Hat der Kanzler die Ampel beendet, inklusive Wutrede? Oder war es die FDP, die das alles inszeniert und provoziert hat? Zwei Veröffentlichungen vom Freitag zeigen, wie der Kampf um die Deutungshoheit zum ersten Bestandteil eines hyperheiklen Wahlkampfs geworden ist – und mindestens den Start des Grünen-Parteitags überlagert hat. Die Berichte in Zeit und SZ beschreiben in etwas unterschiedlicher Tonlage, wie sich die FDP-Führung in mehreren Treffen mit allen Szenarien eines Ausstiegs beschäftigt hat. Und dazu gehörte offenbar auch eine Variante, die auf provokante Klarheit plus Rauswurf setzte. Mitarbeiter aus der FDP-Zentrale sollen dafür gar das Wort vom „D-Day“ verwendet haben.
Seither tobt die politische Schlacht um die Deutungshoheit. Viele Sozialdemokraten stürzen sich auf die Berichterstattung und sprechen wie Hubertus Heil von einer „Bösartigkeit in der Methode“, die zeige, dass für die FDP Verantwortung ein Fremdwort sei. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich erklärte, nun trete die Wahrheit über den Bruch immer deutlicher zutage. Wenn die Berichte stimmen, dann würde vieles im Nachhinein in völlig neuem Licht erscheinen. „Ich fühle mich getäuscht und ich bin enttäuscht“, so Mützenich. „Es zeigt sich, wie richtig es war, dass Olaf Scholz diesen ehrlosen Mann vor die Tür gesetzt hat.“ Aus Sicht der SPD erscheint diese Reaktion folgerichtig zu sein; ihre Werte in den Umfragen sind seit dem Ampel-Aus nicht besser geworden. Was damit zu tun haben könnte, dass viele Menschen den Wutauftritt des Kanzlers unpassend fanden.
Die FDP-Spitze hält am Samstag dagegen. Und erinnert zuallererst daran, dass es Scholz gewesen sei, der schon im Sommer mit den Grünen über eine mögliche Vertrauensfrage gesprochen hatte (Table.Briefings berichtete). Und zwar ganz ohne die Liberalen. Für Christian Lindner ist das in seiner ersten Reaktion gegenüber Table.Briefings der Beleg dafür, dass die FDP mit alledem nicht angefangen habe. Und engste Mitarbeiter von ihm sagen, dass sich alle Parteien seit Wochen mit verschiedenen Szenarien auseinandergesetzt hätten. Daran sei nichts falsch; falsch aber sei die Behauptung, die FDP habe es quasi bösartig auf einen Knall angelegt. Und falsch sei erst recht, dass man so etwas auch noch mit dem Begriff „D-Day“ unterlegt habe. Im Gegenteil habe die FDP in den Gesprächen mit dem Kanzler offen das Angebot zum gemeinsamen Ausstieg gemacht.
Nun stehen Worte gegen Worte – aber für Gerhart Baum ist die Sache klar. Einer der letzten noch lebenden liberalen Ikonen und früherer Bundesinnenminister ist entsetzt über die Berichte. „Es ist für mich in einer Weise enttäuschend, wie ich es kaum beschreiben kann“, sagte Baum Table.Briefings. Für ihn sei das der schmerzliche Beweis dafür, dass der FDP-Führung „der nächste Wahlerfolg wichtiger ist als das Land“. Dabei zu bleiben, wäre der viel schwerere, aber richtige Weg gewesen. Er selbst habe 1982 auch gelitten und sei am Ende trotzdem dabeigeblieben, weil er an die Idee einer umfassend liberalen Partei glaube. „Wenn die FDP auf einen reinen Wirtschaftswahlkampf setzt, hat sie schon verloren.“
Und was machen die Grünen? Sie wollen mit der Schlammschlacht nichts zu tun haben. Vor allem Robert Habeck und Annalena Baerbock halten sich fürs Erste an ihr selbstgesetztes Ziel, derlei Streitereien auf keinen Fall fortzusetzen. Sie wollen vermeiden, selbst in den Sog solcher Konflikte zu geraten, die das Zeug haben, die Integrität von Demokratie in Frage zu stellen. „Auch wenn wir das gerne anders hätten: Dieses Schauspiel schadet allen Parteien der Mitte“, sagt einer aus der obersten Führung der Grünen.
Zugleich hoffen sie, durch Abgrenzung Punkte bei all denen zu machen, die Politik nur noch mit Abscheu verfolgen. Die Grünen bemühen sich um eine neue Sachlichkeit. Zu den Lehren aus der Wahlniederlage von Kamala Harris in den USA gehört nach grüner Lesart auch, dass „Bringing back the Joy“ als Botschaft nicht genügt. Die Rede ist nun von „Realismus und Substanz“; das ist auch der Name eines grünen Diskussionsformats, das die neue Parteivorsitzende Franziska Brantner und andere in den 2000er Jahren gegründet haben. Die scheidende Parteichefin Ricarda Lang beklagte in ihrer Rede, dass es immer häufiger eine „Superpolitisierung von Nebensächlichkeit“ und eine „Infantilisierung von Politik“ gebe. Die Instagram-Bilder vom joggenden Habeck wird es weiter geben, aber mit dem tränenreichen Abschied der Parteivorsitzenden verbreitet sich die Überzeugung: Der nun beginnende harte Wahlkampf ist mit optimistischen Botschaften nicht zu bestehen, die Grünen wollen auf Ernsthaftigkeit setzen.