen waren noch nie im Ausland?
Die Menschen jedoch wissen genau, wie sie vor 20 Jahren oder vor der Öffnung Chinas und seiner Reform gelebt haben und wie sie heute leben. Dazu brauchen sie keine Medien und keinen Auslandsaufenthalt. Vor der Pandemie waren übrigens weit über 100 Millionen Chines*innen im Ausland. Die vergleichen, die erzählen – und man sollte sich davor hüten zu glauben, nur, weil es in China zweifellos Zensur gibt, gäbe es keinen Austausch. Über Wechat und andere soziale Medien kommunizieren jede Minute hunderte Millionen Menschen miteinander.
Ein zensierter Austausch.
Man kann auch sagen: ein in bestimmten Grenzen freier Austausch, zumindest so frei wie nie zuvor in der chinesischen Geschichte, mit einer nie dagewesenen kulturellen Diversität, einem neuen Maß an wirtschaftlicher Freiheit und einer Mittelklasse von 400 bis 600 Millionen Menschen, je nachdem wie man rechnet. Was ist schlecht daran, dass die Lebenserwartung in den vergangenen 40 Jahren verdoppelt wurde?
Dennoch müssen die Chinesen aufpassen, über was sie sich austauschen.
Auch da gilt es zu differenzieren. Sie können ungestraft scharfe Witze über den Präsidenten Xi Jinping machen, die in der Form weder bei den Nationalsozialisten noch in der DDR möglich gewesen wären. In China wird das achselzuckend zur Kenntnis genommen, solange man nicht anfängt, die roten Linien zu berühren oder gar zu überschreiten. Dazu gehört das Ein-Parteienprinzip, die territoriale Integrität Chinas mit Tibet und Taiwan. Wenn man solche und andere rote Linien nicht überschreitet, dann ist das alltägliche Leben relativ sorgenfrei und relativ frei von Druck.
Das würde ja bedeuteten, Sie müssten als einer der einst führenden deutschen und europäischen Sozialdemokraten, einräumen, dass die KP, ihr historischer Rivale, der in diesem Jahr den 100. Gründungstag feiert, einen guten Job gemacht hat, vielleicht sogar einen besseren als die SPD?
Das sehe ich anders. In wichtigen Fragen: Was ist das Recht und die Rolle des Individuums in einer Gesellschaft, in einem politischen System? Was bedeutet das für die Freiheiten des Einzelnen? Wie werden diese rechtsstaatlich gesichert und so weiter? In solchen Fragen war die SPD immer freiheitlich und fortschrittlicher.
Dennoch treffen unsere klassischen Vorstellungen von kommunistischen Planwirtschafts-Diktaturen auf China nicht mehr zu. Die Reisefreiheit ist ein großer Unterschied. Allein in Deutschland studieren 44.000 junge Chinesinnen und Chinesen. Im Jahr 2019, also vor der Pandemie, sind weit über 100 Millionen Chinesen ins Ausland gereist. Die bringen persönliche Eindrücke mit, über die sie dann mit vielen anderen reden. Es sind zu viele, um sie zur Arabeske eines übermächtigen Systems zu machen, in denen Menschen Objekte einer planenden Bürokratie sind.
Wir sind klug beraten in westlichen Demokratien, uns damit auseinanderzusetzen, dass China ein in großen Teilen sehr eigenes politisches System entwickelt hat. Wir sollten verstehen, dass bis zum Ende der Kulturrevolution der einzelne Mensch in China Teil einer erdrückend planenden, die menschlichen Grundrechte zum Teil brutal missachtenden Bürokratie gewesen ist. Und, wenn man an den großen Sprung nach vorn denkt oder an die Schrecken der Kulturrevolution, dann finde ich, hat sich inzwischen etwas grundlegend geändert.
Allerdings ohne, dass die Verfassung je geändert wurde. Das ist doch seltsam?
Der faktische Gesellschaftsvertrag hat sich jedoch geändert. Die Reformpolitik von Deng Xiaoping ergänzte sehr chinesische Traditionen durch Pragmatismus, nicht alleine wirtschaftlich: Lasst uns unvoreingenommen herausfinden, was dient dem Fortschritt, dem Leben der Menschen in China besser. Ein Riesenschritt, auf dessen Ergebnissen die Menschen bestehen.
Es bleiben die vielen Schwächen des Systems.
Ohne jede Frage. Auch die chinesische Führung weiß: die wirklichen Herausforderungen für Chinas stabile Zukunft liegen in China selbst. Wie setzen wir uns also mit China auseinander? Wenn das eine Auseinandersetzung ist, die mit rhetorischer Schärfe eher das heimische Publikum erreichen will, dann ist das zu wenig, sogar gefährlich – wie jede Außenpolitik aus innenpolitischen Motiven.
Beschäftigten sich die deutschen Politiker zu wenig mit China?
Unsere Bundeskanzler, ob Helmut Kohl oder Helmut Schmidt, Willy Brandt, Gerhard Schröder oder Angela Merkel, haben sehr gut verstanden, wie man mit China erfolgreich umgeht und dass ihre chinesischen Counterparts eine andere Vorstellung davon haben, wie man einen durchaus auch kritischen Dialog führt.
Wie soll das gehen?
Man muss die kritischen Themen ansprechen, aber man sollte auch wissen, mit wem rede ich über was, in welchem Zusammenhang. Angela Merkel hat immer den Dialog mit Menschenrechtsaktivisten und Anwälten und anderen hier in China geführt. Die chinesische Führung wusste das. Sie hat das akzeptiert, weil nie öffentliches Theater darüber gemacht worden ist. Merkel wollte sich informieren und konkret helfen, aber nicht auftrumpfen.
Aber ist das nicht wirkungslos, wenn es nur hinter den Kulissen stattfindet?
Ist es das wirklich? Ich habe selbst die Erfahrung gemacht, wie sinnvoll es sein kann, sehr konsequent, aber auch diskret einzelnen Menschen zu helfen, die in China in Schwierigkeiten sind. Am Ende zählt das Ergebnis. Dann ist der Weg dahin zweitrangig.
Können Sie uns ein Beispiel geben?
Ich habe als junger Politiker in Rheinland-Pfalz immer wieder chinesische Delegationen zum Karl-Marx-Haus nach Trier begleitet. In dieser Zeit habe ich jemanden kennengelernt, der zu einem lebenslangen Freund wurde. Er war damals Sekretär des Ständigen Ausschusses, dem höchsten Führungsgremium der Partei. Nach der blutigen Niederschlagung der Protestbewegung 1989 verlor er alle Ämter. Ich habe dann deutlich gemacht, dass ich gerne nach China reise, wenn ich diesen Mann treffen kann.
Wurde Ihnen das nicht übel genommen?
Nein, im Gegenteil: Es hat Respekt geschaffen. Stabilität von persönlichen Beziehungen, Langfristigkeit und Verlässlichkeit, das alles spielt in China eine große Rolle. Und vor diesem Hintergrund habe ich dann nach 2000 eine ganze Zahl von Menschen wiedergetroffen, die das erstens wussten, zweitens respektierten und drittens deswegen auch ein gewisses Maß an Vertrauen zu mir entwickelt hatten: nach dem Motto, er ist kein Opportunist, weiß gleichzeitig, wie er Kritik platziert, ohne jemandem grob ins Gesicht zu fassen und er ist langfristig an China und den Beziehungen zu Deutschland interessiert.
Wer war der wichtigste unter denen?
Als Verteidigungsminister habe ich unter anderem den Staats- und Parteichef Jiang Zemin getroffen, mit ihm ein sehr interessantes Gespräch gehabt. Ursprünglich war es nur als formeller diplomatischer Austausch gedacht, der Höflichkeit dem damaligen Präsidenten der europäischen Sozialdemokraten geschuldet, von Parteichef zu Parteichef gewissermaßen. Es wurde dann aber ein Dialog und es gab auch konkrete Vereinbarungen, nämlich einen sicherheitspolitischen Dialog auf verschiedenen Ebenen. Und das folgte einer Linie, von der ich denke, dass es klug ist, nämlich immer wieder sich darum zu bemühen, China so gut wie möglich zu einer konstruktiven Politik innerhalb der globalen Institutionen und bei den globalen Herausforderungen zu bewegen.
Dazu zählen Sie sicher auch das EU-China Investitionsabkommen. Ist es nicht zu nachgiebig gegenüber China?
Nein. Im Gegenteil. Es ist ein Ausgangspunkt für ein besseres, gleichberechtigtes Wettbewerbsumfeld, bessere Zugänge zu den Märkten und gleichzeitig solide Grundlagen für eine internationale Arbeitsteilung. Kurz: Eine Win-win-Situation.
Das EU-Parlament sieht das anders.
Ich denke, dass auch das Europäische Parlament am Ende des Tages das so sehen wird. Ich hoffe jedenfalls, dass der Vertrag ratifiziert wird. Sanktionen sind da nicht konstruktiv, egal von welcher Seite. Diejenigen, die gegenwärtig raten, sich aufs Wesentliche konzentrieren und die Entwicklungsperspektiven nicht aus den Augen zu verlieren, haben recht.
Muss man nicht auch einmal deutlich Stopp rufen in Richtung Peking angesichts der Entwicklungen in Xinjiang und Hongkong, statt weiter Business-as-usual zu machen?
Ja, natürlich. Deshalb spreche ich ja von wertebasiertem Realismus und von einem Dialog, der das Ganze im Auge behält. Wir Europäer sollten das Abkommen mit China im Kontext sehen von zwei anderen großen Handelsabkommen, die China 2020 abgeschlossen hat; einmal mit den USA, zum zweiten zur Gründung der größten Freihandelszone der Welt – mit Australien, Neuseeland, Japan und anderen Demokratien. Nur Europa hat es geschafft, soziale und andere menschenrechtliche Standards in das Abkommen hinein zu verhandeln.
Gibt es einen Systemwettbewerb zwischen China und Europa?
Natürlich gibt es einen Wettbewerb. Ist das ein Wettbewerb von Systemen? Da habe ich so meine Zweifel, weil das eine gewisse Starrheit der Systeme voraussetzt, die ich nicht sehe. In China nicht und in Europa auch nicht. Deshalb ist die Frage wichtig, wie anpassungsfähig ist ein System und was eigentlich sind seine Grundlagen? Ich habe in meinem langen politischen und dann in meinem unternehmerischen und wirtschaftlichen Leben eins gelernt: Systemkämpfe fördern die Starrheit auf beiden Seiten und verhindern Innovation und Wandel. Wir selbst müssen fortschrittlich bleiben.
Das tun Sie inzwischen mit ihrer eigenen Unternehmensberatung. Wie war der Umstieg vom Politiker zum Unternehmer? Das ist ja in Deutschland keinem anderen Kollegen von Ihnen in diesem Umfang gelungen.
Meine politische Erinnerung zu verwalten und sie zu Vorträgen als Professor in USA zu verarbeiten, erschien mir nicht herausfordernd genug. Also lag es nahe, ein wenig Geld in die Hand zu nehmen und ein Unternehmen aufzubauen, das hilfreich ist in dem Zukunftsmarkt China.
Was ist in der Wirtschaft anders als in der Politik?
Der Weg zum Erfolg ist in der Politik viel verwinkelter. Und der Erfolg hat dann entsprechend viele Väter und Mütter. In der Wirtschaft ist der Weg gradliniger und damit auch transparenter, wer den Erfolg erwirtschaftet hat.
Ihr Tipp für Unternehmen auf dem Weg nach China?
Ein stabiles Fundament zu Hause, verbunden mit Weltoffenheit und einer klaren Strategie.
Und für die Konzerne?
Ein europäischer Automobilbauer zum Beispiel kommt nicht mehr daran vorbei, wie sich der größte Markt der Welt entwickelt, auch, wenn wir andere Vorstellungen haben. Also macht es Sinn, sich über diese verschiedenen Vorstellungen sehr intensiv und mit dem Ziel gemeinsamer Lösung ständig zu unterhalten, zum Beispiel bei den Antriebstechnologien, beim autonomen Fahren, bei der Nutzung künstlicher Intelligenz. Wir Europäer sind am Ende die Leittragenden, sollte sich die Welt in zwei technologische Welten aufteilen. Nur Ideologen haben daran viel Freude.
Wo brauchen Sie als Unternehmer die Politik?
Natürlich brauchen Unternehmer generell die Politik für eine verlässliche Gesetzgebung, ein stabiles geopolitisches Umfeld. Aber die Politik schafft nicht nur Spielraum für Unternehmen, sondern muss auch für den sozialen Ausgleich und die Lebensgrundlagen sorgen. Sie stützt Arbeitnehmerinteressen und schützt die kleinen Unternehmen vor den Konzernen, die dazu neigen, Monopole zu bilden. Das Ringen um den besten Weg können wir derzeit auch in China beobachten.
Viel ist in diesen Zeiten die Rede vom Chipmangel und den Herausforderungen für die global vernetzte Halbleiter-Industrie in einer Welt geopolitischer Spannungen. Kaum ein Produkt hat eine ähnlich komplexe, hochtechnologische Lieferkette wie Halbleiter, deren Vorprodukte aus einer Vielzahl von Ländern angeliefert werden.
Ein wichtiger Teil dieser Kette sind Chemikalien: Der Produktionsprozess für Chips von der Wafer-Herstellung bis zur sachgemäßen Verpackung benötigt rund 400 verschiedene Chemikalien und Materialien, schrieben John Lee und Jan-Peter Kleinhans im Juni in einer Studie des Mercator Institute for China Studies (MERICS) und der Stiftung Neue Verantwortung. Zu diesen gehören Grundstoffchemikalien, Spezialchemikalien, Verbundstoffe oder Flüssiggase. “Diese Materialien stammen aus der ganzen Welt und sind in der Regel hoch entwickelt”, erklärt Christopher Thomas, Experte an der amerikanischen Brookings Institution. “Kein Land besitzt in dieser komplexen Halbleiter-Wertschöpfungskette echte Unabhängigkeit.”
China sieht sich allerdings unter Druck, möglichst große Teile der Halbleiter-Industrie zu lokalisieren, um Lieferengpässe zu vermeiden. Ein Grund ist Corona, das Lieferprobleme schafft. Ein weiterer Grund sind Kontrollmaßnahmen der USA. Der größte Teil der Chemikalien für Halbleiter werde derzeit aus den USA und Taiwan importiert, so Brancheninsider in Peking. Es sei zwar ein Geschäft mit guten Gewinnmargen. US-Lieferanten relevanter Chemikalien für Exporte nach China müssen jedoch eigens eine Lizenz beantragen.
Zu den kontrollierten Waren gehören beispielsweise Ätzgase, Fotolacke oder Fotomasken. Die Bürokratie für die Einfuhr aus Amerika ist mühsam und führt zu Chinas Wunsch nach Unabhängigkeit von solchen Lieferungen.
Die Volksrepublik investiert daher massiv in den Aufbau der gesamten Wertschöpfungskette der Chip-Industrie. Derzeit produziert das Land weniger als 20 Prozent seiner benötigten Halbleiter selbst (China.Table berichtete); Chinas Firmen können bisher technologisch in keinem Produktionsschritt mit den Weltmarktführern des Sektors mithalten.
Die Anforderungen dieses Segments sind indes extrem hoch, vor allem bei Stoffen für die Produktion der Wafer, die das Herz der Halbleiter sind. Die Chipindustrie benötigt dafür ultra-reine Nasschemikalien wie Säuren, Lösungsmittel, Oxidationsmittel und Basen – etwa Oxid-Ätzmittel oder Fotolacke mit einer maximalen Verunreinigung von deutlich unter 100 Teilen pro Billion (ppt). Praktisch jedes bekannte Gas wird in Reinform gebraucht: Sauerstoff, Stickstoff, Kohlenstoffdioxid und Wasserstoff, ebenso wie Edel- und Spezialgase wie Helium oder Argon. All diese Materialien werden laut Lee und Kleinhans vor allem von globalen Platzhirschen wie BASF, Dupont, Air Liquide and Shin-Etsu geliefert.
Etwas geringere Reinheitsgebote bestehen für Materialien, die für Zusammensetzung oder Verpackung der fertigen Halbleiter gebraucht werden – etwa organische Substrate, Keramikgehäuse, Harze und Verbindungsdrähte. Lee und Kleinhans erwarten, dass chinesische Firmen vor allem in diesem Bereich in den kommenden Jahren eine größere Rolle spielen und ihren Weltmarktanteil steigern könnten. “Für Hochleistungsmaterialien, die in der hochmodernen Waferherstellung verwendet werden, sind die Markteintrittsbarrieren dagegen erheblich. Es ist unwahrscheinlich, dass chinesische Anbieter in den nächsten 10 Jahren erfolgreich in dieses Marktsegment einsteigen und internationale etablierte Unternehmen herausfordern können.”
Nichtsdestotrotz genießen hochreine Stoffe, Fotolacke und Fotomasken-Materialien hohe Priorität in den Förderplänen der Regierung vom 14. Fünfjahresplan bis hinunter zu verschiedenen regionalen Halbleiter-Entwicklungsstrategien. Hinzu kommen Pläne für komplexe Verbundmaterialien wie Siliziumkarbid und Galliumnitrid.
Regierungen und Firmen arbeiten dabei teilweise gezielt zusammen. Das Chemieunternehmen Suzhou Crystal Clear Chemical etwa gründete nach einem Bericht des Fachmagazins Japan Chemical Daily gemeinsam mit der Stadtregierung von Suhzhou einen 1,5 Milliarden Yuan (195 Millionen Euro) schweren Fonds zum Aufbau einer Materialbasis für Halbleiter und Flüssigkristallbildschirme (LC-Displays), zu dem es selbst nur 30 Prozent beitrug. Weitere Einzahlungen kamen von anderen Regierungsebenen.
Suzhou Crystal will dort unter anderem Wasserstoffperoxid in Halbleiterqualität, Ammoniaklösung und verschiedene Schutzlacke produzieren. Im Dezember 2020 hatte das Unternehmen nach Angaben des Magazins die Anlagen der ersten Phase für die Produktion von 30.000 Tonnen hochreiner Chip-tauglicher Schwefelsäure fertiggestellt und dafür Technologie von Mitsubishi Chemical genutzt. Und erst im Juni kündigte Suzhou Crystal an, sich auch in der Provinz Hubei an einer ähnlichen Initiative zu beteiligen – dem Hubei Yangtze River Economic Belt Industry Fund, mit dem die Zentralregierung den Aufbau von Halbleiter-Standorten entlang des Yangzi fördert, mit einem Volumen von drei Milliarden Yuan (knapp 400 Millionen Euro). Es wird also viel Geld in die Hand genommen.
Ein ähnliches Beispiel ist der Chemiekonzern Juhua-Group, der gemeinsam mit dem staatsnahen China Integrated Circuit Industry Investment Fund (CICIIF) Halbleiterchemikalien entwickelt. Das Juhua-Tochterunternehmen Grandit produziert dazu Nasschemikalien wie Fluorwasserstoff und Schwefelsäure sowie elektronische Materialgase. Juhua-Chairman Hu Zhongming sagte der Japan Chemical Daily im November 2020, dass sein Unternehmen mit zwei japanischen Firmen zusammenarbeite, um von diesen Partnern alles über Halbleiterchemikalien zu lernen. Auch die staatliche Sinochem Group will Halbleiterchemikalien zu einer neuen Umsatzsäule entwickeln – mit einem Konzernunternehmen in der Stadt Lianyungang. Die Stadt unterstützt Sinochem unter anderem durch die Bereitstellung von Land.
Lee und Kleinhans erwarten, dass solche Zulieferer durchaus von den enormen Finanzmitteln für die Halbleiterindustrie profitieren werden, “ebenso wie von den Bemühungen regionaler Regierungen zur Förderung der Materialproduktion und deren Integration mit anderen Segmenten der Chip-Wertschöpfungskette – insbesondere in Shanghai, dem vielversprechendsten Zentrum der chinesischen Halbleiterindustrie.”
Um die relevanten Akteure zusammenzubringen, entstand bereits 2015 die China Electronic Chemical Materials Alliance, die inzwischen mehr als 60 Mitgliedsorganisationen hat, darunter die Tsinghua-Universität, der Panel-Hersteller BOE Technology Group und das Chemie-Institut der Chinesischen Akademie der Wissenschaften. Das Engagement von Bildungsinstitutionen in dem Sektor ist aus Sicht der Verantwortlichen immens wichtig. Denn auch im Bereich der Halbleiter-Materialien fehlt es China an gut ausgebildeten Fachkräften. Der Weg zur Chip-Unabhängigkeit ist also noch weit.
Die US-Börsenaufsicht SEC hat höhere Hürden für Börsengänge chinesischer Unternehmen eingezogen. Der Regulator reagiert damit auf anhaltende Probleme und stark schwankende Kurse der China-Werte. Zunächst hatte der damalige US-Präsident Donald Trump die Finanzierung von vermeintlich gefährlichen Konzernen aus dem Reich der Mitte untersagt und damit Papiere wie China Mobile in Bedrängnis gebracht. Die nächste Attacke kam aus der entgegengesetzten Richtung: Die Regierung in Peking nimmt zurzeit ihre eigenen Technikfirmen an die Kandare. Sie hat immer wieder Pläne von Firmen wie Didi Chuxing torpediert, die sich an internationalen Handelsplätzen mit Kapital versorgen (China.Table berichtete). Die SEC verlangt jetzt, dass Börsenkandidaten ihre Beteiligungsstrukturen offenlegen. Sie sollen zudem drohende Risiken durch Eingriffe chinesischer Regulatoren klar benennen. fin
China verzeichnet einen schnellen Anstieg der Infektionszahlen mit Sars-CoV-2. Als Grund nennen die Behörden die höhere Ansteckungsrate der Delta-Mutation. “Die Herausforderungen der Prävention und Kontrolle werden noch größer werden”, zitiert die Nachrichtenagentur AFP den Sprecher der Nationalen Gesundheitskommission. Besonders im Fokus steht derzeit ein Ausbruch in der Großstadt Nanjing. Fast alle neuen Fälle gehören hier zur gleichen Infektionskette, berichtet die Nachrichtenagentur Xinhua. Das habe sich gezeigt, als Forscher die Erbinformation zahlreicher Proben verglichen haben. Während die herkömmlichen Maßnahmen also Ansteckungen wirksam verhindern, kann sich Delta selbst unter den strikten Bedingungen in China verbreiten. Für den Monat Juli zählt das Land 328 Coronavirus-Fälle. Das sind so viele wie in den fünf Monaten davor zusammen. Aus 14 der 33 Provinzen und Verwaltungsregionen wurde am Samstag einen Anstieg der Fallzahlen gemeldet.
China impft inzwischen auch Schülerinnen und Schüler, um die Immunität in der Bevölkerung hochzutreiben. Die Gesundheitsbehörden haben bereits über 1,5 Milliarden Dosen verabreicht. In Nanjing und in Changsha sollen Massentests verborgene Infektionsnester aufspüren. China nimmt den Kampf gegen Delta sehr ernst (China.Table berichtete). fin
Die FDP-Fraktion im Bundestag fordert eine Nachverhandlung des EU-Investitionsabkommens mit China (CAI). Der Vertragstext sei “unausgereift” und weise “große inhaltliche Defizite” auf, gibt die Süddeutsche Zeitung ein Papier der Fraktion wider. Die FDP-Fraktion fordert demzufolge Nachschärfungen in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Abbau von Wettbewerbsverzerrungen, Marktzugang und Menschenrechte. Das Papier geht auf die menschenrechtliche Sprecherin der Fraktion, Gyde Jensen, sowie die Wirtschaftspolitikerin Sandra Weeser zurück. Die Fraktion kritisiert darin, dass sich ausländische Unternehmen, Investoren und Bürger in China nicht auf einen unabhängigen rechtsstaatlichen Schutz verlassen können.
Kritisiert wird auch, dass es keinen “rechtlichen Durchsetzungsmechanismus” für die von Peking im CAI versprochene Marktöffnung gäbe. Auch solle die EU-Kommission auf die Durchsetzung von internationalen Regeln zum Schutz vor Zwangsarbeit drängen. Die FDP-Fraktion kritisiert auch die NGO-Klausel des Investitionsabkommens, derzufolge sich China offen hält, künftig die Vorgabe zu machen, dass ausländische Non-Profit-Organisationen im Land nur von chinesischen Staatsbürger:innen geführt werden dürfen (China.Table berichtete exklusiv).
Das CAI liegt seit einigen Monaten auf Eis. Die Ratifizierung des Abkommens wurde vorerst ausgesetzt, nachdem Peking Sanktionen unter anderem gegen Abgeordnete des Europäischen Parlaments, das Mercator Institut für China Studien (MERICS) und mehrere Wissenschaftler:innen verhängt hatte. nib
Der CDU-Abgeordnete Philipp Amthor ist dem Nachrichtenmagazin “Der Spiegel” zufolge in einen Spendenskandal mit der chinesischen Video-App Tiktok verwickelt. Amthor soll von der Deutschland-Tochter des Unternehmens kleinere Zuwendungen für ihm nahestehende Organisationen erbeten und zum Teil auch erhalten haben. Der CDU-Politiker weist die Vorwürfe dem Magazin gegenüber als sachlich falsch zurück: Es sei nicht um eine Spende gegangen, sondern um Sponsoring.
Tiktok hat dem Bericht zufolge das Usedomer Musikfestival mit einer Spende gefördert. Das Festival findet in Amthors Wahlkreis statt und dient dem jungen Politiker als Bühne für politische Arbeit. Der Politiker gab auf Anfrage des “Spiegel” zu, Tiktok aktiv um den Beitrag für die Veranstaltung gebeten zu haben. Wenig später fanden wohl zudem Gespräche über eine diskrete Hilfe von Tiktok für die Junge Union statt, die formal über eine Berliner Agentur abgewickelt werden sollte. Beteiligte Mitarbeitende bei Tiktok und der Agentur bestanden jedoch auf einem Rückzieher, weil ihnen eine diese Art der verdeckten Unterstützung für eine Partei nicht geheuer war.
Tiktok Deutschland versucht derzeit, sein Image aufzubessern. In den vergangenen Jahren hatte der Betreiber der Video-App unter kritischen Medienberichten und Politiker-Äußerungen gelitten. Das Unternehmen hat daher zuletzt gezielt Kontakt zu Entscheidern gesucht. Tiktok-Lobbyist Gunnar Bender schrieb in einer E-Mail, aus der der “Spiegel” zitiert: Es sei darum gegangen, die Gesprächspartner dazu zu bewegen, “uns in verschiedenen Kreisen nicht weiter zu kritisieren”. Das hat offenbar gewirkt, jedenfalls hat Amthor nach Darstellung des “Spiegel” seine anfänglich kritische Haltung gegenüber der Plattform aufgegeben.
Tiktok ist vor allem bei Teenagern beliebt. Die extrem erfolgreiche App gehört der Pekinger Firma Bytedance, besteht aber auf Auslandsmärkten darauf, kein chinesisches Unternehmen zu sein. Begründung: Der in China angebotene Dienst Douyin laufe geschäftlich und technisch sauber getrennt. Außerdem ist den chinesischen Eignern und den internationalen Ablegern eine Gesellschaft auf den Kaimaninseln zwischengeschaltet. fin
Dem ersten Schuldspruch auf Basis des Nationalen Sicherheitsgesetzes folgte Ende vergangener Woche ein hartes Urteil. Ein Gericht in Hongkong verhängte eine neunjährige Haftstrafe gegen einen jungen Mann namens Tong Ying-kit, der mit seinem Motorrad in eine Gruppe von Polizisten gerast war und dabei drei Menschen verletzt hatte. Weil bei der Amokfahrt auf seinem Motorrad eine Flagge mit der Aufschrift “Liberate Hong Kong, Revolution of our times” montiert war, wertete die Staatsanwaltschaft den Angriff als Anstiftung zur Sezession und terroristischen Akt. Die Richter folgten der Argumentation.
Der Slogan war während der Massenproteste 2019 gegen den wachsenden politischen Einfluss der Volksrepublik China unter der pro-demokratischen Bewegung der Stadt populär und durch die Einführung des Sicherheitsgesetzes im Juli 2020 schließlich verboten worden. Das Gesetz ahndet Vergehen, die als aufrührerische Aktivitäten gegen den Staat gelten. Dazu zählen neben Sezession und Terrorismus auch Untergrabung der Staatsgewalt und verschwörerische Kollaboration mit ausländischen Kräften. Implementiert hatte das Gesetz der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses in Peking als Reaktion auf die anhaltenden Proteste. Zu der Tat war es nur wenige Stunden nach Inkrafttreten des neuen Rechtsrahmens gekommen.
Zurzeit sitzen 47 Politiker:innen und Aktivist:innen in Haft, denen allesamt eine Verschwörung gegen den Staat vorgeworfen wird, und warten auf ihren Prozess. Juristen beklagen, dass das Sicherheitsgesetz nur vage formuliert ist und den Behörden eine willkürliche Rechtsprechung gegen politischen Dissens ermöglicht. Zudem übe die Volksrepublik China großen Druck auf die Hongkonger Justiz aus, Urteile in ihrem Sinne zu sprechen. Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam bestreitet die Einflussnahme. grz
Als Bundeskanzlerin Angela Merkel vor vier Jahren Jan Hecker zu ihrem außenpolitischen Chefberater machte, war das schon eine Überraschung. Denn sie hatte den wichtigsten Posten der Außenpolitik mit jemandem besetzt, der auf dem internationalen Parkett nicht sonderlich erfahren war. Hecker war bis dahin durch und durch Innenpolitiker. Als Leiter des Koordinierungsstabs Flüchtlingspolitik hatte er allenfalls am Rande mit außenpolitischen Fragen zu tun. Mit der Personalie Hecker hat die Kanzlerin zu Jahresbeginn erneut überrascht, als durchsickerte, dass der 55-Jährige neuer Botschafter der Bundesrepublik in Peking werden soll. Voraussichtlich in den nächsten Wochen wird er sein neues Amt antreten.
Geboren in Kiel, studierte Jan Hecker Jura und Politikwissenschaften in Freiburg, Grenoble und Göttingen. Nach seinem zweiten Staatsexamen arbeitete er als Rechtsanwalt bei den renommierten Kanzleien Freshfields Bruckhaus Deringer und Hengeler Mueller, bevor er 1999 ins Bundesinnenministerium wechselte. Dort war er vor allem für polizei- und verfassungsrechtliche Fragen zuständig, lernte aber Peter Altmaier kennen, der zwischen 2005 und 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Innenministerium war.
Zwischenzeitlich habilitierte Hecker an der Juristischen Fakultät der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. 2011 wurde er Richter am Bundesverwaltungsgericht in Leipzig. Als Altmaier 2015 Kanzleramtschef wurde, holte er Jan Hecker zu sich ins Kanzleramt und setzte ihn im Krisensommer als Leiter des neu geschaffenen Koordinierungsstabs Flüchtlingspolitik ein. Im Jahr 2017 machte die Kanzlerin Hecker schließlich zu ihrem wichtigsten außenpolitischen Berater. Hecker übernahm von seinem Vorgänger Christoph Heusgen als Ministerialdirektor die Leitung der Abteilung Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik. Nun folgt also seine Ernennung zum Deutschen Botschafter in Peking.
Anders als seine Vorgänger Clemens von Götze, der drei Jahre Botschafter in Peking war, und Michael Clauss, der den Posten bis 2018 fünf Jahre bekleidet hat und nun als Chef-Diplomat in Brüssel die China-Politik prägt, hat Hecker keine klassische diplomatische Laufbahn hinter sich. Für Deutschland ist das eher ungewöhnlich.
Doch der Posten des Botschafters in Peking wird im Kanzleramt inzwischen als einer der wichtigsten Außenposten der Bundesregierung betrachtet. Dass Merkel diesen Posten mit einem ihrer engsten Mitarbeiter der vergangenen Jahre besetzt, zeigt, welchen Stellenwert sie der Volksrepublik auch künftig beimisst. Und vielleicht will sie mit dieser Personalentscheidung für eine gewisse Kontinuität in der deutschen China-Politik nach ihrem bevorstehenden Abgang als Kanzlerin sorgen. Die Devise: bloß nicht zu viel Konfrontation. Felix Lee
Sabine Gusbeth wird als neue Korrespondentin für das Handelsblatt aus China berichten. Zuvor war sie Chefreporterin bei dem Finanzmagazin €uro. Gusbeth verstärkt vor Ort als zweite Korrespondentin Dana Heide.
Wang Lei wird Marketingleiter des Musikdienstes Kugou, der zur Tencent Music Entertainment Group (TME) gehört. Er berichtet an Liu Xiankai, der neben seiner Aufgabe als Leiter der Werbe-Sparte von TME auch Sales-Vorstand bei Kugou wird.
Der Oolong-Tee kommt in die Tasse, ganz klar. Aber ein “Oolong-Ball”? Der kommt natürlich ins Tor, allerdings leider ins Falsche! “Oolong-Ball” 乌龙球 wūlóngqiú beziehungsweise “Oolong-Tor” ist nämlich die gängige chinesische Bezeichnung für “Eigentor”. Land der Teetrinker hin oder her, was bitte haben fermentierte Teeblätter mit Ballsport zu tun? Nun, das hat China der Kreativität seiner Hongkonger Fußballfans zu verdanken. Die nämlich erinnerte der englische Begriff “own goal” lautlich an das chinesische Wort “wūlóng”. Und da es im Raum Hongkong-Guangdong just den regionalen Ausdruck 摆乌龙 bǎi wūlóng für “etwas vermasseln” gibt (wörtlich “Oolong schwenken”), brachten die Ballsportfreunde kurzerhand beides zusammen und tauften das Eigentor “Oolong-Tor”, ein “Vermasseltor” also.
Doch das “Teetor” ist längst nicht der einzige unterhaltsame chinesische Ballsportbegriff, den man sich in den Olympiawochen merken sollte. Zunächst einmal muss festgehalten werden, dass Chinesen streng zwischen “kleinballigen” und “großballigen” Sportarten (小球 xiǎoqiú und 大球 dàqiú) unterscheiden. Zu den ersteren gehören unter anderem Chinas Paradedisziplinen Tischtennis und Badminton, aber auch Tennis, Golf, Hockey, Eishockey, Billard und nicht zu vergessen “Wandball” (壁球 bìqiú), in unseren Breiten als Squash bekannt. Zu den “Großballdisziplinen” werden unter anderem Fußball, Basketball, Volleyball, Handball, Bowling und “Olivenball” (橄榄球 gǎnlǎnqiú), sprich Rugby gezählt.
Wer eine chinesische Fußballübertragung verfolgt, sollte nicht aus allen Wolken fallen, wenn plötzlich ein “Zwölfer” vergeben wird. Denn 十二码球 shíèrmǎ-qiú, wörtlich “Zwölf-Yard-Ball”, ist im Chinesischen (neben 点球 diǎnqiú “Punktball” und dem umgangssprachlichen 杀人球 shārénqiú “Killerball”) eine der üblichen Bezeichnungen für Elfmeter. Das liegt ganz einfach daran, dass die Chinesen hier in Yard und nicht in Metern rechnen. Und zwölf Yard (12 x 0,9114 Meter) ergeben eben knapp elf Meter, passt also.
Natürlich kommen chinesische Ballsport-Kommentatoren im Land der Feinschmecker auch um eine gewisse Essensmetaphorik nicht umhin. Versorgt jemand im Match seine Mitspieler mit guten Pässen beziehungsweise im Training mit passgenau zugespielten Bällen, so heißt das auf Chinesisch “Bälle füttern” (喂球 wèi qiú). Verpasst man dem Gegner dagegen unhaltbare Bälle, so lässt man ihn “Bälle essen” 吃球 chī qiú. Am besten geschieht letzteres wiederum – zum Beispiel im Badminton oder Tischtennis – indem man den “Ball tötet” 杀球 shāqiú – das ist das chinesische Synonym für “schmettern”.
Läuft es im Team mal nicht so rund – egal ob nun im Sport oder anderswo – ist es erfahrungsgemäß wenig hilfreich, sich gegenseitig “den Lederball zuzukicken” 踢皮球 tī píqiú, auf Deutsch: einander den schwarzen Peter zuzuschieben. Und wer weiß, am Schluss kann vielleicht ein Kanten- oder Linienball 擦边球 cābiānqiú (wörtlich “Randschrammball”) das entscheidende Quäntchen in die Waagschale zwischen Sieg und Niederlage werfen. Manchmal gilt das auch für das reale Leben. Hier nämlich ist der Begriff “einen Kantenball spielen” 打擦边球 dǎ cābiānqiú eine gängige Metapher dafür, sich am Rande der Legalität durchzumogeln, zum Beispiel, indem man bestehende Schlupflöcher ausnutzt.
Wem jetzt vor lauter neuen Vokabeln schon die Bälle im Kopf herumschwirren, kann sich für den Anfang mit einem leicht zu merkenden, authentischen Anfeuerungsausspruch begnügen, nämlich “guter Ball!” 好球 hǎoqiú! Ins Deutsche übertragen heißt das “Bombenschuss” oder ganz einfach “Bravo!” Dem nächsten gemeinsamen Ballsport- oder Olympiaabend mit chinesischen Freunden steht also nichts mehr im Wege.
Verena Menzel betreibt in Peking die Online-Sprachschule New Chinese.
die Realität in den festlandchinesischen Wirtschaftszentren entspricht nicht dem Bild, das Handelskrieg, Sanktionen und berechtigte Kritik an Menschenrechtsverletzungen suggerieren: Das sagt uns Rudolf Scharping in der neuen Ausgabe unseres CEO-Talks mit Frank Sieren. Deutsche Firmen vor Ort erwarten weiterhin sehr gute Geschäfte in dem Wachstumsmarkt. Scharping kennt die Lage im Land derzeit besonders gut: Trotz Pandemie verbringt er viel Zeit in der Volksrepublik, wo er eine Unternehmensberatung betreibt und daher entsprechend gute Kontakte unterhält. Er blickt mit erfrischendem Optimismus sowohl auf die internationalen Beziehungen als auch auf das Leben und Wirtschaften in China.
Einen echten Hemmschuh für ihre Geschäfte sehen Industrieunternehmen derzeit eher in der Verfügbarkeit von Zulieferteilen und günstigen Rohstoffen. Am Schnittpunkt beider Probleme setzt eine Initiative an, über die Christiane Kühl berichtet: China will sich von Chemieimporten für die Halbleiterproduktion unabhängig machen. Viele der nötigen Substanzen für die Herstellung von Chips kommen aus den USA, Japan oder Europa. Der Reflex, hier eigenständiger zu werden, ist verständlich. Doch Nachricht dieser Art bestätigen immer wieder den Trend zur Entkopplung der Volkswirtschaften. Also genau das wovor Scharping im Interview warnt.
Einen produktiven Start in die Woche wünscht
Der ehemalige SPD-Parteivorsitzende und Verteidigungsminister Rudolf Scharping (73) hat seit seiner Zeit im Kabinett Gerhard Schröder eine erfolgreiche Beratungsfirma mit Schwerpunkt China aufgebaut: die Rudolf Scharping Strategie, Beratung und Kommunikation AG (RSBK). Er veranstaltet jährlich einen hochkarätigen Chinakongress, der näher an den Unternehmen dran sein will als der Hamburg Summit. Auch in Zeiten von Corona-Quarantäne verbringt Scharping viel Zeit in China – zuletzt wieder vier Monate. Sie können sich die Langfassung unseres CEO-Talks auch im Video ansehen.
Wir stecken ja im Moment in einer schwierigen politischen Lage zwischen Europa und China. Was läuft da schief?
Läuft wirklich etwas schief? Also, die Beziehungen sind grundsätzlich sehr gut, haben ein sehr stabiles Fundament und auch eine sehr gute Perspektive. Man sollte sich von den Aufgeregtheiten der Tagespolitik nicht zu sehr beeinflussen lassen. Die große Richtung lautet Kooperation und marktwirtschaftlicher Wettbewerb. Auch, wenn es zum Teil harte Diskussionen über Sanktionen, Menschenrechte oder die Ratifizierung des Investitionsabkommens gibt. Natürlich muss man das alles diskutieren. Die Frage ist jedoch wo, durch wen und in welchem Zusammenhang.
Man muss dennoch feststellen, dass die Beziehungen seit 1989 nicht angespannter waren.
Ja, das ist schon richtig. Andererseits schaue ich mir die alltägliche Realität an, nicht begrenzt auf die politischen Diskussionen. Da wird schnell deutlich, dass einige versuchen, ein Bild zu malen, in dem sich neue Blöcke zementieren. Das entspricht jedoch nicht der Wirklichkeit. Die EU-Handelskammer hat vor ein paar Wochen eine Umfrage mit sehr erstaunlichen Ergebnissen veröffentlicht. Die europäischen Unternehmen vertrauen auf die Stabilität Chinas. Sie vertrauen auf die Chancen, die sich in China bieten. Und das in einem Maße, wie das nie zuvor der Fall gewesen ist. Das gilt übrigens auch für amerikanische Unternehmen, die hier so viel investieren wie noch nie zuvor in der Geschichte der amerikanisch-chinesischen Beziehungen.
Sie arbeiten viel mit chinesischen und deutschen Unternehmen zusammen. Machen sich Ihre Gesprächspartner Sorgen, dass sie unter die Räder harter politischer Auseinandersetzungen geraten?
Eher machen sie sich Sorgen, ob die politische Rhetorik auf mittlere Sicht ihren wirtschaftlichen Alltag beeinträchtigt. Nun wird deutlicher denn je: Wir brauchen einen an unsere Werte gebundenen Realismus. Mit Respekt vor dem anderen Wertegerüst, das es in China gibt. Keine der wirklich großen globalen Herausforderungen wird ohne oder gegen China besser gelöst als gemeinsam mit China.
Dieser Realismus kann doch nicht darin bestehen, dass wir das, was mit der Hongkonger Freiheitsbewegung gegenwärtig passiert oder mit den Minderheiten in Xinjiang, einfach so hinnehmen.
Selbstverständlich nicht. Wir sollten uns die Erklärung der Menschenrechte von 1949 genau anschauen. Dann sieht man, dass in China beispielsweise das Recht auf Leben ohne Not und Armut, ein Recht auf eine gute Gesundheitsversorgung, auf ein erfülltes und möglichst langes Leben, auf Zugang zu Bildung und Aufstiegschancen inzwischen weitgehend verwirklicht ist, in einem Maß, wie noch nie zuvor. Anderseits sind politische Rechte zum Teil noch nicht ausgeprägt. Sie werden sogar missachtet oder eingeschränkt. Doch selbst unabhängige amerikanische Umfragen in China zeigen, dass das Vertrauen der Chinesen in das politische System und die Regierung sehr hoch ist.
Können die Menschen das überhaupt realistisch einschätzen? Es gibt ja keine Medienfreiheit und die meisten Chinesen waren noch nie im Ausland?
Die Menschen jedoch wissen genau, wie sie vor 20 Jahren oder vor der Öffnung Chinas und seiner Reform gelebt haben und wie sie heute leben. Dazu brauchen sie keine Medien und keinen Auslandsaufenthalt. Vor der Pandemie waren übrigens weit über 100 Millionen Chines*innen im Ausland. Die vergleichen, die erzählen – und man sollte sich davor hüten zu glauben, nur, weil es in China zweifellos Zensur gibt, gäbe es keinen Austausch. Über Wechat und andere soziale Medien kommunizieren jede Minute hunderte Millionen Menschen miteinander.
Ein zensierter Austausch.
Man kann auch sagen: ein in bestimmten Grenzen freier Austausch, zumindest so frei wie nie zuvor in der chinesischen Geschichte, mit einer nie dagewesenen kulturellen Diversität, einem neuen Maß an wirtschaftlicher Freiheit und einer Mittelklasse von 400 bis 600 Millionen Menschen, je nachdem wie man rechnet. Was ist schlecht daran, dass die Lebenserwartung in den vergangenen 40 Jahren verdoppelt wurde?
Dennoch müssen die Chinesen aufpassen, über was sie sich austauschen.
Auch da gilt es zu differenzieren. Sie können ungestraft scharfe Witze über den Präsidenten Xi Jinping machen, die in der Form weder bei den Nationalsozialisten noch in der DDR möglich gewesen wären. In China wird das achselzuckend zur Kenntnis genommen, solange man nicht anfängt, die roten Linien zu berühren oder gar zu überschreiten. Dazu gehört das Ein-Parteienprinzip, die territoriale Integrität Chinas mit Tibet und Taiwan. Wenn man solche und andere rote Linien nicht überschreitet, dann ist das alltägliche Leben relativ sorgenfrei und relativ frei von Druck.
Das würde ja bedeuteten, Sie müssten als einer der einst führenden deutschen und europäischen Sozialdemokraten, einräumen, dass die KP, ihr historischer Rivale, der in diesem Jahr den 100. Gründungstag feiert, einen guten Job gemacht hat, vielleicht sogar einen besseren als die SPD?
Das sehe ich anders. In wichtigen Fragen: Was ist das Recht und die Rolle des Individuums in einer Gesellschaft, in einem politischen System? Was bedeutet das für die Freiheiten des Einzelnen? Wie werden diese rechtsstaatlich gesichert und so weiter? In solchen Fragen war die SPD immer freiheitlich und fortschrittlicher.
Dennoch treffen unsere klassischen Vorstellungen von kommunistischen Planwirtschafts-Diktaturen auf China nicht mehr zu. Die Reisefreiheit ist ein großer Unterschied. Allein in Deutschland studieren 44.000 junge Chinesinnen und Chinesen. Im Jahr 2019, also vor der Pandemie, sind weit über 100 Millionen Chinesen ins Ausland gereist. Die bringen persönliche Eindrücke mit, über die sie dann mit vielen anderen reden. Es sind zu viele, um sie zur Arabeske eines übermächtigen Systems zu machen, in denen Menschen Objekte einer planenden Bürokratie sind.
Wir sind klug beraten in westlichen Demokratien, uns damit auseinanderzusetzen, dass China ein in großen Teilen sehr eigenes politisches System entwickelt hat. Wir sollten verstehen, dass bis zum Ende der Kulturrevolution der einzelne Mensch in China Teil einer erdrückend planenden, die menschlichen Grundrechte zum Teil brutal missachtenden Bürokratie gewesen ist. Und, wenn man an den großen Sprung nach vorn denkt oder an die Schrecken der Kulturrevolution, dann finde ich, hat sich inzwischen etwas grundlegend geändert.
Allerdings ohne, dass die Verfassung je geändert wurde. Das ist doch seltsam?
Der faktische Gesellschaftsvertrag hat sich jedoch geändert. Die Reformpolitik von Deng Xiaoping ergänzte sehr chinesische Traditionen durch Pragmatismus, nicht alleine wirtschaftlich: Lasst uns unvoreingenommen herausfinden, was dient dem Fortschritt, dem Leben der Menschen in China besser. Ein Riesenschritt, auf dessen Ergebnissen die Menschen bestehen.
Es bleiben die vielen Schwächen des Systems.
Ohne jede Frage. Auch die chinesische Führung weiß: die wirklichen Herausforderungen für Chinas stabile Zukunft liegen in China selbst. Wie setzen wir uns also mit China auseinander? Wenn das eine Auseinandersetzung ist, die mit rhetorischer Schärfe eher das heimische Publikum erreichen will, dann ist das zu wenig, sogar gefährlich – wie jede Außenpolitik aus innenpolitischen Motiven.
Beschäftigten sich die deutschen Politiker zu wenig mit China?
Unsere Bundeskanzler, ob Helmut Kohl oder Helmut Schmidt, Willy Brandt, Gerhard Schröder oder Angela Merkel, haben sehr gut verstanden, wie man mit China erfolgreich umgeht und dass ihre chinesischen Counterparts eine andere Vorstellung davon haben, wie man einen durchaus auch kritischen Dialog führt.
Wie soll das gehen?
Man muss die kritischen Themen ansprechen, aber man sollte auch wissen, mit wem rede ich über was, in welchem Zusammenhang. Angela Merkel hat immer den Dialog mit Menschenrechtsaktivisten und Anwälten und anderen hier in China geführt. Die chinesische Führung wusste das. Sie hat das akzeptiert, weil nie öffentliches Theater darüber gemacht worden ist. Merkel wollte sich informieren und konkret helfen, aber nicht auftrumpfen.
Aber ist das nicht wirkungslos, wenn es nur hinter den Kulissen stattfindet?
Ist es das wirklich? Ich habe selbst die Erfahrung gemacht, wie sinnvoll es sein kann, sehr konsequent, aber auch diskret einzelnen Menschen zu helfen, die in China in Schwierigkeiten sind. Am Ende zählt das Ergebnis. Dann ist der Weg dahin zweitrangig.
Können Sie uns ein Beispiel geben?
Ich habe als junger Politiker in Rheinland-Pfalz immer wieder chinesische Delegationen zum Karl-Marx-Haus nach Trier begleitet. In dieser Zeit habe ich jemanden kennengelernt, der zu einem lebenslangen Freund wurde. Er war damals Sekretär des Ständigen Ausschusses, dem höchsten Führungsgremium der Partei. Nach der blutigen Niederschlagung der Protestbewegung 1989 verlor er alle Ämter. Ich habe dann deutlich gemacht, dass ich gerne nach China reise, wenn ich diesen Mann treffen kann.
Wurde Ihnen das nicht übel genommen?
Nein, im Gegenteil: Es hat Respekt geschaffen. Stabilität von persönlichen Beziehungen, Langfristigkeit und Verlässlichkeit, das alles spielt in China eine große Rolle. Und vor diesem Hintergrund habe ich dann nach 2000 eine ganze Zahl von Menschen wiedergetroffen, die das erstens wussten, zweitens respektierten und drittens deswegen auch ein gewisses Maß an Vertrauen zu mir entwickelt hatten: nach dem Motto, er ist kein Opportunist, weiß gleichzeitig, wie er Kritik platziert, ohne jemandem grob ins Gesicht zu fassen und er ist langfristig an China und den Beziehungen zu Deutschland interessiert.
Wer war der wichtigste unter denen?
Als Verteidigungsminister habe ich unter anderem den Staats- und Parteichef Jiang Zemin getroffen, mit ihm ein sehr interessantes Gespräch gehabt. Ursprünglich war es nur als formeller diplomatischer Austausch gedacht, der Höflichkeit dem damaligen Präsidenten der europäischen Sozialdemokraten geschuldet, von Parteichef zu Parteichef gewissermaßen. Es wurde dann aber ein Dialog und es gab auch konkrete Vereinbarungen, nämlich einen sicherheitspolitischen Dialog auf verschiedenen Ebenen. Und das folgte einer Linie, von der ich denke, dass es klug ist, nämlich immer wieder sich darum zu bemühen, China so gut wie möglich zu einer konstruktiven Politik innerhalb der globalen Institutionen und bei den globalen Herausforderungen zu bewegen.
Dazu zählen Sie sicher auch das EU-China Investitionsabkommen. Ist es nicht zu nachgiebig gegenüber China?
Nein. Im Gegenteil. Es ist ein Ausgangspunkt für ein besseres, gleichberechtigtes Wettbewerbsumfeld, bessere Zugänge zu den Märkten und gleichzeitig solide Grundlagen für eine internationale Arbeitsteilung. Kurz: Eine Win-win-Situation.
Das EU-Parlament sieht das anders.
Ich denke, dass auch das Europäische Parlament am Ende des Tages das so sehen wird. Ich hoffe jedenfalls, dass der Vertrag ratifiziert wird. Sanktionen sind da nicht konstruktiv, egal von welcher Seite. Diejenigen, die gegenwärtig raten, sich aufs Wesentliche konzentrieren und die Entwicklungsperspektiven nicht aus den Augen zu verlieren, haben recht.
Muss man nicht auch einmal deutlich Stopp rufen in Richtung Peking angesichts der Entwicklungen in Xinjiang und Hongkong, statt weiter Business-as-usual zu machen?
Ja, natürlich. Deshalb spreche ich ja von wertebasiertem Realismus und von einem Dialog, der das Ganze im Auge behält. Wir Europäer sollten das Abkommen mit China im Kontext sehen von zwei anderen großen Handelsabkommen, die China 2020 abgeschlossen hat; einmal mit den USA, zum zweiten zur Gründung der größten Freihandelszone der Welt – mit Australien, Neuseeland, Japan und anderen Demokratien. Nur Europa hat es geschafft, soziale und andere menschenrechtliche Standards in das Abkommen hinein zu verhandeln.
Gibt es einen Systemwettbewerb zwischen China und Europa?
Natürlich gibt es einen Wettbewerb. Ist das ein Wettbewerb von Systemen? Da habe ich so meine Zweifel, weil das eine gewisse Starrheit der Systeme voraussetzt, die ich nicht sehe. In China nicht und in Europa auch nicht. Deshalb ist die Frage wichtig, wie anpassungsfähig ist ein System und was eigentlich sind seine Grundlagen? Ich habe in meinem langen politischen und dann in meinem unternehmerischen und wirtschaftlichen Leben eins gelernt: Systemkämpfe fördern die Starrheit auf beiden Seiten und verhindern Innovation und Wandel. Wir selbst müssen fortschrittlich bleiben.
Das tun Sie inzwischen mit ihrer eigenen Unternehmensberatung. Wie war der Umstieg vom Politiker zum Unternehmer? Das ist ja in Deutschland keinem anderen Kollegen von Ihnen in diesem Umfang gelungen.
Meine politische Erinnerung zu verwalten und sie zu Vorträgen als Professor in USA zu verarbeiten, erschien mir nicht herausfordernd genug. Also lag es nahe, ein wenig Geld in die Hand zu nehmen und ein Unternehmen aufzubauen, das hilfreich ist in dem Zukunftsmarkt China.
Was ist in der Wirtschaft anders als in der Politik?
Der Weg zum Erfolg ist in der Politik viel verwinkelter. Und der Erfolg hat dann entsprechend viele Väter und Mütter. In der Wirtschaft ist der Weg gradliniger und damit auch transparenter, wer den Erfolg erwirtschaftet hat.
Ihr Tipp für Unternehmen auf dem Weg nach China?
Ein stabiles Fundament zu Hause, verbunden mit Weltoffenheit und einer klaren Strategie.
Und für die Konzerne?
Ein europäischer Automobilbauer zum Beispiel kommt nicht mehr daran vorbei, wie sich der größte Markt der Welt entwickelt, auch, wenn wir andere Vorstellungen haben. Also macht es Sinn, sich über diese verschiedenen Vorstellungen sehr intensiv und mit dem Ziel gemeinsamer Lösung ständig zu unterhalten, zum Beispiel bei den Antriebstechnologien, beim autonomen Fahren, bei der Nutzung künstlicher Intelligenz. Wir Europäer sind am Ende die Leittragenden, sollte sich die Welt in zwei technologische Welten aufteilen. Nur Ideologen haben daran viel Freude.
Wo brauchen Sie als Unternehmer die Politik?
Natürlich brauchen Unternehmer generell die Politik für eine verlässliche Gesetzgebung, ein stabiles geopolitisches Umfeld. Aber die Politik schafft nicht nur Spielraum für Unternehmen, sondern muss auch für den sozialen Ausgleich und die Lebensgrundlagen sorgen. Sie stützt Arbeitnehmerinteressen und schützt die kleinen Unternehmen vor den Konzernen, die dazu neigen, Monopole zu bilden. Das Ringen um den besten Weg können wir derzeit auch in China beobachten.
Viel ist in diesen Zeiten die Rede vom Chipmangel und den Herausforderungen für die global vernetzte Halbleiter-Industrie in einer Welt geopolitischer Spannungen. Kaum ein Produkt hat eine ähnlich komplexe, hochtechnologische Lieferkette wie Halbleiter, deren Vorprodukte aus einer Vielzahl von Ländern angeliefert werden.
Ein wichtiger Teil dieser Kette sind Chemikalien: Der Produktionsprozess für Chips von der Wafer-Herstellung bis zur sachgemäßen Verpackung benötigt rund 400 verschiedene Chemikalien und Materialien, schrieben John Lee und Jan-Peter Kleinhans im Juni in einer Studie des Mercator Institute for China Studies (MERICS) und der Stiftung Neue Verantwortung. Zu diesen gehören Grundstoffchemikalien, Spezialchemikalien, Verbundstoffe oder Flüssiggase. “Diese Materialien stammen aus der ganzen Welt und sind in der Regel hoch entwickelt”, erklärt Christopher Thomas, Experte an der amerikanischen Brookings Institution. “Kein Land besitzt in dieser komplexen Halbleiter-Wertschöpfungskette echte Unabhängigkeit.”
China sieht sich allerdings unter Druck, möglichst große Teile der Halbleiter-Industrie zu lokalisieren, um Lieferengpässe zu vermeiden. Ein Grund ist Corona, das Lieferprobleme schafft. Ein weiterer Grund sind Kontrollmaßnahmen der USA. Der größte Teil der Chemikalien für Halbleiter werde derzeit aus den USA und Taiwan importiert, so Brancheninsider in Peking. Es sei zwar ein Geschäft mit guten Gewinnmargen. US-Lieferanten relevanter Chemikalien für Exporte nach China müssen jedoch eigens eine Lizenz beantragen.
Zu den kontrollierten Waren gehören beispielsweise Ätzgase, Fotolacke oder Fotomasken. Die Bürokratie für die Einfuhr aus Amerika ist mühsam und führt zu Chinas Wunsch nach Unabhängigkeit von solchen Lieferungen.
Die Volksrepublik investiert daher massiv in den Aufbau der gesamten Wertschöpfungskette der Chip-Industrie. Derzeit produziert das Land weniger als 20 Prozent seiner benötigten Halbleiter selbst (China.Table berichtete); Chinas Firmen können bisher technologisch in keinem Produktionsschritt mit den Weltmarktführern des Sektors mithalten.
Die Anforderungen dieses Segments sind indes extrem hoch, vor allem bei Stoffen für die Produktion der Wafer, die das Herz der Halbleiter sind. Die Chipindustrie benötigt dafür ultra-reine Nasschemikalien wie Säuren, Lösungsmittel, Oxidationsmittel und Basen – etwa Oxid-Ätzmittel oder Fotolacke mit einer maximalen Verunreinigung von deutlich unter 100 Teilen pro Billion (ppt). Praktisch jedes bekannte Gas wird in Reinform gebraucht: Sauerstoff, Stickstoff, Kohlenstoffdioxid und Wasserstoff, ebenso wie Edel- und Spezialgase wie Helium oder Argon. All diese Materialien werden laut Lee und Kleinhans vor allem von globalen Platzhirschen wie BASF, Dupont, Air Liquide and Shin-Etsu geliefert.
Etwas geringere Reinheitsgebote bestehen für Materialien, die für Zusammensetzung oder Verpackung der fertigen Halbleiter gebraucht werden – etwa organische Substrate, Keramikgehäuse, Harze und Verbindungsdrähte. Lee und Kleinhans erwarten, dass chinesische Firmen vor allem in diesem Bereich in den kommenden Jahren eine größere Rolle spielen und ihren Weltmarktanteil steigern könnten. “Für Hochleistungsmaterialien, die in der hochmodernen Waferherstellung verwendet werden, sind die Markteintrittsbarrieren dagegen erheblich. Es ist unwahrscheinlich, dass chinesische Anbieter in den nächsten 10 Jahren erfolgreich in dieses Marktsegment einsteigen und internationale etablierte Unternehmen herausfordern können.”
Nichtsdestotrotz genießen hochreine Stoffe, Fotolacke und Fotomasken-Materialien hohe Priorität in den Förderplänen der Regierung vom 14. Fünfjahresplan bis hinunter zu verschiedenen regionalen Halbleiter-Entwicklungsstrategien. Hinzu kommen Pläne für komplexe Verbundmaterialien wie Siliziumkarbid und Galliumnitrid.
Regierungen und Firmen arbeiten dabei teilweise gezielt zusammen. Das Chemieunternehmen Suzhou Crystal Clear Chemical etwa gründete nach einem Bericht des Fachmagazins Japan Chemical Daily gemeinsam mit der Stadtregierung von Suhzhou einen 1,5 Milliarden Yuan (195 Millionen Euro) schweren Fonds zum Aufbau einer Materialbasis für Halbleiter und Flüssigkristallbildschirme (LC-Displays), zu dem es selbst nur 30 Prozent beitrug. Weitere Einzahlungen kamen von anderen Regierungsebenen.
Suzhou Crystal will dort unter anderem Wasserstoffperoxid in Halbleiterqualität, Ammoniaklösung und verschiedene Schutzlacke produzieren. Im Dezember 2020 hatte das Unternehmen nach Angaben des Magazins die Anlagen der ersten Phase für die Produktion von 30.000 Tonnen hochreiner Chip-tauglicher Schwefelsäure fertiggestellt und dafür Technologie von Mitsubishi Chemical genutzt. Und erst im Juni kündigte Suzhou Crystal an, sich auch in der Provinz Hubei an einer ähnlichen Initiative zu beteiligen – dem Hubei Yangtze River Economic Belt Industry Fund, mit dem die Zentralregierung den Aufbau von Halbleiter-Standorten entlang des Yangzi fördert, mit einem Volumen von drei Milliarden Yuan (knapp 400 Millionen Euro). Es wird also viel Geld in die Hand genommen.
Ein ähnliches Beispiel ist der Chemiekonzern Juhua-Group, der gemeinsam mit dem staatsnahen China Integrated Circuit Industry Investment Fund (CICIIF) Halbleiterchemikalien entwickelt. Das Juhua-Tochterunternehmen Grandit produziert dazu Nasschemikalien wie Fluorwasserstoff und Schwefelsäure sowie elektronische Materialgase. Juhua-Chairman Hu Zhongming sagte der Japan Chemical Daily im November 2020, dass sein Unternehmen mit zwei japanischen Firmen zusammenarbeite, um von diesen Partnern alles über Halbleiterchemikalien zu lernen. Auch die staatliche Sinochem Group will Halbleiterchemikalien zu einer neuen Umsatzsäule entwickeln – mit einem Konzernunternehmen in der Stadt Lianyungang. Die Stadt unterstützt Sinochem unter anderem durch die Bereitstellung von Land.
Lee und Kleinhans erwarten, dass solche Zulieferer durchaus von den enormen Finanzmitteln für die Halbleiterindustrie profitieren werden, “ebenso wie von den Bemühungen regionaler Regierungen zur Förderung der Materialproduktion und deren Integration mit anderen Segmenten der Chip-Wertschöpfungskette – insbesondere in Shanghai, dem vielversprechendsten Zentrum der chinesischen Halbleiterindustrie.”
Um die relevanten Akteure zusammenzubringen, entstand bereits 2015 die China Electronic Chemical Materials Alliance, die inzwischen mehr als 60 Mitgliedsorganisationen hat, darunter die Tsinghua-Universität, der Panel-Hersteller BOE Technology Group und das Chemie-Institut der Chinesischen Akademie der Wissenschaften. Das Engagement von Bildungsinstitutionen in dem Sektor ist aus Sicht der Verantwortlichen immens wichtig. Denn auch im Bereich der Halbleiter-Materialien fehlt es China an gut ausgebildeten Fachkräften. Der Weg zur Chip-Unabhängigkeit ist also noch weit.
Die US-Börsenaufsicht SEC hat höhere Hürden für Börsengänge chinesischer Unternehmen eingezogen. Der Regulator reagiert damit auf anhaltende Probleme und stark schwankende Kurse der China-Werte. Zunächst hatte der damalige US-Präsident Donald Trump die Finanzierung von vermeintlich gefährlichen Konzernen aus dem Reich der Mitte untersagt und damit Papiere wie China Mobile in Bedrängnis gebracht. Die nächste Attacke kam aus der entgegengesetzten Richtung: Die Regierung in Peking nimmt zurzeit ihre eigenen Technikfirmen an die Kandare. Sie hat immer wieder Pläne von Firmen wie Didi Chuxing torpediert, die sich an internationalen Handelsplätzen mit Kapital versorgen (China.Table berichtete). Die SEC verlangt jetzt, dass Börsenkandidaten ihre Beteiligungsstrukturen offenlegen. Sie sollen zudem drohende Risiken durch Eingriffe chinesischer Regulatoren klar benennen. fin
China verzeichnet einen schnellen Anstieg der Infektionszahlen mit Sars-CoV-2. Als Grund nennen die Behörden die höhere Ansteckungsrate der Delta-Mutation. “Die Herausforderungen der Prävention und Kontrolle werden noch größer werden”, zitiert die Nachrichtenagentur AFP den Sprecher der Nationalen Gesundheitskommission. Besonders im Fokus steht derzeit ein Ausbruch in der Großstadt Nanjing. Fast alle neuen Fälle gehören hier zur gleichen Infektionskette, berichtet die Nachrichtenagentur Xinhua. Das habe sich gezeigt, als Forscher die Erbinformation zahlreicher Proben verglichen haben. Während die herkömmlichen Maßnahmen also Ansteckungen wirksam verhindern, kann sich Delta selbst unter den strikten Bedingungen in China verbreiten. Für den Monat Juli zählt das Land 328 Coronavirus-Fälle. Das sind so viele wie in den fünf Monaten davor zusammen. Aus 14 der 33 Provinzen und Verwaltungsregionen wurde am Samstag einen Anstieg der Fallzahlen gemeldet.
China impft inzwischen auch Schülerinnen und Schüler, um die Immunität in der Bevölkerung hochzutreiben. Die Gesundheitsbehörden haben bereits über 1,5 Milliarden Dosen verabreicht. In Nanjing und in Changsha sollen Massentests verborgene Infektionsnester aufspüren. China nimmt den Kampf gegen Delta sehr ernst (China.Table berichtete). fin
Die FDP-Fraktion im Bundestag fordert eine Nachverhandlung des EU-Investitionsabkommens mit China (CAI). Der Vertragstext sei “unausgereift” und weise “große inhaltliche Defizite” auf, gibt die Süddeutsche Zeitung ein Papier der Fraktion wider. Die FDP-Fraktion fordert demzufolge Nachschärfungen in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Abbau von Wettbewerbsverzerrungen, Marktzugang und Menschenrechte. Das Papier geht auf die menschenrechtliche Sprecherin der Fraktion, Gyde Jensen, sowie die Wirtschaftspolitikerin Sandra Weeser zurück. Die Fraktion kritisiert darin, dass sich ausländische Unternehmen, Investoren und Bürger in China nicht auf einen unabhängigen rechtsstaatlichen Schutz verlassen können.
Kritisiert wird auch, dass es keinen “rechtlichen Durchsetzungsmechanismus” für die von Peking im CAI versprochene Marktöffnung gäbe. Auch solle die EU-Kommission auf die Durchsetzung von internationalen Regeln zum Schutz vor Zwangsarbeit drängen. Die FDP-Fraktion kritisiert auch die NGO-Klausel des Investitionsabkommens, derzufolge sich China offen hält, künftig die Vorgabe zu machen, dass ausländische Non-Profit-Organisationen im Land nur von chinesischen Staatsbürger:innen geführt werden dürfen (China.Table berichtete exklusiv).
Das CAI liegt seit einigen Monaten auf Eis. Die Ratifizierung des Abkommens wurde vorerst ausgesetzt, nachdem Peking Sanktionen unter anderem gegen Abgeordnete des Europäischen Parlaments, das Mercator Institut für China Studien (MERICS) und mehrere Wissenschaftler:innen verhängt hatte. nib
Der CDU-Abgeordnete Philipp Amthor ist dem Nachrichtenmagazin “Der Spiegel” zufolge in einen Spendenskandal mit der chinesischen Video-App Tiktok verwickelt. Amthor soll von der Deutschland-Tochter des Unternehmens kleinere Zuwendungen für ihm nahestehende Organisationen erbeten und zum Teil auch erhalten haben. Der CDU-Politiker weist die Vorwürfe dem Magazin gegenüber als sachlich falsch zurück: Es sei nicht um eine Spende gegangen, sondern um Sponsoring.
Tiktok hat dem Bericht zufolge das Usedomer Musikfestival mit einer Spende gefördert. Das Festival findet in Amthors Wahlkreis statt und dient dem jungen Politiker als Bühne für politische Arbeit. Der Politiker gab auf Anfrage des “Spiegel” zu, Tiktok aktiv um den Beitrag für die Veranstaltung gebeten zu haben. Wenig später fanden wohl zudem Gespräche über eine diskrete Hilfe von Tiktok für die Junge Union statt, die formal über eine Berliner Agentur abgewickelt werden sollte. Beteiligte Mitarbeitende bei Tiktok und der Agentur bestanden jedoch auf einem Rückzieher, weil ihnen eine diese Art der verdeckten Unterstützung für eine Partei nicht geheuer war.
Tiktok Deutschland versucht derzeit, sein Image aufzubessern. In den vergangenen Jahren hatte der Betreiber der Video-App unter kritischen Medienberichten und Politiker-Äußerungen gelitten. Das Unternehmen hat daher zuletzt gezielt Kontakt zu Entscheidern gesucht. Tiktok-Lobbyist Gunnar Bender schrieb in einer E-Mail, aus der der “Spiegel” zitiert: Es sei darum gegangen, die Gesprächspartner dazu zu bewegen, “uns in verschiedenen Kreisen nicht weiter zu kritisieren”. Das hat offenbar gewirkt, jedenfalls hat Amthor nach Darstellung des “Spiegel” seine anfänglich kritische Haltung gegenüber der Plattform aufgegeben.
Tiktok ist vor allem bei Teenagern beliebt. Die extrem erfolgreiche App gehört der Pekinger Firma Bytedance, besteht aber auf Auslandsmärkten darauf, kein chinesisches Unternehmen zu sein. Begründung: Der in China angebotene Dienst Douyin laufe geschäftlich und technisch sauber getrennt. Außerdem ist den chinesischen Eignern und den internationalen Ablegern eine Gesellschaft auf den Kaimaninseln zwischengeschaltet. fin
Dem ersten Schuldspruch auf Basis des Nationalen Sicherheitsgesetzes folgte Ende vergangener Woche ein hartes Urteil. Ein Gericht in Hongkong verhängte eine neunjährige Haftstrafe gegen einen jungen Mann namens Tong Ying-kit, der mit seinem Motorrad in eine Gruppe von Polizisten gerast war und dabei drei Menschen verletzt hatte. Weil bei der Amokfahrt auf seinem Motorrad eine Flagge mit der Aufschrift “Liberate Hong Kong, Revolution of our times” montiert war, wertete die Staatsanwaltschaft den Angriff als Anstiftung zur Sezession und terroristischen Akt. Die Richter folgten der Argumentation.
Der Slogan war während der Massenproteste 2019 gegen den wachsenden politischen Einfluss der Volksrepublik China unter der pro-demokratischen Bewegung der Stadt populär und durch die Einführung des Sicherheitsgesetzes im Juli 2020 schließlich verboten worden. Das Gesetz ahndet Vergehen, die als aufrührerische Aktivitäten gegen den Staat gelten. Dazu zählen neben Sezession und Terrorismus auch Untergrabung der Staatsgewalt und verschwörerische Kollaboration mit ausländischen Kräften. Implementiert hatte das Gesetz der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses in Peking als Reaktion auf die anhaltenden Proteste. Zu der Tat war es nur wenige Stunden nach Inkrafttreten des neuen Rechtsrahmens gekommen.
Zurzeit sitzen 47 Politiker:innen und Aktivist:innen in Haft, denen allesamt eine Verschwörung gegen den Staat vorgeworfen wird, und warten auf ihren Prozess. Juristen beklagen, dass das Sicherheitsgesetz nur vage formuliert ist und den Behörden eine willkürliche Rechtsprechung gegen politischen Dissens ermöglicht. Zudem übe die Volksrepublik China großen Druck auf die Hongkonger Justiz aus, Urteile in ihrem Sinne zu sprechen. Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam bestreitet die Einflussnahme. grz
Als Bundeskanzlerin Angela Merkel vor vier Jahren Jan Hecker zu ihrem außenpolitischen Chefberater machte, war das schon eine Überraschung. Denn sie hatte den wichtigsten Posten der Außenpolitik mit jemandem besetzt, der auf dem internationalen Parkett nicht sonderlich erfahren war. Hecker war bis dahin durch und durch Innenpolitiker. Als Leiter des Koordinierungsstabs Flüchtlingspolitik hatte er allenfalls am Rande mit außenpolitischen Fragen zu tun. Mit der Personalie Hecker hat die Kanzlerin zu Jahresbeginn erneut überrascht, als durchsickerte, dass der 55-Jährige neuer Botschafter der Bundesrepublik in Peking werden soll. Voraussichtlich in den nächsten Wochen wird er sein neues Amt antreten.
Geboren in Kiel, studierte Jan Hecker Jura und Politikwissenschaften in Freiburg, Grenoble und Göttingen. Nach seinem zweiten Staatsexamen arbeitete er als Rechtsanwalt bei den renommierten Kanzleien Freshfields Bruckhaus Deringer und Hengeler Mueller, bevor er 1999 ins Bundesinnenministerium wechselte. Dort war er vor allem für polizei- und verfassungsrechtliche Fragen zuständig, lernte aber Peter Altmaier kennen, der zwischen 2005 und 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Innenministerium war.
Zwischenzeitlich habilitierte Hecker an der Juristischen Fakultät der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. 2011 wurde er Richter am Bundesverwaltungsgericht in Leipzig. Als Altmaier 2015 Kanzleramtschef wurde, holte er Jan Hecker zu sich ins Kanzleramt und setzte ihn im Krisensommer als Leiter des neu geschaffenen Koordinierungsstabs Flüchtlingspolitik ein. Im Jahr 2017 machte die Kanzlerin Hecker schließlich zu ihrem wichtigsten außenpolitischen Berater. Hecker übernahm von seinem Vorgänger Christoph Heusgen als Ministerialdirektor die Leitung der Abteilung Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik. Nun folgt also seine Ernennung zum Deutschen Botschafter in Peking.
Anders als seine Vorgänger Clemens von Götze, der drei Jahre Botschafter in Peking war, und Michael Clauss, der den Posten bis 2018 fünf Jahre bekleidet hat und nun als Chef-Diplomat in Brüssel die China-Politik prägt, hat Hecker keine klassische diplomatische Laufbahn hinter sich. Für Deutschland ist das eher ungewöhnlich.
Doch der Posten des Botschafters in Peking wird im Kanzleramt inzwischen als einer der wichtigsten Außenposten der Bundesregierung betrachtet. Dass Merkel diesen Posten mit einem ihrer engsten Mitarbeiter der vergangenen Jahre besetzt, zeigt, welchen Stellenwert sie der Volksrepublik auch künftig beimisst. Und vielleicht will sie mit dieser Personalentscheidung für eine gewisse Kontinuität in der deutschen China-Politik nach ihrem bevorstehenden Abgang als Kanzlerin sorgen. Die Devise: bloß nicht zu viel Konfrontation. Felix Lee
Sabine Gusbeth wird als neue Korrespondentin für das Handelsblatt aus China berichten. Zuvor war sie Chefreporterin bei dem Finanzmagazin €uro. Gusbeth verstärkt vor Ort als zweite Korrespondentin Dana Heide.
Wang Lei wird Marketingleiter des Musikdienstes Kugou, der zur Tencent Music Entertainment Group (TME) gehört. Er berichtet an Liu Xiankai, der neben seiner Aufgabe als Leiter der Werbe-Sparte von TME auch Sales-Vorstand bei Kugou wird.
Der Oolong-Tee kommt in die Tasse, ganz klar. Aber ein “Oolong-Ball”? Der kommt natürlich ins Tor, allerdings leider ins Falsche! “Oolong-Ball” 乌龙球 wūlóngqiú beziehungsweise “Oolong-Tor” ist nämlich die gängige chinesische Bezeichnung für “Eigentor”. Land der Teetrinker hin oder her, was bitte haben fermentierte Teeblätter mit Ballsport zu tun? Nun, das hat China der Kreativität seiner Hongkonger Fußballfans zu verdanken. Die nämlich erinnerte der englische Begriff “own goal” lautlich an das chinesische Wort “wūlóng”. Und da es im Raum Hongkong-Guangdong just den regionalen Ausdruck 摆乌龙 bǎi wūlóng für “etwas vermasseln” gibt (wörtlich “Oolong schwenken”), brachten die Ballsportfreunde kurzerhand beides zusammen und tauften das Eigentor “Oolong-Tor”, ein “Vermasseltor” also.
Doch das “Teetor” ist längst nicht der einzige unterhaltsame chinesische Ballsportbegriff, den man sich in den Olympiawochen merken sollte. Zunächst einmal muss festgehalten werden, dass Chinesen streng zwischen “kleinballigen” und “großballigen” Sportarten (小球 xiǎoqiú und 大球 dàqiú) unterscheiden. Zu den ersteren gehören unter anderem Chinas Paradedisziplinen Tischtennis und Badminton, aber auch Tennis, Golf, Hockey, Eishockey, Billard und nicht zu vergessen “Wandball” (壁球 bìqiú), in unseren Breiten als Squash bekannt. Zu den “Großballdisziplinen” werden unter anderem Fußball, Basketball, Volleyball, Handball, Bowling und “Olivenball” (橄榄球 gǎnlǎnqiú), sprich Rugby gezählt.
Wer eine chinesische Fußballübertragung verfolgt, sollte nicht aus allen Wolken fallen, wenn plötzlich ein “Zwölfer” vergeben wird. Denn 十二码球 shíèrmǎ-qiú, wörtlich “Zwölf-Yard-Ball”, ist im Chinesischen (neben 点球 diǎnqiú “Punktball” und dem umgangssprachlichen 杀人球 shārénqiú “Killerball”) eine der üblichen Bezeichnungen für Elfmeter. Das liegt ganz einfach daran, dass die Chinesen hier in Yard und nicht in Metern rechnen. Und zwölf Yard (12 x 0,9114 Meter) ergeben eben knapp elf Meter, passt also.
Natürlich kommen chinesische Ballsport-Kommentatoren im Land der Feinschmecker auch um eine gewisse Essensmetaphorik nicht umhin. Versorgt jemand im Match seine Mitspieler mit guten Pässen beziehungsweise im Training mit passgenau zugespielten Bällen, so heißt das auf Chinesisch “Bälle füttern” (喂球 wèi qiú). Verpasst man dem Gegner dagegen unhaltbare Bälle, so lässt man ihn “Bälle essen” 吃球 chī qiú. Am besten geschieht letzteres wiederum – zum Beispiel im Badminton oder Tischtennis – indem man den “Ball tötet” 杀球 shāqiú – das ist das chinesische Synonym für “schmettern”.
Läuft es im Team mal nicht so rund – egal ob nun im Sport oder anderswo – ist es erfahrungsgemäß wenig hilfreich, sich gegenseitig “den Lederball zuzukicken” 踢皮球 tī píqiú, auf Deutsch: einander den schwarzen Peter zuzuschieben. Und wer weiß, am Schluss kann vielleicht ein Kanten- oder Linienball 擦边球 cābiānqiú (wörtlich “Randschrammball”) das entscheidende Quäntchen in die Waagschale zwischen Sieg und Niederlage werfen. Manchmal gilt das auch für das reale Leben. Hier nämlich ist der Begriff “einen Kantenball spielen” 打擦边球 dǎ cābiānqiú eine gängige Metapher dafür, sich am Rande der Legalität durchzumogeln, zum Beispiel, indem man bestehende Schlupflöcher ausnutzt.
Wem jetzt vor lauter neuen Vokabeln schon die Bälle im Kopf herumschwirren, kann sich für den Anfang mit einem leicht zu merkenden, authentischen Anfeuerungsausspruch begnügen, nämlich “guter Ball!” 好球 hǎoqiú! Ins Deutsche übertragen heißt das “Bombenschuss” oder ganz einfach “Bravo!” Dem nächsten gemeinsamen Ballsport- oder Olympiaabend mit chinesischen Freunden steht also nichts mehr im Wege.
Verena Menzel betreibt in Peking die Online-Sprachschule New Chinese.