Table.Briefing: Bildung

Sonderausgabe: Ukraine + Bilingualität + Bildungsaktivistin Tytysh im Interview

  • Deutsch-ukrainische Begegnungsschule in Berlin – ein Erfolgsmodell?
  • Bildungsaktivistin Halyna Tytysh über Online-Unterricht im Kriegszustand
  • Ukrainische Pädagogen: Willkommenskultur in Ostdeutschland
  • Flüchtlingskinder in Bayern überwiegend schlecht integriert
  • VBE-Schulpreis: 50.000 Euro für nachhaltige Schulen
  • MINT-Lücke: IW-Experten fordern Bildungsreformen
Liebe Leserin, lieber Leser,

Ende Oktober trat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seine Reise nach Kiew an. “Ihr könnt Euch auf Deutschland verlassen“, so lautete seine Botschaft gleich nach Ankunft am Kiewer Bahnhof. Und damit meinte Steinmeier nicht nur Munitionslieferungen und Panzerhaubitzen. Er garantierte implizit auch: Verlässlichkeit für ukrainische Bildungsbiographien.

Vor einer Woche erst hat die Zahl der ukrainischen Kinder und Jugendlichen an deutschen Schulen die Marke von 200.000 überschritten. Und viele Schulleiter wissen längst: Vorübergehende Gesten der Solidarität genügen nicht. Die Kinder werden bleiben, womöglich viele Jahre.

In dieser Sonderausgabe stellt Ihnen meine Kollegin Janna Degener-Storr ein Pilotprojekt vor, das der Berliner Bildungsstaatssekretär Alexander Slotty als “bundesweit, vielleicht sogar europaweit” einmalig bezeichnet. Die Hauptstadt erprobt in Begegnungsschulen den bilingualen Unterricht – und der Ansturm ist gewaltig.

Die Bildungsaktivistin Halyna Tytysh hat mit ihrer NGO seit Kriegsbeginn Online-Unterricht für Tausende ukrainische Schüler organisiert. Dafür wurde sie kürzlich mit dem Walter-Scheel-Preis ausgezeichnet. Im Interview mit Bildung.Table fordert sie nun, Hindernisse im deutschen Bildungssystem endlich aus dem Weg zu räumen.

Kommen Sie gut ins Wochenende!

Ihr
Moritz Baumann
Bild von Moritz  Baumann

Analyse

Ansturm auf bilinguale Klassen

In Berlin hat die Schulverwaltung etwas Besonderes auf die Beine gestellt: Seit Oktober erhalten ukrainische Schüler in sechs Klassen bilingualen Unterricht. Sie lernen Deutsch als Fremdsprache – und haben Fachunterricht auf Deutsch und Ukrainisch. “Deutsch-ukrainische Begegnungsschule” heißt der Schulversuch. Aktuell erproben die Schulen in einer Vorbereitungsphase die ukrainischen Unterrichtsinhalte, ab dem kommenden Schuljahr sollen auch ukrainische Abschlüsse möglich sein. Beteiligt ist eine deutsch-türkische Europa-Grundschule mit zwei, eine Sekundarschule mit vier Klassen.

Berlin reagiert auf Forderung der Vize-Bildungsministerin

Berlin folgt damit einer Forderung von ukrainischer Seite: Laut Berliner Senatsverwaltung hat die ukrainische Vize-Bildungsministerin sich den Ausbau herkunftssprachlicher Angebote an Berliner Schulen gewünscht. Schon im März mahnte die ukrainische Generalkonsulin gegenüber den Kultusministern an, die Geflüchteten nach dem ukrainischen Lehrplan zu unterrichten. Die Kultusminister beschlossen, dass Kinder und Jugendlichen in das deutsche Schulsystem integriert werden sollen und verwiesen auf die deutsche Schulpflicht (Bildung.Table berichtete). Lehrer können laut KMK-Beschluss von Ende Juni Angebote in ukrainischer Sprache nach Möglichkeit freiwillig in den Unterricht einfließen lassen. Ukrainische Online-Materialien dürfen sie im Regelunterricht “ergänzend und flankierend” einsetzen.

Mit den bilingualen Klassen geht Berlin da einen großen Schritt weiter. Bildungsstaatssekretär Alexander Slotty hat sie ins Leben gerufen. “Bundesweit, vielleicht sogar europaweit, ist es das erste Projekt dieser Art“, sagt er. Wie Berlin das geschafft hat? Mithilfe von Behörden und einer Kommunikationskultur, die es seit der Flüchtlingskrise 2015/-16 gibt. “Wir konnten Schulleitungen und Lehrerkollegien mit ‘Hands-On-Mentalität’ gewinnen, die in Willkommensklassen schon Erfahrung mit Schülern aus der Ukraine hatten und sich mit Mehrsprachigkeit auskennen”, sagt Slotty.

Einen ukrainischen Abschluss können Schüler immerhin bald auch in München erlangen – und zwar noch in diesem Schuljahr. Dort bietet eine staatlich anerkannte Ergänzungsschule seit kurzem 50 Jugendlichen Schulstunden nach ukrainischem Lehrplan an. Daneben lernen sie Deutsch.

Ziel ist es, dass sie nach ihrem Abschluss entscheiden können, ob sie in der Ukraine oder in Deutschland ein Studium oder eine Ausbildung beginnen möchten. Die “SchlaU”-Schule (für “Schulanaloger Unterricht”), deren Träger ein Verein ist und die sich generell an Flüchtlinge richtet, erhält dabei Unterstützung vom Bildungsministerium der Ukraine, einer Partnerschule in der ukrainischen Stadt Ternopil sowie dem ukrainischen Konsulat in München.

Alle Plätze in den bilingualen Klassen sind vergeben

In Berlin sieht Hans-Jürgen Kuhn, vor dreißig Jahren selbst Staatssekretär für Bildung, im Projekt dort einen “interessanten pädagogischen Versuch”. Die Integration beider Schulsysteme könnte ukrainische Kinder entlasten. Denn bisher, so Kuhns Eindruck, lernen viele vormittags in Willkommensklassen Deutsch, nachmittags haben sie zusätzlich ukrainischen Unterricht – online oder in einer Hausaufgabenbetreuung. Die zivilgesellschaftliche Initiative Schöneberg hilft, für die Kuhn sich engagiert, bietet eine solche Betreuung an. “Viele ukrainische Eltern wollen sich beide Optionen offenhalten – in Deutschland zu bleiben oder in die Ukraine zurückzukehren”, sagt Kuhn.

Die bilingualen Klassen sind in jedem Fall gefragt: Alle Plätze sind schon vergeben, aber immer noch kommen Anfragen, auch von Eltern aus anderen Bezirken. Das berichtet Harald Leppler, Leiter der Helene-Lange-Schule in Berlin-Zehlendorf. Von Klasse 7 bis 10 lernen ukrainische Schüler dort, an der Integrierten Sekundarschule, auf Deutsch und Ukrainisch.

Im Vergleich zu den Willkommensklassen, die es seit 20 Jahren an seiner Schule gibt, sieht Leppler jedoch einen Nachteil: In den neuen Klassen sind bisher nur ukrainische Schüler, sie sprechen untereinander Ukrainisch. In Willkommensklassen, in denen Kinder aus Syrien neben Kindern von den Philippinen und aus Russland sitzen, seien die Schüler dagegen eher gezwungen, auch miteinander Deutsch zu sprechen.

Das Glück der Helene-Lange-Schule

Erfolgreich sind Willkommensklassen aber nur unbedingt. Forscher des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung haben jüngst aufgezeigt, dass Willkommensklassen zu einem geringeren Bildungserfolg führen – im Vergleich zu Regelklassen. Bilinguale Modelle könnten da möglicherweise bessere Bedingungen bieten. Allerdings braucht es für sie: geeignete Lehrkräfte.

An der Helene-Lange-Schule hatten sie Glück: “In den letzten Jahren haben wir zufälligerweise drei ukrainische Lehrkräfte eingestellt, die bei der Etablierung der Begegnungsschule eine wichtige Rolle spielten”, erzählt Schulleiter Leppler. Bildungssekretär Slotty betont, dass Berlin mit Beginn des Krieges Stellen für Lehrer auf Russisch und Ukrainisch ausgeschrieben habe. Tatsächlich sind an der Helene-Lange-Schule bereits weitere ukrainische Lehrkräfte tätig. Das B1-Niveau in Deutsch erreichen sie teilweise aber noch nicht. Dabei brauchen sie sehr gute Deutschkenntnisse – für den bilingualen Unterricht und die Kommunikation mit den Kollegen.

Bleibt die Frage, ob das Berliner Pilotprojekt noch substanziell mehr Schüler wird erreichen können. Leppler meint, man könne in den Unterricht künftig auch Lehrkräfte einbeziehen, die sich digital aus der Ukraine zuschalten, sowie Materialien ukrainischer Online-Plattformen. Nur: Das sei politisch nicht gewollt, ist sein Eindruck. Laut Schulverwaltung sind in der Hauptstadt aktuell sechseinhalb Tausend ukrainischen Schüler zu versorgen. Mengenmäßig, betont der ehemalige Bildungsstaatssekretär Kuhn, hätten die neuen Klassen noch “keinerlei Bedeutung für die eigentlichen Probleme, vor denen Berlin steht.”

  • Berlin
  • Schulverwaltung
  • Ukraine

Interview

“Allein auf Telegram hatten wir 8.000 Abonnenten”

Halyna Tytysh: Bildungsaktivistin und Preisträgerin des Walter-Scheel-Preises 2022.

Die Antworten von Halyna Tytysh hat die Redaktion aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.

Frau Tytysh, Ihre Bildungs-NGO organisiert seit Kriegsbeginn Online-Kurse für ukrainische Schüler. Viele Lehrer haben sich innerhalb kürzester Zeit freiwillig gemeldet. Wie ist Ihnen das gelungen?

Mit unseren Online-Kursen wollten wir den Schülern eine Ablenkung bieten – auch vor beängstigenden Gedanken. Über ein Online-Anmeldeformular meldeten sich innerhalb weniger Tage 300 Pädagogen aus der Ukraine und der ganzen Welt. Gleichzeitig war die Zahl der teilnehmenden Schüler überraschend hoch – bis zu fünfhundert pro Klasse. Die genaue Teilnehmerzahl kennen wir nicht, aber es waren sicherlich Tausende. Allein auf Telegram hatten wir 8.000 Abonnenten.

Aktuell werden etwa 200.000 ukrainische Kinder und Jugendliche an deutschen Schulen unterrichtet. Generalkonsulin Iryna Tybinka fordert in einem Gastbeitrag für Bildung.Table, dass die ukrainische Sprache und ukrainische Themen an deutschen Schulen vorkommen müssen. Was halten Sie von der Forderung?

Wir sind sehr dankbar für die Anstrengungen, die Deutschland unternimmt. Man muss jedoch bedenken, dass die Menschen nicht nach Deutschland gekommen sind, weil sie hier leben möchten, sondern weil der Krieg sie zu Flüchtlingen gemacht hat. Daher ist es sehr wichtig für sie, mit ihrem Heimatland verbunden zu bleiben. Unsere Lehrpläne unterscheiden sich erheblich und viele Eltern haben Angst, dass ihr Kind nach einer Rückkehr mit schlechten oder gar ohne Noten dasteht. 

Die deutsche Schulpolitik stellt das vor ein Dilemma. Denn die ukrainischen Schüler sollen gleichzeitig am regulären Unterricht teilnehmen. Wie müssten die Stundenpläne an deutschen Schulen also aussehen?

Ich bin keine Expertin für das deutsche Schulsystem und kenne keine Untersuchungen, welche Optionen am effizientesten sind. Daher fordere ich einfach, wann immer es möglich ist, die ukrainische Sprache, Literatur und Geschichte in den Lehrplan zu integrieren. Es gibt viele Möglichkeiten, etwa bilinguale Schulen und Klassen: Ukrainische Lehrer, die in Deutschland sind, könnten die Fächer an den deutschen Schulen unterrichten und Erfahrungen mit den deutschen Kollegen austauschen. Auch bei außerschulischen Aktivitäten an Nachmittagen oder Wochenenden können ukrainische Kollegen unterstützen. Ich denke, an eine Kooperation beider Bildungssysteme.

Halyna Tytysh erhält den Walter-Scheel-Preis, gefolgt von einer Laudatio der Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger.

Was sollte die deutsche Bildungspolitik noch für Schüler aus der Ukraine tun?

Uns ist eine Frage besonders wichtig: Wie können die ukrainische und die deutsche Regierung die schulischen Leistungen des jeweils anderen Landes anerkennen? Die Universität Cambridge beschäftigt sich bereits für Großbritannien mit dieser Frage. Das wünsche ich mir auch für Deutschland. Ein weiteres Problem ist die zweite Fremdsprache: Für unsere Kinder ist Deutsch bereits, neben Englisch, die zweite Fremdsprache. Französisch oder Spanisch wäre dann eine dritte Fremdsprache. Selbst die begabtesten Schüler werden vor Ende der 10. Klasse nicht in der Lage sein, innerhalb eines Jahres Deutsch und Französisch auf hohem Niveau zu lernen. Vielleicht kann es für dieses Jahr eine Ausnahme geben, so dass Ukrainisch als zweite Fremdsprache in den Abiturprüfungen anerkannt wird.

Einige Schulen, gerade in den ostdeutschen Bundesländern, bieten auch Russisch an.

Russisch ist für viele Schüler die Sprache derer, die töten, vergewaltigen und ihr Land zerstören. Ihre Väter sind vielleicht im Krieg und Russland versucht nicht zu verbergen, dass es die Sprache als Kriegswaffe einsetzt – beispielsweise wenn ukrainische Schulbücher weggenommen werden und Sprachunterricht verboten wird.

Falls sich die Situation in der Ukraine mit Beginn des Winters verschärft, könnten noch mehr Menschen nach Deutschland kommen. Wie sollte sich die deutsche Bildungspolitik auf dieses Szenario vorbereiten? 

Hoffen wir, dass es nicht so weit kommt. Wissen Sie, ich kenne einen Jungen aus einem besetzten Gebiet, der über einen langen Zeitraum jeden Tag mit dem Fahrrad durch seine ukrainische Heimatstadt gefahren ist, um über einen Internetzugang an unseren Online-Kursen teilzunehmen. Er ist dann über Russland und Estland nach Deutschland geflohen und lebt nun seit zwei Wochen in einer Notunterkunft, wo er nicht mehr lernen kann. Ich weiß nicht, wie ich ihn unterstützen kann. Und ich fürchte, anderen Schülern geht es ähnlich.

Halyna Tytysh leitet die ukrainischen NGO Smart Osvita (übersetzt: “intelligente Bildung”), die sie 2016 gründete und die ursprünglich Schulungen und Lernmaterialien für Lehrer anbot. Seit Ausbruch des Krieges organisiert die Organisation Online-Kurse für ukrainische Schüler. Für ihr Engagement hat Tytysh, die früher als Journalistin arbeitete, vor kurzem den Walter-Scheel-Preis erhalten.

  • Bildungspolitik
  • Online-Schule
  • Ukraine
  • Unterricht

News: Ukraine

Ostdeutsche Länder setzen auf ukrainische Pädagogen

Sachsen heißt besonders viele ukrainische Lehrer und Hilfskräfte willkommen. Auf 22 ukrainische Schüler kommt dort rechnerisch eine ukrainische Lehrkraft. In Nordrhein-Westfalen teilen sich rund 400 ukrainische Schüler einen Pädagogen mit ukrainischer Staatsangehörigkeit. Das ist das Ergebnis einer Umfrage von Bildung.Table bei den Bundesländern. Dresden meldete 435 angestellte Ukrainer, Düsseldorf lediglich 92. In Relation zu den aufgenommenen ukrainischen Schülern stellten ostdeutsche Bundesländer besonders viel ukrainisches Lehrpersonal ein. 

Wie viele ukrainische Schüler auf eine ukrainische Lehrkraft kommen:

  • <50: Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg
  • 50-100: Bayern, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Hessen, Niedersachsen, Saarland
  • >100: Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen

Rund 200.000 ukrainische Schüler sind laut Kultusministerkonferenz bereits an deutschen Schulen angekommen. Die meisten Schüler hat NRW aufgenommen (37.000). Rund 1.500 Schüler haben dort allerdings noch keinen Schulplatz. In Sachsen-Anhalt, das deutlich weniger Ukrainer aufnahm, klafft eine ähnlich große Lücke zwischen den gemeldeten schulpflichtigen Kindern und den angemeldeten Schülern.

In Sachsen konnte 299 Ukrainern noch kein Schulplatz zugewiesen werden. Um die Neuangekommenen zu beschulen, stellen die Bundesländer auch ukrainische Lehrer und pädagogische Hilfskräfte an, zumeist auf Honorarbasis oder befristet. Insgesamt arbeiten nach Zahlen von Bildung.Table mittlerweile rund 2.500 Ukrainer an deutschen Schulen. Jedoch meldeten Hamburg, Bremen, Thüringen und Schleswig-Holstein keine Daten. Niklas Prenzel

  • Länder
  • Ukraine

Ukrainer in Bayern überwiegend schlecht integriert

Fast vier Fünftel der Lehrer an Gymnasien und Beruflichen Oberschulen in Bayern halten ihre ukrainischen Schüler für nicht gut integriert. Das geht aus einer Umfrage des Bayerischen Philologenverbandes hervor, an der rund 3.000 Lehrkräften teilnahmen (zum Download). Mehr als die Hälfte halten die Integration an ihrer Schule für eher schlecht, 22 Prozent für schlecht.

Zum Schuljahresbeginn hatte das Kultusministerium in Bayern eigens “Brückenklassen” eingerichtet. In ihnen lernen ukrainische Kinder und Jugendliche in den Stufen fünf bis neun intensiv Deutsch. Daneben haben sie Mathe- und Englischstunden. Spätestens zum neuen Schuljahr sollen sie dann in den Regelunterricht wechseln.

Wie die Umfrage zeigt, variiert die Größe der Klassen stark: Jeder fünfte Lehrer hat fünf bis zehn ukrainische Schüler, jeder zehnte mehr als 20. Ein großer Teil unterrichtet 11 bis 15 Ukrainer parallel. Den Unterricht empfinden die meisten Lehrer als belastend. Die Vor- und Nachbereitung sei zeitaufwendiger als bei regulären Stunden.

Michael Schwägerl, Vorsitzender des Bayerischen Philologenverbands, betont, dass Lehrer keine Dolmetscher für Ukrainisch und Russischen seien. “Wir sind auch keine Traumaexperten und unser Zeitkontingent gewährt es auch nicht, psychosoziale Unterstützung im Einzelfall zu leisten”, sagt er. Es brauche “zusätzliches Personal zum Organisieren, Verwalten, Auffangen, Betreuen, Begleiten.”

Gefragt wurden die Lehrer auch danach, ob ihre Schüler zusätzlich noch am ukrainischen Online-Unterricht teilnehmen. Ein Fünftel bestätigte dies für alle Schüler, zwei Drittel nur für einen Teil. Anna Parrisius

Lesen Sie auch: Ombudsmann: Ukrainische Eltern fürchten “Doppelbelastung”

  • Bayern
  • Ukraine

Sonstige News

50.000 Euro für nachhaltige Schulen

Im kommenden Jahr verleiht der Verband Bildung und Erziehung (VBE) nach Informationen von Bildung.Table erstmals einen SchulpreisBildung für nachhaltige Entwicklung” (BNE). Die fünf Gewinnerschulen erhalten jeweils ein Preisgeld von 10.000 Euro – gestiftet vom Versicherungskonzern Signal Iduna. Der Lehrerverband sieht den Preis als Impuls, um BNE zu einem “dauerhaften und fächerübergreifenden” Schwerpunkt an den Schulen auszubauen. Der VBE will den Preis im November 2023 beim Deutschen Schulleitungskongress (DSLK) überreichen.

Die Jury schaut laut VBE darauf, wie die Schulen BNE im Unterricht und beim “fächerverbindenden Lernen” umsetzen. Im Fokus stehen laut Ausschreibung “systematisch aufgebaute Projekte” – möglichst in Kooperation mit außerschulischen Bildungspartnern. “Schulen sollen angeregt werden, gemeinsam mit ihrem Träger einen ganzheitlichen Ansatz zu entwickeln, den Schulalltag, das Schulgelände sowie das Leben im schulischen Quartier im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung zu gestalten”, erklärt Thorsten Uhlig, Vorstandsmitglied bei der Signal Iduna.

Übersicht über die Bewerbungskriterien:

  • Bewerbung bis zum 30. April 2023.
  • Schulen aus dem Primarbereich, den Sekundarbereichen I und II und Förderschulen
  • Preisgeld: Fünf Preise, je 10.000 Euro, zweckgebunden für Nachhaltigkeitsprojekte
  • zur Ausschreibung

2015 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen einstimmig die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Seitdem koordiniert das Bundesbildungsministerium die Umsetzung der UNESCO-Programme und verabschiedete 2017 den Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung des BNE-Programms. Ergänzend hat die Kultusministerkonferenz 2016 einen Orientierungsrahmen “Globale Entwicklung” verabschiedet. Das ist das Fundament. Im Schulunterricht ist BNE jedoch nicht flächendeckend angekommen. Moritz Baumann

Lesen Sie auch: Die Jungen Wilden der Politikdidaktik. Muss BNE politischer werden?

  • BNE
  • Schulentwicklung

MINT-Lücke: IW-Experten fordern Bildungsreformen

Bildungsökonom Axel Plünnecke (IW) spricht sich dafür aus, Bildungschancen in Deutschland zu stärken.

Für rund 325.000 MINT-Stellen finden sich schon heute keine Fachkräfte. Und die Lücke soll noch größer werden. Das ist das Ergebnis des MINT-Herbstreports vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) (zum Download), der am Mittwoch präsentiert wurde. In Auftrag gegeben hatten den Bericht das Nationale MINT-Forum, die Arbeitgeberverbände BDA und Gesamtmetall sowie der Verein “MINT Zukunft schaffen”.

Axel Plünnecke, der am IW das Themencluster Bildung, Innovation und Migration leitet, sagt: “Unternehmen erwarten steigende Bedarfe an MINT-Kräften, um die Herausforderungen von Klimaschutz, Digitalisierung und demografischen Wandel zu meistern.” Der Ukraine-Krieg und steigende Energiepreise erhöhten den Druck, Geschäftsmodelle anzupassen. Meistern könne die deutsche Wirtschaft die Herausforderungen vor allem mit einer stärkeren Innovationstätigkeit. Dafür brauche es aber zusätzliche MINT-Fachkräfte. Besonders groß sind Engpässe in den Energie- und Elektroberufen, im Maschinenbau, der Fahrzeugtechnik und im IT-Bereich.

Mehr Bildungschancen und Digitalisierung der Schulen

Neben Akademikern benötigt die Wirtschaft Fachkräfte mit Berufsausbildung. Indra Hadeler, beim Arbeitgeberverband Gesamtmetall Geschäftsführerin für Bildung und Internationale Beziehungen, sagte: “Große Sorgen macht uns, dass die Anzahl der Studienanfänger:innen in den MINT-Fächern in den letzten fünf Jahren um rund 13 Prozent gesunken sind und auch viele Lehrstellen in MINT-Berufen nicht besetzt werden können.”

Um MINT-Fachkräfte zu gewinnen, sprechen sich die IW-Studienautoren dafür aus, die Zuwanderung zu erhöhen und den Beschäftigungsanteil von Frauen zu erhöhen. In den Vordergrund stellen sie aber folgende Empfehlungen für das Bildungssystem:

  • Bildungschancen stärken: Ein neues Corona-Aufholprogramm soll Lernlücken schließen. Es brauche mehr Sprachförderprogramme und qualitativ hochwertigere Ganztagsangebote.
  • Bildungseinrichtungen weiter digitalisieren: Schulen und Kitas sollen bestehende Lücken bei der digitalen Ausstattung schließen. Dafür bräuchten die Schulen 20.000 zusätzliche IT-Stellen für die Administration. Lehrer sollen intelligente Lernsoftware einsetzen und länderübergreifende Zentren für digitale Bildung sollen digital gestützte Unterrichtsmaterialien entwickeln.
  • MINT-Bildung stärken: Digitale Medienbildung brauche es bereits in Kitas. Der Informatik-Unterricht soll ausgebaut werden. Insbesondere Pädagogen für frühkindliche Bildung und Grundschulen sollten besser qualifiziert werden.

“Wir setzen dabei große Hoffnung in das Startchancen-Programm“, sagt Ekkehard Winter, Vorstand des Nationalen MINT Forums, ein Zusammenschluss von Stiftungen, Wissenschaftseinrichtungen und Fachverbänden. “Bei dessen Ausgestaltung sollten MINT-Lernangebote, auch solche außerschulischer Akteure, eine zentrale Bedeutung bekommen.” Anna Parrisius

Lesen Sie auch: MINT-Lücke: Bildungsökonom fordert Sozialindex an Schulen

  • Fachkräftemangel
  • Institut der deutschen Wirtschaft
  • MINT

BILDUNG.TABLE REDAKTION

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    • Deutsch-ukrainische Begegnungsschule in Berlin – ein Erfolgsmodell?
    • Bildungsaktivistin Halyna Tytysh über Online-Unterricht im Kriegszustand
    • Ukrainische Pädagogen: Willkommenskultur in Ostdeutschland
    • Flüchtlingskinder in Bayern überwiegend schlecht integriert
    • VBE-Schulpreis: 50.000 Euro für nachhaltige Schulen
    • MINT-Lücke: IW-Experten fordern Bildungsreformen
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    Ende Oktober trat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seine Reise nach Kiew an. “Ihr könnt Euch auf Deutschland verlassen“, so lautete seine Botschaft gleich nach Ankunft am Kiewer Bahnhof. Und damit meinte Steinmeier nicht nur Munitionslieferungen und Panzerhaubitzen. Er garantierte implizit auch: Verlässlichkeit für ukrainische Bildungsbiographien.

    Vor einer Woche erst hat die Zahl der ukrainischen Kinder und Jugendlichen an deutschen Schulen die Marke von 200.000 überschritten. Und viele Schulleiter wissen längst: Vorübergehende Gesten der Solidarität genügen nicht. Die Kinder werden bleiben, womöglich viele Jahre.

    In dieser Sonderausgabe stellt Ihnen meine Kollegin Janna Degener-Storr ein Pilotprojekt vor, das der Berliner Bildungsstaatssekretär Alexander Slotty als “bundesweit, vielleicht sogar europaweit” einmalig bezeichnet. Die Hauptstadt erprobt in Begegnungsschulen den bilingualen Unterricht – und der Ansturm ist gewaltig.

    Die Bildungsaktivistin Halyna Tytysh hat mit ihrer NGO seit Kriegsbeginn Online-Unterricht für Tausende ukrainische Schüler organisiert. Dafür wurde sie kürzlich mit dem Walter-Scheel-Preis ausgezeichnet. Im Interview mit Bildung.Table fordert sie nun, Hindernisse im deutschen Bildungssystem endlich aus dem Weg zu räumen.

    Kommen Sie gut ins Wochenende!

    Ihr
    Moritz Baumann
    Bild von Moritz  Baumann

    Analyse

    Ansturm auf bilinguale Klassen

    In Berlin hat die Schulverwaltung etwas Besonderes auf die Beine gestellt: Seit Oktober erhalten ukrainische Schüler in sechs Klassen bilingualen Unterricht. Sie lernen Deutsch als Fremdsprache – und haben Fachunterricht auf Deutsch und Ukrainisch. “Deutsch-ukrainische Begegnungsschule” heißt der Schulversuch. Aktuell erproben die Schulen in einer Vorbereitungsphase die ukrainischen Unterrichtsinhalte, ab dem kommenden Schuljahr sollen auch ukrainische Abschlüsse möglich sein. Beteiligt ist eine deutsch-türkische Europa-Grundschule mit zwei, eine Sekundarschule mit vier Klassen.

    Berlin reagiert auf Forderung der Vize-Bildungsministerin

    Berlin folgt damit einer Forderung von ukrainischer Seite: Laut Berliner Senatsverwaltung hat die ukrainische Vize-Bildungsministerin sich den Ausbau herkunftssprachlicher Angebote an Berliner Schulen gewünscht. Schon im März mahnte die ukrainische Generalkonsulin gegenüber den Kultusministern an, die Geflüchteten nach dem ukrainischen Lehrplan zu unterrichten. Die Kultusminister beschlossen, dass Kinder und Jugendlichen in das deutsche Schulsystem integriert werden sollen und verwiesen auf die deutsche Schulpflicht (Bildung.Table berichtete). Lehrer können laut KMK-Beschluss von Ende Juni Angebote in ukrainischer Sprache nach Möglichkeit freiwillig in den Unterricht einfließen lassen. Ukrainische Online-Materialien dürfen sie im Regelunterricht “ergänzend und flankierend” einsetzen.

    Mit den bilingualen Klassen geht Berlin da einen großen Schritt weiter. Bildungsstaatssekretär Alexander Slotty hat sie ins Leben gerufen. “Bundesweit, vielleicht sogar europaweit, ist es das erste Projekt dieser Art“, sagt er. Wie Berlin das geschafft hat? Mithilfe von Behörden und einer Kommunikationskultur, die es seit der Flüchtlingskrise 2015/-16 gibt. “Wir konnten Schulleitungen und Lehrerkollegien mit ‘Hands-On-Mentalität’ gewinnen, die in Willkommensklassen schon Erfahrung mit Schülern aus der Ukraine hatten und sich mit Mehrsprachigkeit auskennen”, sagt Slotty.

    Einen ukrainischen Abschluss können Schüler immerhin bald auch in München erlangen – und zwar noch in diesem Schuljahr. Dort bietet eine staatlich anerkannte Ergänzungsschule seit kurzem 50 Jugendlichen Schulstunden nach ukrainischem Lehrplan an. Daneben lernen sie Deutsch.

    Ziel ist es, dass sie nach ihrem Abschluss entscheiden können, ob sie in der Ukraine oder in Deutschland ein Studium oder eine Ausbildung beginnen möchten. Die “SchlaU”-Schule (für “Schulanaloger Unterricht”), deren Träger ein Verein ist und die sich generell an Flüchtlinge richtet, erhält dabei Unterstützung vom Bildungsministerium der Ukraine, einer Partnerschule in der ukrainischen Stadt Ternopil sowie dem ukrainischen Konsulat in München.

    Alle Plätze in den bilingualen Klassen sind vergeben

    In Berlin sieht Hans-Jürgen Kuhn, vor dreißig Jahren selbst Staatssekretär für Bildung, im Projekt dort einen “interessanten pädagogischen Versuch”. Die Integration beider Schulsysteme könnte ukrainische Kinder entlasten. Denn bisher, so Kuhns Eindruck, lernen viele vormittags in Willkommensklassen Deutsch, nachmittags haben sie zusätzlich ukrainischen Unterricht – online oder in einer Hausaufgabenbetreuung. Die zivilgesellschaftliche Initiative Schöneberg hilft, für die Kuhn sich engagiert, bietet eine solche Betreuung an. “Viele ukrainische Eltern wollen sich beide Optionen offenhalten – in Deutschland zu bleiben oder in die Ukraine zurückzukehren”, sagt Kuhn.

    Die bilingualen Klassen sind in jedem Fall gefragt: Alle Plätze sind schon vergeben, aber immer noch kommen Anfragen, auch von Eltern aus anderen Bezirken. Das berichtet Harald Leppler, Leiter der Helene-Lange-Schule in Berlin-Zehlendorf. Von Klasse 7 bis 10 lernen ukrainische Schüler dort, an der Integrierten Sekundarschule, auf Deutsch und Ukrainisch.

    Im Vergleich zu den Willkommensklassen, die es seit 20 Jahren an seiner Schule gibt, sieht Leppler jedoch einen Nachteil: In den neuen Klassen sind bisher nur ukrainische Schüler, sie sprechen untereinander Ukrainisch. In Willkommensklassen, in denen Kinder aus Syrien neben Kindern von den Philippinen und aus Russland sitzen, seien die Schüler dagegen eher gezwungen, auch miteinander Deutsch zu sprechen.

    Das Glück der Helene-Lange-Schule

    Erfolgreich sind Willkommensklassen aber nur unbedingt. Forscher des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung haben jüngst aufgezeigt, dass Willkommensklassen zu einem geringeren Bildungserfolg führen – im Vergleich zu Regelklassen. Bilinguale Modelle könnten da möglicherweise bessere Bedingungen bieten. Allerdings braucht es für sie: geeignete Lehrkräfte.

    An der Helene-Lange-Schule hatten sie Glück: “In den letzten Jahren haben wir zufälligerweise drei ukrainische Lehrkräfte eingestellt, die bei der Etablierung der Begegnungsschule eine wichtige Rolle spielten”, erzählt Schulleiter Leppler. Bildungssekretär Slotty betont, dass Berlin mit Beginn des Krieges Stellen für Lehrer auf Russisch und Ukrainisch ausgeschrieben habe. Tatsächlich sind an der Helene-Lange-Schule bereits weitere ukrainische Lehrkräfte tätig. Das B1-Niveau in Deutsch erreichen sie teilweise aber noch nicht. Dabei brauchen sie sehr gute Deutschkenntnisse – für den bilingualen Unterricht und die Kommunikation mit den Kollegen.

    Bleibt die Frage, ob das Berliner Pilotprojekt noch substanziell mehr Schüler wird erreichen können. Leppler meint, man könne in den Unterricht künftig auch Lehrkräfte einbeziehen, die sich digital aus der Ukraine zuschalten, sowie Materialien ukrainischer Online-Plattformen. Nur: Das sei politisch nicht gewollt, ist sein Eindruck. Laut Schulverwaltung sind in der Hauptstadt aktuell sechseinhalb Tausend ukrainischen Schüler zu versorgen. Mengenmäßig, betont der ehemalige Bildungsstaatssekretär Kuhn, hätten die neuen Klassen noch “keinerlei Bedeutung für die eigentlichen Probleme, vor denen Berlin steht.”

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    • Ukraine

    Interview

    “Allein auf Telegram hatten wir 8.000 Abonnenten”

    Halyna Tytysh: Bildungsaktivistin und Preisträgerin des Walter-Scheel-Preises 2022.

    Die Antworten von Halyna Tytysh hat die Redaktion aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.

    Frau Tytysh, Ihre Bildungs-NGO organisiert seit Kriegsbeginn Online-Kurse für ukrainische Schüler. Viele Lehrer haben sich innerhalb kürzester Zeit freiwillig gemeldet. Wie ist Ihnen das gelungen?

    Mit unseren Online-Kursen wollten wir den Schülern eine Ablenkung bieten – auch vor beängstigenden Gedanken. Über ein Online-Anmeldeformular meldeten sich innerhalb weniger Tage 300 Pädagogen aus der Ukraine und der ganzen Welt. Gleichzeitig war die Zahl der teilnehmenden Schüler überraschend hoch – bis zu fünfhundert pro Klasse. Die genaue Teilnehmerzahl kennen wir nicht, aber es waren sicherlich Tausende. Allein auf Telegram hatten wir 8.000 Abonnenten.

    Aktuell werden etwa 200.000 ukrainische Kinder und Jugendliche an deutschen Schulen unterrichtet. Generalkonsulin Iryna Tybinka fordert in einem Gastbeitrag für Bildung.Table, dass die ukrainische Sprache und ukrainische Themen an deutschen Schulen vorkommen müssen. Was halten Sie von der Forderung?

    Wir sind sehr dankbar für die Anstrengungen, die Deutschland unternimmt. Man muss jedoch bedenken, dass die Menschen nicht nach Deutschland gekommen sind, weil sie hier leben möchten, sondern weil der Krieg sie zu Flüchtlingen gemacht hat. Daher ist es sehr wichtig für sie, mit ihrem Heimatland verbunden zu bleiben. Unsere Lehrpläne unterscheiden sich erheblich und viele Eltern haben Angst, dass ihr Kind nach einer Rückkehr mit schlechten oder gar ohne Noten dasteht. 

    Die deutsche Schulpolitik stellt das vor ein Dilemma. Denn die ukrainischen Schüler sollen gleichzeitig am regulären Unterricht teilnehmen. Wie müssten die Stundenpläne an deutschen Schulen also aussehen?

    Ich bin keine Expertin für das deutsche Schulsystem und kenne keine Untersuchungen, welche Optionen am effizientesten sind. Daher fordere ich einfach, wann immer es möglich ist, die ukrainische Sprache, Literatur und Geschichte in den Lehrplan zu integrieren. Es gibt viele Möglichkeiten, etwa bilinguale Schulen und Klassen: Ukrainische Lehrer, die in Deutschland sind, könnten die Fächer an den deutschen Schulen unterrichten und Erfahrungen mit den deutschen Kollegen austauschen. Auch bei außerschulischen Aktivitäten an Nachmittagen oder Wochenenden können ukrainische Kollegen unterstützen. Ich denke, an eine Kooperation beider Bildungssysteme.

    Halyna Tytysh erhält den Walter-Scheel-Preis, gefolgt von einer Laudatio der Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger.

    Was sollte die deutsche Bildungspolitik noch für Schüler aus der Ukraine tun?

    Uns ist eine Frage besonders wichtig: Wie können die ukrainische und die deutsche Regierung die schulischen Leistungen des jeweils anderen Landes anerkennen? Die Universität Cambridge beschäftigt sich bereits für Großbritannien mit dieser Frage. Das wünsche ich mir auch für Deutschland. Ein weiteres Problem ist die zweite Fremdsprache: Für unsere Kinder ist Deutsch bereits, neben Englisch, die zweite Fremdsprache. Französisch oder Spanisch wäre dann eine dritte Fremdsprache. Selbst die begabtesten Schüler werden vor Ende der 10. Klasse nicht in der Lage sein, innerhalb eines Jahres Deutsch und Französisch auf hohem Niveau zu lernen. Vielleicht kann es für dieses Jahr eine Ausnahme geben, so dass Ukrainisch als zweite Fremdsprache in den Abiturprüfungen anerkannt wird.

    Einige Schulen, gerade in den ostdeutschen Bundesländern, bieten auch Russisch an.

    Russisch ist für viele Schüler die Sprache derer, die töten, vergewaltigen und ihr Land zerstören. Ihre Väter sind vielleicht im Krieg und Russland versucht nicht zu verbergen, dass es die Sprache als Kriegswaffe einsetzt – beispielsweise wenn ukrainische Schulbücher weggenommen werden und Sprachunterricht verboten wird.

    Falls sich die Situation in der Ukraine mit Beginn des Winters verschärft, könnten noch mehr Menschen nach Deutschland kommen. Wie sollte sich die deutsche Bildungspolitik auf dieses Szenario vorbereiten? 

    Hoffen wir, dass es nicht so weit kommt. Wissen Sie, ich kenne einen Jungen aus einem besetzten Gebiet, der über einen langen Zeitraum jeden Tag mit dem Fahrrad durch seine ukrainische Heimatstadt gefahren ist, um über einen Internetzugang an unseren Online-Kursen teilzunehmen. Er ist dann über Russland und Estland nach Deutschland geflohen und lebt nun seit zwei Wochen in einer Notunterkunft, wo er nicht mehr lernen kann. Ich weiß nicht, wie ich ihn unterstützen kann. Und ich fürchte, anderen Schülern geht es ähnlich.

    Halyna Tytysh leitet die ukrainischen NGO Smart Osvita (übersetzt: “intelligente Bildung”), die sie 2016 gründete und die ursprünglich Schulungen und Lernmaterialien für Lehrer anbot. Seit Ausbruch des Krieges organisiert die Organisation Online-Kurse für ukrainische Schüler. Für ihr Engagement hat Tytysh, die früher als Journalistin arbeitete, vor kurzem den Walter-Scheel-Preis erhalten.

    • Bildungspolitik
    • Online-Schule
    • Ukraine
    • Unterricht

    News: Ukraine

    Ostdeutsche Länder setzen auf ukrainische Pädagogen

    Sachsen heißt besonders viele ukrainische Lehrer und Hilfskräfte willkommen. Auf 22 ukrainische Schüler kommt dort rechnerisch eine ukrainische Lehrkraft. In Nordrhein-Westfalen teilen sich rund 400 ukrainische Schüler einen Pädagogen mit ukrainischer Staatsangehörigkeit. Das ist das Ergebnis einer Umfrage von Bildung.Table bei den Bundesländern. Dresden meldete 435 angestellte Ukrainer, Düsseldorf lediglich 92. In Relation zu den aufgenommenen ukrainischen Schülern stellten ostdeutsche Bundesländer besonders viel ukrainisches Lehrpersonal ein. 

    Wie viele ukrainische Schüler auf eine ukrainische Lehrkraft kommen:

    • <50: Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg
    • 50-100: Bayern, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Hessen, Niedersachsen, Saarland
    • >100: Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen

    Rund 200.000 ukrainische Schüler sind laut Kultusministerkonferenz bereits an deutschen Schulen angekommen. Die meisten Schüler hat NRW aufgenommen (37.000). Rund 1.500 Schüler haben dort allerdings noch keinen Schulplatz. In Sachsen-Anhalt, das deutlich weniger Ukrainer aufnahm, klafft eine ähnlich große Lücke zwischen den gemeldeten schulpflichtigen Kindern und den angemeldeten Schülern.

    In Sachsen konnte 299 Ukrainern noch kein Schulplatz zugewiesen werden. Um die Neuangekommenen zu beschulen, stellen die Bundesländer auch ukrainische Lehrer und pädagogische Hilfskräfte an, zumeist auf Honorarbasis oder befristet. Insgesamt arbeiten nach Zahlen von Bildung.Table mittlerweile rund 2.500 Ukrainer an deutschen Schulen. Jedoch meldeten Hamburg, Bremen, Thüringen und Schleswig-Holstein keine Daten. Niklas Prenzel

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    Ukrainer in Bayern überwiegend schlecht integriert

    Fast vier Fünftel der Lehrer an Gymnasien und Beruflichen Oberschulen in Bayern halten ihre ukrainischen Schüler für nicht gut integriert. Das geht aus einer Umfrage des Bayerischen Philologenverbandes hervor, an der rund 3.000 Lehrkräften teilnahmen (zum Download). Mehr als die Hälfte halten die Integration an ihrer Schule für eher schlecht, 22 Prozent für schlecht.

    Zum Schuljahresbeginn hatte das Kultusministerium in Bayern eigens “Brückenklassen” eingerichtet. In ihnen lernen ukrainische Kinder und Jugendliche in den Stufen fünf bis neun intensiv Deutsch. Daneben haben sie Mathe- und Englischstunden. Spätestens zum neuen Schuljahr sollen sie dann in den Regelunterricht wechseln.

    Wie die Umfrage zeigt, variiert die Größe der Klassen stark: Jeder fünfte Lehrer hat fünf bis zehn ukrainische Schüler, jeder zehnte mehr als 20. Ein großer Teil unterrichtet 11 bis 15 Ukrainer parallel. Den Unterricht empfinden die meisten Lehrer als belastend. Die Vor- und Nachbereitung sei zeitaufwendiger als bei regulären Stunden.

    Michael Schwägerl, Vorsitzender des Bayerischen Philologenverbands, betont, dass Lehrer keine Dolmetscher für Ukrainisch und Russischen seien. “Wir sind auch keine Traumaexperten und unser Zeitkontingent gewährt es auch nicht, psychosoziale Unterstützung im Einzelfall zu leisten”, sagt er. Es brauche “zusätzliches Personal zum Organisieren, Verwalten, Auffangen, Betreuen, Begleiten.”

    Gefragt wurden die Lehrer auch danach, ob ihre Schüler zusätzlich noch am ukrainischen Online-Unterricht teilnehmen. Ein Fünftel bestätigte dies für alle Schüler, zwei Drittel nur für einen Teil. Anna Parrisius

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    50.000 Euro für nachhaltige Schulen

    Im kommenden Jahr verleiht der Verband Bildung und Erziehung (VBE) nach Informationen von Bildung.Table erstmals einen SchulpreisBildung für nachhaltige Entwicklung” (BNE). Die fünf Gewinnerschulen erhalten jeweils ein Preisgeld von 10.000 Euro – gestiftet vom Versicherungskonzern Signal Iduna. Der Lehrerverband sieht den Preis als Impuls, um BNE zu einem “dauerhaften und fächerübergreifenden” Schwerpunkt an den Schulen auszubauen. Der VBE will den Preis im November 2023 beim Deutschen Schulleitungskongress (DSLK) überreichen.

    Die Jury schaut laut VBE darauf, wie die Schulen BNE im Unterricht und beim “fächerverbindenden Lernen” umsetzen. Im Fokus stehen laut Ausschreibung “systematisch aufgebaute Projekte” – möglichst in Kooperation mit außerschulischen Bildungspartnern. “Schulen sollen angeregt werden, gemeinsam mit ihrem Träger einen ganzheitlichen Ansatz zu entwickeln, den Schulalltag, das Schulgelände sowie das Leben im schulischen Quartier im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung zu gestalten”, erklärt Thorsten Uhlig, Vorstandsmitglied bei der Signal Iduna.

    Übersicht über die Bewerbungskriterien:

    • Bewerbung bis zum 30. April 2023.
    • Schulen aus dem Primarbereich, den Sekundarbereichen I und II und Förderschulen
    • Preisgeld: Fünf Preise, je 10.000 Euro, zweckgebunden für Nachhaltigkeitsprojekte
    • zur Ausschreibung

    2015 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen einstimmig die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Seitdem koordiniert das Bundesbildungsministerium die Umsetzung der UNESCO-Programme und verabschiedete 2017 den Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung des BNE-Programms. Ergänzend hat die Kultusministerkonferenz 2016 einen Orientierungsrahmen “Globale Entwicklung” verabschiedet. Das ist das Fundament. Im Schulunterricht ist BNE jedoch nicht flächendeckend angekommen. Moritz Baumann

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    • Schulentwicklung

    MINT-Lücke: IW-Experten fordern Bildungsreformen

    Bildungsökonom Axel Plünnecke (IW) spricht sich dafür aus, Bildungschancen in Deutschland zu stärken.

    Für rund 325.000 MINT-Stellen finden sich schon heute keine Fachkräfte. Und die Lücke soll noch größer werden. Das ist das Ergebnis des MINT-Herbstreports vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) (zum Download), der am Mittwoch präsentiert wurde. In Auftrag gegeben hatten den Bericht das Nationale MINT-Forum, die Arbeitgeberverbände BDA und Gesamtmetall sowie der Verein “MINT Zukunft schaffen”.

    Axel Plünnecke, der am IW das Themencluster Bildung, Innovation und Migration leitet, sagt: “Unternehmen erwarten steigende Bedarfe an MINT-Kräften, um die Herausforderungen von Klimaschutz, Digitalisierung und demografischen Wandel zu meistern.” Der Ukraine-Krieg und steigende Energiepreise erhöhten den Druck, Geschäftsmodelle anzupassen. Meistern könne die deutsche Wirtschaft die Herausforderungen vor allem mit einer stärkeren Innovationstätigkeit. Dafür brauche es aber zusätzliche MINT-Fachkräfte. Besonders groß sind Engpässe in den Energie- und Elektroberufen, im Maschinenbau, der Fahrzeugtechnik und im IT-Bereich.

    Mehr Bildungschancen und Digitalisierung der Schulen

    Neben Akademikern benötigt die Wirtschaft Fachkräfte mit Berufsausbildung. Indra Hadeler, beim Arbeitgeberverband Gesamtmetall Geschäftsführerin für Bildung und Internationale Beziehungen, sagte: “Große Sorgen macht uns, dass die Anzahl der Studienanfänger:innen in den MINT-Fächern in den letzten fünf Jahren um rund 13 Prozent gesunken sind und auch viele Lehrstellen in MINT-Berufen nicht besetzt werden können.”

    Um MINT-Fachkräfte zu gewinnen, sprechen sich die IW-Studienautoren dafür aus, die Zuwanderung zu erhöhen und den Beschäftigungsanteil von Frauen zu erhöhen. In den Vordergrund stellen sie aber folgende Empfehlungen für das Bildungssystem:

    • Bildungschancen stärken: Ein neues Corona-Aufholprogramm soll Lernlücken schließen. Es brauche mehr Sprachförderprogramme und qualitativ hochwertigere Ganztagsangebote.
    • Bildungseinrichtungen weiter digitalisieren: Schulen und Kitas sollen bestehende Lücken bei der digitalen Ausstattung schließen. Dafür bräuchten die Schulen 20.000 zusätzliche IT-Stellen für die Administration. Lehrer sollen intelligente Lernsoftware einsetzen und länderübergreifende Zentren für digitale Bildung sollen digital gestützte Unterrichtsmaterialien entwickeln.
    • MINT-Bildung stärken: Digitale Medienbildung brauche es bereits in Kitas. Der Informatik-Unterricht soll ausgebaut werden. Insbesondere Pädagogen für frühkindliche Bildung und Grundschulen sollten besser qualifiziert werden.

    “Wir setzen dabei große Hoffnung in das Startchancen-Programm“, sagt Ekkehard Winter, Vorstand des Nationalen MINT Forums, ein Zusammenschluss von Stiftungen, Wissenschaftseinrichtungen und Fachverbänden. “Bei dessen Ausgestaltung sollten MINT-Lernangebote, auch solche außerschulischer Akteure, eine zentrale Bedeutung bekommen.” Anna Parrisius

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