Interview
Erscheinungsdatum: 08. Januar 2024

Kretschmer: „Die Ukraine ist ganz klar das Opfer und Putin der Täter"

Michael Kretschmer will im September als Sachsens Ministerpräsident wiedergewählt werden – gegen die in Umfragen derzeit dominierende AfD. Im Interview spricht er über schwierige Mehrheitsfindungen, sein demokratisches Verständnis und seine Haltung zu Russland.

Sie feiern dieses Jahr Jubiläum, 1994 wurden Sie Stadtrat in Görlitz. In 30 Jahren Polit-Karriere mit vielen Freuden und Härten, wo werden Sie das Jahr 2024 am Ende wohl einordnen?

2024 wird sehr aufregend und aufreibend. Vom ersten Tag an ist das Jahr extrem wichtig und es geht um viel. Ich empfinde manches in 2024 wie 2019: Umfragen, Stimmung und Fragen sind ähnlich. Aber ich erfahre mehr Zuspruch als 2019.

Wie zeigt der sich?

Die Menschen kennen mich inzwischen als Ministerpräsident seit sechs Jahren und wissen, dass ich sage, was ich denke und tue, was ich sage. Aus den vielen Gesprächen mit den Menschen in unserem Land ziehe ich sehr viel Kraft. Die Sachsen erwarten zu Recht, dass sie gehört und ernstgenommen werden.

Worin waren Sie 2019 unsicher?

Ich hatte noch nie eine Regierung geführt und hatte bis dahin auch kein Ministeramt. Dennoch hatte ich viele Unterstützer, auch in der Koalition aus der SPD. Aber es gab auch Bürgermeister, Landräte, Menschen im Land, die gesagt haben: Der hat gerade eine Bundestagswahl verloren. Jetzt ist der Ministerpräsident. Heute wissen die Sachsen, woran sie mit mir sind.

Woran sind die Menschen mit Ihnen?

Sie haben jemanden, der versteht, was die Interessen dieses Landes sind, und keine Angst hat, die in Berlin so zu vertreten. Und ich bin meinem Grundsatz treu geblieben: zuhören, verstehen, anpacken.

Aber ist das Interesse an einer demokratischen Auseinandersetzung überhaupt noch groß genug? Zeichnen der Umfrageerfolg der AfD, zuletzt mit 37 Prozent in Sachsen, oder schwierige Mehrheitsbildungen wie in Thüringen nicht ein anderes Bild?

In Thüringen sind sehr viele Probleme hausgemacht. Alle haben sich miteinander so verhakt, dass am Ende dieses Ergebnis rausgekommen ist. Die Thüringer Politik hat auch einen gewissen Eigensinn.

Und Sachsen ist nicht eigensinnig?

Sachsen sind vor allen Dingen sehr stolz auf ihre Heimat und sehr klug.

Aber nicht eigensinnig?

Die Stimmung und die Parteien im sächsischen Landtag sind anders. Nur die Bösartigkeit der AfD ist die gleiche. Die AfD in Sachsen ist genauso eine Höcke-Partei. Dieser Mann ist hier ständig präsent, es gibt keine Distanzierung. Im Erzgebirge haben sie einen bekennenden Rechtsextremen als Landtagskandidaten aufgestellt.

Womit wir zurück zur Frage kommen: Schwindet da nicht das Interesse an einer demokratischen Auseinandersetzung?

Das ist wirklich eine ernste Bedrohung für diese Demokratie. Deswegen ist es so bitter, dass ein Land, das bei Republikanern, DVU, NPD gesehen hat, dass diese Phänomene nur verschwinden, wenn man dem den Nährboden entzieht, stattdessen über Brandmauern und Verbote spricht. Das sind Brandbeschleuniger für die AfD. Man muss die Ursache bekämpfen. Aber die Bundesregierung schafft nur neue Frustration und neues Protestpotenzial.

Reicht das wirklich als Erklärung dafür, dass es so schwer geworden ist, demokratische Mehrheiten zu bilden?

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir es nach der Wahl schaffen, eine bürgerliche Regierung zu bilden. Diese Umfrage jetzt ist für viele Menschen ein Weckruf. Was die drängenden Themen für die Menschen sind, ist klar: Migration, Energiepolitik, wirtschaftlicher Abschwung und Ukrainekrieg. Die Bürgermeister sagen ganz klar: Mit der Migration geht es so nicht weiter. Das ist auch die Meinung der Ministerpräsidenten. Leute mit Bleibeperspektive müssen integriert werden. Wir brauchen eine härtere Begrenzung für Migration. Wir haben nicht genug Wohnung, Kita- und Integrationskursplätze. Auch die finanziellen Mittel sind nicht vorhanden.

Wie wollen Sie Migration ganz konkret begrenzen?

Wir müssen raus aus der Kleinklein-Logik der Ampel-Koalition, bei der jeder dem anderen ein Bein stellen kann. Die Migration ist eine enorme Herausforderung für unser Land, die wir eingrenzen müssen. Zusammen mit allen Parteien, Kirchen, Unicef, Wirtschaftsverbänden wird man eine Lösung finden müssen. Wir müssen bereit sein zu Grenzkontrollen, Grundgesetzänderungen, Rückführungsabkommen, Sozialleistungskürzungen. Ich bin bereit dazu. Die Bundesregierung ist nicht bereit, zu realisieren, was sie versprochen hat.

Im Dezember stufte der Verfassungsschutz die Sachsen-AfD als gesichert rechtsextrem ein, im Januar erreicht sie ihren besten Umfragewert. Das sagt doch auch etwas über das Verhältnis zu unseren demokratischen Institutionen aus.

Der größte Teil der Menschen verfährt nach dem Prinzip einer Output-Legitimation. Die wenigsten beschäftigen sich jeden Tag mit politischen Prozessen, Gewaltenteilung, der Frage, wofür Kommunen, Bund und Länder zuständig sind. Sie wollen schlicht, dass Probleme gelöst werden. Paragraphen sind nichts anderes als in Gesetze gegossene Wertvorstellungen einer Gesellschaft. Wenn die Gesetze nicht mehr dem entsprechen, was die Menschen wollen, muss man sie ändern. Die meisten Menschen wollen Migration begrenzen, und das Gegenteil passiert. Wie sollen sie da Zutrauen in die Politik haben?

Sie halten den Verfassungsschutz und unsere Gesetzgebung also nicht mehr für zeitgemäß.

Doch. Der Verfassungsschutz wird das rechte Problem aber nicht lösen. Kein Gericht wird es klären können und keine Polizei, sondern einzig und allein Wählerinnen und Wähler.

Sie beschreiben ein System, in dem die Gewählten nicht mehr die Interessen derjenigen vertreten, die sie gewählt haben. Klingt so, als zweifelten Sie grundsätzlich an der repräsentativen Demokratie.

Die Grünen in der Bundesregierung machen genau das. Noch nie war das Verhältnis zwischen Bund und Ländern so schlecht – das sagen übrigens auch Länderkollegen von Grünen und SPD.

Besonders harmonisch ist das Verhältnis auf Bundes- wie Länderebene auch innerhalb der Dreierbündnisse nicht.

Ja, und das merkt man auch. Aber es gibt ja nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie hören auf und geben das Mandat zurück an die Bevölkerung, oder man versucht einen vernünftigen Weg zu gehen. Ich bin nicht Teil der Berliner Koalition. Ich kann nur ein Angebot machen. Und dem Bundeskanzler habe ich gesagt: Wenn Sie erfolgreich sind, dann ist dieses Land erfolgreich. Ich helfe gerne mit. Ich glaube, dass Sie nicht erfolgreich sind derzeit. Also ändern Sie Dinge. Lassen Sie uns das gemeinsam machen.

Dass Sie über den Streitigkeiten schweben, lässt sich kaum behaupten. Sie sind so genervt von den Grünen, dass Sie angekündigt haben, nicht mehr mit ihnen koalieren zu wollen.

Weil die Grünen ihre Programmatik nicht mit dem wirklichen Leben abgleichen. Deren Programm verkommt als Maßstab allen Handelns zur Ideologie. Das Abschalten unserer drei Atomkraftwerke war völliger Irrsinn.

Sehr unterschiedlich haben Sie und die Grünen sich auch zu Russland und der Ukraine geäußert. Viele kritisierten Sie als Putin-Versteher.

Putin ist ein Verbrecher. Er hat diesen Krieg losgetreten. Die Ukraine ist ganz klar das Opfer und Putin der Täter. Es gibt nicht den kleinsten Grund für eine Angriffs-Rechtfertigung. Die Ukraine ist ein freies Land.

Und doch wollen Sie sich nicht so offen gegen Russland stellen wie die meisten anderen Regierungsmitglieder in Bund und Ländern.

Auf zwei Komponenten habe ich von Anfang an hingewiesen: Die Bundesrepublik Deutschland darf sich ihre ökonomische Kraft nicht nehmen. Nur wenn Deutschland ökonomisch stark ist, kann es sich sicher aufstellen gegen unsichere Nachbarn wie Russland oder unsichere Weltmächte wie China. Deswegen muss man sich bei der Frage nach Sanktionen sehr genau überlegen, ob man in erster Linie dem anderen oder sich selbst schadet. Viele Entscheidungen in Berlin haben der Ökonomie in Deutschland sehr geschadet. Ich finde es auch völlig inakzeptabel, dass es bis heute kein vernünftiges Statement der Bundesregierung zum Anschlag auf die Pipeline Nord Stream I gegeben hat – geschweige denn, dass diese Pipeline gesichert wurde, um in der Zukunft zumindest die Option einer Nutzung zu haben.

Zweitens?

Es ist klar, dass wir die Ukraine unterstützen. Waffenlieferungen finde ich aber schwierig, weil sie der Sicherheits- und Außenpolitik widersprechen, die Deutschland über Jahrzehnte betrieben hat. Uns war immer wichtig, keine Waffen in Kriegsregionen zu senden. Es entsteht dadurch eine schiefe Ebene. Dieses Unrecht, dieser Krieg, dieses furchtbare Leid muss ein Ende haben und darf nicht die gesamte Welt ins Chaos stürzen. Die Abhängigkeit der Brics-Staaten von Gas und Öl treibt sie Russland in die Hände. Ich bleibe mir treu bei meiner Forderung: Man muss diesen Krieg anhalten.

Also fordern Sie, dass die Bundesregierung ihre Unterstützung für die Ukraine im Lauf des Jahres auslaufen lässt.

Nein. Diplomatie bedeutet, dass man mit Akteuren in einen Dialog tritt, mit denen man keine gemeinsamen Interessen und Werte hat. Aber unsere Außenministerin sagt, es sei nicht die Zeit für Diplomatie, sondern für Waffenlieferungen. Das finde ich verstörend.

Ihre Meinung weicht auch von der Ihres eigenen Parteichefs ab, zu Kriegsbeginn zeigte sich das besonders.

Friedrich Merz und ich sind unterschiedlicher Meinung, auch heute noch. Aber ihn interessieren andere Meinungen. Er fragt immer wieder danach und macht sie sichtbar in den Gremien.

Auch bei Corona, als Sie mal auf der Intensivstation Betroffenheit zeigten und dann wieder mit Verschwörungsideologen in Aluhüten diskutierten, schüttelten einige den Kopf über Sie, warfen Ihnen einen Zick-Zack-Kurs vor.

Ich lege großen Wert darauf, dass mein Wort gilt. Ich spreche mit den Bürgerinnen und Bürgern, weil nur im Dialog Verständnis und Respekt entstehen. Wenn man nicht mehr miteinander redet und sich um Verständnis bemüht, polarisiert sich die Gesellschaft.

Einen Kipp-Punkt haben Sie sicherlich erlebt, als Gegner Ihrer Corona-Politik vor Ihrem Privathaus pöbelten.

Das Schlimme war nicht das Gespräch miteinander, sondern die völlige Negierung der Realitäten. Ich war kurz vorher auf der Intensivstation und kannte zum Teil die Leute, die da wegen Corona im Sterben lagen. Die Särge standen teilweise im Freien, weil die Krematorien so überlastet waren. Und die Leute sagen: „Das stimmt alles nicht.“ Das hat mich lange umgetrieben.

Und trotzdem sagen Sie, dass man mit allen reden kann?

Solange nicht der Staatsanwalt kommen muss, weil es extremistisch, bösartig, Beleidigung oder Gewalt ist, muss man als politisch Verantwortlicher reden. Das Reden ist keine Frage des Könnens oder Wollens. Das Reden ist eine Frage des Müssens.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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