Bei der Bundestagswahl wurde die neonazistische AfD deutschlandweit zweitstärkste Kraft, sie verdoppelte sich von 10 auf 20 Prozent und wurde in Bochums Nachbarstadt Gelsenkirchen, also im Herzen der SPD-Hochburg Ruhrgebiet, sogar stärkste Kraft. Das Ausmaß der Zuwächse der AfD sind besorgniserregend: 1930 kam Hitlers NSDAP bei reichsweiten Wahlen noch auf 18,5 Prozent, drei Jahre später war die erste deutsche Demokratie Geschichte. Viele SPD-Mitglieder, auch viele Parteilinke, zu denen auch ich gehöre, wollen beim SPD-Mitgliederentscheid darum für eine Regierung mit der CDU stimmen. Denn eine stabile Regierung schützt unsere Demokratie am verlässlichsten vor dem Wiedererstarken des Faschismus. Und die Demokratie zu schützen, ist die historische Aufgabe der SPD.
Und unsere Demokratie ist auch tatsächlich bedroht. Denn sowohl ihr rechtsradikale Programm der AfD als auch die diversen neonazistischen Auftritte ihrer Funktionär*innen zeigen, dass ein Bruch mit so ziemlich allem, was unsere Demokratie in den letzten Jahrzehnten ausgemacht hat, möglich ist. Viele in der SPD – auch mich – besorgt, dass die CDU im Bundestag trotzdem mit der AfD zusammenarbeiten könnte, wenn es nicht zu einer „GroKo“ kommt. Auch das wäre richtig gefährlich – denn die Weimarer Republik scheiterte nicht vor allem an der Stärke der Nazis, sondern an der Schwäche der Demokrat*innen.
Dabei sind ohnehin schon viele AfD-Forderungen in den letzten Jahren in den politischen Mainstream übergegangen – ich erinnere an das Spiegel-Cover, auf dem Olaf Scholz forderte, man müsse „endlich im großen Stil abschieben“. Das verstärkt natürlich den Eindruck, die AfD verfüge über eine massive disruptive Kraft. Daraus ist zuletzt erkennbar ein Teufelskreis geworden: Man versuchte, sich migrationspolitisch an AfD-Forderungen anzunähern, um Wähler*innen zurückzugewinnen, dadurch wurde die Partei stärker und damit der vermeintliche Druck, auf AfD-Wähler*innen zuzugehen – anstatt sie von einer anderen Politik zu überzeugen – größer.
Zum Durchbrechen dieses Teufelskreises braucht es eine Koalition, die mit dem gegenwärtigen Rechtsruck erkennbar bricht und denjenigen Menschen, die sich politisch abgegrenzt haben, eine einigende gesellschaftliche Perspektive aufzeigt. Wäre das der Fall, wäre es aus meiner Sicht alternativlos, für den Eintritt der SPD in einer CDU-geführte Bundesregierung zu stimmen. Auch wenn das für die SPD keinesfalls angenehm, sondern vielleicht sogar existenzbedrohend wäre.
Im vorliegenden Sondierungspapier kann ich diese Trendwende – trotz aller, gerade fiskalpolitischer, Lichtblicke – jedoch (noch) nicht erkennen. Ein Beispiel: Das Ende des Bürgergelds und die Rückkehr der Totalsanktionen nährt das rechts-neoliberale politische Narrativ, das diejenigen, die wenig haben, gegen diejenigen, die noch weniger haben, auszuspielen sucht. Nicht umsonst ist darüber hinaus im Sondierungspapier von „großangelegten Sozialbetrug“ zu lesen, nicht aber vom 100-Milliarden-Steuerbetrug der Superreichen. Der Ton der Debatte ist damit gesetzt.
Meine Sorge ist: Das Fortführen von neoliberaler Sozialpolitik, zu der übrigens auch das Aufweichen des Acht-Stunden-Tages gehört, beraubt der Koalition jeder Grundlage, AfD-Wähler*innen für unsere Demokratie zurückzugewinnen. Denn Studien zeigen: Nur eine Politik, welche die materielle Teilhabe aller Menschen verbessert, wäre dazu tatsächlich in der Lage. Neben der Mindestlohn-Erhöhung und dem Tariftreuegesetz bräuchte es darum zumindest auch eine echte Kindergrundsicherung, ein Verbot von sachgrundlosen Befristungen, eine unbefristete Verlängerung der Mietpreisbremse und eine Erhöhung des Rentenniveaus. Auch diese Themen haben nämlich die Nachwahlbefragungen bestimmt. Und es braucht einen umfassenden Plan für Klimagerechtigkeit, denn wie beim Kampf gegen den Faschismus haben wir auch beim Kampf gegen die Klimakrise längst keine Zeit mehr zu verlieren!
Vor allem aber bräuchte es einen gesellschaftspolitischen Rahmen, der auf Zusammenhalt statt Spaltung setzt. Wir bräuchten eine Erzählung, die Verbindungen schafft: Zuwandernde Pflegekräfte entlasten uns. Geflüchtete, die ab dem ersten Tag arbeiten dürfen, stärken unsere Sozialversicherungen und ein höherer Mindestlohn sorgt für mehr im Geldbeutel – unabhängig von der eigenen Herkunft. Das weiß bei uns im Ruhrgebiet nun wirklich jede*r. Aber es waren auch wir Sozialdemokrat*innen, die das in den letzten Jahren zu selten gesagt und nicht in den Mittelpunkt der Debatte gerückt bekommen haben.
Das zeigt sich leider auch im Migrationskapitel: Das Aussetzen des Familiennachzugs behindert wider besseres Wissen die Integration. Die Zwangseinführung einer Bezahlkarte ist eine organisatorische und finanzielle Mehrbelastung kommunaler Verwaltungen nur mit dem Ziel, Schutzsuchende zu drangsalieren. Am schlimmsten aber ist, dass die Möglichkeit geschaffen werden soll, Doppelstaatler*innen die deutsche Staatsangehörigkeit abzuerkennen, sobald der Verfassungsschutz Anhaltspunkte für eine „extremistische Gesinnung“ sieht. Das tritt sowohl die historische Lehre aus dem Nazi-Faschismus, dass niemanden die Staatsangehörigkeit aus politischen Gründen aberkannt werden darf, als auch grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien mit Füßen. In Bochum haben wir das SPD-Direktmandat auch aufgrund des Vertrauens vieler Doppelstaatler*innen in die SPD verteidigt – sie würden wir mit dieser Politik enttäuschen.
Hinzu kommt, dass es gegen das Aufkommen globalen Autoritarismus eine ernsthafte europäische Einigung braucht. Aber eine deutsche Bundesregierung, die dauerhafte Grenzkontrollen will und Zurückweisungen von Fliehenden gegen den Willen der Nachbarstaaten zumindest nicht klar ausschließt, bewirkt eindeutig das Gegenteil bewirkt.
Mein Fazit aus den Sondierungsgesprächen ist darum noch nicht überzeugend. Ich würde beim SPD-Mitgliederentscheid wirklich gerne mit Ja stimmen können. Weil vier Jahre unter einer stabilen Regierung, die demokratiefördernde Politik macht, wirklich wichtig wären gerade. Und weil es hieße, dass wir selbst im Worst Case noch vier Jahre hätten, bevor die AfD akut demokratiegefährdend werden könnte. Aber ich kann und werde nicht für einen Koalitionsvertrag stimmen, der meinem eigenen Gewissen fundamental widerspricht und dann noch nicht einmal auf das Ziel hinarbeitet, die AfD im Ruhrgebiet und überall aufzuhalten.
Ich hoffe jetzt darauf, dass sich in den Verhandlungen noch etwas bewegt.
Jan Bühlbecker ist Vorsitzender der SPD Wattenscheid-Mitte/Westenfeld