Hermann Färber (CDU) war ungehalten. „Der Bürgerrat wartet seit acht Monaten auf eine Antwort“, rief er kürzlich im Plenum des Bundestages. „Die haben verdient, dass sie im Lauf dieses Jahres eine Antwort bekommen, wie mit ihren Empfehlungen weiter verfahren werden soll.“ Thema der Debatte war ein Antrag der Linkspartei, an allen Schulen und Kitas im Land ein „Mittagessen – kostenfrei, gesund und lecker“ einzuführen.Dass der Antrag keine Mehrheit erhalten würde, war absehbar. Auch wenn er weitgehend der Empfehlung glich, die der Bürgerrat „Ernährung im Wandel“ im vergangenen Februar mit höchster Priorität versehen und der Bundestagspräsidentin vorgelegt hatte. Genau auf diese Empfehlung bezog sich die Mahnung des schwäbischen Christdemokraten. Als Vorsitzender des Ernährungsausschusses ist er mitverantwortlich für die Umsetzung der Empfehlungen des Bürgerrates. Und die schleppt sich nicht nur hin. Weil die FDP die Mitarbeit erklärtermaßen eingestellt hat, spricht viel dafür, dass aus den Arbeiten des Rates nichts mehr folgt. Und das bringt selbst einen Gemütsmenschen wie Färber auf die Palme.Die Idee der Bürgerräte war 2021 im Koalitionsvertrag der Ampel festgeschrieben worden. Gedrängt hatten vor allem SPD und die Grünen, die FDP war schon damals nicht wirklich begeistert.„Wir wollen die Entscheidungsfindung verbessern“, hieß es seinerzeit in der Koalitionsvereinbarung. „Eine Befassung des Bundestages mit den Ergebnissen wird sichergestellt.“
Einberufen hatte den Bürgerrat „Ernährung im Wandel“ Parlamentspräsidentin Bärbel Bas im September 2023. 157 zufällig ausgewählte Bürger waren zum Auftakt nach Berlin geladen, bis auf wenige Ausnahmen waren alle gekommen. Zwei Wochenenden und sechs digitale Sitzungen lang beschäftigten sie sich danach unter anderem mit Lebensmittelverschwendung, gesundem Essen, Tierwohl, Zuckergetränken oder auch Lebensmittelkontrollen.
Sie diskutierten über staatliche Label und Altenheime, über Steuersätze und Stallumbauten, sie hörten sich Mediziner und Wissenschaftler, Experten und Lobbyisten an. Und sie staunten über Absurditäten wie etwa den Umstand, dass für den Einzelhandel das Wegwerfen von Lebensmitteln günstiger ist als es kostenlos weiterzugeben. Oder dass Süßkartoffeln anders besteuert werden als deutsche Feldkartoffeln. „Die haben sich umgehört, selbst recherchiert, viel Zeit investiert und richtig reingekniet“, lobt Färber das Engagement.Am Ende verständigten sich die Räte mehrheitlich auf neun Empfehlungen, abgefasst auf 56 Seiten in einer Bundestagsdrucksache. Ganz oben in der Prioritätenliste landete das kostenfreie Mittagessen für alle Kinder, auch wenn allen klar war, dass die Umsetzung wegen der Bund-Länder-Kompetenzen kompliziert ist. Aber es hatte für eine große Mehrheit eine besondere Bedeutung. Es folgten ein verpflichtendes staatlich zertifiziertes Produktelabel, Maßnahmen gegen die Verschwendung von Lebensmitteln oder auch die Forderung nach mehr Personal für Lebensmittelkontrollen.
Die Übergabe der Ratschläge fand im Februar statt, am 18. März debattierte der Bundestag über sie zur Kernzeit 68 Minuten lang. Von einem „wirklich gelungenen Gutachten“, sprach SPD-Berichterstatterin Marianne Schieder, von einer „super Grundlage“ und „sehr, sehr wertvollen Anregungen“ ihr Kollege Matthias Miersch. Renate Künast (Grüne) hingegen ahnte den Gang der Dinge wohl schon. Sie mahnte die Kollegen: „Wer Bürger hört, muss dann auch mal Konsequenzen ziehen.“
CDU-Mann Färber war ob des Engagements und der Ergebnisse der Freiwilligen beeindruckt. Auch wenn seine Fraktion die Einsetzung des Rates ursprünglich abgelehnt hatte – er sah seinen Ausschuss in der Pflicht. Und auch er mahnte: „Sie haben uns ins Stammbuch geschrieben, dass diese Themen mehr Beachtung finden müssen!“ Und: „Wir dürfen uns nicht darauf beschränken, dem Bürgerrat zu sagen, was warum nicht geht.“
Die Liberalen hingegen erneuerten ihre Vorbehalte, die sie während der Koalitionsgespräche zwar eingebracht, letztlich aber zurückgestellt hatten. Nun nicht mehr. „Wir brauchen keine Parallelstrukturen“, kritisierte FDP-Mann Ingo Bodtke. Nach seinem Verständnis „bilden wir Bundestagsabgeordnete den Bürgerrat“. Und für Bodtkes Kollegen Gero Hocker entsprachen einige Forderungen des Rates „doch ein bisschen einem Wünsch-dir-was“. Ein solcher Rat, bemängelte er, müsse doch „die Praktikabilität seiner Forderungen viel mehr in den Blick nehmen“.
Mehrere Fachgespräche des Ernährungsausschusses folgten, vor und nach der Sommerpause – Erörterungen, in denen Lobbyisten, Mediziner und Ernährungsfachleute, aber auch Mitglieder des Bürgerrates noch einmal ihre Expertise einfließen ließen. Doch auf einen Beschlussantrag oder gar Gesetzentwurf konnte sich der Ausschuss nicht verständigen. „Das ist bisher nicht gewollt“, konstatiert der Vorsitzende Färber nüchtern. Auch sonst hielt sich das Interesse in Grenzen: Die Mitglieder des Gesundheits- und Finanzausschusses, die zu den Themen Energydrinks und Verschwendung geladen waren, erschienen erst gar nicht.
„Bisher hat das eher lustlos gewirkt“, klagte Färber im Bundestagsplenum. Zumindest rhetorisch sprangen ihm Renate Künast und Rita Hagl-Kehl (SPD) bei. „Wir können den Bürgerrat nicht so gehen lassen“, befand die eine. „Es ist jetzt unsere Pflicht, dass wir einen Weg finden“, forderte die andere. Auch Färber ist offensiver geworden. „Ich lass’ das denen nicht durchgehen.“ Er habe den mitberatenden Ausschüssen eine Frist bis Anfang Dezember für eine Stellungnahme gesetzt, um die Empfehlungen bis Ende des Jahres abschließend im Plenum beraten zu können. Färber: „Es kann nicht sein, dass das versandet: Der Bürgerrat braucht eine Antwort, das ist unabdingbar“.
Von Beginn an stand fest, dass die Wunschliste des Rates nur empfehlenden Charakter haben würde. Verpflichtend ist davon nichts. „Mit drei oder vier Themen sollten wir aber schon ins Plenum gehen “, befindet Färber, der zu einigen Vertretern des Rates in Kontakt steht: „Die erwarten, dass in dieser Legislaturperiode noch was passiert.“ Färber will die Empfehlungen nicht bewerten, aber: „Das Parlament ist dem von ihm eingesetzten Bürgerrat zumindest eine Antwort schuldig.“
Zumal ein begleitendes Forschungsgutachten zu überaus positiven Ergebnissen kam. Es attestierte den Räten durchweg „erfolgreiche“ Arbeit. Der Bürgerrat sei „nicht nur im Ergebnis, sondern auch aus Prozessperspektive erfolgreich“ gewesen. Er habe ein genaues Bild skizziert, welche Maßnahmen für eine gesündere und nachhaltigere Ernährung gewünscht seien, welchen Beitrag die Menschen selbst zu leisten bereit seien und ob und wie das Parlament aktiv werden sollte. Auch für die Teilnehmenden sei die Teilnahme „eine eindeutig positive und bereichernde Erfahrung“ gewesen. Zwei Befragungen kamen zudem zu dem Ergebnis, dass rund 80 Prozent der Deutschen die Idee eines Bürgerrates für eine gute oder sehr gute Idee halten.
Doch nun, elf Monate vor der Bundestagswahl, wird die Zeit knapp, um auch nur einen einzigen Gesetzentwurf noch durchs Parlament zu bringen. Auch die Bundestagspräsidentin soll intern auf mehr Aktivitäten drängen, äußern zum absehbaren Absturz einer ursprünglich guten Idee wollte sich Bas nicht. Inzwischen werden die ersten Bürgerräte ungeduldig. Zwei Dutzend von ihnen haben ein Schreiben an die Bundestagspräsidentin unterzeichnet, in dem sie ihren Unmut über die Passivität der Parlamentarier formulieren. Natürlich könnten „nicht alle Empfehlungen übernommen und zeitnah umgesetzt werden", heißt es da immer noch freundlich formuliert; sollte jedoch keine einzige der Empfehlungen übernommen werden, „so würde dies das Vertrauen in das Instrument und allgemein die Demokratie beschädigen".
Viele der Bürgerräte waren in das Projekt mit einigen Erwartungen eingestiegen. Es hätte wohl tatsächlich eine Chance sein können, die über die Jahre gewachsene Distanz zwischen Wählerinnen und Wählern und politischen Institutionen zu überbrücken. Denn dass das Vertrauen des Wahlvolks in die Institutionen zuletzt massiv gelitten und den Höhenflug populistischer Parteien maßgeblich befeuert hat, ist unbestritten. Auch Bas hatte zu Beginn den Anspruch formuliert, mit der Hilfe von Bürgerräten solle „die parlamentarische Demokratie gestärkt und mehr Teilhabe ermöglicht“ werden. Das, so scheint es nun, sehen offenkundig nicht alle Parlamentarier so.
Die Bundestagspräsidentin ist jetzt gefordert. Die Unterzeichner haben ihre Erwartungen in dem Schreiben deutlich formuliert: Sie habe bei der Übergabe doch die „hohe Wertschätzung der Abgeordneten" für das Gutachten betont. Dem möge sie jetzt bitteschön auch Rechnung tragen. Und schließlich: „Frau Bundestagspräsidentin, uns interessiert hierzu Ihre Meinung! Wir freuen uns über eine Rückmeldung Ihrerseits sehr."
Und die Bürgerräte selbst? Sie waren ohnehin skeptisch. Zwei Drittel der Befragten hatten nach der März-Debatte nur teilweise den Eindruck, dass die Parlamentarier das Format Bürgerrat überhaupt ernst nehmen. In der Grundhaltung, so schreibt es die Begleituntersuchung, seien sie davon ausgegangen, „dass nun ‚die Politik’ in der Bringschuld sei, weil ‚die Bürger’ geliefert hätten. Ein gutes Viertel der Befragten gab schon da an, nicht mehr daran zu glauben, dass der Bundestag die Empfehlungen aufnehmen werde.
Es scheint, als ob die Abgeordneten sie bestätigen wollen.