Analyse
Erscheinungsdatum: 06. Oktober 2024

Ein Jahr nach dem 7. Oktober: Vom Massaker zum Flächenbrand

Seine Strategie eines Endloskrieges sei zum Scheitern verurteilt, sagen Kritiker des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Um die Sicherheit des Landes unter seinen arabischen Nachbarn dauerhaft zu garantieren, brauche es eine politische Strategie – doch daran fehle es.

Für Shimshon Talker ist das Massaker vom 7. Oktober auch ein Jahr später nicht vorbei. 29 Stunden verschanzte sich der Mann im Schutzraum seines Hauses im Kibbuz Kfar Aza, ehe Eliteeinheiten der Israel Defense Forces (IDF) endlich eintrafen, um ihn und die wenigen anderen Überlebenden des Terrorüberfalls zu retten. „Normalerweise ist man in Israel nie allein“, sagt der 65-Jährige in Tel Aviv, wo er in einem Hotel untergebracht ist, weil eine Rückkehr an den Rand des Kriegsgebiets weiter nicht möglich ist. „Aber an diesem Tag hat die Armee uns alle im Stich gelassen, und bis heute wissen wir nicht, ob sie uns künftig schützen kann.“ Von den rund 950 Bewohnern Kfar Azas tötete die Hamas 64, 19 entführte sie.

Talker bringt auf den Punkt, was viele seiner Landsleute denken. Als Israels 9/11 ist der 7. Oktober bereits beschrieben worden – wegen der vielen Opfer, und weil die Geheimdienste des Landes von dem Überfall völlig überrascht wurden. Mit einem Mal starb der Mythos des wegen seiner spektakulären Aktionen weltweit bewunderten und gefürchteten Auslandsgeheimdienstes Mossad. Aber auch der Inlandsgeheimdienst Shin Bet, die IDF-Spezialeinheit Unit 8200 sowie der Militärgeheimdienst standen blank da. Und das, obwohl IDF-Analystinnen ein halbes Jahr vor dem Überfall genaue Pläne der von der Hamas „al-Aqsa-Flut“ genannten Operation vorlagen.

„Soweit bisher erkennbar, fehlte es auf israelischer Seite weniger an nachrichtendienstlich beschafften Hinweisen und technischen Aufklärungsergebnissen“, sagt Gerhard Conrad, der frühere Leiter des Leitungsstabs des Bundesnachrichtendienstes (BND) im Gespräch mit Table.Briefings. Ausschlaggebend für die „strategische Fehlleistung der israelischen Dienste sowie der militärischen und politischen Führung im Vorfeld des Krieges“ scheine vielmehr „ein vorgefasstes, allseits in Diensten, Politik und Militär geteiltes Lagebild gewesen zu sein, in dem die Möglichkeit einer Transformation von Teilen der Hamas von einer aus dem Untergrund agierenden Terrormiliz in eine modern ausgerüstete und zum Gefecht der verbundenen Waffen befähigte Truppe nicht ernsthaft erwogen worden ist.“

Dass es Israel in den vergangenen zwölf Monaten jedoch gelungen sei, die Hamas entscheidend zu schwächen und der Hisbollah schwere Schläge zuzufügen, stelle „die außergewöhnlichen Befähigungen der israelischen Geheimdienste zu einer über Jahre hinweg betriebenen, in die Tiefe gehenden Aufklärung der militärischen und politischen Gegner“ unter Beweis, so Conrad, der in den 2000er und 2010er Jahren bei mehreren Gefangenen- und Geiselaustauschen als Vermittler zwischen Israel, Hamas und der Hisbollah tätig war.

Der Geheimdienst- und Sicherheitsexperte der israelischen Tageszeitung Haaretz, Yossi Melman, zieht eine kritischere Bilanz von Armee und Geheimdiensten im Gazastreifen. Zwar sei es gelungen, „die Hamas als militärische Kraft zu besiegen“, sagt er zu Table.Briefings. Doch von der Erreichung des Kriegsziels Ministerpräsident Benjamin Netanjahus, die Organisation politisch von der Macht in Gaza zu entfernen und militärisch zu zerschlagen, sei man weit entfernt. „Quicklebendig“ sei die Terrormiliz, die in den vergangenen Monaten zu Guerillataktiken übergegangen sei, wie sie sie bereits während des Gaza-Krieges 2014 praktiziert habe, so Melman – mithilfe von Sprengfallen, Minen und leichten Panzerabwehrwaffen. Conrad konstatiert: „Hamas ist bis auf Weiteres auf ein Terrornetzwerk reduziert worden, dessen operative Reichweite nicht sehr weit über Gaza hinausreicht. Subversive und terroristische Handlungsoptionen und -potenziale bestehen noch in der Westbank.“

Auch mit Blick auf den Libanon ist Melman skeptisch, ob die Mitte September massiv ausgeweiteten Schläge gegen Kommandeure, Waffendepots, Abschussrampen und Kommunikationsnetze der Hisbollah Israel langfristig strategisch in eine bessere Lage versetzten. Was der längste Waffengang seit dem Unabhängigkeitskrieg 1947/48 vielmehr produziert habe, sei ein erheblicher Vertrauensverlust in die Führungsfähigkeiten der Armeespitze, was „einen moralischen Wendepunkt in der Geschichte Israels“ bedeute.

Denn auch wenn die von Ex-BND-Mann Conrad hervorgehobene „Reduktion der unmittelbaren militärischen Gefährdungslage Israels“ zutreffe, vor allem dann, „wenn es gelingen sollte, den iranischen Nachschub wirksam zu reduzieren oder gar abzuschneiden“, fehlt es Netanjahus Regierung an politischen Optionen für eine Zeit nach den Kämpfen: „Israel kann einen so langen Abnutzungskrieg nicht durchhalten“, sagt Melman.

Das sieht auch Mairav Zonszein so, Israel-Expertin der International Crisis Group (ICG). „Der Einmarsch im Libanon ist nichts weiter als eine Verlängerung von Netanjahus Strategie eines Krieges ohne Ende“, sagt sie zu Table.Briefings. Ohne diplomatische Lösung stehe zu befürchten, dass sich die IDF wie nach der Invasion 1982 über Jahre im Libanon festsetzen. Die Nettoverluste der Operation würden damit deutlich höher ausfallen als es die militärischen Erfolge der vergangenen Wochen erscheinen ließen, so Zonszein. „Eines ist ein Jahr nach dem 7. Oktober klar: Es gibt keinen Plan für den Tag danach, und so wie es nicht gelungen ist, die Hamas zu zerstören, wird es auch nicht gelingen, die Hisbollah zu zerschlagen.“

Ganz abgesehen von der Gefahr einer weiteren Ausweitung des Konflikts, dem in einem Jahr mehr Menschen zum Opfer gefallen sind als in allen vorherigen Kriegen im Nahen Osten seit Gründung Israels 1948 – fast 42.000 Tote auf palästinensischer und jeweils mehr als 2.000 auf libanesischer Seite sowie israelischer Seite. Am Freitag rief Irans Oberster Führer, Ajatollah Ali Khamenei, Muslime in aller Welt dazu auf, ihre „Anstrengungen und Fähigkeiten" zu verdoppeln. „Widersteht dem aggressiven Feind“, sagte er bei seinem ersten öffentlichen Auftritt seit der Tötung Hisbollah-Generalsekretärs Hassan Nasrallah Ende September und pries den Raketenangriff auf Israel von vergangener Woche als „Mindeststrafe": „Jeder Schlag gegen das zionistische Regime ist ein Dienst an der gesamten Menschheit.“

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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